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Ästhetik der List: Michel de Certeaus Kulturtheorie trifft Wilhelm Hauffs Märchen
Ästhetik der List: Michel de Certeaus Kulturtheorie trifft Wilhelm Hauffs Märchen
Ästhetik der List: Michel de Certeaus Kulturtheorie trifft Wilhelm Hauffs Märchen
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Ästhetik der List: Michel de Certeaus Kulturtheorie trifft Wilhelm Hauffs Märchen

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Wilhelm Hauffs Märchen gehören bis heute zu den viel gelesenen und sehr populären Texten in der deutschen Literatur. In der Wissenschaft stoßen sie jedoch nur vereinzelt auf ein ernsthaftes Echo: Sie gelten oft als Modetexte, die sich um des kurzfristigen Publikumserfolges willen unkritisch dem populären Geschmack im Biedermeier angepasst hätten. Descourvières liest ausgewählte Märchen Hauffs vor dem Hintergrund zentraler Denkfiguren aus dem Werk des französischen Kulturtheoretikers Michel de Certeau. Der Autor zeigt in Hauffs Texten Modelle eines findigen, subversiven und kreativen Umgangs der Menschen mit hegemonialen Strukturen auf.

Das Denken Certeaus kann zu einer kulturwissenschaftlich gestützten Neubewertung und Würdigung der Märchen Hauffs beitragen, die hinfort nicht nur ihrer Popularität wegen, sondern auch um ihrer ästhetischen Komposition willen anerkannt werden sollten.
LanguageDeutsch
Release dateJan 20, 2015
ISBN9783738669336
Ästhetik der List: Michel de Certeaus Kulturtheorie trifft Wilhelm Hauffs Märchen
Author

Benedikt Descourvières

Dr. Benedikt Descourvières studierte in Bonn und Mainz Literaturwissenschaft, Geschichte, kath. Theologie und Romanistik. Nach seiner Promotion absolvierte er das II. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. Heute evaluiert er als schulischer Referent rheinland-pfälzische Schulen. Von ihm sind zahlreiche literaturwissenschaftliche und -didaktische Arbeiten erschienen.

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    Book preview

    Ästhetik der List - Benedikt Descourvières

    Forschungsliteratur

    I Einleitung

    Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.

    Da zog Abram weg, wie der Herr ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot. Abram war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran fortzog. Abram nahm seine Frau Sarai mit, seinen Neffen Lot und all ihre Habe, die sie erworben hatten, und die Knechte und Mägde, die sie in Haran gewonnen hatten. Sie wanderten nach Kanaan aus und kamen dort an.

    Abram zog durch das Land bis zur Stätte von Sichem, bis zur Orakeleiche. Die Kanaaniter waren damals im Land. Der Herr erschien Abram und sprach: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land. Dort baute er dem Herrn, der ihm erschienen war, einen Altar. Von da brach er auf zum Bergland östlich von Tet-El und schlug sein Zelt so auf, daß er Bet-El im Westen und Ai im Osten hatte. Dort baute er dem Herrn einen Altar und rief den Namen des Herrn an. Dann zog Abram immer weiter, dem Negeb zu.¹

    Dieser alte Text von der Berufung Abrahams und seiner Wanderung nach Kanaan hebt als zentrale Praxis das Wandern, das ‚Sich auf den Weg-Machen‘ eines Menschen hervor. Abrahams Leistung besteht zuerst darin, dass er nicht an einem Ort verharrt, sondern im Ur-Vertrauen auf Gott ein völlig neues Leben beginnt. Er steigt mit seiner Familie aus allen ihm bekannten sozialen Beziehungen aus, um eine neue Identität zu suchen. Fortan wandert er von Ort zu Ort. Die Verbindung von anstrengender Bewegung, Unsicherheit und fortwährenden Ortswechseln beeindruckt, weil Abraham bereits ein hohes Alter erreicht hat. Obwohl die Zahlenangaben in der Bibel nicht als historische Daten gelesen werden dürfen, sondern mit hohem Symbolgehalt ausgestattet sind, vermittelt der Text doch die Botschaft, dass auch alte Menschen noch aufbrechen und träumen können, nicht nur junge.

