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Zeitreise 1: Besuch einer spätmittelalterlichen Stadt
Zeitreise 1: Besuch einer spätmittelalterlichen Stadt
Zeitreise 1: Besuch einer spätmittelalterlichen Stadt
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Zeitreise 1: Besuch einer spätmittelalterlichen Stadt

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About this ebook

Kaum zu glauben, aber wahr! Uns, das heißt, einer kleinen, an Geschichte sehr interessierten Gruppe aus vier Teilnehmern und zehn Teilnehmerinnen ist etwas Sensationelles im Geschichtsbereich gelungen. Endlich ist es ‒ zumindest in dieser Geisteswissenschaft ‒ vorbei mit der langweiligen Theorie. Nach fast dreijähriger Forschungsarbeit ist es uns nämlich geglückt, eine Zeitmaschine zu entwickeln. Als Leiterin dieser Gruppe nahm ich sogleich im Jahr 1437 in einer norddeutschen Stadt Kontakt mit zwei freundlichen Bürgern, einem Kaufmann namens Reinhold von Münzenberg und einem Blaufärber namens Johannes Bussow, auf. Beide Herren fanden sich ohne Zögern bereit, je zwei von unseren Gruppenmitgliedern für volle drei Monate aufzunehmen und zu verpflegen. Das Los traf Holger L. (Diplomchemiker), Heinke S. (Gymnasiallehrerin in Latein und Biologie), Claudia H. (Hausfrau und Mutter von vier Kindern) und Kurt K. (Diplomchemiker). Anhand von deren Aufzeichnungen können Sie nun, liebe Leser und Leserinnen, selbst nachvollziehen, wie es war, in einer deutschen Stadt von Dezember 1437 bis Februar 1438 gelebt zu haben. Leider habe ich als Leiterin zu beklagen, dass nicht alle Gruppenmitglieder zurückgekehrt sind. Ich hoffe, dass dies keine (negativen) Konsequenzen für die Geschichte der Menschheit haben wird.

LanguageDeutsch
Release dateJun 8, 2014
ISBN9781310347856
Zeitreise 1: Besuch einer spätmittelalterlichen Stadt
Author

Maike Vogt-Luerssen

Maike Vogt-Lüerssen wurde am 24. März 1956 in Wilhelmshaven geboren, ist verheiratet und hat einen Sohn. Sie studierte Geschichtswissenschaft, Biologie und Pädagogik an der Philipps-Universität in Marburg an der Lahn. Seit 1987 beschäftigt sich die Autorin intensiv mit den historischen Epochen Antike, Mittelalter und Renaissance.

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    Book preview

    Zeitreise 1 - Maike Vogt-Luerssen

    Vorwort

    Auf den ausdrücklichen Wunsch vieler Leser und Leserinnen hin möchte ich hiermit die Aufzeichnungen unserer ersten Zeitreise, die in eine spätmittelalterliche Stadt in den Jahren 1437 und 1438 führte und die bisher nur als Buch erhältlich gewesen war, endlich auch als Ebook herausgeben. Im Gegensatz zu unseren weiteren Zeitreisen ins Mittelalter – wir haben noch eine Burg im 13. Jahrhundert und zwei Klöster im 14. und 15. Jahrhundert besucht –, musste ich als Leiterin bei dieser ersten historischen Exkursion leider beklagen, dass nicht alle Teilnehmer ins 20. Jahrhundert zurückgekehrt sind. Ich hoffe, dass dies keine (negativen) Konsequenzen für die Geschichte der Menschheit haben wird. Die Notizen der vier Exkursionsteilnehmer Claudia, Heinke, Holger und Kurt, die gegen Ende des Jahres 1989 für einige Wochen in eine spätmittelalterliche Stadt in Norddeutschland geschickt worden waren, werden als Originale wiedergegeben. Auf Korrekturen bezüglich der Rechtschreibung − die Aufzeichnungen wurden vor der Einführung der neuen Rechtschreibung verfasst – und der Grammatik habe ich verzichtet.

