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Bildung verstehen: Möglichkeiten im Begriff
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Bildung verstehen: Möglichkeiten im Begriff

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Kern der Überlegungen des vorliegenden Bandes der Reihe „Moderne der Tradition“ ist die Auseinandersetzung mit einem Bildungsverständnis, dessen Einheit sich in Vielfalt charakterisiert.
Nicolaus Wilder erhebt in seinem Beitrag dieses Spannungsverhältnis explizit zu seinem Erkenntnisinteresse und nähert sich dem schillernden und kontroversen Bildungsbegriff in seiner semantischen Vielfalt unter Zuhilfenahme des GOODMANschen Konzeptes der Weltversionen an. Hierdurch wird es möglich sowohl das Allgemeine der unterschiedlichen Bildungsverständnisse als auch deren Unterschiede vergleichend zu analysieren.
Melanie Beiermann hingegen spürt einer längst als verstanden geglaubten Weise, Bildung zu verstehen, nach, indem sie Wilhelm VON HUMBOLDT noch einmal neu liest und so seinen Begriff der Proportionalität unter erweiterter systemtheoretischer Perspektive auslegt. Hierbei führt sie die Idee nicht linear dynamischer Gleichgewichtsansätze in ihrer Argumentation mit, die es erst heute ermöglichen, dem Anspruch an Proportionierlichkeit unter strenger wissenschaftlicher Absicherung Genüge zu leisten.
LanguageDeutsch
Release dateOct 15, 2014
ISBN9783735714411
Bildung verstehen: Möglichkeiten im Begriff
Author

Nicolaus Wilder

Nicolaus Wilder, geboren 1983 in Oldenburg in Holstein, studierte von 2005 bis 2011 Erziehungswissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit Abschluss als Diplom-Pädagoge. Seit 2011 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Berufs- und Wirtschaftspädagogik am Institut für Pädagogik in Kiel tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der wissenschaftstheoretischen und ethischen Grundlagen sowie den Grundbegriffen der Pädagogik. Das vorliegende Werk ist eine überarbeitete Fassung seiner Diplomarbeit.

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    Book preview

    Bildung verstehen - Nicolaus Wilder

    Die Autoren:

    Nicolaus Wilder, geboren 1983 in Oldenburg in Holstein, studierte von 2005 bis 2011 Erziehungswissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit Abschluss als Diplom-Pädagoge. Seit 2011 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Berufs- und Wirtschaftspädagogik am Institut für Pädagogik in Kiel tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der wissenschaftstheoretischen und ethischen Grundlagen sowie den Grundbegriffen der Pädagogik. Das vorliegende Werk ist eine überarbeitete Fassung seiner Diplomarbeit.

    Melanie Beiermann, geboren 1986 in Bad Driburg (Westf.), studierte von 2008-2013 Wirtschaftswissenschaften im Profil Handelslehramt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wobei im Jahr 2012 der Abschluss Bachelor of Arts erfolgte und das Studium 2013 mit dem Abschluss Master of Arts beendet wurde. Von Mai 2012 bis September 2013 war sie als Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Berufs- und Wirtschaftspädagogik am Institut für Pädagogik in Kiel tätig. Das vorliegende Werk entstand im Rahmen des Bachelorabschlusses als Bachelorarbeit und diente als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen im Masterstudium.

    VORWORT DER HERAUSGEBER

    Zum Geleit

    Kern der Überlegungen des vorliegenden Bandes der Reihe „Moderne der Tradition" ist die Auseinandersetzung mit einem Bildungsverständnis, dessen Einheit sich in Vielfalt charakterisiert. Während Nicolaus Wilder in seinem Beitrag dieses Spannungsverhältnis explizit zu seinem Erkenntnisinteresse erhebt, dem er auf der Basis einer erweiterten Hermeneutik nachgeht, spürt Melanie Beiermann einer längst als verstanden geglaubten und bekannten Weise, Bildung zu verstehen, nach, indem sie Wilhelm VON HUMBOLDT noch einmal neu liest und so u. a. seinen Begriff der Proportionalität unter erweiterter Perspektive auslegt.

    Dabei ist es vor allem diese von Anfang bis Ende durchkonstruierte, sich stets erweiternd aufbauende, strenge und in beeindruckend anspruchsvoller Sprache artikulierte Gedankenführung der Wilderschen Untersuchung, die die gleichwohl stets in ihrem äußerlichen Schein zurückgenommene argumentative Brillanz seiner Ausführungen auszeichnet, zumal in Zeiten einer an mehr oder weniger genau bestimmten Verteilungskennzahlen sich ergehenden Bildungsforschung, die den glänzenden Schein ihrer Oberfläche als Tiefenstruktur modernen Bildungsverständnisses vorzutäuschen vermag, gleichwohl ohne jeglichen Rekurs auf das eigentliche Phänomen, dessen Weisen sie auszuloten vorgibt.

    Wilders sehr weit in die Tiefe reichender bildungstheoretischer Text erweist sich deshalb geradezu als geisteswissenschaftlicher Balsam auf die ausschließlich mit empirischen Widerhaken und so wohl mutwillig aufgerissenen Wunden der Bildung, ohne jedoch schon Heilung zu versprechen, wohl aber den Weg zeigen, der gegangen werden müßte.

