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eins zu hundert: Die Möglichkeiten der Kameragestaltung
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eins zu hundert: Die Möglichkeiten der Kameragestaltung

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About this ebook

Der Mensch hat sein Blickfeld, in der Horizontalen vom linken Rand des linken Auges bis zum rechten Rand des rechten Auges. Das sind weniger als 180 Grad. In der Vertikalen vom oberen Rand bis unteren Rand, das sind geschätzt vielleicht 130 Grad. Mit einem beliebigen Abbildungssystem wird das Rechteck der individuellen Wahrnehmung auf Film gebracht oder über fotoelektrische Chips in digitale Daten gewandelt. Da nicht immer das gesamte Bild dargestellt werden soll, gibt es sieben Einstellungsgrößen, die den Bildraum auf das gewünschte Maß reduzieren: Panorama, Totale, Halbtotale, Halbnah, Nah, Groß und Detail. Drei Kameraperspektiven sind wichtig: oberhalb der Augenhöhe, auf Augenhöhe und unterhalb der Augenhöhe. Zwei Arten von Filmlichts gibt es: gestaltetes Licht und vorhandenes Licht.

Damit ist zwar das bekannte »Spielfeld« der Kameraarbeit abgesteckt, aber das Wesentliche ist noch nicht gesagt. Das erfolgt auf den nächsten, über hundert Seiten auf überraschende und ungewohnte Weise. Daher auch der Titel: »eins zu hundert«. Achim Dunker erklärt unterhaltsam mit aktuellen, klassischen und avantgardistischen Filmbeispielen die Möglichkeiten der Kameraarbeit und deren Verbindung zu den anderen Aspekten des Filmemachens. So wird beispielsweise durch die Gegenüberstellung von Szenen aus »Vom Winde verweht« mit »Slumdog Millionaire« nicht nur eine siebzigjährige Entwicklung der Filmsprache sichtbar, sondern auch die Lust aufs Filmeschauen und vor allem Filmemachen geweckt.
LanguageDeutsch
Release dateDec 10, 2014
ISBN9783864960130
eins zu hundert: Die Möglichkeiten der Kameragestaltung
Author

Achim Dunker

Achim Dunker ist Diplom-Fotoingenieur, Regisseur, Buchautor und Mitinhaber der Zwo-Filmproduktion. Er produziert Auftragsfilme für Industrieunternehmen und arbeitet als Hochschuldozent.

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    Book preview

    eins zu hundert - Achim Dunker

    hundert«.

    [13] 2. Positionsbestimmung

    Der Inhalt dieses Buches und auch der anderer Bücher ist jeweils ein »gegisster Ort«. So würden es jedenfalls die Seeleute vergangener Tage sagen, die von einer bekannten Position losgesegelt sind und nach gemessener Zeit unter Berechnung der Geschwindigkeit und der mit dem Kompass kontrollierten Richtung ein Kreuz in das Gitternetz der Seekarte gezeichnet haben. Nichts weiter als ein, nach den Regeln der nautischen Mathematik, »vermuteter« Standort. Erst eine Landmarke, ein Seezeichen, ein Leuchtfeuer am Horizont oder eine astronomische Berechnung machten aus dem (vermuteten) Koppelort einen »beobachteten Ort«. Betrachten Sie dieses Buch als einen Koppelort, als Startpunkt für Ihre eigene Navigation. Die hier beschriebene Position ist nicht so sehr der Endpunkt meiner Entwicklung, sondern vielmehr der Ausgangspunkt für eigene Dinge. Die geschriebenen »Weisheiten« sind Schnee von gestern oder gar vorgestern. Das, was in vergangenen Tagen als ewig unumstößlich galt, ist heute so mega-out, dass es schon wieder kultig ist. Der Dalai Lama formuliert Folgendes als Ratschlag für das dritte Jahrtausend:

    Lerne die Regeln, um sie richtig zu brechen!

