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Nach Rom, wohin denn sonst!: Wandern zum Vergnügen von Hannover nach Rom
Nach Rom, wohin denn sonst!: Wandern zum Vergnügen von Hannover nach Rom
Nach Rom, wohin denn sonst!: Wandern zum Vergnügen von Hannover nach Rom
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Nach Rom, wohin denn sonst!: Wandern zum Vergnügen von Hannover nach Rom

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Viele Wege führen nach Rom!

Mehr als 2000 km zu Fuß von Hannover nach Rom - eine Frau erfüllt sich ihren Traum, zum puren Vergnügen allein zu wandern, wo über Jahrhunderte hinweg Pilger, Mönche, Kaiser und Könige, Landsknechte, Künstler, Handwerker und Vagabunden zu Fuß gegangen sind.

Eine Zäsur zwischen Arbeitsleben und Ruhestand zu setzen war das Ziel. Das Mittel dazu war, sich Zeit zu nehmen zu intensivem Erleben von Landschaften, Natur, Menschen in anderen Lebenssituationen, von historischen, sozialen und politischen Zusammenhängen.
"Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen", Goethes Erfahrung bleibt aktuell.

Der Weg führte auf dem E1 von Hannover nach Konstanz, auf dem E5 bis Verona, dem "Götterweg" von Bologna nach Florenz, über Wanderwege im Chianti bis Siena, danach auf dem traditionellen Pilgerweg "Via Francigena" nach Rom.

Eine gewisse Portion Verrücktheit gehört dazu, aber es ist im Grunde ganz einfach: Man muss nur immer weiter gehen und einfach nicht aufhören, bis man angekommen ist. Ganz schön verrückt!
LanguageDeutsch
Release dateOct 31, 2014
ISBN9783738662368
Nach Rom, wohin denn sonst!: Wandern zum Vergnügen von Hannover nach Rom
Author

Hiltrud Koch

Hiltrud Koch Nomen est Omen. Kochen als kreativer Prozess fördert Ideen. Wenn man jahrzehntelang täglich kocht, für die Familie, für Freundinnen und Freunde, kleine und große Runden, kommen Erfahrung und Intuition zusammen. Kulinarische Anregungen auf Reisen und bodenständige Zutaten ergeben überraschende Kombinationen.

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    Book preview

    Nach Rom, wohin denn sonst! - Hiltrud Koch

    Rom

    Vorwort

    Zu Fuß von Hannover nach Rom. Diese Idee kommentierte Clara hellsichtig: Bisschen verrückt, Oma, nicht?

    Ja, es gehört eine gehörige Portion Verrücktheit dazu, ohne die überhaupt kein großer Plan verwirklicht werden kann. Aber es kann gelingen. Man muss nur immer weiter gehen und einfach nicht aufhören, bis man angekommen ist.

    Ich wollte wandern. Aus eigener Kraft lange Strecken überwinden, Natur erleben, dem Wetter ausgesetzt sein, Erfahrungen von Rompilgern über Jahrhunderte hinweg nachvollziehen, all das waren Motive für mein Projekt, nach Rom zu Fuß zu gehen. Nie gibt es nur einen Antrieb für so eine Anstrengung, immer ist es ein ganzes Bündel. Es ist ein Projekt, das mir von klein auf vorgeschwebt hat. Ich wollte es auf jeden Fall versuchen, auch ganz allein. Gelegentliche Begleitung war mir sehr willkommen. Ich wollte das Projekt aber nicht davon abhängig machen. Ich war allein, aber nicht einsam!

    Eine Zäsur zu setzen zwischen Berufstätigkeit und dem Ruhestand war ein nicht unwesentliches Motiv. Den Zeitpunkt der Wanderung hat die bevorstehende Pensionierung auf jeden Fall vorgegeben, denn erst dann konnte ich mir den Luxus erlauben, auf eine genaue Zeitplanung zu verzichten. Es war unerheblich, wie lange das Ganze dauerte.

    Am 10.Juni 2013 lief ich los, am 19. September flog ich von Rom zurück. In 92 Tagen bin ich 2018km gewandert. Dazu habe ich mir unterwegs fünf Tage zum Verschnaufen gegönnt. Vier Tage waren am Schluss für Rom reserviert, einer für den Rückflug. Das bedeutet, dass ich 102 Tage insgesamt unterwegs war, eine lange Zeit. Meine Enkelkinder Clara, fast 6 Jahre, Mattis, beinahe 3 Jahre alt, bekamen jeden Sonntag einen Brief, damit sie sich etwas unter einer Wanderung nach Rom vorstellen können. Für die Familie und Freunde fasste ich immer montags in einem Zwischenbericht zusammen, was mir in der letzten Woche bemerkenswert erschien. Tagebuchschreiben gehört für mich immer zum Reisen dazu, es ist mein Verfahren, Erlebnisse zu verarbeiten.

    Mein Weg führte mich über den Europäischen Fernwanderweg 1 (E1) von Hannover bis Konstanz und der E 5 von Konstanz bis Verona über die Alpen. Die Strecke von Verona bis Bologna habe ich mit der Bahn überbrückt. Danach konnte ich den Götterweg von Bologna nach Florenz wandern, von dort durch das Chiantigebiet nach Siena, wo ich auf den alten Pilgerweg Via Francigena traf, der nach Rom führt. Es hat geklappt, ich bin gesund und fröhlich am Ziel angelangt.

    Wieso gerade Rom? Arnold Esch führt auf, wer in den verschiedenen Jahrhunderten Wege nach Rom gegangen ist: Pilger, Mönche, deutsche Kaiser und Könige, Landsknechte, Klassiker und Romantiker, Künstler, die dort eine deutsche Kolonie bildeten. Später kamen Handwerker auf Arbeitssuche und Vagabunden, heute Touristen mit den unterschiedlichsten Motiven.

    Und ich? ROMA – AMOR, eine Herzensangelegenheit! Eine völlig irrationale, tiefe Liebe zu dieser Stadt! Der Mythos ROM begleitete meine Kindheit, meine Schulzeit. Die Auseinandersetzung mit der Antike, mit dem Lateinischen, mit Europa prägen bis heute mein Denken.