    Neben seiner Reisetätigkeit stechen im Buch Genesis zweitens Abrahams pragmatische Taktiken hervor, mit denen er gefährliche Konfliktsituationen meistert, indem er in schwierigen Machtkonstellationen nach Problemlösungen mit dem jeweils geringst möglichen Risiko sucht. Als Fremder in Gerar etwa² nimmt er eine nüchterne Situationsanalyse vor: In Gerar ist er fremd, militärisch unterlegen und mutmaßlich in einem gottfernen Land. Er vermutet, dass sich der vermeintlich lüsterne König Gerars, Abimelech, seiner Frau Sara um jeden Preis bemächtigen will. Also rechnet er damit, als Ehemann Saras umgebracht zu werden, damit Sara als Witwe in Abimelechs Harem eingegliedert werden kann. Nach reiflicher Überlegung gibt er Sara als seine Schwester aus und überlässt sie mit ihrem Einverständnis Abimelech, um den anscheinend unvermeidlichen Zugriff auf Sarah nicht durch geltende Ehebruchsgesetze zu erschweren, mithin den Zorn des Königs darüber nicht heraufzubeschwören und schließlich die drohende Eskalation zu vermeiden. Dass sich Abimelech als feinfühlig und gerecht erweist, gibt der Geschichte eine glückliche Wende, ändert aber nichts am taktischen Verhalten Abrahams. Dazu gehören List, Cleverness sowie eine pragmatische Güterabwägung. Die Geschichten von Abraham schönen nichts. Abraham ist wandlungsfähig, auch unsicher, er wird aus seiner angestammten Umgebung gerissen, wandert von Ort zu Ort und wird in der Fremde immer wieder mit konkreten menschlichen oder politischen Problemen konfrontiert, die er pragmatisch löst. Er wird keineswegs als Held vorgestellt – die Bibel kennt grundsätzlich keine Heldengeschichten im Gegensatz zur Textsorte Heldenepos der umliegenden Großreiche des Vorderen Orients –, sondern eher als cleverer Taktierer, der – mehr Schlitzohr als Glaubensheroe – sich in höchst problematischen Situationen durchschlagen muss.

    Unabhängig davon, dass er die Lage falsch einschätzt und dass die Rolle der Frau aus heutiger Perspektive befremdlich wirkt, lässt sich aus Abrahams Verhalten ein Handlungsschema ableiten, das auch für viele Märchentexte des literaturwissenschaftlich weithin unterschätzten Dichters Wilhelm Hauff (1802– 1827) charakteristisch ist und das der französische Kulturwissenschaftler Michel de Certeau (1925-1986) als ‚Kunst taktischen Handelns‘ thematisiert hat. Die Geschichte Abrahams, wie sie das Buch Genesis überliefert, enthält drei für die folgende Untersuchung aufschlussreiche Aspekte:

    Reisen als heuristisches Prinzip

    Von seiner Berufung durch Gott an durchquert Abraham den Nahen Osten auf der Suche nach etwas, das noch nicht sichtbar anwesend ist – dem gelobten Land und damit einer maximal möglichen Gottesnähe. Sehr wohl anwesend ist aber das Bewusstsein, dass das Gesuchte und Ersehnte abwesend ist; diese spezifische Abwesenheit soll durch das Reisen überwunden werden.

    Orte

    Abraham durchquert zahlreiche Orte und macht dort unterschiedliche Erfahrungen mit den bestehenden Gesetzen und Mächten, denen er als schutzloser Fremder nicht entkommen kann, denen er aber auch nicht erliegt. Er analysiert die Situation an dem jeweiligen Ort mit seinen spezifischen Macht- und Sozialverhältnissen nüchtern und stellt fest, dass er aus einer Position der Schwäche heraus agieren muss.

    Listen

    Abraham erliegt den Mächten der fremden Orte nicht, weil er sehr listig und pragmatisch mit den bestehenden Machtverhältnissen umgeht. Sein Ziel besteht darin, Konflikte zu minimieren und dennoch seinem Ziel näher zu kommen. Er laviert geschickt und zäh zwischen seiner Schwäche und den Standortvorteilen der jeweiligen Ortsvertreter.