    Nichts motiviert mich so wie ein neues Filmprojekt. Aus jeder Sinn- und Daseinskrise zieht mich ein »Filmstreifen« heraus. Mit der Abschlusspräsentation und der Premiere sind die Mühen und Probleme fast vergessen, und der Wunsch nach einem neuen Stoff, nach einer neuen Umsetzung entsteht. Jeder nachfolgende Film setzt den vorangegangenen Film fort, jede Filmarbeit ist das Training für den nächsten Streifen. Jedes Projekt hat seine eigenen Herausforderungen, seine Klippen und Untiefen, die es zu umschiffen gilt. Manchmal gelingt es perfekt, manchmal gelingt es weniger, und manchmal nimmt der Filmemacher die Schwächen seines Werks gar nicht wahr. So geht es mir auch, aber für mich ist das Filmemachen immer ein Lustgefühl. Worte, Ideen und Stimmungen in Bilder umzusetzen, damit diese Bilder dann wieder Gefühle, Wahrnehmungen und Emotionen auslösen, bereitet mir ein Höchstmaß an Befriedigung. Voller Ideen an einen Stoff heranzugehen, sehen, wie sich das Thema entwickelt, auch wie die Überlegungen in manche Sackgasse geraten, dann nach Auswegen suchen und um Lösungen ringen, nicht wissen, wie es weitergeht, improvisieren… dann schließlich springt der Knoten auf, das Rätsel ist gelöst und ein Ergebnis ist da, mit dem alle zufrieden sind.

    [14] Mit hochmotivierten, begabten, künstlerischen Menschen etwas gemeinsam zu schaffen, kreative Energien auszutauschen, Anregungen zu erhalten, neue Dinge zu erlernen, an den eigenen Ansprüchen und an den Ideen Anderer zu wachsen ist so herausfordernd und elektrisierend, dass der Gedanke für mich unvorstellbar ist, eines Tages keine Filme mehr zu machen, denn das Machen ist das Entscheidende. Wie für manche Maler der Vorgang des Malens wichtiger ist als das fertige Bild, ist für mich das Konzipieren, Drehen und Schneiden wichtiger als der fertige Film. Für den Betrachter ist es das Ergebnis, das fertige Bild, zu dem er Zugang findet (oder auch nicht), das er dechiffrieren, interpretieren, verstehen, und zu dem er vielleicht eine Verbindung eingehen kann. Vielleicht gelingt es sogar, den Zuschauer zu packen, mit unserer Botschaft »unter seine Haut« zu gelangen und ihn emotional zu fesseln. Aber für mich selbst ist es der Schaffensprozess, das Unterwegs-Sein mit dem Stoff, mit der Geschichte, mit den Figuren und den Charakteren. Der Erfolg, die Anerkennung, das Lob von anderen – »He, du hast einen guten Film gemacht« – ist das Sahnehäubchen, aber es ist das »Kuchenbacken«, das mir den Spaß bringt.

    Nun denn, lasst uns das Mehl auf die Tischplatte sieben und in die Mitte zwei Eier reinschlagen…

    Auf den einfachsten Nenner gebracht, möchte ich das Essenzielle beim Filmemachen so fassen:

    Das Wesentliche sind Rhythmus und früher Feierabend!

    Vielleicht provokant oder sogar albern, ich weiß, aber als persönlicher Leitsatz einfach zu merken. Diese Kurzformel ist sicher etwas irritierend, verwunderlich oder völlig absurd! Stimmt vielleicht. Aber es gibt genügend schlechte, ärgerliche und vor allem überflüssige Filme, bei deren Produktion diese beiden Grundregeln – Rhythmus und früher Feierabend – nicht beachtet wurden. Wahrscheinlich hat Ignoranz die Projekte scheitern lassen.

    Rhythmus, das ist der Herzschlag, der Motor und das »Sesam öffne dich« für jeden Film. Die Bilder, Farben, Bewegungen, Dialoge, Gefühle und Stimmungen. Das ganze Wahrnehmbare, das irgendwann am Ende herauskommen soll. Alle Mosaiksteinchen des »Stoffes, aus dem die Träume sind«, müssen in der gewünschten Weise zusammenwirken. Ein visueller, emotionaler Rhythmus ist viel mehr als die Summe der Einzelteile, aus denen er besteht. Er soll den Zuschauer »wowen«, die Geschichte ins Hirn und in sein emotionales Zentrum transportieren, wo immer das sein mag. Damit, um es im Jargon der hilflos-bettelnden Fernsehmoderatoren zu sagen, der Zuschauer dranbleibt.