    Die Berichte sind sehr persönlich, völlig vom subjektivem Interesse und Erleben geprägt, aber auch im weiteren Sinne politisch, so wie Seume in seinem Spaziergang nach Syrakus versteht: Wenn man mir vorwirft, dass dieses Buch zu politisch ist, so ist meine Antwort, dass ich glaube, jedes gute Buch müsse näher oder entfernter politisch sein. Ein Buch, das dieses nicht ist, ist sehr überflüssig oder gar schlecht. (...) Politisch ist, was zu dem allgemeinen Wohle etwas beiträgt oder beitragen soll: quod bonum publicum promovet. Was dieses nicht tut, ist eben nicht politisch.

    1 Loslassen - Losgehen - Erproben

    Hannover, Beekestraße 136 – Kückenmühle

    Samstag, 4.5.13

    Der weiteste Weg beginnt mit dem ersten Schritt, eine Binsenwahrheit. Bevor ich im Juni tatsächlich auf die große Wanderung gehe, möchte ich in kleinen Etappen trainieren, meine Ausrüstung wie meine Kondition testen.

    Bis jetzt habe ich nur wenigen guten Freunden von meiner Rom-Idee erzählt, die sich darüber gar nicht wundern. Andere, zu denen etwas durchgesickert ist, reagieren zumindest mit Staunen. Häufig treffe ich auf völliges Unverständnis, ganz ähnlich wie Seume im Spaziergang nach Syrakus berichtet: 'Was wüll Ähr da machen?' Hätte ich ihm nur die reine, platte Wahrheit gesagt, dass ich bloß spazieren gehen wollte, um mir das Zwerchfell auseinanderzuwandeln, das ich mir (...) etwas zusammen gesessen hatte, so hätte der Mann höchst wahrscheinlich gar keinen Begriff davon gehabt...

    Die andere Standardreaktion: Hast du denn gar keine Angst? Angst? Wovor? Seume sagt: Nur Mut, damit kommt man auch in der Hölle durch. Genau so denke ich auch. Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Das reizt mich ja gerade! Immer kann etwas passieren, überall ist man Gefahren ausgesetzt. Dazu muss man nirgends hin reisen.

    Ich will wandern. Nicht pilgern, keinen sportlichen Rekord aufstellen. Wandern! Lustwandeln, einfach nur so, weil es mir Freude macht. Ich will keinem etwas beweisen, keinem imponieren, einfach nur wandern. Welche Route nach Rom ist heute noch eine Wanderstrecke? Mit möglichen Strecken nach Rom habe ich mich lange beschäftigt, mir historische Reisewege angeschaut. Wo ist Luther lang gegangen, wo Seume, wo die früheren Rompilger aus Norddeutschland? Wie komme ich auf Wanderwegen am besten über die Alpen, wie durch die Poebene und über den Apennin? Die vielen Wege nach Rom sind heute keine erfreulichen Wanderwege mehr, soviel ist klar. Realistisch und praktikabel scheint mir, europäische Fernwanderwege zu nutzen.

    Losgehen, wann, wenn nicht gleich heute? Die neuen Stiefel müssen eingelaufen werden. Es wächst der Mut, nun endlich auszuprobieren, ob meine Kraft ausreicht für eine so lange Wanderung. Es ist klug, mit einer kurzen Strecke zu beginnen und nur zu einem Ziel zu laufen, von dem mich Eckart abholen kann. Der Weg von unserm Haus bis zum Deister, über den mein E1 läuft, geht nur über Straßen, Beton und Asphalt. Ich habe auf der Karte die kürzeste Strecke bis zum Deister gesucht. Neben brausendem Verkehr zu gehen habe ich keine Lust.

    Nachmittags schnüre ich spontan die neuen Wanderschuhe und los geht es. Ein feierlicher Akt: Der Beginn der langen Wanderung nach Rom.

    Von der Haustür gehe ich los, zunächst durch vertrautes Terrain. Frisches Grün und Aronstab, Vogelschalmei, alles deutet auf Frühling. Ich überquere die großen Straßen und biege in Wettbergen ab ins dörfliche Milieu. Die großen grünen Felder nahe der Stadt sind gesäumt von Büschen und Bäumen, so als ob dies ganz weit draußen wäre.

    Die Orientierung wäre leicht, wenn ich immer an der Straße entlang liefe. Ich frage ein paar Mal nach, ob es noch einen besseren Weg gibt als die Landstraße. Ja, man kann kleine Zwitschen zwischen den Häusern als Abkürzung nehmen. Die Sonne knallt erstaunlich warm; ich krempele die Ärmel weiter hoch. Die Sonnenbrille allein reicht nicht als Sonnenschutz, ich muss einen Hut mitnehmen, damit ich nicht immer blinzeln muss. Die blühenden Obstbäume im Gegenlicht hinter blauem Himmel sind so berauschend schön, dass ich die Kamera oft herauskrame. Auch schaue ich ab und zu auf die Karte auf dem Handy um zu sehen, ob mir das zur Orientierung reicht. Diese dauernd benötigten Utensilien muss ich unbedingt in einer kleinen Tasche mitführen, sonst gibt es ein ständiges Suchen im Rucksack. Die Hosentaschen sind dafür zu unbequem und auch zu unsicher. Gut, dass ich den Ausrüstungs- und Materialtest schon mal machen kann, bevor es echt losgeht. Auf den nächsten Etappen werde ich systematisch andere Teile ausprobieren.

    Die Landschaft ist mir einerseits vertraut, andererseits sehe ich sie nun von einer anderen Seite. Brausen wir sonst die B 217 schnell herunter, so spaziere ich jetzt zwischen blühenden Apfel- und Kirschbäumen entlang und sehe den Kirchberg und den Feuerwehrturm von Ronnenberg Schritt für Schritt im Dunst an mir vorbei ziehen. Weite weiße Folien-Felder wirken wie Schnee, ganz surreal in der warmen Spätnachmittagssonne.

    Die Kückenmühle erreiche ich nach genau 1 1/2 Stunden, nach 6km Weg. Lahme Ente. Ein idyllischer Biergarten zwischen Feld und Wald. Ich rufe meinen Mann an, dass er zum Abholen starten kann.

    Ich stecke voller Zuversicht und Kraft. Man muss losgehen, dann strömt die Energie schon von allein. Eine wichtige Lehre, warum vergisst man das im Alltag oft?