    Marburg an der Lahn, den 28. November 1989

    Kaum zu glauben, aber wahr! Uns, das heißt, einer kleinen, an Geschichte sehr interessierten Gruppe aus vier Teilnehmern und neun Teilnehmerinnen im Alter von 25 bis 35 Jahren und mir als deren Leiterin, ist etwas Sensationelles im Geschichtsbereich gelungen. Endlich ist es − zumindest in dieser Geisteswissenschaft − vorbei mit der langweiligen Theorie. Nach fast dreijähriger Forschungsarbeit ist es uns nämlich geglückt, eine Zeitmaschine zu entwickeln. Ja, Sie lesen richtig: eine Zeitmaschine!

    Vor knapp einem Monat habe ich mich − die Neugierde besiegte die Angst − als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt. Ich landete in einer mittelalterlichen Stadt im Norden Deutschlands, und zwar im Jahr 1437. Relativ schnell gelang es mir hier, Kontakt mit zwei freundlichen Bürgern, einem Kaufmann namens Reinhold von Münzenberg und einem Blaufärber namens Johannes Bussow, aufzunehmen. Beide Herren fanden sich ohne Zögern bereit, je zwei von unseren Gruppenmitgliedern für volle drei Monate aufzunehmen und zu verpflegen. Das Los traf Holger L. (Diplomchemiker, 31 Jahre alt), Heinke S. (Gymnasiallehrerin in Latein und Biologie, 30 Jahre alt), Claudia H. (Hausfrau und Mutter von vier Kindern, 30 Jahre alt) und Kurt K. (Diplomchemiker, 32 Jahre alt). Nun verbringen wir seit fast vier Wochen jede freie Minute mit der Anfertigung von zeitgemäßen Kleidungsstücken. Gott sei Dank, hatten unsere Gruppenmitglieder Ulrike, Angelika und Eve in den letzten Jahren in der Volkshochschule Nähkurse belegt.

    Marburg, den 2. Dezember 1989

    Es kann losgehen! Alle Vorbereitungen für die Reise ins 15. Jahrhundert sind getroffen worden. Da uns nicht viel Zeit zur Verfügung gestanden hat, müssen sich Holger, Heinke, Claudia und Kurt außer mit den Kleidungsstücken, die sie jetzt für ihre große Reise anziehen, mit nur einer einzigen Ersatzkleidung zufriedengeben. Aber schließlich besaßen die meisten Menschen im Mittelalter auch nicht mehr! Da der Besuch in den Wintermonaten Dezember, Januar und Februar stattfindet, mußte zudem für einigermaßen warme Kleidung gesorgt werden. Claudia und Heinke ziehen gerade ihre Leinenhemde über den Kopf. Auf Schlüpfer und warme Wollstrumpfhosen wollten sie ebenfalls nicht verzichten, obwohl die beiden letztgenannten Kleidungsstücke den mittelalterlichen Frauen auch bei Temperaturen unter 0 Grad unbekannt waren. Aber Heinke schlug lauten Protest an und meinte, daß sie ja nicht auf allen Komfort verzichten müßten.

    Claudia erhält nun als Untergewand ein fest anliegendes, langes, knallrotes Leinengewand, das unten mit einem Stoß feineren Stoffes gleicher Farbe versehen worden ist. Als Obergewand reicht Eve ihr einen dunkelblauen Tabbard. Der Tabbard, ein beliebtes Kleidungsstück im Spätmittelalter, weist T-Shirt-ähnliche Kurzärmel auf und wird in der Taille mit einem Gürtel geschmückt. Dabei fällt der untere Teil dieses Gewandes − wie jetzt bei Claudia zu sehen ist − in viele kleine Falten. Da der Tabbard auch die Füße bedeckt, muß er beim Vorwärtsschreiten vorne leicht hochgehoben werden. Hierbei wird natürlich der feinere Stoff des Untergewandes sichtbar. Die Schleppe hinten wird einfach auf dem Boden nachgezogen. An den kurzen Ärmeln befestigt Eve gelbe, aus feinstem Seidenstoff gefertigte Flügelärmel, die ebenfalls bis zum Boden reichen und die am Rande mit Pelz besetzt wurden.

