Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Die Spessarträuberin: historischer Roman
Die Spessarträuberin: historischer Roman
Die Spessarträuberin: historischer Roman
Ebook375 pages4 hours

Die Spessarträuberin: historischer Roman

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

In einer stürmischen Herbstnacht wird Katharina als Neugeborenes vor dem Portal der Kapuzinerkirche abgelegt. Bruder Johannes nimmt sich des Kindes an und sorgt dafür, dass keiner seiner Mitbrüder von ihrer wahren Identität erfährt. Jeder glaubt, es handelt sich bei ihr um einen Jungen. Nach seinem Tod muss sie das Kloster verlassen. Mittellos steht sie plötzlich auf der Straße. Katharina fällt in die Hände einer Jugendbande. Um zu überleben, bleibt ihr nur ein Ausweg. An der Seite der jugendlichen Straftäter überfällt sie Passanten, geht der Bettelei nach und gräbt zu nächtlicher Stunde auf dem Friedhof Leichname aus. Als die Rote Ruhr ausbricht und einige der Jungen erkranken, gelingt ihr die Flucht in den Spessart …
LanguageDeutsch
Release dateOct 27, 2014
ISBN9783738681710
Die Spessarträuberin: historischer Roman

Related to Die Spessarträuberin

Related ebooks

Related articles

Reviews for Die Spessarträuberin

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Die Spessarträuberin - Thomas Meßenzehl

    Eigenverlag - 2014

    Thomas Meßenzehl, geb. 1960 in Oberafferbach / Johannesberg.

    Er lebt seit 1984 gemeinsam mit seiner Frau Iris in Hörstein

    (dem „Tor zum Kahlgrund").

    Autor der Bücher:

    „Schicksalsstürme",

    „Hexenfeuer, „Schwedenmond,

    „Das Grab des Spessarträubers",

    „Das Bild des Fabulus „Der Ring des Schicksals,

    „Kahlgrundzauber Band 1 und Band 2,

    „Der Hexenkönig von Aschaffenburg",

    „Bilder und Geschichten aus Hörstein (Mitautor Heinrich Ortner) und weitere Veröffentlichungen z. B. im Heimatjahrbuch – „Unser Kahlgrund.

    Autor des erfolgreichen Theaterstücks:

    „Kahlgrundsaga" (aufgeführt in Kahl a. M. – März 2014)

    Dieses Buch ist meiner lieben Frau Iris und meiner lieben Mutter Maria gewidmet.

    ***

    „…aus der Menge der Missetäter schloss er, dass Galgen und Rad den wahren Bösewicht von Verbrechen nicht abhatten können. Jeder denkt… wenn er bei einem Galgen oder Rad vorbei geht, wo sein `Amtsbruder´ den Lohn seiner Taten fand; du Narr da oben, warum warst du nicht so vorsichtig wie ich."

    (P. A. Winkopp: Faustin oder das philosophische Jahrhundert. Zweites Bändchen, 1784.)

    ***

    Inhaltsverzeichnis

    1. Der Galgenpater

    1. Kapitel

    2. Die Bande des Schreckens

    1. Kapitel

    2. Kapitel

    3. Kapitel

    3. Die alte Glashütte im Spessart

    1. Kapitel

    2. Kapitel

    3. Kapitel

    4. Kapitel

    5. Kapitel

    4. Die Spessarträuberin

    1. Kapitel

    2. Kapitel

    3. Kapitel

    4. Kapitel

    1.

    Der Galgenpater

    1.

    Aschaffenburg, Allerseelen 1778.

    Mitternacht war längst vorbei. Die Nacht hüllte den epochalen Prachtbau des Schlosses Johannisburg in tiefe Dunkelheit. Hinter den Fenstern der Sandsteinfassaden, des vierflügeligen symmetrischen Bauwerks, herrschte gähnende Finsternis. Nur in einer kleinen Stube, im oberen Teil des Lakaienturmes brannte noch Licht.

    Der ohrenbetäubende Schrei der Gebärenden brach sich an den engen Wänden. Von einem heftigen Wehgeschrei begleitet kam das Neugeborene zum Vorschein. Auf seinem Kopf spross der erste zarte Flaum roten Haares. Umgeben von Blut und Fruchtwasser, hob die Hand des Arztes die neue Frucht des Lebens in das schummrige Dämmerlicht des brennenden Kerzenleuchters. So als fürchte sich das Kind vor Gott und der Welt, stieß es einen lauten Schrei aus. Sein Wehklagen fand kein Ende.

