Kein sicherer Himmel
By Rolf Tschudi
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Rolf Tschudi
Rolf Tschudi ist in Zürich geboren, hat Ethnologie studiert, lebt und arbeitet heute als Künstler. Zuletzt erschienen von ihm folgende Bücher: Das Körperalphabet, Kurzgeschichten, gemeinsam mit Elisabeth J. Stirnimann, (2011), Kein sicherer Himmel, Roman (2015), Kleines Manifest der Träume, Geschichten (2019).
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Book preview
Kein sicherer Himmel - Rolf Tschudi
Inhalt
Unsere Metzgerei
Hinter den weidenden Kühen
Die Familie
Die kleine Prinzessin
Ein blaues Auge
Der Mann vom Reh
Mein Nachthemd
Papas Geschichte
Der Wolf unter der Wolke
Beste Freundin
Ein Eisbär in der Küche
Der Wald ist schwarz
Fliehen gehört dazu
Nachspiel
Spaziergang mit Hund
Die Eulendose
Weisse Schürze
Der Biss
Brennendes Haar
Im Spiegel
Vom Reden
Am Grab
Die Schublade
Von der Schule
Helles Herz
Kleingelacht
Eine Ansichtskarte
Beim Arzt
Teufels Schatz
Sichere Orte
Die Nacht hat einen Traum
Abschied
Verletzte Stadt
Ein strenges Gesetz
Mehr als ein Gefühl
Du musst dich wehren
Von Anfang an zu spät
Mein grösster Wunsch
Nachtlöcher
Plötzlich schwanger
Nur anders sein
Fleisch ist ehrlich
Haare wie Süssholz
Mordpläne
Verkehrte Welt
Herzstillstand
Traum eines herzlosen Menschen
Der Stuhl als Waffe
Endlich Schnee
Lernen für das Leben
Fliegen statt sterben
Pfeifen ist grausam
Einsames Spiel
Cocktail für die Freiheit
Und Tränen beruhigen doch
Eine Stimme hat Flügel
Nur eine hergelaufene Katze
Ich brauche keinen Freund
Zur Hälfte vierundzwanzig
Fahrt über die Grenze
Ich will, dass du lebst
Unsere Metzgerei
Unsere Metzgerei liegt an der Dorfstrasse. Aber auch am frühen Morgen ist W. kein Dorf mehr. Obwohl die Leute das sagen. Doch es stimmt nicht. Die Leute, die das sagen, eilen morgens müde auf die Bahn, um nach Zürich zu fahren. Die Arme der Stadt reichen bis hierher. Fährt man umgekehrt, ist man rasch in Winterthur. Zwischendrin gibt es immer weniger Lücken.
Unsere Metzgerei liegt dort, wo die Menschen wohnen, im Eckteil eines grossen Hauses aus der Nachkriegszeit. An dieser Stelle kann man zwei Kirchtürme sehen. Startende Flugzeuge drehen ab über den Dächern. Bei jedem Flugzeug dreht sich auf dem reformierten Kirchturm der Hahn. Und die Augen der Reisenden starren auf den Vogel. Oder auf das glänzende Kreuz. Sind sie weiter vom Boden weg, drehen sich ihre Augen in den Himmel.
Vor dem Geschäft gibt es Parkplätze, in Töpfen Blumen, die im Sommer blühen und im Winter schlafen, aus serdem ein Anschlagbrett der Gemeinde. Oberhalb der Eingangstüre ist ein langes, rotes Schild mit weisser Schrift befestigt: METZGEREI heisst es nach unten gelesen. Daneben gibt es ein graues Wandbild mit weidenden Kühen. Rechts vom Eingang hat es eine Holzsau als Sitzbank. Sie ist meistens leer. Die Sonne lässt sie im Stich.
Das Auslagefenster ist gefüllt mit Spielzeugschweinen aus der ganzen Schweiz. Alle sind rosa. Am Fenster klebt das Abbild einer rotbraunen Kuh. Sie trägt eine weisse Schürze und steht auf ihren Hinterbeinen. Mit den Vorderbeinen hält sie das Schild, worauf geschrieben steht: Uns Metzgern ist das Fleisch nicht Wurst.
Hinter den weidenden Kühen
Wir wohnen hinter den weidenden Kühen. Wenn niemand hinschaut, bewegen sie ihre Münder. Damit das Gras in den Magen taucht. Eine von den drei Kühen, die mittlere, ist auffallend dick. In ihrem Bauch hängt ein Kind. Ausgerechnet ein Kind. Man wird es erschlagen und in der Wiese begraben. Aber nichts Genaues davon wissen wollen.
Hier bin ich geboren. Hier, wo vor dem laufenden Fernseher gegessen und stundenlang geschlafen wird. Wo die sauberen Kleider in Schubladen verstaut werden. Und alle Tage sich die Leute von Kopf bis hinter die Zehen waschen. Wo man den Nachbarn entweder grüsst oder über ihn schimpft. Wie die zwei uralten Schwestern über uns, die keine Zeit zum Essen finden, weil sie immer reklamieren müssen. Wo über den beiden der Eisenbahner wohnt, durch dessen Kopf Tag und Nacht die Züge rollen. Wo die Wände weiss und trotzdem dicht sind. Und man umsonst geschlagen wird.
