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Lichte Schatten: Essays
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Lichte Schatten: Essays

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Wo Licht ist, ist auch Schatten.
Der Titel soll zum Ausdruck bringen, dass die Welt ein Mixtum compositum ist, ein sich Durchdringen von Hell und Dunkel, das aus unendlichen Übergängen besteht. Manche dieser Interferenzen spiegeln sich in den Essays wider, so dass es scheint, als wären auch sie aus Licht und Schatten gewebt.

Das Buch ist Georg Picht gewidmet – neben Heidegger der andere große Denker der Zeit. Bei Picht geht es nicht mehr um das ewige Sein, dem Fundament der Metaphysik, sondern um die Erkenntnis: „Die Zeit ist selbst das Sein“. Das bedeutet ein Überdenken unseres gesamten Welthorizonts, auch des Grundes, auf dem die Wissenschaft steht.

Durch die Bemühung, hierzu einen Beitrag zu leisten, ergab sich im Lauf der Jahre jene Nähe zu Picht, die zu den Voraussetzungen der Essays gehört. Das gilt vor allem vom letzten, dem Versuch über das Glück, der aber keinen Abschluss darstellt. Vielmehr soll er den Denkweg zu einem vorläufigen Ende führen, so dass die Bewegung, die ihn ausmacht, unter dem Lebensbaum zur Ruhe kommt.
Wo Schatten ist, ist auch Licht.
LanguageDeutsch
Release dateNov 10, 2014
ISBN9783738683066
Lichte Schatten: Essays
Author

Friedrich Kabermann

Dr. Friedrich Kabermann (1940-2020), Historiker, arbeitete im Medienbereich und publizierte als freier Autor wissenschaftliche und belletristische Texte.

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    Lichte Schatten - Friedrich Kabermann

    I.

    Denken und Dichten

    Krise und Kritik

    Umrisse einer vorläufigen Nachdenklichkeit

    „Es gibt einen Augenblick des Glückes, der uns jäh überfällt. Er verdrängt die Gedanken wie das absolute Licht den Schatten; die Sterne müssen günstig stehen".

    So lautet der vorletzte Absatz von Ernst Jüngers Roman „Die Zwille. Ich habe ihn dem Aufsatz „Scherenschnitte zugrunde gelegt, der 1990 in „Dunkel-Zeiten", dem ersten Essay-Band, erschien. Augenblicke des Glücks gehören nicht zu den Glücksgütern, durch deren Konsum sich die Industriegesellschaft die politische Legitimität erkauft. Sie verweisen auf eine Erfahrung des Glücks, die nicht von dieser Welt ist.

    Zum philosophischen Thema wurde sie in Platons „Höhlengleichnis, das im VII. Buch der „Politeia steht. Platon spricht dort von den Mühen, die der Höhlenbewohner auf sich nehmen muss, wenn er dem Schattendasein der Gefangenschaft entkommen und das Licht der Unsterblichkeit erblicken will. Dabei helfen ihm weder Wissen noch Weisheit, wichtig ist allein, dass der beschwerliche Weg, ein Mensch zu werden, immer wieder neu gewagt wird. Das aber bedeutet, wie es im „Phaidon heißt, Sterben zu lernen, was nur möglich ist, wenn die Seele eine „Metanoia vollzieht, eine Kehrtwende von der vergänglichen Welt des Scheins hin zur ewigen Wahrheit des Seins. Gelingt diese Umkehr, erfährt der Mensch, was Glück ist.

    Das ist der Zusammenhang, den Ernst Jünger vor Augen hat, wenn er eine solche Glückserfahrung mit dem absoluten Licht vergleicht, das keinen Schatten wirft.

    Die Höhle ist Platons Bild für die Welt der Menschen, deren Wesen die Vergänglichkeit ist. Das klingt 2000 Jahre später noch bei Nietzsche an, wenn er von den „Dunkel-Zeiten" spricht – nun allerdings in der Umkehrung: Nicht die Ewigkeit ist wirklich, sondern die Endlichkeit dieser Welt. Von ihr können wir uns nicht befreien, sie ist die Bedingung, die Notwendigkeit des Lebens schlechthin.