    „Was ist es denn?", fragte der graubärtige Mann, der den Kerzenleuchter hielt. Seine Augen waren nicht mehr die besten. Er trug den Rock eines Lakaien. Ungeachtet tropfte ihm das Kerzenwachs auf die Hand.

    „Das dürfte wohl jetzt von geringster Bedeutung sein!" Der Arzt bedachte ihn mit einem strengen Blick. Auf seiner hohen Stirn stand eine steile Unmutsfalte.

    „Ich meinte nur…", kam es leise zurück.

    „Danach fragt euch aber niemand, blaffte der Arzt. „Denkt stattdessen an eure Aufgabe!

    „Ja, Herr." Der Gescholtene senkte in kriecherischer Gestik sein schütteres Haupt.

    Die Anwesenheit von Gevatter Hein lag mit spürbarer Schwere in der Luft. Schweißüberströmt und erschöpft lag die junge Mutter in ihren Kissen. Eine verschwitzte Strähne ihres roten Haares hing ihr über das rechte Auge.

    „Ich kann nicht mehr", hauchte sie kaum vernehmlich. Sie hielt ihre Augen geschlossen, sie hatte ihre letzte Kraft verbraucht. Ihre schwache Stimme wurde vom Wind, der wild um das dicke Gemäuer des Turmzimmers heulte, beinahe verschluckt. Das verquollene und von Schmerzen entstellte Gesicht sah sich bereits in die wächserne Bleiche des Todes getaucht. Sie tat einen tiefen Seufzer. Ihr Kopf fiel zur Seite. Kurz darauf verlor sie das Bewusstsein.

    „Es geht mit ihr zu Ende." Die Stimme des Arztes war völlig emotionslos. Er fühlte ihren Puls. In seinen hageren Gesichtszügen spiegelte sich grenzenlose Gleichgültigkeit wider. Er machte sich gar nicht erst die Mühe den Kampf mit dem Sensenmann aufzunehmen. Keine irdische Macht vermochte die Ärmste zu retten. Ihr Schicksal schien ihm irgendwie in die Karten zu spielen. Sie war schließlich nur eine von Vielen, die sich am Hof des Mainzer Kurfürsten tummelten. Jene Damen kamen und gingen wie die Tage. Sie waren so zahlreich wie die aus Sandstein gehauenen Gesichter und Köpfe, welche die vier Ecktürme des Renaissanceschlosses zierten. Diese Frau, die vor ihm auf dem Bett ihrer Kammer lag, war aber etwas Besonderes. Nicht nur wegen ihrer betörenden Schönheit. Sie hätte einigen Leuten und einer gewissen Person durchaus gefährlich werden können. Ihre Niederkunft, sofern sie bekannt wurde, warf viele unbequeme Fragen auf. Zum Beispiel diese: Wer war der Vater des Kindes?

    Der Arzt kam hierfür nicht in Betracht. Da musste sich ein anderer ganz bestimmter Herr Sorgen machen. Der Arzt rang kurz nach Atem. Dies lag jedoch keineswegs an der kleinen stickigen Kammer. Auf seinen Schultern lag eine schwere Last. Heute schloss er erstmals mit Gevatter Hein Freundschaft. Ausgerechnet mit seinem erbittertsten Feind. Wenn auch nur für einen Tag oder wenige Stunden. Schließlich nahm ihm der Totenkramer eine große Sorge ab.

    Das Schreien des Kindes ging plötzlich in ein leises Wimmern über. Vielleicht ahnte es, welch unfassbares Drama sich gerade um seine Mutter abspielte. Anscheinend spürte das Neugeborene um die Nähe des Todes. Vielleicht ließ sich Gevatter Hein damit hinters Licht führen, wenn man sich möglichst still verhielt und er dann an einem vorbeiging, ohne dass er auf einen aufmerksam wurde. Nein, der Totenkramer vergaß keinen. Mit einer solchen Vorgehensweise konnte man lediglich einer drohenden Gefahr erfolgreich begegnen. Doch hatte das Neugeborene überhaupt eine Zukunft, oder sollte es binnen eines Augenzwinkerns das schreckliche Schicksal seiner Mutter teilen?