    Heinke nimmt aus Ulrikes Händen als Untergewand ein schwarzes Wollstoffkleid entgegen. Es ist wie Claudias Untergewand unten mit einem Stoß feineren Stoffes gleicher Farbe versehen worden. Als Oberrock erhält Heinke eine rote Fucke. Die Fucke stellt ein Gewand dar, das dem Körper sehr eng anliegt und seitlich große Schlitze aufweist. Außerdem besitzt sie noch einen großen Halsausschnitt. Auf ihrer Vorderseite wird die Fucke mit Hilfe von Knöpfen geschlossen. Eigentlich ist bei diesem Kleidungsstück ein Gürtel nicht notwendig, trotzdem konnten die Damen im Mittelalter auf ihn nicht verzichten. So liegt auch Heinkes Gürtel zeitgerecht auf ihren Hüften. Ulrike knüpft schließlich an die T-Shirt-ähnlichen Kurzärmel der Fucke bauschige, lange, weiße Ärmel an.

    Zusätzlich erhalten Heinke und Claudia noch vier Paar Flügelärmel, in Grün, Blau, Gelb und Lila, überreicht, damit sie, wenn sie schon die Kleider nicht oft wechseln können, zumindest in der Lage sind, die Ärmel zu variieren und zu waschen. An Heinkes schmalem Ledergürtel mit silberner Schnalle und Claudias perlenbesticktem Stoffgürtel befestigt Eve nacheinander je einen roten Beutel aus Hasenleder, gefüllt mit einigen Rheinischen Gulden, einen silbervergoldeten Kasten, der Platz für einen Löffel und ein Messer aufweist, ein Nadeldöschen, einen Schlüsselbund, ein silbernes Kettchen und einen Rosenkranz aus kleinen Holz- und größeren Silberkugeln und einem herabhängenden silbernen Kreuz.

    Dann schlüpfen Heinke und Claudia in ihre neuen absatzlosen und knöchelhohen Rindslederschuhe. Natürlich handelt es sich hierbei um die berühmt-berüchtigten Schnabelschuhe. Heinkes erste Gehversuche lösen bei uns ein Gejohle aus. Dauernd kommt sie mit dem langen Oberrock und den spitzen Schuhen in Konflikt, während Claudia, vornehm das Obergewand ein wenig hebend, stolz an ihr vorbeischreitet.

    Auf der Straße werden unter diesen Schuhen sogenannte Trippen befestigt. Das sind vorne zugespitzte Holzschuhe mit einer meistens schwarzen, verstellbaren Riemen-Schnalleneinrichtung. Diese Trippen sind unter dem Ballen und der Ferse mit Absätzen verstärkt. Verläßt man die Wohnung, schnallt man diese Holzschuhe unter die Schnabelschuhe, damit letztere nicht schmutzig werden. Zu Hause und bei der Arbeit trägt man pantoffelartige Schuhe, bei denen die Ferse vom Oberleder nicht umschlossen wird.

    „Dri Chinisin mit dim Kintribiß ...", stimmen Michael und Holger lautstark an und brechen in ein schallendes Gelächter aus, als Heinke und Claudia durch den Ankleideraum trippeln. Dabei meistern die beiden das Gehen mit diesen ungewöhnlichen Schuhen doch sehr gut! Ulrike überreicht ihnen schließlich noch drei Halsketten und acht Ringe. Letztere dürfen nach Lust und Laune über die einzelnen Finger solo, zu zweit oder mehr gesteckt werden.

    Dann erhalten Claudia und Heinke noch ihre Mäntel, die Heuken. Die Heuke stellt einen ärmellosen Überwurf dar, der bei den Frauen auch den Kopf bedecken soll, das heißt, diese Mantelart wird über den Kopf gelegt und fällt von hier über den Rücken bis zum Boden herab. Geschlossen wird dieser Mantel, indem man die rechte Seite des Umhanges ziemlich großzügig über die linke Seite in Ellenbogenhöhe legt und sie dort unsichtbar mit Hilfe einer Nadel oder einer Brosche befestigt. Die schwarzen Heuken von Claudia und Heinke sind aus dickem, zottigem Wollzeug gefertigt und innen wegen der zu erwartenden tiefen Temperaturen mit Kaninchenfell gefüttert worden.

    Zu guter Letzt legt Heinke als unverheiratete Frau auf ihr offenes, schulterlanges, schwarzes Haar einen feinen, durchsichtigen Schleier, und Claudia bekommt als verheiratete Frau ein weißleinenes, vierzipfeliges Kopftuch, das nicht nur ihren Nacken, sondern auch die Vorderseite ihres Halses verhüllt, indem das rechte Ende des Tuches vorne auf der linken Schulter befestigt wird. Über dieses schlichte Tuch wird beim Ausgang normalerweise noch ein zweites, größeres, schwarzes oder weißes Leinentuch gelegt, das die Schultern und z. T. den Rücken bedeckt (Abb. 1).