    [15] Der »frühe Feierabend« steht für wirtschaftliches, effektives und zielgerichtetes Arbeiten, nicht unbedingt dafür, um 14.30 Uhr den »Hammer« (besser nicht die Kamera) fallen zu lassen. Die Arbeitszeit bei Dreharbeiten ist oft sehr lang, beginnt und endet zu unmöglichen Zeiten. Jeder aus der Filmcrew akzeptiert das, selbst die Morgenmuffel und notorischen Langschläfer. Aber der morgens mitgebrachte Motivationsbonus ist schnell aufgezehrt, wenn Missmanagement, Ignoranz und Dilettantismus den Arbeitstag lang und länger werden lassen. Mit einer demotivierten und frustrierten Crew lässt sich keine große Kunst produzieren. Wahrscheinlich gar nichts. Außerdem ist das Team auch vom ›normalen‹ Arbeiten nach acht bis zehn Stunden erschöpft, sodass nicht mehr die nötige Leistung und Konzentration aufgebracht werden können. Das Ergebnis würde dann eher dürftig ausfallen.

    Die Basis ist Handwerk. Der isländische Literatur-Nobelpreisträger Halldór Laxness lässt in seinem Roman »Am Gletscher« einen Bischof sagen: »Man muss nur wollen, der Rest ist Technik.« Das macht Mut.

    Wer bis hierhin meinen Überlegungen gefolgt ist, hat den Beweis des Wollens erbracht. Dann wenden wir uns der Technik und dem Handwerk zu. Beginnen wir mit dem Sichtbaren, den Bildern:

    Ein Bild sagt mehr als tausend Worte!

    Stimmt das wirklich und immer? Kann sich der Filmer darauf verlassen? Womöglich blind verlassen? Nun, das auffälligste Indiz dafür, dass es wohl nicht ganz so stimmt, ist der radikale Erfolg des Tonfilms. Zum ersten und bisher einzigen Mal ist es vorgekommen, dass eine neue Kunstform eine alte Kunstform vollständig abgelöst und verdrängt hat. Wobei der Stummfilm zum Zeitpunkt seiner Ablösung ja auch noch nicht alt war. Viele Kameraleute, Regisseure, Schauspieler und Produzenten haben es bedauert und bedauern es auch noch heute, so beispielsweise der mehrfache Oscar-Preisträger Vittorio Storaro. Für ihn bedeutete die Einführung des Tonfilms einen so starken Abbruch der filmsprachlichen Entwicklung, dass er sie lieber fünfzig Jahre später gesehen hätte. Zwar schafften es Regisseure vom Format eines Friedrich Wilhelm Murnau oder Charles Chaplin, noch erfolgreiche Stummfilme mit Ton wie beispielsweise »Lichter der Großstadt« zu drehen. Aber die Zeit war vorbei. Sei’s drum, letztendlich kommen dem Ton und der Sprache heutzutage eine sehr hohe, meistens unverzichtbare Bedeutung bei. Wie wär’s denn mit dem umgekehrten Fall?

    [16] Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder!

    Visualisiert ein Haiku von Buson⁴ mit den üblichen siebzehn Silben mehr als tausend Bilder?

    Für dich, der fort geht,

    Und für mich, der zurückbleibt,

    sind es zwei Herbste!

    Durch die hohe sprachliche Verdichtung schafft es Buson, viele Ebenen anzusprechen und Assoziationen zu wecken. Ein Wort kann tausend Bilder auslösen und in Gang setzen. Das ist das Mirakel, und das Geheimnis liegt in der Kunst, Worte und Dialoge so miteinander zu verbinden, dass es mehr ist als eine gegenseitige Illustration.