    In wenigen geschickten Handgriffen durchtrennte das Skalpell in der Rechten des Arztes die Nabelschnur. Gekonnt schlug er am Bauch des Neugeborenen einen Knoten.

    Ohne, dass die junge Mutter noch einmal das Bewusstsein wiedererlangte, schied sie mit einem kaum merklichen Schnaufer aus dem Leben. Ihre Lider würden sich niemals wieder öffnen. Niemals würden ihre Augen das Kind sehen, das sie soeben unter großer Pein geboren hatte.

    „Seht zu, dass die unleidige Sache rasch zum Abschluss kommt." Der Arzt hüllte das Neugeborene in ein Tuch und reichte es dem Lakaien. Außer den beiden Männern und dem Kind befand sich niemand im Zimmer. Der Arzt hatte vorgesorgt. Je weniger Augenzeugen, desto besser. Es gab schließlich keine hundertprozentige Sicherheit, dass eine Zunge sich eines Tages nicht doch noch lösen würde, trotz aller Beteuerungen und Schwüre.

    „Was geschieht mit dem Leichnam?", fragte der Lakai und nahm das Kind behutsam in seine Hände. Vorsichtig, als sei es sein eigenes Fleisch und Blut, drückte er es an seine Brust.

    „Der Totengräber wird noch heute Nacht drüben auf dem Friedhof von Sankt Agatha ein Loch ausheben, antwortete der Arzt und wusch seine blutverschmierten Hände in einer Schüssel mit heißem Wasser. „Niemand wird je erfahren, dass sie dort begraben wurde. Es gibt weder ein Kreuz noch einen Grabstein. Ihr Name wird in keinem Totenbuch verzeichnet sein. Ihr wird morgen Früh auch keiner ein Allerseelenbrot auf das Grab legen. Aber was erzähle ich euch das alles. Es soll euch nicht kümmern. Seine Züge verfinsterten sich. „Wehe euch, wenn ihr auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verliert!" Wie gut, dass du schon so alt bist, dachte der Arzt, lange wirst du dieses dunkle Geheimnis nicht mit dir herumtragen. Auf einen Becher vergifteten Weines konnte man hier getrost verzichten…

    Mit der unmissverständlichen Drohung in den Ohren verließ der alte Lakai die Kammer.

    *

    Der bitterkalte Herbstwind trieb die letzten Blätter den Karlsberg hinab. Die Luft roch nach Schnee. Irgendwo verlor sich im Viertel um St.Agatha das Gekläffe eines Hofhundes. Eine einsame Gestalt hielt in Richtung des Gasthauses „Zum goldenen Ochsen zu. Der Wirt, Christian Rausch, hatte aber längst die „Weinglocke geläutet und die Zecher auf den Heimweg geschickt. Der Lakai hatte aber kein Verlangen nach einem Schoppen Wein. Den Mantelkragen hochgestellt, lief er in gebückter Haltung. Schützend schlugen sich seine Arme um das Bündel, das er bei sich trug. Das Kind verhielt sich völlig ruhig. Seitdem sie das Schloss verließen, hatte es nicht ein einziges Mal geweint oder geschrien. Die Gefahr in der es schwebte war keineswegs gebannt. Kurz vor dem Gasthaus bog der Lakai zur linken Seite hin ab. Geradewegs lenkte er seine schweren Schritte ins Kapuzinergässchen. Er musste sich mucksmäuschenstill verhalten. Niemand durfte erfahren wer er war und woher er kam. Sein eigenes Leben stand auf dem Spiel. Plötzlich glaubte er ein Geräusch zu hören. Er hielt inne. Ihm war, als würde das Herz aus seiner Brust springen. Nein, da war nichts. Er lief weiter. Noch ein paar Schritte und er hatte die Klosterpforte erreicht. Wie gut, dass auch die Mitglieder des „Ordo Fratrum Minorum Capucinorum" *1) ihren Schlaf brauchten. So würde es auch eine Weile brauchen, ehe jemand von ihnen schlaftrunken aus seiner Zelle kam, um nachzusehen, wer denn zu solch unchristlicher Zeit die Pfortenglocke läutete.