    Abb. 1

    Abb. 1: Kopfbedeckung einer verheirateten Frau im Spätmittelalter

    Nun müssen nur noch die Männer mit der passenden Kleidung ausgestattet werden. Holger ist als erster an der Reihe. Ihm wird von Eve ein beige-farbenes Hemd, das einen großen Ausschnitt, von Schulter zu Schulter reichend, und das viele kleine Falten aufweist, überreicht. Ein zusätzliches Unterhemd gibt es nicht. Schon kurz zuvor hatte er sich eine schwarze Unterhose und eine bunte Wollstrumpfhose mit Füßlingen übergezogen. Die linke Hosenhälfte ist rot, die rechte Hälfte blau gefärbt. Die verschiedenfarbigen Strümpfe oder Beinlinge, die an einem Hosengürtel aus starkem Leder befestigt werden, sind am Gesäß unter zusätzlicher Verwendung eines keilförmigen Stoffeinsatzes zusammengenäht worden. Das Geschlechtsteil wird mit einem gelben Latz, der an drei Stellen mit Kalbslederriemen, auch Nesteln genannt, an die Strumpfhose geknüpft wurde, verdeckt. Vorne über dem Latz können die Strümpfe, die den Beinen hautnah anliegen, mittels eines Knopfes noch zusätzlich miteinander verbunden werden. Der Latz stellte übrigens in der damaligen Mode das Non-plus-ultra dar. Normalerweise wurde er noch reichlich auswattiert, damit er weit über der Hose hervorstand und somit die ganze Männlichkeit voll zur Geltung brachte (Abb. 2).

    Abb. 2

    Abb. 2: Die bei den Männern beliebten Strumpfhosen

    Über das Hemd legt Holger nun ein blaues Samtwams an, das Stickereien aufweist und das bis zur Hüfte reicht. Der Ausschnitt, der vorne keilförmig bis zum Gürtel reicht, ist wiederum sehr großzügig und läßt den Hals, den Nacken und die Schultern frei. Nur zehn kleine Knöpfe verschließen die untere vordere Hälfte des Wamses (Abb. 3). Eve fügt an die Wamsärmel, die etwas über die Ellenbogen reichen, noch feine, weiße Seidenflügelärmel an. Wie Heinke und Claudia wird Holger überdies mit einigen Ersatzärmeln für die Reise versorgt.

    Abb. 3

    Abb. 3: Der Maler Albrecht Dürer jun. war ein sehr modebewusster Mann

    Kurt hatte sich geweigert, „solch ein Paradiesvogel wie Holger zu werden. Er wünschte sich eine „etwas konservativere Kleidung. So reicht Eve ihm jetzt ein weißes Leinenhemd, eine weiße Leinenunterhose mit einem Stoffgurt − im Mittelalter wurde diese Art von Unterhose Bruch genannt −, zwei schwarze Wollstoffstrümpfe, die an dem erwähnten Gurt mit ungefähr 30 cm langen Kalbslederbändern befestigt werden (Abb. 4), und ein knielanges schwarzes Gewand, wie es damals die Kleriker, Mönche, Gelehrten − schlechthin die Respektpersonen des Mittelalters − trugen. Dieses knielange, aus gutem schwarzem Wollstoff gefertigte Gewand, ebenfalls Tabbard genannt, weist im Gegensatz zu dem weiblichen Obergewand gleichen Namens lange Ärmel auf und ist an seinen Seiten von der Taille bis zu den Knien aufgeschlitzt. Am unteren Saum, an den Seitenschlitzen, an den Ärmelaufschlägen und am Hals ist es mit Pelz verbrämt. Außerdem ist es innen noch mit Kaninchenfell gefüttert.

