Schilddrüsen-Anomalien: bei Kindern und Jugendlichen in und um Fukushima
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Gerald Mackenthun
Gerald Mackenthun, geboren 1950, ist Psychotherapeut und Buchautor. Er lebt in Berlin. 25 Jahre lang arbeitete er als Wissenschaftsredakteur in einer großen deutschen Nachrichtenagentur, bis er 2003 nach Studium und Ausbildung in den Beruf des Psychotherapeuten wechselte. Er ist Autor mehrerer psychologischer Grundlagenwerke wie Widerstand und Verdrängung. Ursprung und Neuinterpretation zweier Schlüsselbegriffe der Tiefenpsychologie (Gießen: Psychosozial-Verlag 2011), Gemeinschaftsgefühl. Wertpsychologie und Lebensphilosophie seit Alfred Adler (Gießen: Psychosozial-Verlag 2012) und Grundlagen der Tiefenpsychologie (Gießen: Psychosozial-Verlag 2013). Eine weitere Buchveröffentlichung ist Politisches Denken in Athen und Rom (Berlin: VTA 2020).
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Book preview
Schilddrüsen-Anomalien - Gerald Mackenthun
Abbildungen
Der Ausgangspunkt: „Global 2000-Meldung „Schilddrüsen-Anomalien bei Fukushima-Kindern
Am 27. Februar 2013 veröffentlichte die Tageszeitung Der Standard (Wien) folgende kurze Meldung:
Schilddrüsen-Anomalien bei Fukushima-Kindern
Fukushima (27. Februar 2013) – Bei Untersuchungen von Kindern und Jugendlichen in der japanischen Präfektur Fukushima habe sich eine extrem hohe Anomalie
gezeigt, berichtete Global 2000 am Mittwoch. Von den 133.089 Untersuchten hatten 55.592 oder 41,8 Prozent Zysten und Knoten in den Schilddrüsen – teilweise bis zu einem Durchmesser von mehr als zwei Zentimetern. Der normale Durchschnitt liege bei 1,5 bis drei Prozent, erläuterte Reinhard Uhrig¹ von Global 2000.²
Quelle des Standard war eine Online-Veröffentlichung von Global 2000 vom gleichen Tag (27.02.2013). Unter der Überschrift „GLOBAL 2000: Fahrlässiger Umgang mit Fukushima-Kindern" heißt es dort unter anderem:
In der japanischen Präfektur Fukushima werden auch bald zwei Jahre nach Beginn der Nuklearkatastrophe immer noch nur tranchenweise Kinder und Jugendliche auf Schilddrüsenanomalien untersucht. Der Trend, der sich bereits bei den ersten Gruppen 2011 zeigte, hat sich auch nach Untersuchung von 133 089 Kindern und Jugendlichen bestätigt: 55 592 oder 41,8 Prozent der Untersuchten hatten Zysten und Knoten in den Schilddrüsen, teilweise bis zu einem Durchmesser von über 2cm. Die jüngsten Untersuchungsergebnisse zeigen ebenfalls eine Zunahme der Schilddrüsen-Anomalien im Vergleich zu den 2011 untersuchten Kindern, und die Proportion der größeren Anomalien steigt ebenfalls.
Vergleiche mit westlichen Kontrollgruppen legen nahe, dass die in der Präfektur Fukushima nachgewiesenen Anomalien besorgniserregend weit über dem Normalwert liegen: „In ‚normalen‘ Schilddrüsenscreenings liegen die Raten der Schilddrüsenanomalien bei 1,5–3 Prozent. Die in der betroffenen Region auftretenden Werte übersteigen dies um das Dreizehn-bis Siebenundzwanzigfache", sagt Reinhard Uhrig.³
Sollte diese Meldung stimmen, wäre das tatsächlich eine Sensation. Sie impliziert, dass alle Erfahrungen aus Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl sowie das gesammelte Weltwissen über Wirkung von Radioaktivität auf den Prüfstand gehören. Die Meldung impliziert,
dass es entweder eine bisher nicht bemerkte und gemessene, exorbitante hohe Strahlenfreisetzung in Fukushima gegeben hat, oder
dass Schilddrüsen, anders als bisher bekannt, schon auf niedrigste und niedrige zusätzliche Strahlendosen hochempfindlich und wesentlich schneller als bisher beobachtet reagieren.
Es könnte aber auch sein, dass eine verbesserte Empfindlichkeit von Sonographiegeräten Schilddrüsenknoten und –zysten detektiert, die mit älteren Geräten nicht gesehen werden konnten.
Die Reihenuntersuchungen könnten aber auch nahelegen, dass bei massenhaftem Screenig Schilddrüsenveränderungen gefunden werden, die ohne Untersuchung symptomlos unerkannt geblieben wären.
Oder es gibt weitere Erklärungen, beispielsweise falsch positive Messungen (Geräte zeigen etwas, was nicht da ist), falsche Interpretation von objektiven Daten oder fehlendes Wissen über medizinische Sachverhalte, was ebenfalls zu Fehlinterpretationen führen kann.
Schließlich ist aus früheren (schlechten) Erfahrungen mit der Informationspolitik der Anti-Atom-Lobby (z.B. IPPNW) nicht auszuschließen, dass es sich um eine fahrlässige oder bewusste Missinterpretation objektiv erhobener Daten handelt.