Als ob keine Blicke hinter die Wände gingen. Was gibt es da zu sehen, fragen die Leute, ausser den weidenden Kühen. Dabei fallen die Augen in ihre gefalteten Hände. Sonst müssten sie erschrecken. Über das dumpfe Poltern, wenn der Polizist seinen Sohn verprügelt. So unregelmässig wie seine Arbeitszeit. Oder so regelmässig wie der Metzger seine Tochter. Doch die Ohren der Menschen schrumpfen mit jeder neuen Geburt. Da wird das Hinhören schwer. Oder der Schrei dünner. Wen soll man da fragen. Nur manchmal verliert Papa die Nerven. Wenn der Polizist nebenan Trompete übt, sind seine Schläge am schärfsten. Seine Tritte am gezieltesten. Es ist nicht einfach, in den Bauch zu treten. Mama sagt: Wer Trompete spielt, kriegt einen dicken Hals. So einer braucht viel Spucke.
Ich war eine Hausgeburt. Im Jahr 1986 war das. Mama presste nur einmal kräftig. Ich kam viel zu schnell. Die Hebamme konnte mich gerade noch vor der Tagesschau auffangen. Papa war am Telefon. Ich habe eine Tochter bekommen, sagte er zu seinem Kollegen. Er hielt mir den Hörer an den Mund und sagte, ich solle schreien. Ich wollte nicht schreien. Da schlug er mich, damit ihm der Kollege glaubte. Was man vergisst, ist normal.
Papa passt schon früh auf mich auf. Er füttert mich. Sein Atem hält mich warm, und seine Arme schliessen sich über meinem Schlaf, aus dem mich dieselben Arme wieder herausziehen. Vor allem am Abend, wenn Mama noch bei einem Anwalt mithilft, um die Schulden für die Wohnwand abzuzahlen. Bis dieser ihr unter den Rock greift. Danach steht sie nur noch hinter Papa in der Metzgerei. So lange, bis ihr das Wasser in die Beine läuft. Es steht schon weit über die Knie, da kann sie fast nicht mehr gehen. Am Himmel häkelt sie schon jetzt.
Steht man vor dem Haus, fällt einem auf, dass es der Sonne immer im Weg steht. Oben hält es sein Dach spitz zusammen. Dort hängt Mama die Wäsche auf. Im Winter rutscht der Schnee von den Ziegeln. Mama sagt, es ist gefährlich, unter das Dach zu stehen. Der fallende Schnee würde dich totschlagen. Nicht einmal das Dach bietet Schutz. Deshalb werde ich zweimal davonlaufen. Und weil die Köpfe der Menschen manchmal die Wände ihrer Häuser sind. Hart und nicht voneinander zu unterscheiden. Aber es reicht nicht, wenn man den Kopf schüttelt. Damit kann man kein Haus umwerfen.
Die Fassade hat viele Fenster. Sie schauen gegen Norden. Sehen aus wie grosse Aquarien, in denen regelmässig Köpfe hin- und herschwimmen. Nur starren einen die Fische friedlicher an. Friedlicher als die Köpfe, meine ich. Die den Menschen mit den kleinen Ohren gehören, die wegschauen, weil sie immer weniger hören. Die es nicht merken, wenn ihr Kopf gegen eine Wand schlägt. Weil die Wand mit der gleichen Kraft zurückschlägt. Ich bin mir sicher, die Wände haben Augen und Ohren. Irgendwann werden sie alles erzählen. Nur wie weh es tut, wissen sie nicht. Und ob man die Schläge überhaupt überlebt.
Von meinem Fenster aus sehe ich auf eine grüne Wiese mit einem Ahornbaum. Darin hängen gelbe, braune und grüne Blätter, die mit dem Wind spielen. Die gelben Blätter leuchten und stechen aus den anderen heraus. Ein kleiner Zwetschgenbaum steht verlassen und kahl daneben. Er weiss, dass er sterben wird. Wie das junge Kalb. Und das Kind. Und die Kinder, die der Kasper aus dem Fenster wirft, weil sie schreien, wenn er auf sie aufpassen muss. Papa liebt es, von diesem Kasper vorzulesen, der auch seine Frau und den Polizisten den Kindern hinterherwirft. Ich kann das nicht verstehen. Wahrscheinlich habe ich schreckliche Angst. Am wenigsten kann ich Papas Lachen verstehen. Das der Wind überallhin trägt. Darum ist es gewachsen und mir zwischen die Beine gefahren. Von dort wird Papa noch lange herauslachen. An seine haarigen Hände hingegen habe ich mich gewöhnt. Die sind auch überall. Und fahren überallhin. Auch zwischen meine Beine. Ich denke mir, wenn sie dort stecken, kann mich Papa nicht aus dem Fenster werfen. Vielleicht würde der Wind nach meinen Zöpfen greifen. Das hoffe ich. Aber nur, wenn du nackt bist, sagt Papa. Ich will nicht, dass er dabei lacht.