    Kückenmühle – Waldkater

    Sonntag, 5.5.13

    Vom Parkplatz der Kückenmühle laufe ich durch Ihme-Roloven und Bettensen bis Weetzen. Die Sonne scheint fast sommerlich. Sonntägliche Ruhe überall. Ich begegne nur einem joggenden Vater, der eine Kinderkarre vor sich her schiebt, zwei Hun debesitzern, deren Hunde sich anblaffen, mich aber in Ruhe lassen, und Leuten, die ihren Garten auf Vordermann bringen.

    Zwischen den Dörfern bleibe ich meist auf den Radwegen oder landwirtschaftlichen Straßen. Meine Scheu vor Asphalt hat sich gelegt. Mit den neuen Schuhen ist das kein Problem, solange ich nicht direkt an den vorbeibrausenden Autos gehen muss. Die Obstbäume blühen prächtig wie frischer Schnee, vor allem sehr leuchtend vor dem frischen Grün von Saatfeldern und Wald. In jedem Dorf entdecke ich schöne Details an Bauernhäusern, Zäunen, Giebeln. Manches Hässliche schiebt sich dazwischen, Modernisierungswut auf dem Dorf und Vorstadthäuser.

    Als ich die B 217 überqueren muss, habe ich Mühe, über die doppelten Leitplanken auf beiden Straßenseiten rüber zu klettern. Die offizielle Überführung bedeutet einen weiten Umweg. Bei der Aktion ist mir mulmig, denn die Planken sind erstaunlich hoch und meine Beine doch sehr kurz. Außerdem verläuft auf der anderen Seite noch ein tiefer Graben. Eine geeignete gefahrlose Stelle? Gut dass nur wenige Autos vorbeikommen, aber solchen Stress werde ich mir künftig ersparen und lieber Umwege in Kauf nehmen.

    Sorsum mit der schindelgedeckten Mühle, einer stimmungsvollen Kapelle und Fachwerkhäusern ist ein hübsches Dorf. Sonst fahre ich daran vorbei. Die Empfehlung, den neuen Ökopfad neben der Straße zu nehmen, ist gut, weil er an vielen alten Obstsorten vorbeiführt und an einem gurgelnden Bach. Der Belag aus kleinen Schottersteinen beweist, dass Beton doch gar nicht so übel zum Laufen ist.

    In Wennigsen schaue ich an der Siedlung Waldkater auf die Uhr; dieses Mal laufe ich schon schneller. Viel weiter hätte ich heute nicht gehen können.

    Der Materialtest Nr.2 heute: Die neue Wanderhose trägt sich tadellos; die Strümpfe nicht. Die Füße schwitzen und ich bekomme zu leicht Blasen, also ab in den Müll. Das neue blaue T-Shirt besteht schon beim Frühstück die Kleckerprobe. Auch nach drei Stunden in der Sonne riecht es nicht nach der Besitzerin. Das bleibt im Programm. Die Zivilisation wird nach und nach abbröckeln.

    Waldkater – Bad Münder

    Donnerstag, 9.5.13 (Himmelfahrt)

    Vom Parkplatz Waldkater puste ich den Deister steil hoch. Mein Herz puckert. Dabei ist es gar nicht so heiß heute. Bei schönem Frühlingswetter bin ich gestartet, nun ballen sich dunklere Wolken zusammen. Ich lasse es darauf ankommen, nass zu werden – und gut so: Den Tag über bleibt der Regen aus. Eigentlich hätte ich gern einen neuen Anorak ausprobieren wollen. Allerdings habe ich noch keinen gefunden, der meinen Ansprüchen genügt. Leicht muss er sein, sehr wasserdicht, atmungsaktiv, und soll auch noch so aussehen, dass man mich nicht mit einem Waldschrat verwechselt.

    Nach einer Stunde lande ich oben auf dem Kammweg. Ich muss nicht unbedingt auf die Karte gucken, irgendwo gibt es immer Hinweise. Sich im deutschen Wald zu verlaufen ist fast unmöglich, denke ich. Oben auf dem Kamm sehe ich beim Abzweig zum Forsthaus Kölnischfeld das erste X E1-Zeichen. In kurzen Abständen finde ich diese Kreuze und Hinweise zum Abbiegen. Später lese ich in meinem mit Mühe antiquarisch besorgten E1-Wanderführer, wie Arthur Krause den Weg beschreibt: Völlig korrekt und sehr genau sind die Steigungen und Abstiege charakterisiert. Darauf kann ich mich also verlassen und brauche keine weiteren Wanderkarten. Ein bisschen Abenteuer muss sein! Ich will meinen Orientierungssinn schulen. Technische Hilfen wie GPS will ich bewusst nicht nutzen. Wenn der Weg das Ziel ist, kann ich gar keinen falschen Weg einschlagen. Wenn alle Wege nach Rom führen, kann man nicht fehl gehen.

    Nach dem steilen Aufstieg zum Kamm folgen nun steile Abstiege, die die Knie beanspruchen. Die neuen dicken Wandersocken bewähren sich. Dafür kündigt sich ein heftiger Schmerz in den Sehnen der Oberschenkelinnenseiten an. Am Schluss habe ich Muskelkater. Schlimm ist, wenn ich eine Weile gesessen habe und dann wieder aufstehen will.

    Das helle Grün der Buchen, Sauerklee, Veilchen, vor allem dicke Teppiche von knospendem oder weiß blühendem Bärlauch entzücken mich. Ich habe nichts gegen Knoblauchgeruch! Mal gibt es im Deister breite mit Kiessplit bestreute Wege, mal kleinere Pfade, mal rauf, mal runter. Manche Strecken verlaufen auch eben, sehr erholsam, aber auch langweiliger. Ich treffe unterwegs kaum Wanderer, nur einige Radfahrer. Einer Truppe junger Männer mit lustigen Perücken und Mützen auf Vatertagstour komme ich gerade gelegen, weil sie alle aufs Foto wollen. Gern! Alles Väter? Aber ja, rufen sie munter. Einer jubelt: Ja, seit gestern!