    Der Lakai legte das Neugeborene mitten auf der Stufe ab. Er fühlte sich auf einmal seltsam beobachtet. Linkerhand, nur einen Steinwurf von der Klosterpforte entfernt, verloren sich in der Dunkelheit die Umrisse zweier kleiner Gestalten. Beide prangten genau über dem Portal der Kapuzinerkirche. Sie waren reglos. Die zwei Figuren verhielten in völliger Erstarrung. Die Heilige Elisabeth von Thüringen, die Namensgeberin dieses Gotteshauses, reichte einem durstigen Bettler einen Becher. Diese beiden stummen Zeugen aus Sandstein würden ewig schweigen. Angestrengt horchte der Lakai in die Nacht, bevor er dann am Seil der Glocke zog und sich klammheimlich aus dem Staub machte.

    *

    Elf Jahre später.

    Der Wind trug die Wärme des Septembertages in den großen Klostergarten. Ein strahlendblauer Himmel spannte sich darüber hinweg. „Auf dem Schutz", wie dieses Gelände entlang der alten Stadtmauer genannt wurde, gediehen Obstbäume, Gemüse, Kräuter und Pflanzen aller Art. An den Weinstöcken hingen die prallen Bündel der Trauben. Seit etwa einhundertfünfzig Jahren sorgten hier Pater und Brüder im Angesicht ihres Schweißes dafür, dass dieses große Grundstück nicht brach lag.

    Die Männer in ihren braunen mit Stricken gegürteten Kutten lebten schließlich auch davon. Es lag einzig an ihren spitzen Kapuzen, weshalb man sie liebevoll als „Kapuziner titulierte. Das Volk mochte jene „gemäßigten Eremiten. Dieser Orden sah sich – als Helfer in der Seelsorge – um die wortgetreue Einhaltung, der vom Heiligen Franz von Assisi aufgestellten Ordensregel verpflichtet. Ihre Sprache erklärte das Evangelium des Allmächtigen so, dass es selbst der einfache Mann verstand. Von der Kanzel der Kapuzinerkirche ergoss sich so manche feurige „Kapuzinerpredigt auf das sündige Volk. Trotzdem waren die Kirchenbänke beim nächsten Gottesdienst wieder voll besetzt. Vielleicht bedurften die „Schäfchen der Zurechtweisung ihrer „Hirten".

    Keiner wurde an der Klosterpforte abgewiesen, egal sei er nun krank, arm und schwach, oder bitterster Not ausgesetzt. Der Klostergarten, mit dem großen Ziehbrunnen *2) warf eine große Ernte ab, so dass es auch für die Speisung der Armen reichte. Und dies noch in ständiger Regel.

    „Matthias! Die laute sonore Stimme des Rufers erfüllte auch den letzten Winkel des Klostergartens. Graue Schläfen zogen sich vom lichten Haupt in sein braunes wettergegerbtes Gesicht. Für Letzteres hatten die Sonne und die beinahe tägliche Arbeit inmitten der Gemüsefelder und Weinreben gesorgt. Der große graue Bart verlieh Bruder Johannes das Aussehen eines ehrwürdigen Patriarchen. Seit über sechzig Jahren gehörte er diesem Konvent an. Er mochte und wollte sich auch kein anderes Leben vorstellen. Anfangs trugen ihn seine Füße jahrelang in den Sandalen als Bettelmönch, mit dem Almosensack auf den Schultern, durch die Dörfer. Ehe er, des vielen Laufens müde, hier im Kloster eine feste Bleibe fand. Trotz seiner kleinen sehr eng und bescheiden eingerichteten Zelle, mit den paar Brettern als Nachtlager, liebte er es ein Kapuziner zu sein. Auch wenn er damit das strenge Leben eines armen Büßers wählte. Erfüllt von unbedingtem Gehorsam, Keuschheit und Besitzlosigkeit. Allein das schlichte Holzkreuz, welches die schmucklose Wand seines Zimmerchens zierte, reichte aus, um ihm Kraft, Stärke und Zufriedenheit zu geben. Das Leben jenseits der Klostermauern war ihm dagegen fremd. Er mochte es nicht. Es stieß ihn förmlich ab. All der Neid, Hass, Missgunst und Grausamkeit unter den Menschen hatten ihn zu einem Eremiten gemacht. Gottlob waren die Notleidenden, die an die Klosterpforte klopften, oder in den Gottesdienst kamen, nicht mit derlei tiefen Abgründen menschlicher Seele gesegnet. Unverdrossen und in unermüdlichem Eifer half er in der Seelsorge mit. Doch neben seiner Arbeit im Klostergarten fiel ihm eine weitere Aufgabe zu, die ihn jedes Mal zutiefst erschütterte, sobald er sie ausführen musste. Aber der Gehorsam zu seinem Guardian -Pater Leopold- machte ihn zu einem demütigen Werkzeug. „Matthias!