    Langsam gelesen ist der Haiku ein Vortrag von ungefähr zwölf Sekunden. Rein technisch gesehen entsprechen zwölf Sekunden Film bei einer Geschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde 288 einzelnen Filmbildern. Je nach Geschmack und Auffassungsgabe lassen sich die zwölf Sekunden in vier bis fünf oder mehr flotte Schnittbilder montieren, die schon etwas erzählen können. Aber ich glaube nicht, dass die Themen Fortgehen, Abschied nehmen, Zurückbleiben und Herbst in nur vier bis fünf Einstellungen so eindringlich visualisiert und erzählt werden können, wie Buson es macht. Allerdings ist es eine schöne Herausforderung, es zu probieren:

    Lösende Umarmung zweier Menschen,

    Hände die auseinander gleiten,

    Tiefe Blicke

    Fallende Blätter

    Grauer Regen, der an Fenster prasselt

    Visueller Kitsch? Kann schon sein, es liest sich ja wie der Bildtrack zu einem Karaokesong. Dies ist hier aber nicht die Frage, sondern der Ansporn ist, das Fortgehen und das Zurückbleiben, die subjektive Sicht und die parallele Herbststimmung bildlich darzustellen. Ich hätte natürlich auch ein einfacheres Beispiel nehmen können…

    Haikus sind ein gutes gedankliches Trainingsfeld, Visualisierungen zu üben. Insgesamt 17 Silben, drei Zeilen im Rhythmus 5-7-5 Silben. Andere formale Bedingungen [17] lasse ich für diese gedankliche Übung außer Acht. Die mentale Verbindung von Emotionen und Bildern, das übt ungemein, schärft den Blick für das Wesentliche und trainiert die Auffassungsgabe. Das macht fit für die kurze Form.

    – Herbst –

    Fallende Blätter

    Zeige ich dort ein einzelnes Blatt oder Tausende, oder gar ein riesiges buntes Waldgebiet des Indian Summers, vielleicht sogar im Zeitraffer?

    Womit wir jetzt neben allen anderen Aspekten bei den Einstellungen angelangt sind. Der Begriff »Einstellung« bedeutet die kleinste Dreheinheit am Set. Kamera an – Kamera aus. Das aufgenommene Bildmaterial ist eine Einstellung. Im Filmjargon spricht man auch von »Klappen«. Es ist nicht von Bedeutung, wie lang die Einstellung ist. Bruchteile von Sekunden oder 90 und mehr Minuten, alles ist denk- und machbar. Die Einstellungen setzen sich zu Szenen zusammen, Szenen zu Motiven, Motive zu Akten und die Akte schließlich zum Film⁵.

    [18]

    [19] 3. Die Einstellungsgrößen

    Die Einstellungsgröße ist das Maß zur Beantwortung der Frage, wie viel »Bild« bzw. »Inhalt« die Kamerafrau oder der Regisseur oder die Drehbuchautorin in das Rechteck des Kamerasuchers packt.

    Warum ist das wichtig? Was ist der Sinn?

    Gegenfrage: Warum sind »Anderer-Leute-Urlaubs-Dia-Abende« oft so entsetzlich langweilig?

    In den alten Tagen gab es noch kein Objektiv mit veränderlicher Brennweite⁶, sondern nur Optiken mit festen Brennweiten. Sollte ein anderer Bildausschnitt⁷ gewählt werden, so wurde das Objektiv⁸ herausgenommen und ein anderes eingesetzt. Heute wird das natürlich auch noch gemacht, da die optischen Leistungen von Zoom-Objektiven und Festbrennweiten unterschiedlich sind. Auch lässt sich die Einstellungsgröße durch das näher Heran- oder weiter Wegstellen der Kamera verändern.

    Die Bildwinkel der Master-Prime-Objektive von Carl Zeiss zeigen es.

    Vielleicht liegt es mit an diesen abgestuften Brennweiten, dass die Einstellungsgrößen in mehr oder minder präzisen Begriffen und Beschreibungen festgelegt sind. Obwohl viele Produktionen ausschließlich mit Zoom-Objektiv realisiert werden, sind die Einstellungsgrößen trotz der stufenlosen Veränderbarkeit in dem nachfolgend beschriebenen Raster geblieben.