    An der Deisterpforte freue ich mich über den Blick in die Landschaft. Nur immer im Wald laufen ist nichts für mich. Ich liebe es, wenn der Weg auch mal am Waldrand und über freies Feld führt. Für den E1, merke ich, sind die besten Strecken ausgesucht worden. Das Weserbergland präsentiert sich zwischen der Deisterpforte und Bad Münder von der schönsten Seite mit den sanften Hügeln, Wäldern in verschiedenem Grün, Baumgruppen auf weiten Wiesen, Dörfern im Dunst. Weitblick und begrenzte Räume im Wechsel.

    Mein Handy hat kein Netz. Das brauche ich aber dringend, um auf meiner Tour kommunizieren zu können, notfalls Rettungsrufe abzusetzen, um Unterkünfte zu suchen und Mails zu empfangen. Damit muss ich rechnen. Wo kein Netz, da kein Internet.

    Im freien Feld laufe ich herunter zum Marktplatz von Bad Münder, vorbei an Löwenzahnwiesen und Rapsfeldern. Im Restaurant Kornhaus geht der Service in niedersächsischer Gemütlichkeit vonstatten. „Man soll nicht hungrig essen gehen", eine Weisheit meiner Mutter.

    Bad Münder – Hameln

    Samstag, 25.5.13

    Es ist kalt, nur 10 °C, und das Ende Mai. Heftiger Regen ist für das Wochenende angesagt. Noch ist es sonnig und trocken. Also los, dieses Mal mit dem Rucksack auf dem Rücken. Den neuen grünen Anorak kann ich gleich auf seine Regendichtigkeit überprüfen.

    Der Süntel bietet abwechslungsreiche Wege, mal steil hoch, mal sanft ansteigend, mal eben, mal breite Forstwege und mal schmale gewundene Pfade. Zwischen Süntel und dem Schweineberg liegt freies Feld mit riesigen gelben Rapsflächen. Mal gehe ich im Wald, mal am Waldrand, mal über Felder oder durch Dörfer wie Unsen.

    An der Heisenküche überlege ich, ob ich dort einkehren soll oder erst am Bismarckturm. Während ich noch schwanke, entscheidet die Natur für mich. Aus heiterem Himmel platscht eine dicke Ladung Regen herunter. Bei Käse-Pfirsich-Baiser-Torte warte ich, bis der Regen nachlässt. Ich kann mich auf mein Glück verlassen. Der Bismarckturm ist geschlossen. Ich merke mir: Immer gleich einkehren, wer weiß, ob es später noch etwas gibt.

    Bis hier habe ich keinen einzigen Menschen im Wald getroffen. Eine Mutter mit halbwüchsigem Sohn rettet sich pitschnass in die Heisenküche. Der Junge verrät, dass sie auch auf dem E1 unterwegs sind. „Meine Ma hat die Vision, irgendwann bis Genua zu kommen."

    Nach gut fünf Stunden Wanderung bin ich in meinem Elternhaus in Hameln. Meine Mutter findet es großartig, dass ich wandere, aber warum nur so weit? Sie staunt über meine Sorglosigkeit. Sie hätte so viel Angst im Wald. „Im Wald sind keine Räuber, versichere ich. Wenn man jemanden überfallen möchte, wäre es ungünstig, sich im Wald auf die Lauer zu legen, wo pro Tag nur drei Menschen vorbei kommen. Jeder Stadtpark ist ergiebiger."

    Ich bin überhaupt nicht trainiert. Die Lücke zwischen Wollen und Können klafft weit auseinander. Mehr als fünf Stunden (oder 18km…) schaffe ich nicht, das ist mein derzeitiges Limit. Die Sehnen in der Leiste jammern, was erst abends nach einem heißen Bad nachlässt.

    Hameln - Aerzen

    Dienstag, 4.6.13

    Der erste frühsommerliche Tag! Noch ein Stück über Hameln hinaus will ich wandern, damit mir die erste richtige Etappe nächste Woche nicht zu sauer wird. Auf der Karte habe ich Aerzen als den Ort ausfindig gemacht, von wo aus ich mit dem Bus gut zurück bis Hameln komme.

    Mein erster freier Tag in meinem neuen Leben! Letzten Freitag hatte ich meinen letzten Arbeitstag. Gestern haben wir das Ende meiner Dienstzeit gefeiert. Jannis hat geschrieben: Genieße den längsten Urlaub deines Lebens! Sehr philosophisch. In welchem Zustand befinde ich mich? Ist das nun Urlaub? Wovon bin ich beurlaubt?

    Nach einem Besuch bei meiner Mutter breche ich auf. In Hameln habe ich meine Schulzeit verbracht, alles ist mir vertraut. Die Stadt ist voller Touristen im 60+-Alter, alle in staub- oder sandfarbenen Windjacken. Alle Bänke sind besetzt, überall stehen Tisch und Stühle vor den vielen, vielen Cafés. Ich marschiere hoch auf den Klüt, was mir heute ziemlich steil vorkommt. Es ist aber die einzige echte Steigung des Tages. Im Finkenborn bestelle ich mir eine große Flasche Wasser, was lange dauert, weil drinnen ein ganzer Bus voller Rentner mit einem traditionellen Speiseangebot beköstigt wird. Kaum einer kann noch fünf Schritte allein gehen. Traurig. Was sehen die von der Stadt? Meine Mutter würde sagen: Aber man will doch mal rauskommen. Ich esse mein Brötchen und genieße die Sonne. Den Wucherpreis für das Wasser begründet die Bedienung mit Ist halt der Gastronomiepreis. Das ist mir eine Lehre. Wasser immer mitnehmen!

    An den Riepenteichen steigt der Weg dann noch mal steiler an. Wieso die Buche Wurstbuche heißt, weiß ich nicht, aber weshalb ein Plätzchen den unerwarteten Namen Bei den Heringsschwänzen trägt, erläutert ein Schild mit einem holprigen Gedichttext: Die Bewohner von Wangelist haben sich damit vor dem Aufstieg gestärkt.

    Auf den wunderbaren Wiesenwegen, die heute häufiger vorkommen, ist keine Markierung zu erkennen, da muss ich mich auf meinen Orientierungssinn verlassen -oder im Dorf fragen. In Derenberg erklärt mir eine Frau vom heimeligen Kaffeetisch im Garten aus, wo der Weg verläuft. Die weite grüne Landschaft mit den kleinen Dörfchen schwingt, alles ist wie geputzt und natürlich, ruhig und feierlich still, außer den Vögeln. Auf den kleinen Landstraßen fährt so gut wie kein Auto. Wohin sollen die auch fahren?