    Diese drei Aspekte markieren im Werk Certeaus zentrale Denkfiguren, mittels derer sich die Märchen Hauffs als Modelle eines findigen, subversiven und kreativen Umgangs der Menschen mit hegemonialen Strukturen beschreiben lassen. Bei vielen Protagonisten Hauffscher Märchenerzählungen³ findet sich ein ähnliches Verhaltensmodell wie bei Abraham. Sie treffen auf widrige Verhältnisse, diagnostizieren die realen Machtgefüge und versuchen, durch listige Taktiken ihre Ziele gegen übermächtige Widersacher oder repressive Verhältnisse, die in Hauffs Texten häufig durch dekadente, korrupte und inkompetente Herrscherfiguren repräsentiert werden, durchzusetzen.

    Den Zusammenhang zwischen der permanenten Suchbewegung nach Möglichkeiten eines besseren und gerechteren Lebens in repressiven Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen und einer subversiven Praxis der List denkt Certeau vor dem Hintergrund eines spezifischen Alteritätskonzeptes als Heterotopie, als Wechsel zwischen Orten, Sprachen, Zeiten und Zuständen. Gegenüber den Orten, die eine eigene Machtposition konstituieren, die durch Gesetze und Regeln strategisch gesichert wird, benennt Certeau in seinem Grundlagenwerk „Kunst des Handelns"⁴ die Räume als spezifische Größen von begrenzter Dauer, die nicht strategisch kontrolliert werden. In ihnen schaffen sich Menschen durch subversive findige Taktiken einen gewissen Frei-Raum; diese Taktiken funktionieren nicht selten durch einfallsreiche Listen und Finten. Das handlungstheoretische Modell taktischer Operationen in Räumen, mit deren Hilfe die Macht der Orte bisweilen gebrochen oder zumindest relativiert werden kann, eröffnet nicht nur der gesellschaftlichen und politischen Diskussion neue Perspektiven, sondern auch der Textanalyse. Im Zuge des Spatial Turn, der den Raum als „ureigenstes Element des (literarischen) Kunstwerks⁵ diskutiert, tritt die Bedeutung des Raumkonzeptes Certeaus für die Analyse literarischer Texte zutage. Susanne Ledanff beispielsweise greift auf Certeau Denken im Zusammenhang mit ihrer Untersuchung der „Raumpraktiken in den Romanen Theodor Fontanes zurück.⁶

    In Hauffs Märchen werden viele Phänomene, die Certeau ca. 150 Jahre später begrifflich benennt, ästhetisch vorweggenommen. Gerade der Ansatz Certeaus kann entscheidend zu einer kulturwissenschaftlich gestützten Neubewertung und Würdigung der Märchen Hauffs beitragen, die hinfort nicht nur ihrer Popularität wegen, sondern auch um ihrer ästhetischen Komposition willen anerkannt werden sollten, – stoßen sie doch bis heute in der Literaturwissenschaft nur vereinzelt auf ein ernsthaftes Echo: „Eine Revision ist fällig."⁷ Die in der vorliegenden Studie durchgeführten Beispielanalysen⁸ zu „Der Zwerg Nase, „Die Errettung Fatmes, „Die Geschichte vom kleinen Muck und „Der Affe als Mensch verdeutlichen das bisher verkannte politische Potenzial der Märchen Hauffs jenseits der sattsam bekannten und wenig fruchtbaren Diskussion um die Epochenabhängigkeit und die biographischen Voraussetzungen der literarischen Produktion Hauffs. Bevor aber die aufschlussreichen Berührungspunkte zwischen Hauffs Märchentexten und Certeaus kulturwissenschaftlichem Kaleidoskop näher skizziert werden⁹, folgen im Anschluss ein ausführlicher Forschungsüberblick, der die bisherige häufig sehr einseitig geführte Forschungsdiskussion zu Hauff darstellt und bewertet, sowie die Erläuterung zentraler Schlüsselbegriffe und Überlegungen Certeaus.¹⁰ Auch wenn mit dem Kapitel über Certeau nicht beansprucht wird, Certeaus Denken und Schaffen umfassend darzustellen, so versteht es sich doch als fundierte Einführung in die Gedankenwelt des in Deutschland fast unbekannten Philosophen. Daraufhin wird dargelegt, wie Certeaus Ansätze den Blick auf die ästhetischen Finessen Hauffs schärfen können, um schließlich die analytische Fruchtbarkeit einer Annäherung an Hauffs Märchen mittels der kulturwissenschaftlichen Kategorien Certeaus in vier Textanalysen exemplarisch aufzuzeigen.