    [20] Der Bildausschnitt ist die Basis der Bildgestaltung. Der Drehbuch-Autor schreibt die Einstellungsgröße vielleicht schon ins Script hinein und weist den Einstellungen so eine ungefähre visuell-dramaturgische Gewichtung zu. Je nach Intention des Autors kann schon in dieser Phase die Bildgestaltung möglichst exakt definiert werden. Zur Präzisierung kann die Produktionsfirma nach Anweisung des Regisseurs ein Storyboard zeichnen lassen, um ein Gefühl für den Look zu bekommen.

    Die Zusammenarbeit im Team und eine von Missverständnissen freie Kommunikation vom Autor über Regisseur, Kameramann, Schauspieler, Ausstattung, Maske bis zum Cutter erfordern klare Begriffe. Alles andere ist verlustbringend und nervig.

    Panorama

    Das ist immer das Maximum. Mehr passt nicht auf das Filmbild, und es ist immer eine »Landschaft«: Strand, Urwald, Stadt, Weltraum, Berge, Müllhalde, Autobahnen, Braunkohlegrube, Hafen mit Riesenschiff…

    Wie bei allen anderen Einstellungsgrößen ist auch hier die Beziehungsgröße der Mensch, gerade weil er im Bild in der Größe eines »Insekts« erscheint. Mit Panorama ist immer das vertretbare Maximum gemeint. Andere Bezeichnungen sind Panorama-Totale oder »Weit«.

    Ein Panorama ist ein bisschen wie Kalenderblatt-Fotografie:

    Der Bergsteiger blickt von einem Gebirgspass ins Tal. Die Panoramatotale ist sein Blick. Wir sehen das, was er sieht.

    Die Vorstandstandsvorsitzende eines internationalen Konzerns sieht aus dem Fenster im 145. Stock des Verwaltungshochhauses. Die Stadtansicht ist ihr Blick.

    Diese beiden willkürlichen Beispiele weisen auf den Zusammenhang zwischen den Personen und den Landschaften hin. Noch sind unsere Bildvorschläge neutral, wir wissen nicht, was es mit diesen Aussichten auf sich hat, außer, dass sie spektakulär und atemberaubend schön sind. Aber irgendetwas verbindet die »Gegend« mit den Menschen. Der deutsch-balinesische Maler Walter Spies hat das Bild »The Landscape and it’s Children« gemalt. Dieser Titel bringt für mich die wesentliche Funktion einer »Wahnsinnstotale« gut zum Ausdruck. Bei unseren Beispielen braucht es nur ein Gedanke zu sein. Beispielsweise an die Familie im Tal oder an das Kind im Feriencamp am Strand. Es braucht einen Anstoß, um den Fluss der Gedanken in die dramaturgisch gewünschte Richtung zu lenken. Sonst bleibt es bei Kalenderblatt-Fotografie, und das allein reicht sicher nicht aus. Wir brauchen noch etwas mehr dazu.

    [21]

    Panorama. © Achim Dunker

    Der Name sagt es, es handelt sich immer um das Maximum des Bildinhaltes. Hier könnten noch ein oder zwei Schiffe auf dem Rhein platziert werden, allerdings wäre dann der Zug auf der Hohenzollernbrücke schon im Kölner Bahnhof!

    Auch das Haiku assoziiert eine Möglichkeit:

    Tiefe Blicke

    Fallende Blätter

    Hier würde ich die Augen der Abschied nehmenden Person mit dem nachfolgenden Panoramabild des farbigen Herbstwaldes kombinieren. Es kann natürlich sein, dass dies meine Vorliebe ist: die Kombination von Emotionen mit riesigen, grandiosen Landschaftsbildern. Vielleicht nehme ich auch nur die Beispiele wahr, die diesem Schema entsprechen.

    [22] Ein Film mit herausragenden Panoramaeinstellungen ist »Koyaanisqatsi« ⁹ von Godfrey Reggio aus dem Jahre 1982. »Leben im Ungleichgewicht« ist die ungefähre Übersetzung des Titels. Der Begriff »Koyaanisqatsi« stammt aus dem Wortschatz der nordamerikanischen Hopi-Indianer und gehört zu einer Sprache, die über keine eigene Schrift verfügt.