    Möglich wird diese zugleich ausgreifende wie durchdringende Gedankenführung durch die wissenschaftstheoretisch wohl abgewogene Wahl des Argumentationsfundamentes geisteswissenschaftlicher Provenienz, das eine als solche schon bestens verstandene Hermeneutik europäischer Prägung durch den angloamerikanischen Ansatz von Nelson GOODMAN kofundiert, der sich genau jener Differenzierbarkeit des Einheitlichen verpflichtet weiß, um die es Wilder in seinem Bemühen um das rechte Verstehen von Bildung geht. Dabei erweist sich dieser GOODMANsche, das Selbstverständnis hermeneutischen Arbeitens eminent erweiternden Ansatz für den pädagogischen Diskurs als sehr gewinnbringend.

    Auf der Basis dieser im zweiten Kapitel der Untersuchung herausgearbeiteten Überlegungen sich erweiternder Hermeneutik, entwirft sich dann in einem dritten Kapitel ein durch vier Dimensionen bestimmter Erkenntnisraum, in dem sich die Differenzierbarkeit von Bildung als Einheit konturieren läßt, ohne dabei die möglichen Differenzierungen gegeneinander zu führen, als sichtbarer Ausdruck von Bildung als Einheit.

    Jede dieser vier Dimensionen wird in ihrer Tiefenstruktur streng und umfassend sowie in Rekurs auf jene Positionen ausgeleuchtet, die für die jeweilige Dimension charakteristisch und paradigmatisch sind. Während sich die Dimension: α »struktural/prozessual« weitgehend an Ergebnissen der Komplementaritätstheorie orientiert, lotet Wilder seine Dimension β »normativ/deskriptiv« in Anlehnung an die Ansätze Richard HAREs aus.

    Eine gleichermaßen erschöpfende Analyse KANTscher Überlegungen weisen den Erkenntnisweg für die Dimension γ »autonom/heteronom«, die schließlich mit der Auslegung der Dimension δ »zeitgemäß/unzeitgemäß« nicht nur die Moderne brillanter Unzeitgemäßheit der philosophischen Einlassungen Friedrich NIETSCHEs zu dieser Thematik zeigt, sondern auch die Konturierung des nunmehr aufgespannten Bildungsraumes abschließt.

    Nicht zuletzt Wilders äußerst kritischer Umgang mit der Orthogonalität seiner Dimensionen zur Vermeidung oder aber mindestens redlichen Indizierung möglicher Überschneidungen sorgt dafür, daß er die Auseinandersetzung mit jeder seiner Dimensionen umfassend an die dazu möglichen philosophischen Diskurse - umfänglich literaturgestützt - rückbindet, so daß der so nun als Einheit konturierte vierdimensionale Bildungsraum Differenzierbarkeit von Bildung in verschiedene Weisen geradezu herausfordert, ohne dabei an Einheitlichkeit zu verlieren.

    Dies arbeitet Wilder nun im vierten Kapitel heraus, in dem er zunächst drei Weisen der Bildung auswählt. Neben dem klassischen neuhumanistischen Bildungsverständnis Wilhelm VON HUMBOLDTs untersucht er das Bildungsverständnis Wolfgang KLAFKIs, und zwar zum einen jene Position, die unter dem Begriff »bildungstheoretisch« als Vollendung geisteswissenschaftlicher Pädagogik im Sinne DILTHEYs und WENIGERs Mitte der 1960er Jahre ihren Abschluß fand, sowie zum anderen jene Position, die KLAFKI unter Revision seiner bildungstheoretischen Überlegungen dann unter dem Leitbegriff »kritisch-konstruktiv« ausformulierte und verfolgte.

    Alle drei Weisen der Bildung werden in gewohnt geisteswissenschaftlicher Strenge und philologischer Akribie umfassend und tiefgreifend zugleich untersucht und in den aufgespannten Bildungsraum differenziert eingeordnet, um so ihre Verschiedenheit sichtbar zu machen, ohne ihren einheitlichen Anspruch, gleichwohl stets Bildung zu bestimmen, zu gefährden.

    Auf diese Weise gelingt es, verschiedene Weisen der Bildung in komparativer Form erschöpfend zu akzentuieren und die dabei sichtbar werdende Differenziertheit nicht kontrovers sondern moderat begründend in den Argumentationsgrenzen der Einheitlichkeit zu bannen - ein für den aufgeregten, die gegenwärtige ideologische Moderne kennzeichnenden Diskurs um Bildung vorbildlicher und richtungsweisender Weg.

    Wie weit und konsequent Wilder diese Zurücknahme des entschieden einzig Richtigen gegenüber des begründet möglichen Verschiedenen treibt, wird deutlich, wenn er auf die durchaus sich anbietende und sicherlich auch sehr hohe Anschaulichkeit ermöglichende Visualisierung der von ihm untersuchten differenten Bildungsweisen im Bildungsraum explizit verzichtet; denn –so sein Argument – genau dadurch bestehe die Gefahr für den Leser, sich allzu vorschnell zu entscheiden und die ausdrücklich angestrebte Differenziertheit des Einheitlichen zu mißachten.

    Viel wichtiger sei es, darauf hinzuweisen, daß die Dimensionierung des Bildungsraumes durchaus auch mit anderen Dimensionen möglich sei, die es deshalb auch unbedingt zu untersuchen gelte. Gleichermaßen notwendig sei es, sich den vielen anderen zur Zeit schon gegebenen Weisen der Bildung in diesem oder auch anderen Bildungsräumen hermeneutisch-analytisch zuzuwenden, was man sich als Leser - trotz des bis hierhin bereits erreichten umfänglichen Textkorpus´ - allemal wünschen würde.