    „Der Zwerg Nase stellt, wie auch die „Geschichte vom kleinen Muck, das Schicksal des sozialen Außenseitertums dar. An „Der Zwerg Nase lässt sich sehr klar aufzeigen, wie die Brutalität und die machtvolle Wirkung eines Ortes auf den Menschen, der sich dem Ort und seinen Gesetzen nicht entziehen kann, erzählerisch dargestellt wird. Die Analysen von „Die Errettung Fatmes und „Die Geschichte vom kleinen Muck konzentrieren sich auf die von taktischen Operationen geprägte, unablässige Bewegung gesellschaftlich Ausgeschlossener beziehungsweise Unterlegener innerhalb fest gefügter, mächtiger Orte. Schließlich werden in der gelungenen Kleinstadtsatire „Der Affe als Mensch die Folgen mangelnder Bereitschaft zur Bewegung und Veränderung aufgezeigt: Wenn Menschen nicht mehr bereit sind, ihren festen Ort zugunsten einer erfinderischen Bewegung in Räumen zu verlassen, verschenken sie wertvolle Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten.


    ¹ Buch Genesis 12, 1-9.

    ² Vgl. Buch Genesis 20, 1-18.

    ³ Der Märchenbegriff lässt sich als Gattungsbezeichnung nur bedingt auf Hauffs Märchentexte anwenden, da sie im Vergleich mit den Volksmärchen und den romantischen Kunstmärchen weniger phantastisch-wunderbare Elemente aufweisen und verstärkt Züge realistischen Erzählens tragen. Zur Gattungsdiskussion vgl. die grundlegenden Studien von Klotz 1985, S. 7-30 und Mayer/Tismar 1997. Um dieser Besonderheit Rechnung zu tragen, wird verschiedentlich die Notwendigkeit einer alternativen Textsortenbezeichnung für Hauffs Märchen diskutiert; vgl. Smith 2002, S. 65-67 und Neuhaus 2002, S. 9 und S. 98.

    ⁴ Der in Deutschland noch wenig bekannte und rezipierte Certeau hat ein sehr heterogenes und vielschichtiges Werk hinterlassen, von dem bislang nur ein kleiner Teil in deutscher Übersetzung vorliegt. „Kunst des Handelns erschien im französischen Original 1980 unter dem Titel „Art de faire und bildet ein wegweisendes Grundlagenwerk für das Verständnis Certeaus.

    ⁵ Mehigan 2013, S. 15; vgl. einführend Hess-Lüttich 2013, S. 31-39.

    ⁶ Vgl. Ledanff 2013, S. 147-166. Im Anspruch ähnlich, in der analytischen Validität aber weniger elaboriert ist Katrin Scheidings Untersuchung „Raumordnungen bei Theodor Fontane" (2012) angelegt. Sie greift die Terminologie Certeaus zwar auf, nutzt sie aber lediglich, um die Poetisierung des Raumes – gleichsam im Sinne einer szenographischen Beschreibung ausgewählter Romane Fontanes – darzustellen.

    ⁷ Oesterle 2005, S. 90. Zur Forschungslage vgl. ausführlich Kapitel II.

    ⁸ Vgl. Kapitel VI.

    ⁹ Vgl. Kapitel IV.

    ¹⁰ Vgl. Kapitel III.