    Abb. 4

    Abb. 4: Strumpf mit Kalbslederbändern

    Nun werden Holger und Kurt noch mit Gürteln aus Leder versorgt, die mit einem edlen Metall beschlagen wurden und einen Verschluß aus Metallschnalle und -haken besitzen. An diesen Gürteln hängen bei Kurt eine Ledertasche und bei Holger ein Beutel aus Damast. Beide, Tasche und Beutel, werden mit Rheinischen Gulden gefüllt. Die mittelalterlichen Taschen sind, wie ich von Herrn von Münzenberg erfahren habe, viel schwerer und massiver als die Beutel und werden vorwiegend aus Leder gefertigt. Rinds-, Kalb- und Hasenleder wurden damals zur Verarbeitung genommen, aber das feinste Leder − laut Herrn von Münzenberg − gewann man aus Ziegenhäuten. Neben ihre Tasche oder ihren Beutel hängen Kurt und Holger noch ein kurzes Messer bzw. einen Dolch.

    Als Mantel dient ihnen wie bei den Frauen die Heuke. Diesen runden, ärmellosen Umhang gibt es bei den Männern in lang und in kurz zur Auswahl. Gerade bei den jungen Männern war die kurze Variante, die z. T. nur bis zu den Hüften reichte, besonders beliebt. Aber in Anbetracht des zu erwartenden lausig kalten Wetters beschlossen wir, beide Männer mit langen Heuken zu versehen. Bei Kurt ist der Mantel am Halse mit wenigen Knöpfen verschließbar, bei Holger gibt es am oberen Rand eine Schnur, die zu einer großen Schleife gebunden werden kann.

    Als Kopfbedeckung stehen Hut oder Mütze zur Verfügung. Kurt entscheidet sich für einen schwarzen Filzhut, der wie ein stumpfer Kegel aussieht. Wie ich gelesen habe, stellten diese Filzhüte neben den Wollhüten bei den Männern die beliebteste Kopfbedeckung dar. Man konnte sie zudem in allen möglichen Formen erstehen.

    Holger entscheidet sich für die blaue Gugel aus derbem Stoff. Diese Kopfbedeckung ist eine Art Kapuze, die den Kopf und den Hals bis zum Kinn fest umschließt, so daß nur eine Öffnung für das Gesicht übrig bleibt. Holgers Gugel ist noch mit einem breiten Schulterkragen verbunden und besitzt einen langen Schwanz, den er, nachdem er die Kapuze über den Kopf gezogen hat, fachmännisch über die rechte Schulter legt. Schnabelschuhe, Trippen, Halsketten, Ringe und die bei den Männern obligatorischen Siegelringe vervollständigen schließlich bei ihnen das Bild des mittelalterlichen Mannes.

    So, jetzt wird es ernst. Unsere vier Exkursionsteilnehmer machen sich nun mit je einem kleinen Wollsack auf den Weg ins Jahr 1437. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur Kontakt mit den Menschen des Spätmittelalters aufzunehmen und deren Sitten und Gebräuche kennenzulernen, sondern alles Erwähnenswerte in ihren Tagebüchern für uns festzuhalten. Drücken wir ihnen auf ihrer Reise fest die Daumen!

    Heinkes Bericht über den ersten Tag, den 2. Dezember 1437

    Am frühen Nachmittag trafen wir vier nur zwei oder drei Kilometer entfernt von unserer norddeutschen Gastgeberstadt ein. Die Schneehöhe beträgt hier mindestens einen Meter! So einen Winter haben wir in Deutschland schon lange nicht mehr zu sehen und zu spüren bekommen. So waren mir die Füße schon nach wenigen Minuten durchgefroren! Frei gefegte Wege, geschweige denn Straßen, konnte man vergeblich suchen. Nur einige Karren und Fußtritte hatten den Schnee auf dem Weg zur Stadt etwas kompakter werden lassen. So kalt habe ich es mir hier nicht in meinen kühnsten Träumen vorgestellt! Holger ergriff als erster die Initiative und trieb uns zum Vorwärtsmarschieren an. Er wollte nicht schon vor den Toren erfrieren. Langsam trippelten wir mit unseren unbequemen Holzschuhen voran. Mindestens meine Stiefel hätte ich mitnehmen sollen! Hinter uns hörten wir das Knarren eines Leiterwagens. Die erste menschliche Begegnung! Aber der Fahrer hob nicht einmal sein Gesicht oder erwiderte unsere lieb gemeinten Grüße. Wären wir nicht zur Seite gesprungen, hätte der Typ uns glatt überrollt. Ohne auch nur einen Blick auf uns zu werfen, ließ er seinen Wagen an uns vorbeiklappern. Das bleiche Gesicht des Fahrers war starr nach vorne gerichtet, nur sein dünnes braunes Tuch, das ihn umgab, flatterte im Winde. „Erfroren, der Mann ist erfroren", gab ich unseren Leuten zu verstehen. Kein Wunder! Meine Hände ließen sich kaum noch bewegen. Hinten auf dem Wagen zwischen einer Ladung dürrer Zweige konnten wir eine Frau, in ein blaugraues Tuch gehüllt, entdecken. Auch sie blickte völlig apathisch in die Ferne.