    Eine Weise, das Verständnis von Bildung neu einzuordnen, zeigen die Überlegungen Melanie Beiermanns. Sie nimmt eine zentrale Aussage Wilhelm VON HUMBOLDTs zum neuhumanistischen Bildungsverständnis zum Ausgangspunkt und zur Leitidee ihres Erkenntnisinteresses und wird dabei dem Anspruch an exegetischer Explizität insoweit mehr als gerecht, als sie ausgehend von der klassischen Formulierung dieser Bildungskonzeption, die im Titel der Arbeit angesprochen wird, die einzelnen, dort genannten Aspekte in philologischer Feinarbeit im Kontext der Einflüsse auf HUMBOLDT herausarbeitet, um dann über ihre Beziehung eine Interpretation der zum Ausdruck gebrachten Bildungsvorstellung zu entwickeln.

    Ergebnis ist die Rekonstruktion eines komplexen Interdependenzgeflechts von Individuum, Gemeinschaft, handlungsrelevanten Situationen, Sprache und Kultur, das eine Person im Sinnen eines mündigen, autonomen Individuums erst ermöglicht. Zentral ist hier, daß diese Autonomie sowohl als Voraussetzung als auch als Resultat der Bildung einer Person aufzufassen ist, die darin besteht, die genannten Aspekte durch das Aneignen von Fähigkeiten immer wieder neu in ein harmonisches Verhältnis – in ein Gleichgewicht – bringen zu können.

    Die sowohl im hermeneutischen wie phänomenologischen Sinne wahrlich geisteswissenschaftliche Strenge, die Frau Beiermann zum Ausdruck bringt, wird in gleicher Weise ausgezeichnet analytisch ergänzt, wenn sie sich in aufklärerischer Absicht KANTschen Überlegungen zuwendet, um diese in ungewöhnlicher Strengführung über den LEIBNIZschen Kraftbegriff der Monadenlehre zu sichern.

    In gleicher Weise macht Frau Beiermann SIMMELs Ansätze zur Wechselwirkung und zum Ganzheitsbegriff fruchtbar, was schließlich in einem neuen, gleichwohl sehr tiefen Verständnis des HUMBOLDTschen Bildungsbegriffs mündet. Dabei führt sie in geradezu hoch moderner systemischer Denkweise die Idee sogenannter nicht linear dynamischer Gleichgewichtsansätze in ihrer Argumentation immer mit, die erst heute dazu in der Lage zu sein scheint, dem Anspruch an Proportionierlichkeit unter strengen wissenschaftlichen Kautelen auch nur einigermaßen zu entsprechen.

    Unter dieser Perspektive systemtheoretischer Denkweise, in der Ganzheit sich als wechselwirkendes Gleichgewicht seiner Elemente, eben als Proportionalität, manifestiert, eröffnet sich eine ganz neue Sicht auf ein Bildungsverständnis, das auch die zur Zeit übermächtig erscheinende Moderne konstruktivistischer Zugänge zum Bildungsgeschehen, ausgedrückt im Konstrukt der Selbstorganisation, zu relativieren verspricht.

    Dies zu lesen und dann zu bedenken, verspricht allemal reichlichen Lohn . . .

    Kiel und Chemnitz im November 2013

    Hans-Carl Jongebloed Volker Bank

    I WEISEN DER BILDUNG ‒ ODER: ÜBER DIE DIFFERENZIERBARKEIT DES EINHEITLICHEN

    (NICOLAUS WILDER)

    II „DER WAHRE ZWEK DES MENSCHEN […] IST DIE HÖCHSTE UND PROPORTIONIRLICHSTE BILDUNG SEINER KRÄFTE ZU EINEM GANZEN"

    ZUR EXEGESE DES BILDUNGSBEGRIFFS VON HUMBOLDTS

    (MELANIE BEIERMANN)

    INHALTSVERZEICHNIS

    VORWORT DER HERAUSGEBER

    I WEISEN DER BILDUNG (WILDER)

    1 EINLEITUNG

    1.1 Gegenstand der Betrachtung

    1.2 Darstellung der Vorgehensweise

    2 WEISEN UND ANDERE GRUNDANNAHMEN

    2.1 Zur Notwendigkeit des Verstehens

    2.2 Zur Rechtfertigung einer sprachlich relativen Betrachtung von Bildung

    2.3 Weisen nach Goodman

    3 ENTWURF EINES BILDUNGSRAUMES

    3.1 Dimensionen von Bildung im Einzelnen

    3.2 Der Bildungsraum

    4 BETRACHTUNG UND VERGLEICH AUSGEWÄHLTER WEISEN DER BILDUNG

    4.1 Etymologische Einführung in den Bildungsbegriff

    4.2 Der Bildungsbegriff bei von Humboldt

    4.3 Der Bildungsbegriff bei Klafki

    4.4 Vergleich der Weisen anhand des Bildungsraumes

    5 FAZIT UND AUSBLICK

    LITERATURVERZEICHNIS

    II ZUR EXEGESE DES BILDUNGSBEGRIFFS VON HUMBOLDTS (BEIERMANN)

    1 EINLEITUNG

    2 DIE KONTEXTUALE EINORDNUNG

    2.1 Das Leben Wilhelm von Humboldts

    2.2 Historische Situation

    3 DIE BILDUNGSVORAUSSETZUNGEN

    3.1 Humboldts Freiheitsbegriff

    3.2 „Mannigfaltigkeit der Situationen"

    3.3 Vernunft

    3.4 Zusammenfassung

    4 DER BILDUNGSBEGRIFF – BILDUNG ALS „WAHRE[R] ZWEK DES MENSCHEN"

    5 „HÖCHSTE UND PROPORTIONIERLICHSTE BILDUNG SEINER KRÄFTE" - DER KRAFTBEGRIFF

    5.1 Die Monadenlehre Gottfried Wilhelm Leibniz‘

    5.2 Humboldts Kraftbegriff

    5.3 Die Kräfte

    5.4 Harmonie und Gleichgewicht

    5.5 Wechselwirkungen

    6 DAS GANZE

    7 FAZIT

    LITERATURVERZEICHNIS

    I WEISEN DER BILDUNG ‒ ODER: ÜBER DIE DIFFERENZIERBARKEIT DES EINHEITLICHEN

    (NICOLAUS WILDER)

    „Es gibt vielerlei Augen.