    II Positionen der Forschung

    II.1 Wilhelm Hauff – eine Schattenexistenz in der Literaturwissenschaft

    Der jung verstorbene Publizist, Autor und Satiriker Wilhelm Hauff¹¹ hinterließ mit seinen 25 Lebensjahren ein quantitativ erstaunlich umfangreiches Textkorpus, das er insbesondere am Ende seines kurzen Lebens zwischen 1825 und 1827 schuf.¹² Gelangte er zu Lebzeiten zu großer Bekanntheit, so verblasste sein literarischer Ruhm nach seinem Tod zunehmend,¹³ auch wenn einige seiner Texte noch längere Zeit fast kanonisches Ansehen genossen.¹⁴ In der literaturwissenschaftlichen Forschung fristen sie jedoch bis heute eine undankbare Schattenexistenz als vermeintlich „epigonal, kolportagehaft, trivialliterarisch¹⁵. Das „notorische Desinteresse der Forschung¹⁶ mag zum Teil darin begründet liegen, dass Hauff schon während seiner aktiven Schaffenszeit zumeist als oberflächlicher Schreiber marktgängiger Trivialliteratur rezipiert wurde und sich dieses Urteil bis heute gehalten hat,¹⁷ was sich etwa darin zeigt, dass ein Beitrag Friedrich Pfäfflins zu Hauff unter der Überschrift „ein Erfolgsschriftsteller im 19. Jahrhundert¹⁸ steht; Friedrich Sengle fällt gar das vernichtende Urteil über Hauffs vermeintlich saloppen Umgang mit literarischen Traditionen und Motiven, indem er dessen Novellen als „kaltblütige Produktionen für den Effekt und den Geschmack¹⁹ bezeichnet.

    Die Liste der Kritikpunkte ist lang: Eklektizistische Epigonalität,²⁰ stereotype Figuren und unoriginelle Handlungsmuster,²¹ biedermeierlich-affirmative Produktion kleinbürgerlicher Idyllik,²² Provinzialismus, der Hauff „seinen angeborenen Konservatismus nie überwinden²³ lasse, künstlerische Oberflächlichkeit,²⁴ Marktkonformismus²⁵ mit einem „Spürsinn für das, was dem Zeitgeist entspricht,²⁶ und politischer wie gesellschaftlicher Opportunismus,²⁷ der sich bisweilen in einen Antisemitismus gesteigert habe, werden ihm beziehungsweise seinen Texten vorgeworfen. Insbesondere die Novelle „Jud Süß (1827/28) und die Erzählung „Abner, der Jude, der nichts gesehen hat²⁸ dienen Teilen der Forschung und der Literaturkritik als Beleg für Hauffs vermeintlichen Judenhass.

    Der mögliche Antisemitismus Hauffs ist kontrovers diskutiert worden: Unmittelbaren antisemitischen Hass wirft Hauff niemand vor, wohl aber eine durch die Mode bedingte Judenfeindschaft, mit der er sich dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack habe anbiedern wollen.²⁹ Eine solche Anbiederung habe die ‚performative Kraft des antisemitischen Stereotyps‘ verstärkt, was die judenfeindliche Wirkung seiner journalistischen und schriftstellerischen Äußerungen insgesamt vergrößere, auch wenn Hauff kein persönliches Hassgefühl gegen Juden unterstellt werden könne.³⁰ Gegen die Etikettierung Hauffs als Antisemiten aus Marktopportunismus findet sich insbesondere das Argument, dass allein die dichterische Darstellung der grausamen Behandlung von Juden die bestehenden Vorurteile entlarve. So teilt Stefan Neuhaus nicht die

    Auffassung, dass die Novelle [„Jud Süß"] sich klar gegen eine ‚deutsch-jüdische’ Heirat ausspricht. Im Gegenteil: Gerade durch die Folgen des Verbots einer solchen Heirat wird die Grausamkeit und Unbegründetheit des Verbots unterstrichen.³¹

    Er führt aus, dass „Jud Süß"³² eine „differenzierte und intentional philosemitische Darstellung der problematischen Lebensverhältnisse der Juden"³³ entwerfe. In ihrem umfangreichen Grundlagenwerk zur Jud Süß-Thematik in der Literatur gibt auch Barbara Gerber zu bedenken, dass Hauffs Novelle von einer seriösen Literaturwissenschaft nicht ernsthaft als Urquelle der antisemitischen Süß-Rezeption bewertet werden könne:

    Um Hauffs Novelle in dieser Weise beanspruchen zu können, musste man sie rigoros auf eine antisemitische Lesart einebnen, aus der kritische Einsprengsel, etwa zur Sündenbockfunktion des Süß, und die von menschlichem Mitgefühl getragenen, aufklärerischen Reflexionen über das Unglück des Judentums und das christliche Vorurteil völlig ausgeblendet wurden.³⁴

    Die Erzählung „Abner, der Jude, der nichts gesehen hat" hingegen läuft eher Gefahr, ein stereotypes, antisemitisches Juden-Bild zu zeichnen:

    Juden, wie du weißt, gibt es überall, und sie sind überall Juden: pfiffig, mit Falkenaugen für den kleinsten Vorteil begabt, verschlagen, desto verschlagener, je mehr sie mißhandelt werden, ihrer Verschlagenheit sich bewußt und sich etwas darauf einbildend.³⁵

    Die durchaus problematische Tendenz dieser rassistischen Stereotypisierung darf gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kritik an unerträglicher Herrscherwillkür im Vordergrund dieses Textes, der zudem als Satire gelesen werden muss, steht: Der Jude Abner wird unzweifelhaft zum unschuldigen Opfer ungerechter, brutaler Herrschaft und demütigenden Spotts.³⁶ Diesen Bedingungszusammenhang zwischen skrupelloser Machtausübung einerseits und Ohnmacht des jüdischen Opfers andererseits deckt der Text schonungslos auf und er lässt keinen Zweifel an der moralischen Bewertung der Gesamtsituation. An dieser textimmanenten Kritik ändert auch die Spekulation darüber nichts, ob sie bewusst vom Autoren Hauff konzipiert oder aber eher unfreiwillig produziert wurde, wie Kittstein vermutet.³⁷

    Weiterhin betont Wolf-Daniel Hartwich in seiner Analyse des Hauffschen Romans „Mitteilungen aus den Memoiren des Satan (1825) einen den Antisemitismus entlarvenden und verurteilenden Grundzug, da dem Satan, als dem Inbegriff eines Feindes der Menschheit, antisemitische Ansichten zugewiesen werden. Infolgedessen zeigen die „Mitteilungen den „inhumanen, in seiner zerstörerischen Negativität satanischen Charakter des antisemitischen Vorurteils"³⁸.

    Für viele Interpreten steht die Gesamtbewertung des Schriftstellers Wilhelm Hauff in der Form fest, wie sie Engelhard nüchtern vorträgt:

    Wilhelm Hauff gehört nicht zu den Klassikern der deutschen Literatur im engeren Sinne und zählt nicht zu den großen schöpferischen Gestalten deutscher Dichtung.³⁹

    Ein Problem, dass Hauff in der wissenschaftlichen Bewertung bis heute zum Nachteil gereicht, ist die Schwierigkeit, seine dichterischen Produkte zwischen Romantik und Realismus⁴⁰ literaturgeschichtlich einzuordnen. Als Vertreter des Übergangs „zwischen den Zeiten⁴¹ haftet ihm der Makel an, keinen ausreichenden literarischen ‚Eigenwert’ geschaffen und sich damit auch nicht in einer Epoche Maßstäbe setzend profiliert zu haben. Der ‚Übergangsschriftsteller’ ist dem Verdacht ausgesetzt, nichts Bleibendes realisiert haben zu können und bestenfalls auf das viel versprechende Kommende, das dem gewaltigen Vergangenen ebenbürtig folgen sollte, vorausgedeutet zu haben. Der Zwischenstellung zwischen zwei bedeutenden Literaturepochen scheinen Unreife und Mangel an Orientierung in einem politisch wie kulturell vermeintlich farblosen Zeitraum immanent zu sein. Die bisherige Beschäftigung mit Hauffs Texten leidet u.a. unter der meist fraglos vorausgesetzten Junktimierung von politischer Stagnation ab 1815 und ästhetisch eher vorläufigen wie unreifen Suchbewegungen. Die vorgeblich „langweilige Windstille dieser Jahre nach 1815 habe „keine

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