Im Folgenden wird versucht, eine Antwort darauf zu finden, welche der angedeuteten sechs Möglichkeiten den tatsächlichen Gegebenheiten am nächsten kommt. Die Relevanz ergibt sich aus der Tatsache, dass mehrere Medien und Umweltschutzorganisationen die Daten aus Fukushima aufgriffen und verbreiteten und viele Kernkraftgegner diese Meldung glaubten und in ihr Argumentationsgefüge einbauten.
¹ Reinhard Uhrig wird als „Atomexperte der österreichischen Umweltlobbygruppe „Global 2000
vorgestellt.
² Quelle: http://derstandard.at/1361241345470/Schilddruesen-Anomalien-bei-Fukushima-Kindern
³ http://www.global2000.at/site/de/nachrichten/atom/fukushima127/pressarticle-schilddruesen2013.htm
Erster Exkurs: Gesundheitliche Wirkung radioaktiver Strahlung
Jeder Mensch ist einer natürlichen ionisierenden Strahlung ausgesetzt. Sie kommt aus dem Weltraum (kosmische Strahlung), aus dem Boden (Radionuklide) oder aus dem Körper selbst. In der Bundesrepublik liegt die natürliche Strahlendosis für die meisten Erwachsenen zwischen 1 und 5 mSv pro Person und Jahr (= 0,0001141–0,0005707 Millisievert pro Stunde bzw. 0,1141–0,5707 Mikrosievert pro Stunde). Der Durchschnittswert beträgt 2,1 mSv/a bzw. 0,2397 μSv/h. Dies sollen die Referenzzahlen für die folgenden Zahlen zur radioaktiven Belastung sein. Die zusätzliche Belastung durch deutsche Kernkraftwerke liegt rechnerisch bei maximal 0,0003 mSv pro Jahr = 0,3 μSv/a. Zum Vergleich: Das Rauchen einer Zigarette entspricht im Risikopotenzial etwa 30 μSv. Bei den Angaben zur natürlichen Radioaktivität handelt es sich um Durchschnittswerte; die regionale Schwankungen können das Doppelte nach oben oder die Hälfte nach unten betragen, ohne dass dieser Wert mit der tatsächlich gefundenen Krebsrate einer Region korreliert.
Um die Aussagen einschätzen zu können, ist es sinnvoll, die gesundheitlichen Wirkungen radioaktiver Strahlung zu kennen. Dazu liegen umfangreiche Untersuchungen aus Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl sowie aus der Kontamination mehrerer Wohngebäude mit radioaktivem Kobalt in Taipei vor.
Wie eine niedrige zusätzliche Strahlenexposition über längere Zeit auf den Menschen wirken, ist nicht wirklich klar. Vieles spricht dafür, dass eine Verdoppelung oder Verdreifachung der natürlichen Strahlung über einen längeren Zeitraum keinerlei gesundheitliche Folgen hat. Theoretisch kann ein einziges Strahlenquant an einer einzigen Zelle diese verändern und ein Krebswachstum auslösen. Tatsächlich ist Strahlung eine allgegenwärtige Erscheinung, denn der Mensch ist der von der Sonne und anderen Gestirnen ausgehenden Strahlung ausgesetzt. Auch radioaktive Elemente in der Erdkruste spielen eine Rolle, allen voran Uran und sein Zerfallsprodukt Radon. Eine Strahlen-Schwellendosis für die Entstehung von Krebs kann nicht angegeben werden. Die Aussage, „eine Strahlen-Schwellendosis für die Entstehung von Krebs kann nicht angegeben werden, ist jedoch in etwa so sinnvoll wie der Satz „eine Zigaretten-Schwellendosis für die Entstehung von Lungenkrebs kann nicht angegeben werden
oder „eine Schwellenzahl für Autofahrten, die zu einem tödlichen Unfall führen, kann nicht angegeben werden". Da Radioaktivität allgegenwärtig ist, können die Effekte einer Null-Belastung nicht simuliert werden. Unterhalb von 100 mSv zusätzlicher Strahlenexposition pro Person in einer größeren Population versagt die Epidemiologie. Erst ab 1000 mSv sind direkte Strahlenschäden zu beobachten.
Abbildung 1: Gesundheitseffekte in Abhängigkeit von der Strahlendosis (Quelle: UNSCEAR)
Unter Schirmherrschaft der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) wurden mit Beteiligung der Bundesrepublik mehr als 160 000 Personen aus der näheren und weiteren Tschernobyl-Umgebung vor Ort radioaktiv ausgemessen. Dabei zeigte sich, dass 99 Prozent von ihnen jährlich weniger als 1,0 Millisievert (mSv) aufgrund des nuklearen Unfalls ausgesetzt sind. Mit Schäden am Knochenmark und einer Erhöhung der Leukämierate ist nach einer Strahlenbelastung von mehr als 2.000 mSv messbar zu rechnen. Gefahr für den Embryo in der Frühschwangerschaft besteht nach Angaben von Fachleuten von 500 mSv an. Für spätere Entwicklungsstadien eines Embryos nach dem 10. Schwangerschaftstag gilt eine Dosis von bis zu 50 mSv als ungefährlich.⁴ Eine erhöhte Krebshäufigkeit in Deutschland lässt sich nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl nicht nachweisen.
1999 wurde