    „Lichte Schatten – der Titel des neuen Essay-Bandes bringt zum Ausdruck, dass die Wirklichkeit eine Mischung aus Licht und Schatten ist, gleichsam ihre Interferenz. Dem versuchen die einzelnen Arbeiten gerecht zu werden, wobei thematische Überschneidungen und Wiederholungen nicht zu vermeiden sind. Zudem muss offen bleiben, ob die Aufhellung zwischen „Dunkel-Zeiten und „Lichten Schatten" bloßer Schein ist oder nicht.

    Im Zeitalter der Metaphysik wird das Denken von Platon bis Hegel durch die Trias Unum, Verum, Bonum bestimmt, der die Dreieinigkeit von Welt, Mensch und Gott entspricht. Danach erscheint die Welt als eine Einheit, der Mensch als das Lebewesen, das nach der Wahrheit fragt und Gott als die Idee des Guten, als das höchste Gut überhaupt. Entsprechend handeln die Essays „Experimentum Mundi von der Einheit der Welt als Geschichte, „Fenster sein, nicht Spiegel von der Wahrheit in der Form der Transparenz und „Requiem in C-Dur" vom Tod Gottes, dem Ende der Metaphysik. In dieses Gefüge ordnen sich die übrigen Arbeiten ein und umreißen so den Horizont der Gegenwart.

    Das gilt auch von den politischen Beiträgen, vor allem den „Schattenrissen, der die Form eines Entwurfes hat. Sie stammen aus dem Umkreis des Gesprächsbuches „Das Maß der Dinge, wobei sich in der Zwischenzeit die Systemkrise der Politik auf eine Weise verschärft hat, die mit „Dunkel-Zeiten oder „Lichten Schatten kaum mehr umschrieben werden kann. Eher träfe die Vorstellung einer fensterlosen Finsternis zu, die in Kafkas Bild vom „Schacht von Babel" anklingt. Wir graben uns nicht nur ein, wir beerdigen uns selbst.

    Doch gilt das nicht absolut, anders würde die Hoffnung verleugnet, die den Blick in die Zukunft lenkt; ohne sie ist Leben nicht möglich. Nach Georg Picht handeln wir falsch, weil wir falsch denken, nicht umgekehrt. Der Punkt, an dem sich nachweisen lässt, wie in der Politik aus falschem Denken falsches Handeln entsteht, lässt sich historisch genau angeben. Er wird durch Carl Schmitts Schrift über den „Begriff des Politischen markiert, die bis heute die Gemüter fasziniert. Sie erschien 1932 und stellt das Wesen des Politischen als existentielles Freund-Feind-Verhältnis dar, das die physische Vernichtung des Feindes einschließt. Ob „Kommunist oder „Faschist, „Kapitalist oder „Terrorist – im Rahmen einer solchen „politischen Theologie ist jeder ein möglicher Feind und kann als „Häretiker, als ein Un-Mensch, vernichtet werden. Daran wird deutlich, dass weniger die Inhalte als die Formen des Denkens entscheidend sind. Deshalb wird die Krise der Hightech-Zivilisation nur dann zu lösen sein, wenn ihr im Zuge einer inneren Evolution der Abschied vom Feind gelingt. Damit ist die Voraussetzung genannt für jene politische Kunst, das „Raumschiff Erde zu steuern, die hier als „Terranautik bezeichnet wird. Anders muss das Experimentum Mundi scheitern, womit sich der Themenkreis der Essays schließt.

    Krise und Hoffnung – in ausgesprochenen „Dunkel-Zeiten machen wir nach Nietzsche nicht nur düstere Erfahrungen, sondern auch solche einer „schwer zu beschreibenden Art von Licht, Glück (und) Erleichterung – so als würden wir von einer neuen „Morgenröte angestrahlt: „Unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so offenes Meer.