    Während die mit eisernen Felgen beschlagenen Räder den Wagen von uns entfernten, wurden wir erneut überholt. Ein alter Mann trieb mit einem dicken Stock bewaffnet einen mageren Esel an uns vorbei. Das Tier hatte er voll mit Holzscheiten beladen. Zu grüßen fiel nun keinem mehr von uns ein. Schließlich überholte uns noch eine alte Frau, die sich schwerbeladen mit Zweigen zu Fuß Richtung Stadt quälte. Alle überholten uns! Das lag nur an diesen blöden Schuhen. Schnee ist weiß und sauber! Also weg mit diesen Trippen! war mein rettender Gedanke. Da die Füße sowieso schon abgestorben und gefühllos waren, machte mir der direkte Schuhkontakt mit dem Schnee nichts mehr aus. Die langen Schnäbel der Schuhe band ich mittels zweier kleiner Schnüre, die meinen Wollsack umschlossen, hoch. Claudia, Holger und Kurt mußten neidvoll miterleben, wie ich davonlief, und folgten schon wenig später meinem klugen Einfall.

    Vorbei ging es an knorrigen, blätterlosen Linden- und Vogelbeerbäumen, einem kleinen Erdwall und einem zugefrorenen Graben, der mit Hausmüll, Bauschutt, Mist und Abfällen aller möglichen Art zugeschüttet war und dementsprechend stank.

    Vor uns lag die gewaltige Stadtmauer, deren Wehrtürme, Wehrgänge und Schießscharten immer deutlicher auszumachen waren. Direkt vor der Mauer befanden sich große Ställe. Aber Tiere waren weder zu hören noch zu sehen. Links konnte man in der Ferne eine Mühle erkennen, und rechts entdeckte Holger ein Dorf oder irgendeine Häuseransammlung. Claudia meinte, daß sie in einem der hinteren Ställe zwei Kinder gesehen hätte. Sollte das hier eine Slumsiedlung sein?

    Endlich erreichten wir das gewaltige Tor. Unmittelbar daneben befand sich ein völlig heruntergekommener Gasthof mit dem Namen „Der arme Ritter. Das Schild mit einem stolzen Ritter zu Pferde schwankte vom Winde getrieben hin und her. Holger bat schließlich den grimmig dreinblickenden Torwächter um Einlaß. „Erst zahlen! war dessen lakonische Antwort. Ohne Torgeld war nichts zu machen. Holger griff deshalb in seinen Beutel und holte einen Rheinischen Gulden heraus. Anscheinend ist der Gulden sehr viel wert. Der Torwächter wurde richtig freundlich und versuchte, Holger zu erklären, daß er soviel Wechselgeld nicht besitzen würde, und bat ihn schließlich um kleinere Münzen. Na, ja, wir hatten nichts anderes. Also war Holger großzügig und schenkte ihm den (unbekannten) Rest.

    Hinter dem Tor trafen just in diesem Augenblick unsere Gastgeber ein. Sie hatten von Maike eine genaue Beschreibung von uns erhalten und erkannten uns daraufhin sofort. Kurt und ich sollten bei einem Kaufmann namens Reinhold von Münzenberg Unterkunft und Essen finden, Holger und Claudia bei einem Waidfärber namens Johannes Bussow.

