Ich suche einen Menschen: Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte
By Rainer Gross
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About this ebook
Rainer Gross
Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen. Studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller seit 2014 wieder in Reutlingen. Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012). Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödin-gers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016); Scheherazade (2017); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); Der Sommer der Glühwürmchen (2017); In der fernen Stadt (2017).
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Ich suche einen Menschen - Rainer Gross
Gross
I
Ich suche einen Menschen.
Einen Menschen, wie es ihn nur einmal gab.
Einen wahren Menschen.
Ihn.
Wer ist er?
Ich weiß es nicht.
Ich gehe im Regen durch die Stadt. Glänzender Asphalt, Lichtinseln spiegeln darin, ich trete auf Wasser und Licht.
Hunderttausende Menschen leben hier. Eine Million Menschen. Zwei Millionen. Acht Milliarden Menschen leben auf der Erde. Zehn Milliarden. Zwölf Milliarden – Die Stadt.
Mit regennassen Haaren stehe ich vor einem Schaufenster. Ich sehe die Auslagen nicht. Ich sehe das Licht, den Glanz, den Schein. Die Vertrauenswürdigkeit der Preisschilder. Das alles hat mit ihm nichts zu tun. Alles hat mit ihm zu tun.
Wie soll ich mit ihm umgehen?
Eine sanfte Hand, die sich
auf den geneigten Kopf legt. Ein Lächeln den Kindern, die zu ihm kommen. Durchbohrte, blutende Hände. In Leinenbinden gewickelt sein Leib,
duftend von Balsam.
Die Wände schwirren, wenn er hindurchgeht, er steigt in die Wolken und gibt Toten das Leben.
Ich stehe mit regennassen Haaren
vor einem Schaufenster.
Alles hat mit ihm zu tun.
Ich erreiche ihn nicht. Wo ist er?
Ich habe Rechnungen zu bezahlen.
Ich habe zwei Kinder, eine Frau.
Ich habe eine Wohnung.
Ich habe ein Leben. Ein einziges.
Das ist es, was ich will: leben.
Ich habe einen Traum.
Jeder hat einen Traum.
Jeder weiß, wie es besser sein sollte.
Jeder weiß, dass dieses Leben nicht genügt.
Jeder weiß, dass da ein gigantischer Fehlbetrag in der Welt herrscht.
Jeder zahlt, was er kann, aber es reicht nicht.
Das gehört alles zum Leben. Das sollte alles nicht zum Leben gehören.
Aber was will man machen?
Was will ich machen?
Ich suche ihn.
Ich suche ihn, weil es von ihm heißt, er sei das Leben. Das LEBEN!
Ich suche ihn, weil es heißt, er gebe das Leben in Hülle und Fülle, eine sprudelnde Quelle im heißen Staub, Oasenschatten, gefächert von den Wedeln der Palmen, süße Datteln und Feigen, ein brausender Sturzbach aus trockenem Stein hervor, ein Garten voller Vögel und Schmetterlinge, ein Hain voller Früchte und Nüsse, ein Teich, ein Fluss, ein Meer aus kristallenem süßen Wasser.
Ich habe nichts als Bilder.
Vielleicht bin ich selbst ein Bild.
Ein Gleichnis. Irgendwer muss mich entschlüsseln.
Es gehört zu diesem Leben, dass ich das selbst tun muss. Wir müssen uns selbst entschlüsseln und uns den Weg zum Leben selbst weisen. Das ist der grundlegende Fehl in unserem Leben –
Ach, Leben!
Ich will doch nur leben.
Ich suche ihn, damit er mich entschlüsselt. Der Code dafür steckt in der DNS dieser Welt. Ich weiß es.
Es liegt alles vor meinen Augen,
es ist zum Verzweifeln.
Ich sehe nur den Kaffeebecher am Morgen, den Toaster, die Gesichter der Kinder, das mürrische Gesicht meiner Frau, verhaftet im Selbstgespräch. Ich sehe Schulranzen, Autoschlüssel, Brotkörbe, Fenstersimse, kahle Bäume, Krähen, Straßenlaternen, Bürotüren, Aschenbecher, Gläser halbvoll mit Saft, gebrauchte Teebeutel, abgebrannte Kerzen, Computertastaturen, Linoleumflure, Neonleuchten, Kugelschreiber, Armbanduhren, schlecht geschminkte Lippen, Krawatten, Wintermäntel, und wenn ich aufblicke zum Himmel, sehe ich Bleigrau.
Wirklichkeit blendet.
Sonst könnte ich ihn sehen.
II
Geschichten erzählen. Das sollte man. Gleichnisse vielleicht. Wofür?
Es gibt nur drei Geschichten: seine, meine und die der Anderen.
Seine ist leicht erzählt. Überall kann man sie nachlesen.
Meine, das ist meine Aufgabe.
Die der Anderen, das bedeutet Mannigfaltigkeit und Wiederkehr des Gleichen.
Meine Geschichte ist klein, aber einzigartig für mich. Meine Geschichte ist nicht ich, sonst würde ich kein Wort herausbringen. Sie besteht zum Beispiel in einigen Fotos. Ein Kleinkind mit verstruwwelten Haaren und großen Augen. Im Kinderbett. Im Kinderwagen. Eine Stoffgiraffe im Mund. Ein kleiner Junge beim Spielen am Bach. Weinend. An Vaters Hand. Auf Mutters Schoß. Mit der Schultüte in der Hand, deren Farbe man auf dem Schwarzweißfoto nicht erkennen kann. Sie hatte ein glänzendes Tannengrün mit weißer Borte.
Geboren, großgeworden, irgendwie, wie alle, und doch einzigartig.
Kindergarten, Schule, Gymnasium, Ausbildung, Beruf. Familie. Erstes Auto. Erste Wohnung. Die Stadt.
Siebenunddreißigeinhalb Wochenstunden. Ausflug am Wochenende. Drei Wochen Urlaub. Uns geht es gut. Solange man jeden Tag aufstehen kann. Solange man jeden Tag bewältigen kann. Das ist die Zeit:
Tag für Tag.
Was ist die Zeit? Das sollte ich wissen. Gewinne ich mit jedem Tag? Oder verliere ich? Oder entscheidet es sich jeden Tag neu?
Wer auf der Suche ist, hat
seine eigene Zeit –
Meine Geschichte.
Die will niemand wissen. Nur ich.
Und er.
Er kennt sie.
Er war