    In Königsförde weist rechts ein Schild zum Schloss Schwöbber, ich nehme links den Fahrradweg nach Aerzen. Dabei halte ich Ausschau nach der Waldquelle, wo ich am kommenden Montag meine lange Wanderung beginnen will. Zwei Damen in meinem Alter walken tockernd mit ihren Stöcken an mir vorbei, zack, bald nicht mehr zu sehen. Ich habe jetzt schon Blei im Hintern und ziehe langsam weiter in den Ort. Heute probiere ich den Wanderstock aus. Er ist mir aber eher lästig als nützlich. Ich kann dann nicht so locker mit den Armen schwingen. Allenfalls kann ich ihn gegen Brennnesseln oder kläffende Hunde einsetzen. Vielleicht ist das ein Grund, ihn mitzunehmen?

    Von Aerzen bin ich in einer halben Stunde zurück in Hameln. Schulter, Rücken, Po, Beine, Knie und Füße sagen nichts Nachteiliges, aber die Bänder in der Leiste murren ein wenig.

    Beim Kaffee trägt meine Mutter ihre Bedenken vor. Das Ausmaß meines Planes erschreckt sie. Sie befürchtet Schlimmes. Sie ist sowieso der Meinung. Kind, du musst doch mit solchen Gewaltmärschen keine unnötigen Strapazen auf dich nehmen. Spazierengehen reicht doch auch, wenn du Bewegung brauchst. Da hat sie absolut Recht!

    Abschied!

    Liebe Freundinnen und Freunde,

    es ist soweit: Die Arbeit ist getan. Am letzten Freitag hatte ich meinen letzten Arbeitstag, habe am Montag alle Daten gelöscht, Papiere entsorgt und meine Dienstgeräte abgegeben. Seitdem feiere ich, dass ich Urlaub habe, drei Monate bevor ich ab 1.9.2013 in Pension gehe.

    Was nun?

    Aufbrechen zu etwas Neuem, zu neuen Erfahrungen will ich. Am Montag, 10.6.13, geht es los. Ich gehe nach Rom.

    Erstmal das Projekt, dann sehe ich weiter, was im neuen Lebensabschnitt auf mich wartet.

    Ich weiß nicht, wie lange ich brauche, wie oft ich unterbrechen muss, aus welchen Gründen auch immer, ob ich wirklich je dort zu Fuß ankomme, mit welchen Blessuren, welchen Weg genau ich nehme, wie ich es durchhalte, alles ist ungewiss. Ich weiß nur, dass ich es will, nicht, ob ich es kann. Ich werde es schon können, denn ich will es ja! Ab jetzt habe ich Zeit!!

    So ganz genau planen möchte ich nicht alles. Das habe ich mein ganzen Leben bisher exzessiv betrieben. Ich will wie der Taugenichts ins Blaue hinein laufen, nach Italien, wohin denn sonst, wo dort doch die Zitronen blühen, wohin die Kaiser und Könige, Geistlichen und Pilger, die Dichter und Maler, die Handwerker und Vagabunden über Jahrhunderte hin zu Fuß gelaufen (oder unbequem gefahren...) sind. Seumes Spaziergang nach Syrakus ist mein großes Vorbild, aber man muss es ja nicht übertreiben. Rom ist der Nabel der Welt, das muss wohl reichen, um zu schauen, wie man aus eigener Kraft Entfernungen überbrückt. Viele Wege führen nach Rom. Alle wohl nicht.

    Ich folge so ungefähr zuerst dem Europäischen Fernwanderweg 1 (E1) von der Haustür bis Konstanz, was allein schon ca. 700km ausmacht. Die Strecke führt über Deister, Lippisches Bergland, Teutoburger Wald, Eggegebirge, Sauerland, Westerwald, Taunus, Odenwald und Schwarzwald.

    Dann nehme ich wahrscheinlich den Europäischen Fernwanderweg 5 (E5) von Konstanz über die Alpen bis Verona. Danach sehe ich weiter...

    Clara hat meinen Plan kommentiert: Bisschen verrückt, Oma, nicht?

    Wer Lust hat, ein Stück mitzugehen, kann mich anrufen oder mir eine Mail schreiben.

    Ihr könnt auch mal fragen, wie es so läuft. Ich antworte bestimmt.

    Mein Handy und mein neues iPad mini erlauben es mir, selbst im Wald und auf der Heide online zu sein. Ob ich das dann dauernd nutze, ist eine andere Frage.

    Seit Monaten beschäftigt mich die Frage, was das Notwendige ist, was ich im kleinstmöglichen Rucksack mitnehmen muss. Was ist das unabdingbar Notwendige im zivilisierten Mittel- und Südeuropa?

    Es kann sein, dass ihr mich länger nicht seht. Es kann sein, dass ich in zwei Wochen abbreche, es könnten aber auch zwei Monate sein oder mehr, wer weiß. Wenn ich den Weg unterbrechen muss, setze ich ein anderes Mal dort fort, wo ich zuletzt aufgesteckt habe. Irgendwann komme ich an. Rom ist auch nicht an einem Tage erbaut worden!

    Behaltet mich im Kopf und Herz und drückt mir die Daumen, dass es mir nicht so ergeht wie den Ameisen aus Hamburg:

    Die Ameisen

    In Hamburg lebten zwei Ameisen,

    die wollten nach Australien reisen.

    Bei Altona auf der Chaussee,

    da taten ihnen die Beine weh,

    und da verzichteten sie weise

    dann auf den letzten Teil der Reise.

    Joachim Ringelnatz

    Liebe Grüße

    Hiltrud

    Hannover, 6.6.13

    2 Auf dem E1 von Hannover nach Konstanz

    Hannover - Hameln - Aerzen - Bösingfeld

    Montag 10.6.13

    Die S-Bahn saust bequem in einer halben Stunde nach Hameln, wofür ich zu Fuß in vier Etappen gewandert bin. Meine Mutter ist sehr besorgt, ich könnte mich übernehmen. Das könnte ja auch sein. Ich muss versprechen, das Ganze zu lassen, wenn es mir zu viel wird. Genau das ist auch mein Interesse. Gestern hat Horst mir einen Reisesegen erteilt, nun kommt noch der mütterliche Segen hinzu. So viele gute Wünsche begleiten mich. Fast alle haben mir liebe Abschiedsworte geschrieben, Tipps jeder Art und Qualität natürlich auch. Meine Mutter winkt mir an der Tür nach. Dieser Abschied ist für mich der schwerste. Ich gehe. Ich muss JETZT gehen, ein Später gibt es dafür nicht, das ist mir bewusst.