    Auch die Sphinx hat Augen –:

    und folglich gibt es vielerlei ›Wahrheiten‹,

    und folglich gibt es keine Wahrheit."

    (Friedrich Wilhelm Nietzsche, 1887)

    1 EINLEITUNG

    „Philosophie ist die Kunst, das Selbstverständliche nicht selbstverständlich zu finden."¹ In diesem Sinne sollte die Pädagogik – als eine Wissenschaft, die sich erst seit relativ kurzer Zeit von der Philosophie emanzipiert hat² – diesen Kern philosophischen Denkens trotz Emanzipation beibehalten und auf ihren Gegenstandsbereich übertragen, wobei der Gegenstandsbereich der Pädagogik mit BALLAUFFS Worten folgendermaßen beschrieben wird: „Mit Pädagogik haben wir es nur dann zu tun, wenn eine Antwort auf die Frage nach Sinn und Maß der Bildung gegeben wird."³ Auch wenn man möglicherweise der Bildung noch die Erziehung zur Seite stellen und vielleicht auch schon die Suche nach einer Antwort als Pädagogik bezeichnen könnte, so wird hiernach doch eines klar, und zwar, dass eine zentrale Aufgabe der Pädagogik darin besteht, das Selbstverständnis von »Bildung« immerwährend zu hinterfragen und zu diskutieren.

    Während sich Arbeiten zum Thema Bildung häufig reißerischer Thesen apokalyptischer Untergangsszenarien als Aufhänger bedienen⁴, soll diese Arbeit einmal – zur Illustration des Selbstverständnisses von »Bildung« – inmitten der Lebenswelt beginnen und zwar zu dem Zeitpunkt als feststand, dass »Bildung« zum Gegenstand der hier vorliegenden Diplomarbeit werden sollte. Viele Gespräche im Kreise der Bekannten, bei denen zum ersten Mal die Themenwahl darlegt wurde, liefen dabei nach folgendem Muster ab:

    Autor (A): „Ich schreibe über Bildung! Gesprächspartner (G): „Wie Bildung? Was will man denn 100 Seiten über Bildung schreiben? Das ist doch klar, was das ist. A: „Ach ja? Was denn? G: „Naja, also, man muss eben bestimmte Dinge wissen. A: „Wie zum Beispiel? G. „Naja, Deutsch oder Geschichte… A: „Dann wären also nur deutschsprachige Historiker gebildet? G: „Nein, es können ja auch Naturwissenschaftler sein. A: „Also zeichnet sich Bildung durch möglichst tiefgreifende Kenntnis einer bestimmten Fachwissenschaft aus? G. „Nein, das auch nicht. Allgemeinbildung gehört natürlich auch dazu.⁵ A: „Spiegelt sich Bildung denn ausschließlich im Wissen wider? Oder gibt es auch Personen, die viel wissen, die man aber trotzdem nicht als gebildet bezeichnen würde? G: „Die gibt es wohl auch. Natürlich gehören auch soziale Fähigkeiten mit dazu. Gesellschaftlicher Umgang, Höflichkeit... A: „Dann wäre also Einstein, der sich – wenn überhaupt – nur um wenige gesellschaftliche Konventionen scherte, nicht gebildet, dafür aber ein jeder Allgemeingebildeter, der gesellschaftlichen Umgang pflegt, darunter Mörder, Kinderschänder, Diebe, Tyrannen? G: „Nein, das auf keinen Fall. Usw. usf.

    Das Resultat ist Folgendes: Was Bildung ist, gilt lebensweltlich als völlig selbstverständlich, was jedoch genau unter »Bildung« zu verstehen ist, weiß fast niemand so recht zu sagen, ähnlich wie es bereits AUGUSTINUS für die Zeit feststellte: „Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim nescio"⁶. In diesem Sinne ist das Ziel dieser Arbeit also ein Annäherungsversuch an die semantische Vielfalt des Bildungsbegriffes oder, genauer gesagt, die Entwicklung und Erprobung eines Verfahrens für einen solchen Annäherungsversuch. Die dafür ausgewählten zentralen Elemente dieser Arbeit sind zum einen – als notwendige Grundlage – eine Betrachtung von Sprache, insbesondere in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit sowie in ihrer semantische Bedeutung – mithin das Verhältnis von Einzelnem zu Allgemeinem – und zum anderen, darauf aufbauend, der Versuch eines hermeneutisch-pluralistischen Umganges mit dem Begriff »Bildung«, der nicht – zumindest nicht ohne erhebliche semantische Verluste – taxonomisch exakt klassifiziert werden kann, ohne dass sich dabei der ‚Verstand Beulen holt‘⁷ und deshalb unter Zuhilfenahme eines Konzeptes in Anlehnung an die WITTGENSTEINsche Idee der »Familienähnlichkeit«⁸ komparativ analysiert werden soll.