    Das ist Nietzsches Vision vom Homo Novus, jenem kommenden, unzeitgemäßen Menschentypus, der die Krise der Industriegesellschaft nicht nur nicht verdrängt, sondern in sich überwunden hat und so zu neuen Ufern aufbricht. Sie findet sich unter dem Titel „Wir Furchtlosen in der „Fröhlichen Wissenschaft, die zusammen mit dem „Zarathustra stark auf die Generation zwischen den Weltkriegen eingewirkt hat. Das sollen die Arbeiten zu Rilke, Paula Bekker-Modersohn und Gorch Fock verdeutlichen, die thematisch den Romanen „Angela Nova und „Letzter Vorhang" zuzuordnen sind.

    Den Anstoß zum letzten und jüngsten Essay gab eine Stelle in Jüngers „Zwille, an der zu mitternächtlicher Zeit über Gott und die Welt meditiert wird. Es kam, so heißt es, „die Stunde der ungehaltenen Predigten. Sie wurden konzipiert, ohne je formuliert zu werden, wie flüchtige Pläne eines Architekten, dem der Bauherr fehlt. In der Tat, wer kennt sie nicht, die durchwachten Nächte, die jeder für sich zu bestehen hat? Sie ähneln der Situation des Priesters, der die Messe zur Not allein zelebriert. Der Laie nimmt teil, doch notwendig ist er nicht. Der Sinn des Gottesdienstes liegt im Dienst.

    Ich nahm die Stelle zum Anlass, eine der eigenen ungehaltenen Predigten zu formulieren, gleichviel, ob der Bauherr fehlte oder der Architekt. Dabei ist der lapidare Stil, der auf Nachweise verzichtet, insofern der Sache geschuldet, als ihm das innere Muster der Nachtwache, der Vigilia matutina, zugrunde liegt. Mitunter ähnelt die Form auch dem Selbstgespräch, das am Ende um die Frage kreist, was es denn mit diesem Selbst auf sich hat, das uns so selbstverständlich ist. Damit endet der Denkweg zwischen Licht und Schatten, den jeder der Essays dokumentiert. Der letzte will keinen Überblick geben, sondern die Vorläufigkeit der Arbeiten betonen, so dass die Bewegung des Denkens, die dem Weg zugrunde liegt, unter dem Baum des Lebens zur Ruhe kommt.

    Das Buch ist Georg Picht gewidmet – neben Martin Heidegger der andere große Denker unserer Zeit. Sein Werk umfasst sechzehn Bände und begleitete mich nicht nur en passant, sondern ein halbes Jahrhundert hindurch. Die Beschäftigung begann während des Studiums mit der Abhandlung über „Die Erfahrung der Geschichte. Durch sie wurde mir klar, dass meine eigene Denkarbeit erst beginnen konnte, wenn ich den Bannkreis der Subjektivität verlassen hatte. Diese ist dem Wesen nach identisch mit jener technokratisch verfassten Wissenschaft, die überall auf der Erde ihr Unwesen treibt und inzwischen den Planeten in einen „Irrstern verwandelt hat. Noch immer hat sich diese dogmatische Form der Wissenschaft nicht von der Metaphysik emanzipiert, die seit Parmenides durch die Identität, die Einheit des Seins, das Denken bestimmt. Bei Picht geht es nicht mehr um das zeitlose Sein, auch nicht wie bei Heidegger um „Sein und Zeit, es geht um die Erkenntnis: „Die Zeit ist selbst das Sein.

    Da die Philosophie seit eh und je als die Wissenschaft von der Wissenschaft gilt, werden im Horizont der Zeit sämtliche überlieferten Grundvorstellungen wie „Wahrheit, „Vernunft, „Erkenntnis, „Natur fragwürdig und müssen neu gedacht werden. Das gilt auch für Fragen wie die, was denn künftig unter „Kategorien, „Begriffen, „Theorien und „Systemen verstanden werden soll – Vorstellungen, die von der Wissenschaftslehre des Aristoteles bis hin zu Niklas Luhmanns „Systemtheorie" zeitlos gedacht worden sind. Die entscheidende Frage lautet daher: Wie lässt sich die Wahrheit denken, wenn sie nicht mehr Einheit des Seins, sondern Einheit der Zeit ist?