    An der Bushaltestelle klagt eine alte Frau, welche Anstrengung es bedeutet, vom Dorf immer nach Hameln fahren zu müssen, bloß weil sie zu einem Facharzt muss. Ihre Augen sind so schlecht, dass sie froh ist, dass ich ihr die Busnummern vorlese. Mit Mühe hebt sie sich in ihren Bus hinein.

    In Aerzen staune ich, wie hübsch der Dorfkern ist, ein Dorfanger mit einem Rund an Höfen gleich neben der Kirche. Nie gesehen, immer nur durchgefahren. Wo die Waldquelle liegt, habe ich schon erkundet. Jetzt nehme ich im Dorf den Pfad mit dem Hinweis: Gesperrt für Fahrzeuge. Fußgänger erlaubt! Komisch nur, dass man dabei über den gepflegten Rasen eines Wohnhauses laufen muss, ein Gatter öffnet -und im unwegsamen Gelände endet. Zurück! Der richtige Weg ist der schmale überwachsene Pfad, also durch die Brennesselkultur am Zaun außen entlang. Die Hausbesitzer zeigen mir, wo ich am Hang hoch komme. Offenbar wird der Weg nicht oft genutzt. Eine weite Wanderung, davon haben sie auch immer geträumt, und nun könnten sie es nicht mehr. Genau, das geschieht vielen so, deshalb gehe ich jetzt und nicht später.

    Die Waldquelle scheint auf Gäste zu warten, die Bedienung reißt sofort die Tür auf, als ich vorbei laufe. Wenigstens gäbe es hier noch eine Möglichkeit zum Einkehren. Alle anderen Lokale unterwegs sind inzwischen geschlossen, pleite.

    Vier Stunden laufe ich durch eine Traumlandschaft: sanfte Hügel, Waldwege, über Wiesenpfade, mal am Waldrand, mal durch den Wald, über freies Feld auf landwirtschaftlichen Erschliessungsstraßen. Mohn blüht. Margariten, Kornblumen, noch ein wenig Raps verbinden sich zu rot-weiß-gelb-blauen Teppichen oder Tupfern. Es riecht nach frischem Gras, nach Heu, Waldmeister und Raps. Vögel trällern, zwitschern und singen, ohne dass ich weiß, welche Art das jeweils ist.

    Im Dorf Rheine treffe ich heute die einzigen Wanderer, ein holländisches Paar, das den Hansaweg von Herford nach Hameln gehen will. Sie wundern sich über die unzureichende Infrastruktur unterwegs. Kein Café, keine Kneipe, kein Dorfkrug, kein Laden, nirgends. In allen Dörfern treffe ich höchstens mal eine Oma mit Rollator oder einen Opa beim Heckenschneiden, keine Kinder, keine Eltern, wie ausgestorben, verlassen. Dabei gibt es schnieke Landlust-Behausungen mit Dekomaterial für jeden Geschmack, und auch ohne jeden. Viele aufgelassene Bauernhäuser. Eine aussterbende Spezies, so ein norddeutsches Dorf.

    Der sehr steile Abstieg nach Bösingfeld geht in die Leiste, das spannt jeden Muskel an. Bis dahin war ich locker gelaufen, aber der letzte Teil bewirkt, dass ich Muskelkater spüre. Nur gut, dass ich auf einer Touristikseite des Ortes im Internet vier Unterkunftsmöglichkeiten gefunden habe. Ja, im Internet, aber nicht in der Realität. Das erste ist geschlossen, Haus Hannover, sowieso verlassen. Das nächste, Unter den Linden, ist abgerissen. Da wird nun das neue Rathaus gebaut. Der Timpenhof -zum Verkauf ausgeschrieben, seit Jahren stillgelegt. Ich frage mehrere Passanten, keiner hat eine Ahnung. Es gibt vielleicht noch Zimmer in einem, wie sie immer noch sagen, Jugoslawischen Restaurant, aber mehrere Kilometer entfernt und auch ungewiss. Ein weiteres Haus in der lustig klingenden Hackemack-Straße vermietet nicht für eine Nacht. Da kommen Monteure unter. Bei der kommunalen Infostelle ist geschlossen, aber eine freundliche Frau reicht mir einen Prospekt raus. Das darf sie schon noch, nur keinerlei Empfehlungen aussprechen. Es ist auch nichts zu empfehlen, es gibt nichts, gar nichts. Ein abbröckelnder Ort. Kaum ein Laden, an dem nicht ein Zu verkaufen-Schild zu finden ist oder der nicht schon längst aufgelassen ist.

    Ein holländisches Ehepaar, das auch Touristeninfos gesucht hatte, treffe ich beim Bäcker wieder, wo ich mir erstmal eine Pause gönne, um in Ruhe weitere Möglichkeiten zu eruieren. Mir hilft das Internet. Notfalls könnte ich mit dem Bus zurück nach Aerzen oder nach Hameln fahren. Das Hotel in Linderhofe könnte ich anrufen, die würden mich, wie das Schild am Aussichtsturm Hohe Asch ermuntert, auch mit dem Auto abholen. Irgendwas geht immer. Ist aber alles nicht nötig, es gibt einfachere Lösungen. Die Bäckersfrau hat die Idee, im Hackemack anzurufen und zu fragen, ob sie mir nicht auch für eine Nacht ein Zimmer fertig machen könnten. So hilfsbereit! Die Holländer schwärmen von ihrem Wohnmobil, das ihnen Mobilität und Bequemlichkeit, vor allem Spontaneität ermöglicht. Die Frau war Lehrerin, spezialisiert auf Niederländisch als Zweitsprache. Viel zu viele Ausländer in den Niederlanden, das ist ihre Meinung, vorwiegend nicht Integrationswillige, an denen jeder Sprachkurs spurlos vorüber geht, verschwendete Ressourcen. Sie schätzen Deutschland als Reiseland wegen der Fülle von Sehenswürdigkeiten, der freien Natur und seiner Liberalität. Die Bäckersfrau hat den jungen Wirt erfolgreich bezirzt. Das Zimmer ist bezugsbereit. Es geht steil den Hang hinauf. Das schaffe ich gerade noch mit Jammer und Elend. Ein einfaches Haus, kein Föhn, keine Seife. Im Ort finde ich auch nicht leicht etwas zu essen. Montag geschlossen, zwei von drei Möglichkeiten haben Ruhetag. Ein Italiener serviert im Garten in der Abendsonne. Ein Vorgeschmack auf Italien!