    Für eine wissenschaftliche Betrachtung, die sich der Aufgabe verpflichtet fühlt, ‚das Selbstverständliche nicht selbstverständlich zu finden‘, ergeben sich für eine Betrachtung von »Bildung« zwei elementare Fragen: Zum einen die Frage danach, was Bildung ist, also die Frage nach dem Sein von Bildung und zum anderen die Frage, was unter »Bildung« verstanden wird, also die Frage nach dem semantischen Sinn von »Bildung«. Dabei sind beide Fragen jedoch nicht voneinander losgelöst zu betrachten, denn die Beantwortung der Frage nach dem Sein hat unmittelbaren Einfluss auf die Möglichkeiten der Beantwortungen der Frage nach dem Sinn. Betrachtet man das ontologische Sein von Bildung als etwas Absolutes, weiß man also, was Bildung wirklich ist, so muss dasjenige, was unter »Bildung« verstanden wird, dem entsprechen, was Bildung ist, alles andere wäre als falsch zu bezeichnen. Weiß man hingegen noch nicht, was Bildung wirklich ist, unterstellt aber die mögliche Erkenntnis dessen, so ist die Frage nach dem Sinn die Suche nach dem Sein. Stellt man jedoch die Erkenntnismöglichkeit des Absoluten, also dessen, was Bildung wirklich ist, infrage, so wird das Sein von Bildung überhaupt erst durch den ihr zugewiesenen Sinn konstituiert. Bildung ist dann also dasjenige, was unter »Bildung« verstanden wird.

    Soviel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, dass in dieser Arbeit der letztere Weg eingeschlagen werden wird, denn „es würde uns helfen, die Hoffnung hinter uns zu lassen, die Philosophie werde irgendwie eine Verbindung herstellen zwischen uns und einer ahistorischen, absoluten Instanz."⁹ In diesem Sinne RORTYS wird es also in dieser Arbeit nicht darum gehen, irgendein ‚Wesen‘, eine ‚Idee‘, einen ‚Geist‘ oder überhaupt etwas den Menschen und die Gemeinschaft Transzendierendes, Absolutes von Bildung zu erkennen, sondern darum, den der »Bildung« zugesprochenen Sinn zu betrachten, zu verstehen und zu analysieren. Die aus der Aufgabe des Absoluten resultierende Konsequenz, dass es nicht mehr ‚die eine wahre Bildung‘ gibt, sondern es viele unterschiedliche Verständnisse von Bildung geben kann, macht ein Vorgehen notwendig, das genau das Herausarbeiten von Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten der Verständnisse fokussiert und alternative Kriterien zur Beurteilung dieser Verständnisse bereitstellt als das der ‚absoluten Wahrheit‘. Eben dieses soll mit dem GOODMANschen Konstrukt der »Weise« sowie dem zu entwickelnden Konstrukt des »Bildungsraumes« in dieser Arbeit versucht werden, welche es ermöglichen sollen, die unterschiedlichen Verständnisse von »Bildung« miteinander in Beziehung zu setzen und zu vergleichen.

    1.1 Gegenstand der Betrachtung

    „Der Mensch ist nicht Gott, weil der Gott nicht nach Bildung strebt; denn dieser ist von sich her unveränderlich und bedarf der Bildung nicht."¹⁰ So bedarf der Mensch also aufgrund seiner ‚Veränderlichkeit‘ der Bildung. „Die höchste Möglichkeit des Menschen besteht in diesem Abstreifen des zufälligen Individuellen und dem Hervortreten dieser unverwechselbaren, nie wiederholbaren Eigentümlichkeit. Aus dieser Sicht ist Bildung ein ständiges Individuellerwerden.¹¹ Aus einer anderen Sicht heraus kann Bildung jedoch auch ein ständiges ‚Kollektiverwerden‘ bedeuten, dessen Ziel das Aufgehen des Individuums in der Gemeinschaft ist. „So wird die Frage nach der Bildung des Menschen zu einer Frage über Leben und Tod, über Unvergänglichkeit und Erlöschen in der Erinnerung der Menschheit.¹²

    Gegenstand dieser Arbeit ist »Bildung«, einer der wahrscheinlich elementarsten Begriffe, wenn nicht sogar der elementarste Begriff der Pädagogik, was besonders an der ursprünglichen Verwendung des Begriffes »Pädagogik« deutlich wird. „[D]as um 1770 eingeführte Fremdwort [Pädagogik meint] eigentlich die (wissenschaftliche) Lehre von der menschlichen Bildung bzw. Bildungslehre."¹³

    Bildung. Ist ein, wenn nicht der Grundbegriff der Pädagogik in Deutschland. Da sich in ihm das jeweilige Selbst- und Weltverständnis des Menschen widerspiegelt, kann er nicht zeitlos definiert, sondern nur in seiner historischsystematisch-dynamischen Vielschichtigkeit erschlossen werden.¹⁴