    Das Besondere an diesem Film ist das Fehlen von Worten und handelnden Menschen. Die Bilder zeigen in bizarrer Schönheit »zivilisierte und urbane« Landschaften und verdeutlichen durch eine assoziative Montage, wie weit sich der heutige Mensch bereits von der Natur entfernt hat. Wie empfindlich und fragil das Leben ist, obwohl der opulente Bilderreigen Stärke und Vitalität suggeriert. Weiter bemerkenswert ist die Musik von Philipp Glas. Mit scheinbar endlosen Wiederholungen eines minimalistischen Themas powert sie die Bildsprache in einen Parforceritt hinein, dem sich der Zuschauer nicht entziehen kann. Die Musik zieht die Bilderfolge durch. Sir Simon Rattle sagt im Film »Rhythm Is It!«¹⁰: »Das Gefühl des Rhythmus ist etwas, das wir von unseren Vorfahren, den Echsen, in unserem Stammhirn haben.«

    An dieser Stelle eine Warnung vor Musik und Ton. Wie erwähnt hat der Tonfilm den Stummfilm abgelöst. Das Hörspiel aber ist dem Tonfilm nicht zum Opfer gefallen. Ganz im Gegenteil. Der Mensch ist in der Lage, drei bis vier verschiedene akustische Ebenen in unterschiedlichen Abstraktionsgraden gleichzeitig wahrzunehmen. Fast jede aktuelle Inszenierung der akustischen Kunst nutzt dieses Stilmittel. Der Film bewirkt das in dieser Form (noch) nicht. Daher meine Warnung: Eine flotte Musik zieht jede Schnittfolge durch und bringt zudem die nötige Emotion rein. Das ist wie Ketchup, damit geht alles.

    Totale

    Die Totale entspricht dem Bühnenbild eines Theaters. Sie stellt den Handlungsraum vor, zeigt das Umfeld, wo etwas passieren wird. Je nach Genre kann der Ort prägend oder auch nach dem Motto ausgewählt sein: Es muss schließlich irgendwo spielen! (Das wird aber kein Filmemacher zugeben.) In der Totale wird die Beziehung der Menschen zum Ort des Geschehens dargestellt und übermittelt: Der Ort kann natürlich wie in einem Drama von Anfang an bedeutungsschwer sein oder es erst im Verlauf des Films werden. Beispielsweise die Hauptstraße in einer Westernstadt. Der Zuschauer ahnt es schon: Hier gibt es später den Showdown, der Konflikt wird eskalieren und auf ein Duell hinauslaufen.

    [23]

    Totale. © Achim Dunker

    Die Totale stellt den eigentlichen Handlungsort vor, hier ist es die Nordwand der Hohenzollernbrücke in Köln.

    Oder der lange Zellentrakt in einem Gefängnis, einzelne Gefangene bewegen sich ausweglos und monoton hinter den Gitterstäben. Eine Einstellung, die Hoffnungslosigkeit ausstrahlt.

    Die amerikanischen Kollegen nennen die Totale oft »establishing shot«. Der Begriff ist selbsterklärend; diese Einstellungsgröße etabliert einen Fixpunkt der Geschichte und zeigt durch den Handlungsort, worum es in dieser Szene geht. Die Totale illustriert den Menschen, sie zeigt seinen »Horizont« auf.

    Woher stammt er?

    In welchen Verhältnissen lebt er?

    Wohin geht er, wenn er ausgeht?

    Wo arbeitet er?

    [24] Bei der Beantwortung dieser Fragen fallen mir fast nur Totalen ein. Je nach Stoff sind das:

    Mietskaserne, Hinterhof oder Bürgerhaus;

    Autofahrt durchs Garagentor oder die Bushaltestelle an einer einsamen Straße, sehr früh am Morgen;

    Imbissbude oder persönliche Begrüßung durch den Oberkellner;

    Eckbüro mit Panoramablick oder Großraumbüro wie in Billy Wilders »Das Appartement«¹¹.

    Vielleicht geht es Ihnen ähnlich? Natürlich können das auch andere Bilder darstellen, aber es braucht dann mehrere. Die Fragen, »wo kommt er her« oder »wo geht sie hin« lassen sich am einfachsten mit einer Totale beantworten.