    Die Antwort von Picht lautet: Nicht als Identität, sondern als Differenz zwischen phänomenaler und transzendentaler Zeit. Das sind nicht zwei verschiedene Zeiten, sondern zwei Formen, wie ein und dieselbe Zeit in der Differenz ihrer Modi (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) erfahren wird. Durch mein Bemühen, diese Fragen denkend nachzuvollziehen, ergab sich im Lauf der Jahre eine Nähe zu Picht, die die Voraussetzung sämtlicher Essays darstellt, vor allem des letzten über den „Baum des Lebens. Einer der ersten Sätze, die ich von Picht las und nicht vergaß, steht im Vorwort seiner philosophischen Studien „Wahrheit – Vernunft – Verantwortung und lautet: „Der Begriff des geistigen Eigentums ist nicht nur ein Spiegel unserer Anmaßung, er enthält auch eine Negation des Geistes".

    Persönlich bin ich Picht dreimal begegnet: Zuerst 1976 auf einer Tagung der „Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Arnoldshain, die beiden anderen Male bei ihm zu Hause in Hinterzarten auf dem Birklehof. Korrespondiert haben wir bis in sein letztes Lebensjahr hinein, Picht starb am 7. August 1982 mit neunundsechzig Jahren. Damals, Mitte der siebziger Jahre, plante ich, mich mit Nietzsche zu habilitieren und fragte bei Picht an, ob er die Arbeit begleiten würde. Er sicherte mir seine Unterstützung zu, riet aber von einer Hochschullaufbahn ab. Die Gründe erläuterte er wenig später in einem langen Brief, wie er wohl nur einmal im Leben geschrieben und empfangen wird. Darin steht der Satz: „Wir sind in ein Zeitalter übergetreten, in dem die großen Bewegungen des Denkens sich nicht mehr im Rahmen der Universität, sondern in ganz anderen Zusammenhängen abspielen (10.9.1976).

    Da sich auch meine Bedenken verstärkten, entschloss ich mich, jener aggressiven Mentalität den Rücken zu kehren, die mit der heutigen Wissenschaft identisch ist. Ihr Wesen liegt darin, dass sie zerstört, was sie erkennt, ohne zu erkennen, was sie zerstört. Zwar ahnte ich nicht, wie schwer es sein würde, aus der Schattenhöhle der Subjektivität ins Freie zu gelangen, doch habe ich die Mühen nicht bereut. Dabei half mir das Glück, durch Georg Picht zu erfahren, was Denken heißt, auch was ein Denker ist.

    (2014)

    Experimentum Mundi

    Essayistisches über den Essay

    I.

    Was ist ein Essay? In Meyers Großem Enzyklopädischen Lexikon beginnt der entsprechende Artikel mit dem Hinweis, dass das Wort eigentlich Versuch bedeute. Im Essay werde „das Denken während des Schreibens als Prozeß, als Experiment entfaltet, als „fragende Wahrheitssuche, die prinzipiell „unabgeschlossen sei. Danach ist nicht der Inhalt entscheidend, sondern die Form, die in dem Artikel durch die drei Worte „Versuch, „Prozess und „Wahrheit umrissen wird. Der Essay ist demnach ein Versuch, sich auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Da die Wahrheit aber nicht etwas ist, das man wie einen Gegenstand finden und bei sich tragen kann, hat die Suche nach ihr die Form eines unabgeschlossenen Prozesses. Jeder Essay ist deshalb ein Versuch mit dem Versuch.