    »Bildung« ist demgemäß nicht nur einer der elementarsten Begriffe, sondern zugleich durch seine historische und sozio-kulturelle Bedingtheit auch einer der unklarsten und umstrittensten in der Pädagogik. In seiner Schillernheit ist »Bildung« zugleich Schwierigkeit als auch Möglichkeit: Schwierigkeit aufgrund seiner unzähligen Menge an divergenten und teilweise sogar widersprüchlichen Bedeutungen, Möglichkeit, da durch ihn den Menschen ein Mittel zur Verfügung steht, das es erlaubt, die ‚Veränderlichkeit‘ des Menschen in bestimmte Bahnen zu lenken und das ‚jeweilige Selbst- und Weltverständnis‘ sowie das geistige Kulturgut zu vermitteln. Bildung ist damit als „Grundfeste menschlicher Kultur"¹⁵ zu verstehen, möglicherweise sogar als notwendige Bedingung menschlicher Kultur, da durch Bildung die nachfolgende Generation immer schon auf dem von den vorherigen Generationen Geschaffenem aufbauen kann und somit eine auch über Jahrhunderte und Jahrtausende andauernde Weiterentwicklung menschlicher Kultur ermöglicht wird. Hierin ist die besondere Relevanz der Bildung für die Gesellschaft zu sehen, denn „Bildung lehrt den vernünftigen Umgang mit der Welt. Deshalb muss Bildung die zentrale Aufgabe unserer Gesellschaft werden.¹⁶ Allerdings darf »Bildung« dabei nicht als das bloße Rezipieren von bereits Geschaffenem verstanden werden, denn „[w]o die Überlieferung von außen prägt, anstatt selbstständig anverwandelt zu werden, verliert sie ihren Sinn.¹⁷ Der Wert von Bildung besteht hiernach also darin, das geistige Kulturgut, welches von der einen Generation der nächsten überliefert wird, ‚selbstständig anzuverwandeln‘, es also aufzunehmen, in Frage zu stellen und weiterzuentwickeln.¹⁸

    Doch der Wert der Bildung wird nicht nur im gesellschaftlichen Nutzen gesehen, sondern oftmals auch in der Ermöglichung des ‚Individuellerwerdens‘. So beschreibt der Begriff »Bildung« zum Beispiel für HORKHEIMER die Möglichkeit zu einer „reicheren Entfaltung der menschlichen Anlagen, zu einer angemessenen Erfüllung der eigenen Bestimmung"¹⁹. Bildung ist dann als das Ermöglichen der Verwirklichung der sich durch das Individuum selbst gegebenen Bestimmung zu verstehen. Bildung als Weg zur Selbstbestimmung und Mündigkeit, als „Ausformung der Individualität"²⁰ gilt überhaupt als eines der großen Ziele der Aufklärung²¹ und ist auch heute noch – als Gegenposition zu Bildung als Weg zu ökonomischer Verwertbarkeit – nicht weniger bedeutsam.

    Eine das Individuum und die Gesellschaft übergreifende Auslegung des Bildungsbegriffes findet sich bei HEGEL, für den »Bildung« die Bedingung des Menschseins an sich darstellt, also zum entscheidenden Abgrenzungskriterium zwischen Mensch und Tier wird.

    [D]er Mensch ist, was er ist, wie er als Mensch sein soll, erst durch Bildung; so ist er erst als Geist; es ist seine zweite Geburt; dadurch erst nimmt er Besitz von dem, was er mehr hat als das Tier, und so ist er erst als Geist, als Mensch.²²

    An anderer Stelle heißt es bei HEGEL zu der „Idee der menschlichen Freiheit"²³:

    Was der Mensch zunächst unmittelbar ist, ist nur seine Möglichkeit, vernünftig und frei zu sein, nur die Bestimmung, nur das Sollen; erst durch Zucht, Erziehung und Bildung wird er, was er sein soll, der Vernünftige. Der Mensch ist nur die Möglichkeit Mensch zu sein, wenn er geboren ist.²⁴

    Der Mensch nach HEGEL ist also nicht notwendigerweise Mensch, sondern nur möglicherweise, das heißt, die Möglichkeit Mensch zu sein ist zwar in jedem Menschen angelegt, aber wirklich Mensch sein kann der Mensch erst durch Bildung. Bildung ist hiernach notwendig zum Menschsein.

    Anhand dieser kurzen grundsätzlichen Überlegung zum Bildungsbegriff sollte illustriert werden, von welcher besonderen Relevanz Bildung im allgemeinsten Sinne für den Mensch – also das Individuum, die Gemeinschaft und das Menschsein an sich – zu sein scheint. Und eben diese Relevanz ist es, die eine intensivere Analyse des Bildungsbegriffes lohnenswert erscheinen lässt, ebenso wie dessen bereits langwährende Aktualität.

    Gestatten Sie mir die Banalität einer Aufzählung zusammengesetzter Begriffe, wie wir sie heute in der täglichen Zeitung bunt verstreut, im Lexikon alphabetisch aneinandergereiht finden: Bildungsbericht, Bildungsbilanz, Bildungsboom, Bildungsbudget, Bildungsdefizit, Bildungsdichte, Bildungsfernsehen, -finanzierung, -forschung, -förderung, -gefälle, -güter, -ideal, -inhalte, -kommission, -mittel, -monopol, -notstand, -ökonomie, -planung, -politik, -rat, -reform, -statistik, -stufen, -technologie, -urlaub. -wesen, Bildungswerbung, Bildungszentrum…

    Viele dieser Begriffe sind Prägungen aus jüngster Zeit, die meisten von handgreiflicher Aktualität. Hinzu kommen noch die umgekehrten Wortzusammensetzungen, nicht weniger im Gespräch: Lehrerbildung, Erwachsenenbildung, Weiterbildung, Berufsbildung, Elternbildung usw.