    Hierzu eine Überlegung: Ist die Aufsicht auf »Dogville«¹² in dem gleichnamigen Film von Lars von Trier eine Panoramaeinstellung oder eine Totale? »Dogville« ist ein fiktives amerikanisches Dorf in den Bergen. Der Grundriss der Ansiedlung ist auf den Atelierboden gezeichnet, und alle Kulissen sind nur angedeutet. Es handelt sich um eine sehr eigenwillige Theaterdekoration, die u. a. auf Bertolt Brecht und das epische Theater zurückgeht. In der Anfangseinstellung ist der gesamte Spielraum, das Dorf, die Hauptstraße und die verlassene Mine zu sehen, es handelt sich hier also per Definition um eine Totale. Eines zeigt die Diskussion um Panoramaeinstellung und Totale aber klar: Die Grenzen sind fließend und nicht so normativ festgelegt wie beispielsweise physikalische Definitionen. Während dieser Anfangstotale¹³ ist ein Prolog zu hören, der in die Geschichte einführt. In diesem speziellen Fall finde ich die Einführung passend. Oft aber ist ein gesprochener Prolog nichts weiter als ein billiges Mittel, um der filmischen Dramaturgie ins Handwerk zu pfuschen und sehr schnell Spannung aufzubauen. Wie aber erreicht man Spannung?

    Spannung entsteht dadurch, dass der Zuschauer mehr weiß als der Protagonist, zumindest ahnungsvoller als der »ahnungslose Filmheld« ist.

    Wir wissen beispielsweise, was in dem Koffer ist, der unkontrolliert durch die Zollkontrolle getragen wird. Besonders raffiniert und lustbringend empfindet es [25] der Zuschauer, wenn er mit diesen Vorahnungen auf eine falsche Fährte gesetzt wird. Alfred Hitchcock war ein Meister dieses Spiels.

    Ein »verpfuschter«, aber sehr wirkungsvoller Prolog ist beispielsweise, wenn in der Totale ein Mädchen verschwommen zu sehen ist und uns dazu die Stimme des Protagonisten im Off kehlig zuraunt: »Als ich sie zum ersten Mal sah, wusste ich, dass es Schwierigkeiten geben würde.« Damit ist der Zuhörer im Bilde, er taucht in sein »Assoziationsarchiv« ein und kann sich auf bekannte Erzählstrukturen freuen.

    »Sexus«, das Skandalbuch von Henry Miller, fängt so ähnlich an, aber dabei handelt es sich um Literatur. Wenn beim Film der Macher aber seinen Bildern der ersten Sequenz schon nicht traut und die Botschaft ins Auditorium rufen lässt, was soll denn da noch an Überraschungen kommen? Leider ist das meiner Erfahrung nach die Regel und »Dogville« eine gelungene Ausnahme.

    Halbtotale

    Die Halbtotale ist die »Hälfte« der Totale. Wäre die Totale das komplette Esszimmer, so ist die Halbtotale der Esstisch mit Stühlen und Sideboard. Die Halbtotale ist die Einstellungsgröße, in der beispielsweise die Beziehungsverhältnisse der Personen untereinander visuell dargestellt werden können. Die Gruppierung und die Positionierung der Akteure kann darüber Auskunft geben. Der Mensch ist von Kopf bis Fuß zu sehen.

    Wer ist von wem abhängig?

    Wie verlaufen die Machtstrukturen?

    Wer sitzt am Kopfende des Tisches?

    Wer steht höher, wer ist tiefer?

    Wer schaut während des Sprechens wen wie an?

    Ein Besuch am Krankenbett. Ein Mensch liegt, der andere steht. Diese Positionierung sagt schon eine Menge über die Beziehungsstrukturen aus. Aber nicht nur im Film, auch im realen Leben wird darauf geachtet, wer wo und wie hoch sitzt. Zwar nicht so extrem, wie es der geniale Charles Chaplin in seinem Film »Der große Diktator«¹⁴ treibt und sich mit dem Diktator-Kollegen Benzino Napoloni einen Wettaufstieg auf den Friseurstühlen um die höchste Position leistet.

    [26]

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