    Ist das nicht Tautologie? Der Begriff Tautologie enthält die beiden griechischen Worte to auto, dasselbe, und logos, die Aussage. Tautologisch ist eine Aussage dann, wenn sie nichts als dasselbe sagt. Die Selbigkeit heißt im Lateinischen Identität. Ein wissenschaftlicher Sachverhalt gilt in der Regel als richtig, wenn Sache und Aussage identisch sind. Das letzte große System der abendländischen Metaphysik ist Hegels sogenannte Identitätsphilosophie. Sie ist eine Erneuerung der Philosophie des Aristoteles, dessen Denken die Wissenschaft begründet hat. Aber Aristoteles’ Logik der Wissenschaft, als deren oberste Regel noch heute der Satz vom Widerspruch gilt, ist ohne die Ontologie des Parmenides nicht möglich. Auf ihr beruht nicht nur die abendländische Metaphysik, sondern auch die neuzeitliche Physik, die zum Paradigma der Wissenschaft geworden ist. Ihr Fundament ist von Parmenides in dem berühmten „Satz der Identität" formuliert worden und lautet in der landläufigen Übertragung: Dasselbe ist, Denken sowohl wie Sein.

    Wenn dieser Satz wahr ist, dann bedeutet er, dass Wissen nur möglich ist, wenn klar ist, was Sein heißt. Im Zeitalter der Metaphysik, von dem jeder heute zu wissen meint, dass es vorüber sei, wurde das Sein absolut, das heißt zeitlos, als Ewigkeit gedacht. Martin Heidegger hat aber in seinem Werk „Sein und Zeit" gezeigt, dass Sein nur im Horizont der Zeit erscheinen kann, und Georg Picht hat daraus die Konsequenz gezogen: Sein ist Zeit oder: Sein = Zeit. Demnach müsste der Satz der Identität heute lauten: Dasselbe ist, Denken sowohl wie Zeit. Denken, das Wahrheit für sich beansprucht, wäre dann nur möglich, sofern es dem Wesen nach mit der Zeit dasselbe wäre. Das ist der Fall, wenn in allem, was gedacht wird, die Geschichte und ihre Zeitlichkeit immer mit bedacht werden. Mit Geschichte ist jener Bereich des Daseins gemeint, der als kollektives Gedächtnis menschliches Leben überhaupt erst ermöglicht. Ohne Gedächtnis kann der Mensch nicht Mensch sein.

    Begegnet das griechische Wort auto auch im Wort Autor? Verhielte es sich so, wäre der Autor ein Mensch, der fortwährend dasselbe sagt. Aber Autor leitet sich vom lateinischen auctor ab, das Urheber, rechtmäßiger Verfasser, bedeutet. Ein Autor, der den Umschlag vom Sein zur Zeit nachvollzogen hat, könnte sich also autorisiert fühlen, die Zeit als transzendentale Bedingung allen Wissens immer mit zu denken. Dazu brauchte er aber nicht Historiker, also Wissenschaftler zu sein, es wäre sogar die Frage, ob die Historie ihn nicht gerade daran hinderte, die Geschichte als solche zu erfahren? Ist der Autor Dichter oder Denker? Sind Dichten und Denken voneinander unterschieden oder zwei Seiten derselben Tätigkeit? Dass Dichten mit Denken zu tun hat, wird kaum jemand bestreiten. Ob aber Denken auch notwendig Dichten ist, ist eine Frage, die im Zeitalter der Wis senschaft verneint wird. Der Begriff des Denkens wird von dem des positiven Wissens bestimmt. Deshalb ist uns heute, anders als in allen früheren Epochen, nicht die Einheit von Dichten und Denken wichtig, sondern die Differenz. Diese lässt sich symbolisch als Gedankenstrich darstellen, genauer als Bindestrich, der zugleich bindet und trennt. Er entspräche als Zeichen der Stellung des Autors in der Welt, die in der Vermittlung von Dichten und Denken besteht. Leben und Werk würden mithin beides repräsentieren, sowohl die Einheit wie die Differenz. Ihre Ambivalenz stellte sich im Autor gleichsam selber dar, durch sie würde seine Existenz geschichtlich transparent.