    Der erste Tag lief gut. Ich hoffe, es finden sich jeden Tag immer wieder Lösungen, dass etwas klappt, wo normalerweise nichts geht.

    Bösingfeld - Lemgo

    Dienstag, 11.6.13

    Der Tag hat heute gut begonnen. Die Wirtin hatte den Föhn gebracht, so dass ich nicht nur die Haare, sondern auch die Wäsche trocknen konnte, die doch nicht so schnell trocknet, wie ich dachte. Das Frühstück war so reichlich bemessen, dass ich mir zwei Scheiben Brot mitnehmen konnte. Gute Idee, sonst hätte ich bis abends nichts zu essen gefunden. Den ganz offensichtlichen Niedergang des Ortes erklärt die Wirtin mit dem Abzug der Industrie in Richtung Osten, Polen oder noch weiter, Richtung Asien. Kein Wunder, dass die Geschäfte schließen. Manchmal finden die Besitzer schlicht keine Nachfolger. Das ist hier wie überall. Die jungen Leute pfeifen auf die viele Arbeit, sie können anderswo leichter ihr Brot verdienen.

    Linderhofe ist mein erstes Etappenziel, wo ich im Hotel Zur Burg Sternberg Pflaster auf den kleinen linken Zeh klebe. Morgens hatte ich mir eine Tablette eingesteckt für den Fall, dass der Muskelkater in der Leiste mir zu schaffen macht. Der hat sich aber verflüchtigt und kehrt erst abends zurück. Allein dass ich die Tablette in der Tasche habe, gibt mir ein sicheres Gefühl, fast so wie der Schutzengel in der Hosentasche, den Antje mir zum Abschied zugesteckt hat.

    Der Weg heute ist so sanft und schön wie gestern, nur werden die Berge höher und die Täler tiefer. Hasen und Rehe springen vor mir auf. Idylle überall - die Natur ist so schön. Ganz freie wilde Natur gibt es nicht bei uns, alles ist Kulturlandschaft, gepflügt, geordnet, beforstet, vom Menschen nutzbar gemacht, und dennoch wunderschön, was sich ja überhaupt nicht ausschließt. Ich singe alle Lieder durch, die mir einfallen, und das sind eine Menge, die ich auf lalala singen kann. Keiner hört mich, im Wald ist man allein. Die Stille ist überraschend still, nur mal ein leichtes Brummen von einem Trecker, der zum Heuwenden auf dem Feld gebraucht wird, mal eine entfernte Straße, sonst nur der Wind und die Bäume.

    Ich hätte eigentlich schon bald in Lemgo sein müssen, als ich nach fünf Stunden einer Reiterin begegne. Nach Lemgo? Das ist aber noch weit! Nanu? Ich war immer weiter dem großen E hinterher gelaufen, das hier etwas anders aussah als sonst, blasser und von einem Kreis umschrieben. Ja, das kann schon sein, verschiedene Vereine kümmern sich um die Markierung ihres Abschnitts. An einem Wegweiser lese ich lauter Ortsnamen, die nicht im Wanderführer erwähnt sind. Ich werde leicht unruhig. Zwei Reiterinnen kommen mir just an der Kreuzung entgegen und helfen mir bei der Orientierung: Ich bin hier ganz falsch! Daher war ich noch nicht am Ziel, na, kein Wunder. Zwar bin ich im Bereich des Extertales, aber schon mehr im Kalletal, ein großer Bogen nördlich um Lemgo. Und dabei ist alles so exzellent ausgeschildert! Irgendwo habe ich was verpasst. So muss ich halt weiter. Die Beine laufen heute fast von allein. Ich erreiche mit Ach und Krach eine kleine Straße in the middle of nowhere und versuche, mit dem Daumen weiter zu kommen. Die Lipper sind stur", hatte mir schon die Wirtin am Morgen bedeutet. Recht hat sie! Obwohl sie Platz haben, nehmen sie mich nicht mit. Ein Gärtnerauto hält, ein türkischer Kurde, mit dem ich über die Demokratiebewegung in der Türkei spreche. Er freut sich, dass die Menschen aufmucken, Erdogan habe sich in den letzten Jahren zu einem Diktator aufgeschwungen. Das derzeitige Entgegenkommen gegenüber den Kurden solle man nicht überbewerten, auch nicht die wirtschaftlichen Erfolge. Der freundliche Kurde bringt mich an den Punkt des E1, wo ich eigentlich hätte aus dem Wald kommen sollen.

    Ich komme bei herrlichem Sonnenschein nach Lemgo runter. So viele Renaissanceund Barockfassaden, lateinische und plattdeutsche Sprüche, antikes Bildungsgut und fromme Weisheiten, alles hier wirkt gepflegt, besonders das Renaissance-Rathaus. Ich nehme ein Hotel im Zentrum, das Stadtpalais, ein großes Weserrenaissance-Anwesen mit allem, was dieser Stil zu bieten hat, Giebel, Utlucht, Neidkopf, Sandsteinfiguren. Drinnen setzt sich die Pracht fort: Kamin, Balken, alte Möbel. Der junge Wirt freut sich über meine Wanderung und gibt mir das Zimmer deutlich billiger als im Internetportal. Ein Zimmer für Frauen von Schneewittchen an aufwärts.

    Reisen, das sei nichts für die Lipper, die bleiben zu Hause, meint der Herr an der Rezeption.

    Lemgo - Detmold

    Mittwoch, 12.6.13

    Heute treffe ich zwischendrin eine fröhliche Schulklasse mit ihrer Lehrerin. Sie sind auf dem Lipper Pilgerpfad unterwegs, der auch auf der Trasse des E1 verläuft. Vorsicht, Gegenverkehr ruft ein Junge vorne, dass es nicht zu Kollisionen kommt! In der Tat, es sind wieder ganz schmale Pfade, oft versteckte Wege am Waldrand und über Wiesen.