    Der Angerufene sah auf. Seine großen Augen blickten neugierig in die Welt. Er kniete inmitten eines großen Kartoffelfeldes. In seinen dreckverschmierten Händen hielt er ein paar dicke Knollen, die er soeben aus dem Erdreich grub. Er warf sie in den großen geflochtenen Reisigkorb und stand auf. Der schmale Hänfling trug ebenfalls das Ordenskleid der Kapuziner. Seine Haartracht im kurzen Pagenschnitt war in leuchtendes Rot getaucht. Er fuhr sich mit dem rechten Handrücken über seine verschwitzten und weichen Gesichtszüge. Weder die ebenmäßigen Wangen noch das schmale zarte Kinn würden jemals einen Bart tragen…

    „Matthias!"

    „Ich bin hier!" Seine hohe Stimme ähnelte sehr der eines Mädchens. Und das war sie auch, seit der Geburt vor nunmehr elf Jahren. Warum sie ausgerechnet auf den Namen eines Jungen hörte, blieb ein besonderes Geheimnis.

    „Hast du denn das Schlagen auf die Ziegelplatte nicht gehört?"

    „Nein!"

    „Vielleicht warst du auch zu sehr in deine Arbeit vertieft, gab Bruder Johannes in seiner ewigen Sanftmut zurück. „Im Refektorium steht bereits das Essen auf dem Tisch.

    „Ich komme ja schon."

    „Aber wasch dir bitte vorher die Hände. Du hast sicher Schaufeln wie ein Maulwurf."

    Sie folgte ihm.

    Auch sie liebte die Arbeit im Klostergarten. Das Erste an was sich ihre Sinne erinnern konnten, war der Geruch nach geschmolzenem Kerzenwachs und getrockneten Kräutern. Und das Erste was das Mädchen sah, war die braune Kutte von Bruder Johannes. Mit ihm teilte sie sich die Zelle, wo sie in einem eigenen, mit Stroh aufgeschütteten Bett schlafen durfte. Vom kleinen engen Fenster aus, konnte man einen klitzekleinen Blick auf das nahe Schloss erhaschen. Ihre Welt bestand seitdem sie denken konnte einzig aus der des Klosters. Der Schritt jenseits der Mauern war ihr bislang nicht vergönnt gewesen. Bruder Johannes wich ihr, gleich einem persönlichen Schutzengel, nie von der Seite. Er befand sich in steter Sorge um sie. Deshalb nahm er sie von früh bis spät mit hinaus in den großen Klostergarten, sofern es das Wetter erlaubte. Hier in der von Gott gegebenen Natur wuchs sie letztlich auf.

    Unter seiner Aufsicht lernte sie alle wichtigen Kräuter und Heilpflanzen kennen. Im Hochsommer war in der „Herrgottsapotheke" Erntezeit. Man sollte jedoch nie ernten, wenn es regnete. Hierfür musste es schon kühl und sonnig sein. Zum Trocknen eignete sich am besten der warme und luftige Dachboden des Klosters. Nach dem Zerreiben mit bloßen Fingern verwahrte man die Heilkräuter in dunklen Schachteln, damit sie länger haltbar blieben. Auch deren Nutzen und Anwendung bei allerlei Krankheiten und Verletzungen blieben ihr nicht fremd. Aber auch um die Gifte wusste sie Bescheid. Anstatt der erhofften Heilung konnte ein Kraut einen Unglücklichen allzu früh ins kühle Grab schicken. Das Wermutkraut bot das beste Beispiel, wie nahe Heilwirkung und Schaden in der Natur beieinander lagen. Trotz ihrer Jugend, verstand sie es meisterhaft mittels Tee, Salben oder Öle die Mitglieder des Konvents zu kurieren.

    Während der Wintermonate half sie mit bei der Verrichtung häuslicher Arbeiten und in der Schneiderei. Einzig an was sie sich nicht gewöhnen konnte, war das mitternächtliche Chorgebet. Auch die Allerheiligenlitanei um fünf Uhr morgens rang ihr keineswegs Begeisterung ab.