    Um zu erkennen, was das bedeutet, müsste allerdings klar sein, was Dichten, was Denken heißt. Dichten ist etwas anderes als das Gedicht, Denken etwas anderes als der Gedanke. Beides sind Tätigkeiten, ein Prozess, und zu unterscheiden von dem hervorgebrachten Produkt. Schwieriger scheint es mit dem Wissen zu stehen, weil fraglich ist, ob von Wissen gesprochen werden kann, ohne zugleich das Gewusste in diesem Wissen mitzudenken. Wissen, das um sein Wissen weiß, heißt Wissenschaft. Der reine Wissende dagegen ist der Weise. Ihm ist nicht das Wissen als solches wichtig, sondern das, was es im Leben bewirkt. Ihm kommt es nicht so sehr auf den Inhalt als die Form an, die Lebensform ist: „Geprägte Form, die lebend sich entwickelt, wie Goethe in den „Urworten, orphisch sagt.

    Unter Dichten ist das gesprochene Wort zu verstehen, ursprünglich ist Dichtung Gesang. Das geschriebene Wort ist Literatur. Wer schreibt, ist ein Schriftsteller, ein Literat, der aus seinen Werken vorliest, während der Dichter seine Dichtung vorträgt. Gustave Flaubert formte seine Sätze in einer solchen Lautstärke, dass die Schiffer auf der Seine, die an seinem Landhaus in Croisset vorbei floss, erstaunt die Köpfe hoben. Wie die Musik lebt auch die Dichtung von der Melodie, vom Rhythmus der Sprache. Darin ist sie ein Spiegel der Seele, wie die Griechen sagten, oder des Gemüts, wie die Romantiker formulierten. Für uns Heutige ist daraus die Innenwelt des Subjekts geworden, die einem Spiegelreflex der zerstörten Außenwelt gleicht.

    Für die Bewegung der Seele gelten die Regeln der Logik nicht. Ein Gedicht, eine Komposition, ein Bild mag missfallen und abgelehnt werden, negiert werden kann es nicht. Kunst, die negiert wird, ist trotzdem vorhanden und wirkt auf ihre eigene, souveräne Weise fort. Kleists Dichtung, Schuberts Musik, Nietzsches Denken, van Goghs Malerei wurden von den Zeitgenossen ignoriert; erst Jahre oder Jahrzehnte später stellte sich das Echo ein. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen dagegen erfolgreich sein. Werden sie negiert, scheiden sie aus dem seriösen Diskurs aus. Künstlerische Produkte sind wahr oder unwahr, wissenschaftliche Erkenntnisse richtig oder falsch. Deshalb haben weder der Satz vom Widerspruch noch dessen ontologische Begründung, der Satz der Identität, in der Sphäre der Dichtung Gültigkeit. Die Kunst ist nicht von dieser Welt. Was Dichtung ihrem Wesen nach ist, kann die Wissenschaft nicht sagen, nur die Dichtung selbst:

    „Über allen Gipfeln ist Ruh,

    in allen Wipfeln spürest du

    kaum einen Hauch.

    Die Vögel schlafen im Walde,

    warte nur, balde

    ruhest du auch."

    Das gibt nicht nur die Stimmung am Abend des 7. September 1780 auf dem Kickelhahn bei IImenau wieder, als Goethe dort die Verse auf die Bretterwand der Jagdhütte schrieb, sondern die Abendstimmung überhaupt. Warum? Weil mit dem Gestimmtsein an diesem Tage zugleich auch jenes abendliche Gefühl Sprache wird, das eine Antizipation des Todes darstellt und daher dem Abend der Zeit als solchem gilt. Denn das Factum brutum des Lebens ist der Tod. Die Kunst vermag mithin eine Wirklichkeit darzustellen, die alle Realitäten der Wissenschaft transzendiert. Sie ist das, was sie wahrnehmbar macht, zugleich von dieser Welt und nicht von dieser Welt.

    Die Wissenschaft befragt die Welt auf ihre Begründbarkeit hin, die Kunst stellt sie in ihrer Abgründigkeit dar.