    Beide Herren gehören der wohlhabenden Schicht der Stadt an, so daß wir leider, oder Gott sei Dank für uns, mehr Einblicke in ihr Leben haben werden. Der Kaufmann, der, wie ich im Laufe des Tages noch erfahren sollte, 69 Jahre alt ist, stampfte uns entgegen. Mensch, ist der dick! Er war wie Kurt völlig in Schwarz gekleidet. Sein schwarzer Pelzhut glich einer umgekehrten Waschschüssel mit weit ausladendem Rand (Abb. 5). Seine bis zu den Füßen reichende Heuke wies an der rechten Seite einen großen Schlitz auf, so daß der rechte Arm frei lag. Sein Gürtel war gleich mit zwei übereinander hängenden Beuteln versehen. Der äußere, kleinere war mit feinen Stickereien und Gold- und Silberfäden verziert. Außerdem war noch ein silberner Dolchgriff, der in einer silbernen Waffenscheide ruhte, zu entdecken. Mit seiner freien rechten Hand, die mindestens sechs Ringe aufwies, drückte er meine Rechte und klopfte Kurt väterlich auf die Schulter. Er sieht wirklich sehr freundlich aus, obwohl ich die große Warze schräg links unter dem Mund abstoßend finde. Der Waidfärber ist viel jünger, Mitte 30 schätzungsweise. Er war in blauer Heuke und blauer Mütze erschienen. Figurmäßig schnitt er sehr viel besser als der Kaufmann ab.

    Abb. 5

    Abb. 5: Der reiche italienische Kaufmann Michele Arnolfini mit seiner Braut

    Herr von Münzenberg war der erste, der zum Heimgehen aufforderte, was uns allen nur recht war. Holger, Claudia und der Waidfärber trennten sich schon am Tor von uns und verschwanden in einer engen Gasse. Die Hauptstraße, auf der wir zu unserem neuen Zuhause marschierten, ist laut unseres Gastgebers nur am Tor gepflastert. Dann besteht sie ausschließlich aus festgestampftem Lehm. Davon sah ich aber durch die dicke Schneeschicht nichts! Die Straße ist so breit angelegt worden, daß zwei Wagen gleichzeitig passieren können. Links und rechts wird sie von schmalen Häusern begrenzt, und hin und wieder gehen von ihr beidseitig schmalere Gassen ab.

    Je weiter wir zur Stadtmitte vorstießen, um so bestialischer wurde jedoch der Gestank. Am Stadttor war es ja noch auszuhalten, aber je mehr wir uns von dort entfernten ... Wie muß es hier erst im heißen Sommer stinken! Etwas verlegen zog ich mein Taschentuch aus dem linken Ärmel und hielt es vor die Nase. Bei Regen würde diese Straße zu einem wahren Schlammbad werden, erklärte uns Herr von Münzenberg. Die Stadt hoffe aber, in den nächsten Jahren den Burgweg, so hieß diese Hauptstraße, mehr bepflastern zu können. Alles wäre nur eine Geldfrage!

    Der Burgweg schien mir, je weiter wir uns zur Stadtmitte hin bewegten, schmaler zu werden, oder vielleicht lag es auch nur an den Häusern, die sich mit ihren ersten, zweiten und eventuell dritten und vierten Stockwerken immer mehr Richtung Straße bewegten und die schließlich nur noch einen Spalt für das Tageslicht und die notwendige Luft zum Atmen übrig ließen. Einrichtungen wie Erker, balkonartige Vorbauten und Außentreppen ließen die Häuser nämlich geradezu wie Krebsgeschwüre in die Straße hineinwuchern. Die abzweigenden Gassen waren krumm und höchstens ein bis zwei Meter breit. Die oberen Etagen der gegenüberliegenden Häuser waren häufig nur noch einen Arm breit voneinander entfernt. Ungleichmäßig verteilt lagen auf den Straßen Trittsteine, auf denen man sich bei Regenwetter sozusagen von Stein zu Stein vorwärtsbewegen konnte. In der Mitte der Hauptstraße und der Gassen befand sich für alle sichtbar der Abflußkanal für das Abwasser. Hier mußte man vorsichtig gehen. Es war spiegelglatt. Kurt geriet schon arg ins Schlittern. In diesem wahren Chaos sich kreuzender, brechender und verschränkender Häuserlinien würde ich mich glatt verirren. Und dabei dachte ich immer, in so einer kleinen mittelalterlichen Stadt würde ich mich in Kürze zurechtfinden können.