    Der Blick auf die Höhen des Teutoburger Waldes mit dem herausragenden Hermannsdenkmal obenauf gefällt mir, nicht so sehr der viele Teer. Die typischen Ausfallstraßen finden sich auch in Detmold, die Einkaufszentren, Baumärkte, Tankstellen. Ich bin froh, mein Ziel heute nicht zu weit gesteckt zu haben. Auf dem Marktplatz in Detmold trinke ich Kaffee, dann schaue ich mich weiter um. Die Stadt ist ganz vom Schloss und den Bedürfnissen des Fürsten und des Adels geprägt. Was für ein Unterschied zur bürgerlich orientierten Handelsstadt Lemgo. Ich gehe auf der Esplanande an vielen Adelssitzen vorbei, auch an der Musikhochschule, die in einem alten Palais untergebracht ist.

    An der Jugendherberge am Waldrand setzt starker Regen ein. Dann bleibe ich! An der Rezeption bitte ich um eins der Komfortzimmer für Erwachsene, so eins mit Dusche vielleicht? Die junge Frau bringt mich in den 2. Stock hoch. Ist das hier die ruhige Erwachsenenzone? erkundige ich mich. Sie zieht vielsagend die Stirn kraus. Richtig geraten: Das Zimmer ist ein ganz normales kahles 4-Bett-Zimmer, nur mit eigenem Bad. Vier Haken an der Wand, vier kleine Hocker. Ja, das kennen wir so, seit ewigen Zeiten. Die Dusche geht nur, wenn man immer auf den Knopf drückt, etwas schwierig, wenn man auch mal den Rücken treffen will. Immerhin: Ein Zimmer für mich allein. Drei Stockbetten stehen bereit, den Inhalt meines Rucksacks aufzunehmen. Kleiderbügel gibt es auch nicht. Wohin mit den gewaschenen Sachen? Gut, dass ich allein im Zimmer bin.

    Nicht lange, da zwitschert eine fröhliche, muntere Klasse über den Flur. Türenschlagen, Gekreische. Es ist doch was Schönes um die Jugend. Ich gehe raus und vermelde, dass ich hier auch wohne. Einmal platzt die Lehrerin auf einem Kontrollgang auch in mein Zimmer. Sie hat wohl den Überblick verloren, wo ihre Übeltäter hausen. Ich schreibe, lese, plane und genieße, dass ich Zeit dafür habe. Die lieben Kleinen toben sich draußen auf der Wiese sportlich aus. Ob das für eine ruhige Nacht reicht?

    Detmold - Altenbeken

    Donnerstag, 13.6.13

    In der Jugendherberge ist die Nacht um 5 Uhr zuende, definitiv. Das Bollern an die Wände, das Klopfen, Schurren, Trampeln ist nicht zu überhören. Böswillig oder ungewöhnlich ist es nicht. Sechstklässler sind, wie sie sind. Ich versuche es zu ignorieren, so gut es geht und freue mich, dass ich nicht zuständig bin. Wenigstens versuche ich zu frühstücken, ehe es die anderen tun. Der nette Herbergsvater hat volles Verständnis für meine Lage, aber was nützt es. Andere hätten sich auch schon beschwert. Nö, ich will mich nicht beschweren, Kinder sind Kinder und haben andere Bedürfnisse als Wanderer. Es wäre ein Tipp, die Bereiche räumlich zu trennen. Nachtruhe in der Jugendherberge ist Organisationssache.

    Im Frühstücksraum treffe ich auf ein Trio Wandervögel, alle sicher älter als 85 Jahre, gebrechlich, aber in Wanderkluft. Irgendwie gespenstisch. Sie haben Mühe, sich auf den Beinen zu halten und stützen sich gegenseitig.

    Als ich meine Sachen aus dem Zimmer holen will, stehen die Kleinen bedröppelt davor und wollen sich für die Störungen entschuldigen. Die Jungen haben..., die Mädchen haben... Das kann alles so sein und ich will gar nicht meckern. Ich erkläre ihnen, dass ich selbst früher mit vielen Klassen unterwegs war und das alles gut kenne, als Wanderin aber schlicht Ruhe brauche. Sie sind fasziniert, dass ich allein und so weit wandern will. Dürfen wir mal ihren Rucksack anfassen? Was, so schwer? Nur 4,5kg, das Minimum. Was wäre mein Minimum, überlegen sie. Süß! Die Lehrerin interessiert sich mehr für meine berufliche Vergangenheit - aber ich will los.

    Heute bin ich wohl zu weit gegangen. Auf alle Fälle zu lange. Ein wunderbarer Weg, nur zu weit. Keine Chance, zwischendurch eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Also Augen auf und durch, so weit die Füsse tragen. Und sie gehen auch, fast mechanisch, Schritt für Schritt. Bis mittags zwickt der linke kleine Zeh, trotz zweier Pflaster. Kleiner Bösewicht, der will mich erinnern an die Begrenztheit menschlichen Strebens. Irgendwann lässt er betäubt nach, der kleine Zeh, aber ich weiß genau, er gibt so schnell nicht auf.

    Das Hermannsdenkmal umgehe ich unten herum. Auf einem Feld wird Öko-Salat geerntet. Sie bauen hier auch die alten Apfelsorten an. Ein älterer Herr mit Hund erklärt mir, wie ich den Weg zur Adlerwarte Berleburg kürzer gestalten kann, eine perfekte Beschreibung. Jüngere frage ich schon gar nicht mehr, die kennen sich in der Regel nicht aus. Ich frage gern mal zwischendurch, auch wenn ich den Weg kenne. Ich erfahre etwas über die Gegend und die Leute freuen sich, Wanderer zu sehen. Ich treffe einige alerte Wanderburschen mit kleinen Butterbrotrucksäckchen auf dem Rücken, erwartbar im kurzen Radius um eine Sehenswürdigkeit herum. Gegenseitig versichern wir uns jeweils, dass es nicht weit ist.

    Der Wald ändert seine Zusammensetzung. Statt der lichten Buchenwälder des Weserberglandes dominieren hier

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