    Vielleicht wäre es nicht ganz abwegig, zu sagen: Bildung ist nicht eines unter anderen, sondern das Stichwort des Tages.²⁵

    Bildung ist ‚das Stichwort des Tages‘ und auch wenn dies bereits 1974 festgestellt wurde, so hat sich bis heute nicht viel daran geändert, verfolgt man die omnipräsente mediale Aufbereitung internationaler Bildungsvergleichsstudien sowie deren politische Diskussionen oder den ständigen europaweiten Reformierungsversuch der Schul-, Hochschul- und Ausbildungssysteme. Bildung ist also nach wie vor von zentraler Bedeutung und das Besondere daran scheint, dass diese Bedeutung einen nahezu klassisch-zeitlosen Charakter zu haben scheint. Während Begriffe wie Wirtschafts- oder Bankenkrise –von deren Auswirkungen sich die Gesellschaft in höchstem Maße betroffen zeigt – kurzzeitig eine mediale Vormachtstellung einnehmen und nach wenigen Wochen oder Monaten bereits wieder deutlich abflauen, ist die Präsenz des Bildungsbegriffes kontinuierlich – zwar mal mehr, mal weniger – aber selbst in Situationen der Krise deutlich erkennbar, wenn zum Beispiel während der Finanzkrise 2007 die möglichen Veränderungen des Bildungssystems zur Verhinderung solcher Krisen diskutiert wurden. Diesbezüglich äußert sich die Relevanz von Bildung also in ihrer dauerhaften Aktualität sowie ihrem Potential, mit vielerlei Gegenständen in Verbindung gebracht zu werden, zum Beispiel als Begründung oder Interventionsmaßnahme.

    „Aber an sich ist das Einrücken der Bildungsproblematik in den Vordergrund oder besser Mittelpunkt menschlicher Bemühungen nicht etwa nur unserer Epoche eigentümlich."²⁶ Auch in der Antike und im Mittelalter waren Fragen zur Bildung bereits von zentraler Bedeutung²⁷, betrachtet man zum Beispiel PLATONS „Politeia²⁸ oder COMENIUS „Pampaedia²⁹. Und schon bei diesen Werken und Auseinandersetzungen über den Bildungsbegriff, ebenso wie bei Ausführungen aktuelleren Datums wird deutlich, dass diese häufig mit einer Kritik am bestehenden System oder an der bisherigen Bildung des Menschen ansetzen. Bildung scheint also als ein wesentliches Mittel zur Veränderung des Bestehenden verstanden zu werden und ist möglicherweise deswegen in ihrer Menge an verschiedensten Variationen so umstritten.

    Die machtvolle Auseinandersetzung gesellschaftlicher Interessengruppen um einen angemessenen Bildungsbegriff, um das, was gelehrt und gelernt werden soll, zeitigt also Normalität sowie Kontinuität und ist keineswegs nur eine Erscheinung der Zeit.³⁰

    Da nunmehr der Gegenstand der Betrachtung in seiner Bedeutsamkeit insbesondere für die Pädagogik dargelegt wurde, bleibt die Frage offen, wie man sich einem solchen, aufgrund seines Facettenreichtums nicht streng klassifizierbaren Phänomen analytisch annähern könnte, ohne dabei dessen Variationsreichtum und Potenzial einzuschränken oder auszublenden oder gar zu zerstören.

    1.2 Darstellung der Vorgehensweise

    Die hier vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, sich dem Sachverhalt Bildung durch eine wissenschaftliche Analyse und deren textliche Aufbereitung in einer verständlichen und umfassenden Weise anzunähern. Die größte Schwierigkeit dieses Versuches offenbart sich dabei in der Frage danach, wie man sich einem solch schillernden Begriff überhaupt annähern kann und in der Rechtfertigung, warum man nach der Vielfalt und nicht der Einfalt dieses Begriffes sucht.

    Es ist nicht klar, dass sich und wie sich richtige Anfänge und Wege von falschen und irreführenden unterscheiden lassen. Vielmehr schaffen erst der Aufweis vieler möglicher Wege und das Wissen über mögliche Abwege eine Übersicht über das zu erschließende Terrain.³¹

    Da es, wie dieses Zitat verdeutlicht, nicht möglich ist, schon vor dem Betreten des Weges darüber zu entscheiden, ob ein bestimmter Weg der richtige sein wird, erscheint es umso notwendiger mit dem Ziel vor Augen einfach einen Weg zu beschreiten. Der hier zu beschreitende Weg ist dabei im Wesentlichen durch zwei geisteswissenschaftliche Denktraditionen geprägt, die es in dem ersten von drei Abschnitten des Weges offenzulegen gilt. Zum einen handelt es sich dabei um die Einsicht in die Notwendigkeit des Verstehens also um die Frage nach der Bedeutung des dem Begriff »Bildung« zugesprochenen Sinns.

    Wie muß der Begriff ‚Bildung‘ heute ausgelegt und verstanden werden, wenn er weiterhin als ein Kernbegriff des pädagogischen Denkens und als eine Leitvorstellung des erzieherischen Handelns und der Gestaltung des Erziehungs-, Schul- und Hochschulwesens Anerkennung finden soll? Bedarf es nur der Renaissance einer ursprünglichen Sinngebung des Wortes? […] Oder geht es gerade nicht um Renaissance, sondern um tiefgreifende Revision, um ein Umdenken der uns überlieferten, auch der ‚ursprünglichen‘ Auslegung dessen, was ‚Bildung‘ meint, meinen könnte oder meinen soll? […] Renaissance eines ‚ursprünglichen‘ Bildungsbegriffs – Revision aller bisherigen Sinngebungen von Bildung – Abschied vom Begriff der Bildung überhaupt: wie auch immer die Lösung der Frage lauten mag sie kann nur sachgemäß ausfallen, wenn man sich mit der Sinngeschichte des Bildungsbegriffs auseinandergesetzt hat.³²

