Züge im Schnee: Eine weite, teilweise beschwerliche Reise
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Bernhard Fellner
Bernhard Fellner wurde 1953 in Wien geboren. Nach einer Ausbildung an der Hochschule für Welthandel verbrachte der Autor sein Berufsleben in der Wirtschaftswelt, konkret als Revisor und Bankprüfer im Genossenschaftsbereich. Zeitlebens interessierte er sich privat für den musischen Sektor, für das Schreiben, Malen und Zeichnen. Neben mehreren Ausstellungen seiner Bilder veröffentlichte Bernhard Fellner 2014 bei BoD seinen ersten Roman "Züge im Schnee".
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Book preview
Züge im Schnee - Bernhard Fellner
hat.
Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme.
Thekla in Schiller, Die Piccolomini 3,8
Paul stand auf der Gersthofer Eisenbahnbrücke und schaute einem Zug nach. Er trug einen dunkelgrauen Mantel aus englischem Stoff, einen schwarzen Schal und einen dunkelbraunen, breitkrempigen Hut. Seine Haare waren weiß wie sein Bart. Die Hände hatte er in die Manteltaschen gestopft – es war ein kalter Wintertag. Weißer, glitzernder Schnee bedeckte die Gleise, da es die letzten zwei Tage durchgeschneit hatte. Der Zug wirbelte den Schnee in die Höhe und dann legten sich die Flocken wieder zur Ruhe. Die Waggons verschwanden hinter einer Biegung.
In sich gekehrt verharrte Paul in seiner Position. Sein Blick war jetzt nach innen gerichtet. Immer weiter zurück wanderte er in Gedanken, durch Jahre und Jahrzehnte, in denen er sein Leben gelebt hatte, während hier die Züge durch den kalten Schnee des Winters und die schwelende Hitze des Sommers gefahren waren.
Er war hier geboren worden - in einem Sommer vor langer Zeit in der ehemaligen Gersthofer Frauenklinik, die später in ein Orthopädisches Spital umgewandelt werden sollte. Mittlerweile wurde das Krankenhaus komplett zugesperrt. Ganz in der Nähe führte damals schon die sogenannte „Vorortelinie" vorbei, die überwiegend für Lastentransporte genutzt wurde. Paul hatte sicher schon in seiner ersten Erdennacht das Pfeifen der Lokomotiven gehört, denn es war warm in dieser Nacht und die Fenster der Frauenklinik standen offen. Das Spital lag in einer ruhigen Gegend am Abhang des Schafberges. Es gab viel Grün dort und wenig Autoverkehr. Paul hatte diesen Schafberg später recht gut kennengelernt, wenn er mit seiner Mutter und den Schwestern die Czatoryskygasse hinaufgegangen oder – gefahren war: zum Schwimmbad, zum Schlittenfahren und zum Spielen auf den schönen Schafbergwiesen.
Natürlich wusste er nicht mehr, was er in dieser ersten Nacht empfunden beziehungsweise geträumt hatte. Sein dominantes Empfinden bezog sich sicher wie bei allen Neugeborenen auf die Mutter. Er hatte in einem Schlafsaal mit den anderen Babys übernachtet und war erst in der Früh wieder mit seiner Mutter zusammengekommen.
Da die allerersten Eindrücke die einprägsamsten sind, wird das Pfeifen der schweren Dampflokomotiven in dieser warmen Julinacht nachdrücklich in sein Bewusstsein gedrungen sein. Vielleicht war es mit eine Erklärung für seine Affinität zu allem, was mit Eisenbahnen zu tun hatte.
In dieser Nacht machte er sich auf die größte Reise, die ein Mensch unternehmen kann: Auf die Reise seines Lebens. Während er im Chor mit den anderen Säuglingen dahinschlummerte oder schrie, war sein Lebenszug schon unterwegs auf den ersten Kilometern. Wohin die Reise gehen würde – wohin das Leben ihn führen würde -, davon hatte niemand eine Ahnung, er selbst am allerwenigsten.
Durch die im Nachtwind leis sich bauschenden Gardinen drangen die Geräusche der Nacht herein. Welcher Nachtvogel war es, der da sang? Was erzählte der Wind?
Paul schrak auf, weil ein paar Buben unweit von ihm mit einer Schneeballschlacht begonnen hatten. Dann setzte er seine Gedankenreise fort.
Die Paulinengasse liegt in Währing – genauer gesagt in der Pfarre Weinhaus – und verläuft parallel zur Vorortelinie. Dort war er aufgewachsen. Die Gasse verbindet den 18. mit dem 17. Bezirk und als er ein kleiner Bub war, rumpelten die schlecht gefederten Fahrzeuge der Fünfziger-Jahre noch über ihre großen Pflastersteine. Die Autos fuhren in beide Richtungen und trotzdem war nur ein verschwindender Bruchteil des heutigen Verkehrs in der Paulinengasse unterwegs.
Später wurde das alte Pflaster der Paulinengasse entfernt und die Straße asphaltiert. Irgendwann führte man auch die Einbahnregelung Richtung Hernals ein.
Paul wohnte mit seiner Familie in einem Wohnbau, der drei Teile hatte, auf Stiege II. Zwischen den Stiegen befanden sich große, begrünte Höfe und Bänke als Sitzgelegenheit. Im zweiten Hof gab es auch eine Sandkiste für das Graben mit dem Sandschauferl. Im Hof versammelten sich die kleinen und größeren Kinder zum gemeinsamen – meist mütterlich oder großmütterlich bewachten – Spielen. Eines davon hieß: „Schneider, Schneider leih‘ ma d’Scher! und dazu verwendeten die Kinder die vier um die Sandkiste herum stehenden Bäume. Diese Bäume waren durch vier Kinder „besetzt
. Der oder die in der Mitte musste laut „Schneider, Schneider leih‘ ma d’Scher!" rufen, worauf die Bäumchen von den Kindern gewechselt werden mussten. Bei diesem Herumgerenne musste das Kind in der Mitte versuchen, einen freien Baum zu ergattern.
Weiter unten und ebenso weiter oben in der Paulinengasse gab es zwei von der Gemeinde Wien sehr großzügig angelegte Wohnhausanlagen, wovon die obere wegen der dort gepflanzten Bäume „Lindenhof" genannt wurde. Er war ein dunkelgrauer Bau, der einer Festungsanlage glich. Durch die sehr großzügig gestalteten Innenhöfe bot er aber ein für die Zeit seiner Entstehung beträchtliches Ausmaß an Lebensqualität.
Genau gegenüber Pauls Wohnung lag ein weiterer, kleinerer Wohnbau – nach vorne offen und mit einer Stiege, die zwei steinerne Hunde bewachten. Sie hatten ihm immer sehr gut gefallen und er hatte bedauert, dass sie nur aus Stein und nicht lebendig waren. Ernst und sozusagen gefasst standen die beiden Wächter am Beginn der Stufen und trotzten dort, so lang Paul denken konnte, Wind und Wetter, Regen und Sturm, Schnee und