    *

    „Bruder Johannes, ich muss sterben! Es war kurz nach der Meditation, als sie wenige Tage später zu ihm in die Zelle gerannt kam. Sie war in haltloser Aufregung und weinte „Rotz und Wasser.

    „Was um Christi Willen, ist mit dir geschehen?", fragte er besorgt.

    „Ich verblute", schluchzte sie. Ihre Miene war kreidebleich.

    „Hast du dich mit der Sichel geschnitten?"

    „Nein. Sie senkte ihren Blick. Schamröte stieg in ihr Gesicht. „Es blutet weiter unten, im Schritt. Ich habe mir ein Tuch dazwischen gebunden, damit das Blut nicht ständig heraustropft.

    Er packte sie sanft an ihren bebenden Schultern und setzte sie vorsichtig auf ihr Bett. Bevor er zu ihr ging, warf er rasch einen musternden Blick hinaus in den beinahe lichtlosen dämmrigen Flur, der die einzelnen Zellen im Obergeschoß des Klosters miteinander verband. Weder ein Pater noch ein Bruder waren zu sehen oder zu hören.

    Leise zog er die Holztür hinter sich zu und verschloss sie mit einer einfachen mit Lederschnur versehenen Holzschnalle. Anschließend setzte er sich neben sie auf das Bett.

    „Du armes Ding, du zitterst ja wie Espenlaub. Er drückte sie tröstend an seine Brust. „Du brauchst keine Angst zu haben. So schnell stirbt es sich nicht. Für diese Lüge hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Wie rasch es mit jemandem zu Ende ging, dies hatte er oft genug mit ansehen müssen. Die armen Leute, seufzte er tief in sich hinein. Schaudernd dachte er dabei an ganz bestimmte Menschen.

    „Was ist mit mir?" Ihre verheulten blaugrauen Augen bohrten sich hilfesuchend tief in sein Augenpaar.

    „Du wirst langsam eine Frau"

    Wortlos starrte sie ihn an.

    „Erschrecke nicht, das ist ganz normal, erklärte er mit leiser Stimme. „Du hast keine Krankheit und du bist auch nicht verletzt. Du hast deine erste Regel…

    Sie spürte wie sie auf einmal ruhiger wurde. Seine einfühlsamen Worte spendeten Wärme und Zuversicht. Sie nahmen ihr alle Ängste. „…das ganze wird sich alle vier Wochen wiederholen."

    „Woher weißt du das alles?"

    „Du kennst doch die große Klosterbibliothek. Sie umfasst mehrere tausend Bücher. Dort habe ich dir das Lesen beigebracht."

    Sie nickte.

    „Ich sage dir das alles, damit du dich das nächste Mal nicht mehr so furchtbar erschreckst. Du bist ein gesundes Mädchen…" Er stutzte. Gespannt hob er sein Ohr in Richtung der Zellentüre.

    „Was hast du?, fragte sie erstaunt. „Dürfen die anderen unser Gespräch denn nicht hören?

    „Das was wir miteinander zu bereden haben, ist nicht für andere Ohren bestimmt."

    Sie spürte den ernsten Ton in seiner Stimme.

    Er legte mahnend den Zeigefinger auf seine Lippen.

    „Aber warum denn?"

    „Weil du ein Mädchen bist. Du dürftest eigentlich gar nicht hier sein. Nur Männer sind hier erlaubt."

    „Wie kam ich denn hierher? Du hast mir all die Jahre über nichts davon erzählt", sagte sie vorwurfsvoll.

    Bruder Johannes suchte nach den richtigen Worten. „Man hat dich als Neugeborenes heimlich des Nachts an der Pforte abgegeben."

    „Hat mich denn meine Mutter nicht haben wollen?"

    Bruder Johannes tat das arme Ding in der Seele leid, als sie ihm mit traurigem Blick erneut bis auf den Grund seiner Seele blickte. „Ich weiß es nicht, vielleicht ist sie auch bei deiner Geburt gestorben." Er wusste es wirklich nicht, obwohl es hier zufällig stimmte. Davon abgesehen erschien ihm eine Lüge besser als jede Wahrheit.

    „Und du hast dich seitdem um mich gekümmert?"

    „Ja, das habe ich, antwortete er voller Stolz. „So, als wärest du mein eigenes Kind.