Die Familie
Zu einer Familie gehören Vater, Mutter und mindestens ein Kind. Zu unserer Familie gehören Papa, Mama und zwei Kinder. Wir sind zwei Mädchen und keine Knaben. Wir heissen Simone und Tania. Die Knaben in der Familie wären meine Brüder. Tania ist meine Schwester. Brüder und Schwestern sind Geschwister. Ich habe eine Schwester und keinen Bruder.
Mama hat mich geboren. Schon am ersten Tag darf ich neben Papa liegen. Am Morgen, am Mittag und am Abend möchte ich Milch. Aber Mama hat keine Milch. Ich muss fast verhungern. Papa rettet mich. Er gibt mir Milch aus der Flasche. Ich wachse und werde gross.
Papa ist sehr fleissig. Er sorgt für die ganze Familie. Jeden Tag arbeitet er in seiner Metzgerei, wo er aus toten Tieren Fleisch macht. Zum Mittag sitzen wir alle am Tisch. Mama kocht für uns das ganze Jahr ein feines Essen. Sie wäscht die Kleider, flickt und bügelt sie. Sie häkelt Decken für uns. Und sie betet für uns oder hilft im Laden. Nach dem Essen geht Papa gleich wieder in die Metzgerei. Vorher isst er noch eine Tafel Schokolade. Seine Zähne sind klein und scharf, weil er nachts mit ihnen knirscht. Wenn der letzte Kunde den Laden verlässt, setzt sich Papa vor den Spiegel und sagt: Ich bin ein guter Mensch. Erst dann wäscht er sich die Hände. Am Abend trinkt er ein Bier, die ganze Familie sitzt vor dem Fernseher.
An den Wochenenden fährt Papa oft zum Bauern und kauft ein Kälbchen, das gesund und munter ist. Das Kälbchen darf nicht lange neben der Mutter liegen, weil es der Bauer tötet. Oder er kauft ein Schwein. Schweine mag er besonders.
Papa ist sehr lieb. Mama mag er nicht. Aber Mama mag ihn trotzdem. Papa sagt: Das Schwein gibt uns Speck und Schinken. Du gibst mir die Liebe.
Die kleine Prinzessin
Die kleine Prinzessin ist sehr klein. Aber alle Knochen sind dran. Man kann daran drehen und sehen, ob sie etwas spürt.
Ich bin Papas kleine Prinzessin. Auch mit dreiundzwanzig Jahren werde ich es noch sein. Von Anfang an habe ich mich nur um ihn gedreht. Ausgerechnet Papa, der mich mit der linken Hand festhält und mit der rechten Hand streichelt. Aber mit beiden Händen würgt, dass es in meinen Augen schneit. Diese Vertrautheit ist von Beginn an da. Gäbe es Papa nicht, wäre die kleine Prinzessin ohne Gesicht.
Du gehörst zuerst mir, meine kleine Prinzessin, sagt Papa. Seine Worte laufen zwischen meinen Ohren hin und her. Als ob es die Einzigen wären, die laufen können. Doch von kleinen Worten gibt es auch grosse. Er sagt: Niemand anders wird dich so lieben wie ich. Du wirst jeden Tag an mich denken. Und wenn es stimmt, was er sagt. Ich denke immer, wenn ich einmal gross bin, kann ich tun, was ich will. Papa sagt, das ist nicht wahr. Er sagt, es ist meine Schuld, dass es so weit gekommen ist. Seine Liebe wird mich immer festhalten. Auch viel später noch, wenn ich schon in Winterthur wohne.
An den Anfang erinnert nichts, ausser ein Traum. Ich sehe, wie sich mein Rock wie ein grauer Schleier ausbreitet und sich über mein Zimmer legt. Als er sich von selbst anhebt, steht Papa darunter. Er ist mit einem Messer zu Besuch gekommen. Es hängt ihm um den Hals. Ich darf nicht mucksen. Mit dem Messer schneidet er mich aus dem Rock heraus. Zuletzt aus den Strümpfen. Wegen meiner durchsichtigen Haut werde ich traurig. Ich habe Tränen. Sie bohren sich in meine Knochen. Die sind so weiss wie die leeren Seiten eines Buches. In mein Tagebuch muss ich mein Leben schreiben. Ich schreibe: Nachher durfte ich mit Papa baden.
Ich habe ein Gesicht, weil es mir Papa gegeben hat. Es stimmt, ich habe mich immer schon schneller um ihn gedreht als Tania. Papa sagt, ich bin hübsch und gescheit. Manchmal auch: Tania ist dumm und hässlich.
Tania wurde in einem heissen Herbst geistig behindert geboren. Aus Mamas offenem Bauch heraus fiel sie gleich neben den Tod. Vielleicht weinte sie deshalb mehr als alle Kinder im Spital. Sie bringt Papas Geduld rasch zum Überlaufen. Sie darf