    Hundescheiße! Was für ein vertrauter Anblick! Zum Glück ist dieser Hundemist durch den weißen Schnee schon von weitem sichtbar. Aber das war erst der Anfang. Vorbei ging es an Hausmüll, dampfendem Stallmist, zwei Katzenkadavern, einem toten Hund und einem Schweinefuß, um den sich sechs gierige Hunde balgten, Richtung Marktplatz. Interessant waren die vielen übergroßen Schilder an den Häusern. Anstatt Hausnummern zeichnete sich jedes Häuschen durch ein Symbol oder eine spezielle Bezeichnung aus. Da gab es das „Zum bunten Ochsen oder „Zum heißen Stein oder „Zum geilen Mönchen", oder große Plakate deuteten auf den Hausbesitzer hin. Zwei sich kreuzende Scheren ließen den Schneider erkennen, drei riesige Töpfe den Töpfer. Am meisten imponierte mir ein riesiger Handschuh. Jeder Finger war mindestens zwei Meter groß! Herr von Münzenberg erklärte uns, daß hier ein Handschuhmacher sein Zuhause hätte. Die Werkstätten und Verkaufsläden der Handwerker befanden sich zu ebener Erde, aber leider war es schon zu dunkel, um noch etwas erkennen zu können. Die meisten Häuser sind zudem noch mit Stroh bedeckt. Erst als wir uns der Stadtmitte näherten, sahen wir Tonziegel auf den Dächern.

    Die Menschen, die uns entgegenkamen, waren fast alle schwer am Holz- oder Holzkohleschleppen. Kurz vor unserem Ziel lief uns noch ein Schwein mit einem Glöckchen am Hals entgegen. Laut unseres Gastgebers handelte es sich um ein Antoniterschwein, also ein Schwein, das den Antonitermönchen gehörte. Neben ihren Schweinen dürften nur noch die Schweine der Bäcker frei in der Stadt herumlaufen. Die anderen Bewohner müßten ihre Tiere in ihren eigenen Ställen im Hinterhof unterbringen. Die Haltung von Mutterschweinen wäre seit einigen Jahren sogar innerhalb der Stadtmauern verboten. Dafür gäbe es Extraställe vor der Stadt. Also waren das doch Ställe, die ich gesehen hatte! Im Sommer wären weitaus mehr Tiere auf den Straßen anzutreffen. Im November würden jedoch viele Tiere aus Kostengründen geschlachtet.

    Die kleineren Gassen links und rechts waren nur mit einer Häuserfront geziert. Auf der anderen Seite befanden sich hohe Mauern, die zum Hinterhof der Häuser gehörten, die die nächste Gasse belegten. Nach zehn Minuten erreichten wir endlich den großen, hellen, luftigen Marktplatz, weg von dieser schrecklichen Enge. Stolz ließ uns der Kaufmann die den Marktplatz flankierenden Häuser bewundern. Fast durchweg handelte es sich um Steinbauten und nicht wie bisher um Fachwerkhäuser.

    Das Rathaus war schnell zu entdecken. Man hatte kein Geld und keine Mühe gescheut, um den Stolz der Stadt im richtigen Licht erstrahlen zu lassen. Der höchste und mächtigste Bau war natürlich die Kirche. Leider, so meinte Herr von Münzenberg, könnten wir durch den Schnee nicht die Bepflasterung des Marktplatzes sehen. Erst vor wenigen Jahren wäre dieser nämlich mit harten, behauenen Quadersteinen versehen worden.

    „Und, wenn Sie sich jetzt bitte einmal umdrehen würden, das hier ist mein bescheidenes Zuhause!"

    Von „bescheiden" kann wirklich keine Rede sein! Solch ein Haus möchte ich auch gern besitzen! Das Backsteinhaus unseres Gastgebers, das einen Stufengiebel aufweist, besitzt fünf Stockwerke. Wie alle bisher gesehenen Häuser zeigt es den Vorbeigehenden seine prächtige Giebelfrontansicht. Phantasieblumen, die in leuchtenden Farben gemalt wurden, und wie echt wirkende Weinranken klettern von der Parterrefassade bis zu den obersten Stockwerken empor, und ein zierlicher Erker auf der rechten Seite ist mit großen Fenstern versehen worden.

    Ein zentral liegendes, mächtiges, spitzbogiges und zweiflügeliges Tor führt in das Innere des Hauses. In der Tormitte befindet sich noch eine kleinere Holztür, die einen riesigen, eisernen Türklopfer und ein klobiges, ungewohnt voluminöses Eisenschloß besitzt. Die hochkantig-rechteckigen Fenster in dem ersten und zweiten Obergeschoß sind im oberen Drittel verglast, der Rest ist mit Luken

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