    „Ich möchte niemals weg von hier." Schluchzend legte sie ihre Arme um seinen Hals.

    Diese Geste ging ihm stark an die Nieren. Er musste sehr an sich halten, damit er am Ende nicht selbst wie ein Schlosshund losheulte. „Das brauchst du auch nicht. Er nahm sie an den Händen. „Aber wir beide müssen weiterhin so tun, als wärest du ein Junge, sonst… Er stockte.

    „Sonst? Sie starrte ihn an. „Was willst du damit sagen?

    „…musst du fort von hier." Die Ernsthaftigkeit seiner Worte drangen ihr tief ins Mark und Bein.

    Ihr fuhr ein fröstelnder Schauer über den Rücken. Sie nickte stumm.

    „Pater Leopold, der Obere unseres Konvents gab sein Einverständnis, dass ich mich damals ganz alleine deiner annehme. Er ist wie all die anderen des festen Glaubens, dass du ein Junge bist. Damit es nicht auffällt, habe ich dir eben den Namen Matthias gegeben."

    „Damit komme ich klar", meinte sie.

    Während er sprach, musterte er sie heimlich von Kopf bis zu den Füßen. Noch hatte das Wachsen ihrer Brüste nicht eingesetzt. Dies würde noch eine Weile dauern. Was geschah jedoch, wenn es damit soweit war? Er versuchte den Gedanken zu verdrängen. Es gelang ihm aber nicht. Das Schreckgespenst der Entlarvung stand mitten unter ihnen. Allgewaltig und felsenfest. Bruder Johannes hatte sich über elf lange Jahre hinweg gefürchtet und alles Mögliche dafür getan, dass keiner seiner Brüder hinter das Geheimnis des Findelkindes kam. Nun aber gestaltete sich das Ganze zusehends schwerer. Er und „Matthias" mussten fortan mächtig auf der Hut sein und zwar mehr denn je.

    *

    Im ewigen Spiel der Gezeiten hielt der Dezember seine Einkehr im Land längs des Mains. Vor einem Jahr hatten Eis und Schnee für einen der schlimmsten Winter des ganzen Jahrhunderts gesorgt. Damals hatte die klirrende Kälte unter den Menschen und Tieren viele Opfer gefordert. Die alte Steinbrücke in Aschaffenburg, welche die Stadtseite mit dem Leiderer Feld verband, wurde durch schweren Eisgang zerstört. Zum Glück sorgten heuer starke Südwinde für eine frühlingshafte Witterung.

    Zwei Tage vor Sylvester 1789.

    Im Kapuzinerkloster herrschte Mittagsruhe.

    „Bruder Johannes, du sollst zu Pater Leopold kommen! Hart klopfte es an die Zellentüre. „Nimm auch Matthias mit. Es eilt! Kurz darauf entfernten sich die Schritte.

    Bruder Johannes zuckte zusammen. Ihm war, als träfe ihn ein heftiger Keulenschlag. Das Klopfzeichen von Bruder Dominicus sorgte in seinem Inneren mächtig für Unruhe. Als dessen Orden der Jesuiten vor einigen Jahren aufgelöst wurde, hatte er hier bei den Kapuzinern eine neue Heimat und Aufgabe gefunden. Jener war durchaus ein liebevoller Mitbruder, aber er hatte eine recht seltsame Angewohnheit an sich. Bruder Johannes hasste ihn dafür. Immer wenn seine Fingerknochen im merkwürdigen Klang eines Trommelwirbels anklopften, zeigte er damit an, dass man Bruder Johannes zu seiner gefürchteten und verhassten Aufgabe rief. Aber was hatte es mit Matthias auf sich, was wollte der Guardian von seinem Schützling? War denn jemand hinter ihr Geheimnis gekommen…

    *

    „Die Füchse haben ihre Höhlen, die Vögel den Himmet und ihre Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann…"

    Mit gottversunkenem Blick schaute der Leser auf die Seiten des aufgeschlagenen Buches, das vor ihm auf dem Pult lag. Leise murmelten seine Lippen ein Zitat des Heiligen Franz von Assisi.