    KLAFKI verdeutlicht an dieser Stelle die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der ‚Sinngeschichte des Bildungsbegriffes‘. Hier jedoch soll noch einen Schritt früher angesetzt werden, indem erst einmal die Frage danach gestellt wird, welche Bedeutung Sinn denn überhaupt für »Bildung« hat. Diese Frage soll auf der Grundlage der Hermeneutik erörtert werden. Zum anderen jedoch gilt es nicht bloß die Frage nach dem Sinn, sondern, wie bereits erwähnt, auch die Frage nach dem Sein von »Bildung« zu stellen, deren Beantwortung auch der Legitimation einer Auseinandersetzung mit der Vielfalt von »Bildung« dienlich ist. Diese Frage wird auf der Grundlage des Pluralismus von GOODMAN diskutiert werden, der eine Auseinandersetzung mit Vielfalt nicht nur legitimiert sondern explizit fordert. Nachdem damit die Rahmenbedingungen des Weges skizziert sind, soll in dem zweiten Abschnitt ein Verfahren entworfen werden, welches eine komparative Analyse unterschiedlicher Bildungstheorien oder Auslegungen des Bildungsbegriffes ermöglicht. Dieses wird auf der Grundlage der dargestellten Rahmenbedingungen und unter Zuhilfenahme der WITTGENSTEINschen Idee der Familienähnlichkeit von Begriffen versucht werden. Im Zentrum dieser Überlegungen stehen dabei vier, zu einem Bildungsraum aufgespannte Dimensionen, anhand derer die unterschiedlichen Bildungstheorien analysiert und miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen. Die vier Dimensionen spannen sich dabei jeweils zwischen zwei Polen auf: struktural – prozessual, normativ –deskriptiv, autonom – heteronom, zeitgemäß – unzeitgemäß, die es insbesondere in ihrer Bedeutung für den Bildungsbegriff zu erörtern gilt.

    Als letzter Abschnitt des Weges wird dann der Versuch unternommen, dass zuvor entworfene Verfahren exemplarisch anhand von drei unterschiedlichen Auslegungen des Bildungsbegriffes anzuwenden – des Bildungsbegriffes VON HUMBOLDTS, des geisteswissenschaftlichen KLAFKIS und des kritischkonstruktiven KLAFKIS. Dafür werden die unterschiedlichen Bildungsbegriffe zunächst vorgestellt und dann im Hinblick auf die vier Dimensionen des Bildungsraumes analysiert, um dann abschließend mit Hilfe des Bildungsraumes verglichen zu werden. Im Fazit werden der hier beschrittene Weg und insbesondere das entwickelte und erprobte Verfahren kritisch betrachtet werden. Methodisch wird in dieser Arbeit hermeneutisch vorgegangen, das heißt in diesem Fall, dass Erkenntnisse mittels einer interpretativen Auseinandersetzung mit bereits Gedachtem zu gewinnen versucht werden.


    ¹ ANGEHRN 2003, S. 9.

    ² Auch wenn diesbezüglich kein festes Datum gesetzt werden kann, so ist eine gewisse Verselbstständigung der Pädagogik wohl am Ehesten in der Entstehung der »Geisteswissenschaftlichen Pädagogik« durch die Schüler DILTHEYS zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu sehen. Vgl. hierzu BÖHM 2005, S. 478 ff., Stichwort: Pädagogik.

    ³ BALLAUFF 1966, S. 9.

    ⁴ Vgl. zum Beispiel: „Wir sind, was die Bildung betrifft, in der Lage Robinsons. Wir haben Schiffbruch erlitten. Das ist schlimm, aber es ist keine Katastrophe, solange man seine Moral behält, nicht in Panik gerät, lernfähig ist und zäh genug, alles wieder neu aufzubauen. Machen wir also Inventur. Sichten wir das Wissen und trennen wir das Wesentliche vom Unwesentlichen. Überprüfen wir unsere Maßstäbe. Korrigieren wir unsere Fehler. Und gewinnen wir dabei unsere Urteilsfähigkeit zurück. Wie ist die Lage, wenn wir sie nicht beschönigen? […] Bildung ist zu einem Schattenreich geworden. In ihm sind die Vorstellungen davon verdampft, was man eigentlich lernen soll. Eine ernsthafte, fachlich solide Überlegung über Bildungsziele findet nirgendwo statt. Statt dessen herrschen die beiden Schwestern – die große Verunsicherung und die große Unübersichtlichkeit." In: SCHWANITZ 1999, S. 24.

    ⁵ Die Frage, was genau Allgemeinbildung wiederum sei, wurde in den meisten Gesprächen nicht weiter vertieft.

    ⁶ AUGUSTINUS 2009, S. 213. Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, so weiß ich es nicht.

    ⁷ „Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckungen erkennen." In: WITTGENSTEIN 1969, S. 344. Die unter Umständen ungewöhnliche Verwendung einfacher Anführungszeichen soll an dieser Stelle kurz erläutert werden. Wie gewohnt werden einfache Anführungszeichen innerhalb von Zitaten zur Kennzeichnung von im Zitat wörtlich Zitiertem verwendet. Außerhalb von Zitaten hingegen werden mit einfachen Anführungszeichen zum einen umgangssprachliche Ausdrücke gekennzeichnet und zum anderen Passagen hervorgehoben, die im Text bereits wörtlich zitiert wurden oder noch werden, wobei die Grammatik gegebenenfalls an den Text angepasst wurde.

    ⁸ WITTGENSTEIN 1969.

    ⁹ RORTY 2005, S. 5.

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