    Wie steht es mit dem Denken, das weder Dichten noch Wissen ist? Martin Heidegger hat gesagt, das Fragen sei die „Frömmigkeit des Denkens. Mit Frömmigkeit hat die Wissenschaft nichts im Sinn, die Wissenschaftsgläubigkeit unserer Zeit ist umgekehrt dogmatische Profaneität. Auch in der Physik ist die Zeit der frommen Denker vorbei, sie reichte von Newton über Einstein bis zu Niels Bohr und Werner Heisenberg. „Die Wissenschaft denkt nicht, das ist ein oft missverstandener Satz, mit dem Heidegger diesen Sachverhalt formuliert. Dabei ist Frömmigkeit kein theologischer Begriff, ein frommer Mensch muss nicht gläubig sein, jedenfalls nicht im Sinne einer Lehre und der ihr entsprechenden Konfession. Die Frömmigkeit ist eine Welt-Religion, wie die Geschichte der Dichter und Denker von Anbeginn zeigt. Orpheus, die musische Gestalt schlechthin, wurde von den Griechen nicht nur der Sänger, sondern der Theologe genannt. Novalis, der als Denker bis heute unbekannt ist, sagt entsprechend: „Erst dann, wenn der Philosoph als Orpheus erscheint, ordnet sich das Ganze in echte Wissenschaften zusammen". Darin kommt nicht die Meinung eines romantischen Poeten zum Ausdruck, sondern jene gewaltige geschichtliche Notwendigkeit, durch die zu Beginn der Moderne Dichten und Denken wieder zusammengeführt werden.

    Zur gleichen Zeit emanzipiert sich die Wissenschaft von der Dichtung und Philosophie, sofern diese nicht bloß Theorie der Politik oder wissenschaftliche Grundlagenforschung ist. Sie wird positiv, das heißt angewandte Wissenschaft, deren Ziele theoretische Evidenz und praktische Effizienz sind. Das geht auf Kosten der Selbstreflexion. Die Wissenschaft weiß daher weder, wer sie ist, noch, was sie tut. Dabei setzt sie die eigene Evidenz positiv voraus und ihre gewaltige Effizienz negativ ein. Wie die Welt aussieht, die diesen Einsatz zu verkraften hat, zeigt sich im Horizont globaler Ökologie. Georg Picht sagt daher von der Physik: Eine Wissenschaft, die das, was sie erforscht, zerstört, kann nicht wahr sein.

    Zerstörung ist die gewaltsame Form der Negation, die Negation selbst das Wesen jener zweiwertigen Logik, die seit Aristoteles die Wissenschaft bestimmt und heute über ihre operationellen Strategien die Wirklichkeit digitalisiert, das heißt durch entsprechende Computerprogramme in alternative Ja-Nein-Disjunktionen auflöst. Die Bemühungen um eine „Nicht-Aristotelische Logik mehrwertiger, zeitlicher Aussagen (Gotthard Günther) sind dagegen bescheiden geblieben. Der Grund liegt in dem Satz des Descartes: „Cogito ergo sum. Wer sich die theologischen Voraussetzungen dieser Selbst-Ermächtigung der Vernunft klarmacht, weiß, dass es sich nicht um einen evidenten Satz handelt, sondern um eine Behauptung, ein Credo, eine Konfession. Ihr voraus geht jene Gleichung, die eine Generation zuvor Francis Bacon formuliert hat, und die den dogmatischen Grund der Weltzivilisation manifestiert: Wissen = Macht.