    Pater Leopold, der Guardian des Kapuzinerklosters hatte es sich in einem geflochtenen Korbsessel bequem gemacht. Seine Rechte tauchte den Kiel einer Schreibfeder in ein Tintenfass. Der Papierbogen war erst zu einem Viertel mit steilen Buchstaben beschrieben. Er war gerade mit dem Abfassen seiner nächsten Predigt beschäftigt. Das Fenster war geöffnet. Mit dem einströmenden Hauch ungewöhnlich milder Luft fiel der Sonnenschein in das bescheiden eingerichtete Arbeitszimmer. Neben einem kleinen Stapel an Büchern und einem dreiarmigen Kerzenleuchter fand gerademal ein Kruzifix einen Platz auf dem schlicht gezimmerten Schreibtisch. Die vormals weiß getünchten Wände sahen sich längst in ein hässliches Grau getaucht, lediglich geziert von einem geschnitzten Bildnis der Heiligen Elisabeth von Thüringen und zwei, drei kleinen, halb mit Büchern gefüllten Regalen. Es klopfte an.

    „Ja, herein!"

    Bruder Johannes musste seinen Kopf einziehen, damit er diesen nicht am niedrig gesetzten Türstock anstieß. An seiner Seite trat „Matthias" ins Zimmer.

    „Lieber Mitbruder, deine betrüblich dreinschauende Miene spricht Bände, empfing ihn der Guardian mit einfühlsamen Worten, ohne dass er sich dabei von seinem Platz erhob. „Ich verstehe deine Beweggründe, aber unser Dienst der Vertiefung, Ausbreitung, Verteidigung und Erhalt des Reiches Gottes auf Erden, erfordert von jedem von uns große Opfer. Das Volk da draußen braucht unseren Beistand, nötiger denn je. All unser Eifer und Kampf gilt der Errettung jeder Seele. Ich betone ausdrücklich – jeder Seele. Auch die eines Abtrünnigen oder des größten Sünders!

    Bruder Johannes senkte seinen Blick. Er biss die Zähne zusammen. Ihm war bewusst, jeglicher Einwand seinerseits, stieß beim Guardian auf taube Ohren. Absolute Gehorsamkeit bis zum Tod gehörte mit zu den wichtigsten Tugenden eines Kapuziners. „Wann soll es losgehen?", fragte er.

    „Schon heute Abend, nach dem Komplet *3) musst du die Beichte abnehmen." Die Stimme des Guardians duldete keinen Widerspruch.

    In Bruder Johannes´ Gesicht zuckte es merklich.

    „Und morgen Früh folgt dann alles Weitere."

    „Weshalb wolltest du eigentlich Matthias sprechen?", fragte er vorsichtig.

    „Ach ja, ihn hätte ich beinahe vergessen. Der Guardian räusperte sich. Die Arbeit an seiner Predigt machte ihn kopflos. „Matthias wird dich begleiten. Ihr beiden könnt euch jetzt wieder in eure Zelle zurückziehen. Der Guardian sah wieder auf sein Buch und den Papierbogen. Für ihn war damit die Angelegenheit beendet.

    Bruder Johannes drohten die Augäpfel aus den Höhlen zu fahren. Das blanke Entsetzen packte ihn. „Ist…ist das wirklich… nötig?" Nur stockend kamen ihm seine Worte über die Lippen.

    „Hast du noch ein Anliegen, Bruder?" Der Guardian warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

    „Aber unser Matthias ist doch dafür noch viel zu klein, dass er an einer…"

    „Ach, Papperlapapp!" Der Guardian machte eine wegwerfende Handbewegung. „Bedenke, du bist längst nicht mehr der Jüngste. Dein Schützling ist inzwischen alt genug, er kann dir gar nicht früh genug unter die Arme greifen. Du weißt, dass der Sturm der Säkularisation *4) unsere Existenz bedroht. Wir dürfen keine neuen Novizen mehr in unserem Konvent aufnehmen. Außerdem ist es an der Zeit, dass Matthias endlich mit der Welt jenseits unserer Klostermauern konfrontiert wird."

    *

    Der Lindwurm zahlloser Menschenleiber säumte die Sandgasse. Der Zug hielt auf das Sandtor mit der gleichnamigen Sandkirche zu. Doch dies war längst nicht sein Ziel an diesem frühlingshaften Dezembermorgen des Jahres 1789.

    Heute war es tatsächlich das erste Mal, an dem das kleine Kapuzinermädchen seinen Fuß in die Stadt setzen durfte. Sie war schon ganz neugierig. Ihr

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1