    Was hat das mit dem Essay zu tun? Zunächst dies, dass sich unabhängig vom Inhalt jeder Essay mitsamt seinem Autor im Spannungsfeld der wirklichen, das heißt der geschichtlichen Welt befindet, die durch die Antagonismen von Poesie – Philosophie – Technologie bestimmt wird. Ihnen entsprechen die drei Tätigkeiten: Dichten – Denken – Wissen. Die entsprechenden griechischen Grundworte lauten: Mythos – Logos – Nomos. Das Dichten verdichtet sich im Gedicht, das Denken formt sich zu Gedanken, die Wissenschaft gründet auf Gesetzen. Für Heraklit präsentierte sich im „Gesetz der Natur jene Einheit der Vielfalt in den Erscheinungen, die nicht nur das Wissen, sondern die Welt als solche konstituiert. Im Gegensatz dazu wird in der neuzeitlichen Philosophie aus dem Nomos der Welt die Auto-Nomie der Vernunft. Dabei liegt das Vermögen, sich selbst das Gesetz zu geben, nicht in der Vernunft, sondern im Willen des Subjekts. Nach Kant gründet die Autonomie in der „Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst ein Gesetz ist. Nietzsche hat Kant präzisiert: Dieser Wille zu sich selbst sei „Wille zur Macht" – der Wille als Lebens-Macht.

    Was durch die Autonomie der Wissenschaft übermächtigt wird, ist die Einheit von Dichten und Denken, in der sich die andere Seite der Einheit von Natur und Geschichte zeigt. Der Name dieser Einheit lautet „Geist, der von Natur und Geschichte „Welt. Was beide verbindet, ist die Einheit der Zeit, die der Mensch geschichtlich repräsentiert. Diese in der Differenz der drei Modi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darzustellen, ist seine eigentliche Möglichkeit. Wird sie zur Wirklichkeit, ist der Mensch „Autor", und die Vermittlung zwischen Natur und Geschichte gelingt. Dabei verwandelt sich die logische in die poetische Vernunft, was Wissenschaft war, wird so zu Kunst.

    II.

    Was ist ein Essay? Ein Versuch, durch den sich das „Denken während des Schreibens als Prozess, als Experiment entfaltet". Aber nicht nur die Tätigkeit der Vernunft hat, wie Kant sagt, den Charakter des Entwerfens, auch das Dasein des Menschen ist Experiment, ein Entwurf, der die Gestalt des Prozesses hat. Experimentum Mundi – der dafür geläufige Begriff heißt Evolution.

    Die logische Vernunft baut auf die Identität, die das Fundament der Metaphysik ist. Die poetische Vernunft repräsentiert die Geschichte, die zur Zukunft hin offen ist. Die Transzendenz der Metaphysik ist das absolute Sein, die Transzendenz der Geschichte das unendliche Nichts. Der Zusammenbruch der Metaphysik und der Anbruch der Welt-Geschichte sind zwei Seiten ein- und desselben Vorgangs. Von ihm hat schon Nietzsche behauptet, dass seine Kunde noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen sei. Das gilt aber nur von den Wissenschaftlern, nicht von den Künstlern, die das epochale Ereignis schon zu Hamanns und Jean Pauls Zeiten erfahren haben. Mithin ist die logische Vernunft noch der Metaphysik verhaftet und nach rückwärts, die poetische Vernunft dagegen nach vorn orientiert. Sie ist vorläufig, progressiv, jene rückläufig, regressiv. Da die offene Gestalt der Zeit keine subjektive Einbildung, sondern der Horizont der Wirklichkeit selbst ist, erscheint die Welt in der zeitlosen Erkenntnisform der Wissenschaft so, wie sie von sich aus nicht ist. Die logische Vernunft ist, um mit Kant zu reden, „perversa ratio", eine verkehrte Vernunft. Diese Verkehrtheit zeigt sich in ihren Werken, in der humanökologisch perversen technischwissenschaftlichen Zivilisation.

    Novalis hat in seinen Fragmenten gesagt, die „Idee der Philosophie müsse ein „Schema der Zukunft sein. Historisch gesehen steht er an der Schwelle zwischen Neuzeit und Moderne und erlebt jenen ungeheuren Umbruch mit, der die Metaphysik vom Zeitalter der Welt-Geschichte trennt. Das gleiche hat Novalis aber auch von der Dichtung gefordert: Diese müsse künftig „transzendentale Poesie" sein. Transzendental sind Dichten und Denken dann, wenn

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