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Venedig.: Ein Tagebuch
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Venedig.: Ein Tagebuch

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Zu diesem Buch:
Der Traum, einige Monate in Venedig zu verbringen, nicht nach drei Tagen wieder wegfahren zu müssen, sondern bleiben zu können, die Stadt und den venezianischen Alltag besser kennenzulernen, Arbeit und Wohnung zu finden, scheint im Millenium-Winter 1999/2000 Wirklichkeit zu werden. Die lch-Erzählerin geht nach Venedig und findet eine Wohnung. Eine Arbeit findet sie nicht. So kommt dieses Tagebuch zustande. Während eines fast dreimonatigen Aufenthaltes in Venedig verwebt die Tagebuchschreiberin ihre Beobachtungen venezianischen Alltags mit Reflexionen ihres eigenen Lebens. Weiter eingewebt werden Sehenswürdigkeiten und Geschichte Venedigs unter besonderer Würdigung der vergessenen, in den Reiseführern nicht erwähnten venezianischen Frauen. Bestickt wird das Gewebe mit einer leidenschaftlichen Liebe und eingefasst mit einer Hommage an venezianische Cafés.
(es kommen Preise vor: 2 DM sind heute ca. 1 EURO, 1000 italienische Lire sind heute ca. 50 Cent)
LanguageDeutsch
Release dateFeb 13, 2015
ISBN9783734763021
Venedig.: Ein Tagebuch

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    Book preview

    Venedig. - Marita Achenbach

    Inhaltsverzeichnis

    Titelseite

    Impressum

    Venedig. Ein Tagebuch

    Marita Achenbach

    Zu diesem Buch:

    Der Traum, einige Monate in Venedig zu verbringen, nicht nach drei Tagen wieder wegfahren zu müssen, sondern bleiben zu können, die Stadt und den venezianischen Alltag besser kennen zu lernen, Arbeit und Wohnung zu finden, scheint im Millenium-Winter 1999/2000 Wirklichkeit zu werden. Die lch-Erzählerin geht nach Venedig und findet eine Wohnung. Eine Arbeit findet sie nicht. So kommt dieses Tagebuch zustande. Während eines fast dreimonatigen Aufenthaltes in Venedig verwebt die Tagebuchschreiberin ihre Beobachtungen venezianischen Alltags mit Reflexionen ihres eigenen Lebens. Weiter eingewebt werden Sehenswürdigkeiten und Geschichte Venedigs unter besonderer Würdigung der vergessenen, in den Reiseführern nicht erwähnten venezianischen Frauen. Bestickt wird das Gewebe mit einer leidenschaftlichen Liebe und eingefasst mit einer Hommage an venezianische Cafés.

    (es kommen Preise vor: 2 DM sind heute ca. 1 EURO, 1000 italienische Lire sind heute ca. 50 Cent)

    Venezia, Freitag, 5. November 1999

    Sono disperata! Und es gießt und gießt und gießt. Vorhin war ein heftiges Gewitter, wahrscheinlich ist jetzt, um 21.30 Uhr, schon Hochwasser. Außerdem habe ich das Gefühl, ich kriege eine Erkältung; es wäre die erste nach zwei Jahren! Vielleicht habe ich mich bei Franka angesteckt.

    Nach einer schönen Fahrt mit einer Übernachtung in Brixen waren wir am Dienstag Vormittag in Venedig angekommen, und Franka hat ihr Auto in einem Parkhaus an der Piazzale Roma untergestellt; Kostenpunkt 50.000 Lire pro Tag (und Nacht)! Dafür ist es rund um die Uhr bewacht. Der Parkwächter nannte uns ein anderes Parkhaus in Mestre, das nur 8000 Lire pro Tag kostet, aber Franka hatte keine Lust mehr zu fahren nach der weiten Fahrt von Brixen hierher. Und da ich sie nach Venedig eingeladen hatte und sie dadurch ihr Bett nicht bezahlen musste, beschloss sie, das gesparte Geld für ihr Auto auszugeben. Der Vorteil dieser Lösung war, dass ich mein Gepäck nicht auf einmal mitnehmen musste. Ich hatte viel zum Tragen: zwei Koffer, mein Notebook und einen Rucksack. Eigentlich nur das Nötigste; obwohl, wie sich inzwischen herausgestellt hat, es noch zu wenig ist, denn es ist mittlerweile sehr kalt hier und ich will schließlich fünf Monate bleiben. Der größere und schwerere Teil des Gepäcks bestand aus Büchern und Unterlagen.

    Ich nahm also einen Teil meines Gepäcks mit, und wir machten uns auf den Weg. Unten am Eingang des Parkhauses bot uns ein Mann seine Taxi-Dienste an und wollte uns direkt zur Pension fahren. Wir folgten ihm ein paar Schritte, bevor mir dann einfiel, ihn nach dem Preis zu fragen. Frau weiß ja, wie Taxi-Fahrer im Ausland Touristinnen behandeln. Cento mila Lire war die Antwort, etwa DM 100,--. Das war mir zu viel, und wir drehten uns wieder um, um das vaporetto zu suchen, den 'Wasserbus" Venedigs. Wir fanden die Anlegestelle und kauften zwei biglietti zum Einheitspreis von je 6000 Lire für die Innenstadt, nicht eben wenig. Mit dem vaporetto Nr. 1, das an allen Anlegestellen des Canale Grande hält und auch zum Lido fährt, fuhren wir ins Herz Venedigs, in das centro storico.

    ***

    Das centro storico Venedigs, so steht es im Reiseführer, ist auf 118 Inseln angelegt, hat eine Fläche von 7,5 qkm und einen Umfang von 12 km. Man kann, wenn man schnell geht, in etwa einer Stunde von einem Ende zum anderen laufen. Der Canale grande, oder Canalazzo, wie ihn die VenezianerInnen nennen, bildet auf vier Kilometern Länge ein großes Fragezeichen durch das Zentrum der Stadt. Zu allen Zeiten herrschte auf dieser wichtigsten Wasserstraße im Herzen Venedigs ein ständiges Hin und Her der Boote. Heute ist der Verkehr zwar weniger dicht, dennoch bleibt der Canalazzo die Hauptstraße der Lagunenstadt. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren alle Bemühungen, aus Venedig eine moderne Stadt zu machen, gescheitert. Die Probleme häuften sich: Die Wirtschaft der Stadt basierte nur noch auf dem Dienstleistungssektor, die Mieten wurden unerschwinglich, die jungen Leute wanderten ab. Die palazzi und einfacheren Wohnhäuser verfielen, weil niemand das Geld hatte oder es nicht investieren mochte, um sie zu restaurieren. Nach einer Gesetzesänderung wird jetzt langsam wieder etwas getan; man sieht überall, dass restauriert wird. Allerdings werden die restaurierten Häuser, umgewandelte ehemalige palazzi signorili, häufig an Ausländer verkauft oder vermietet und zu welchen Preisen! Oder sie werden in Büros verwandelt - das kennen wir ja auch von Deutschland.

    ***

    Ein Händler, der einen kleinen Schmuckladen in der Nähe der Piazza San Marco führt, erzählte mir, dass das centro storico von Venedig heute nur noch 70.000 Einwohner umfasst, meist alte Leute und StudentInnen oder AusländerInnen. Er bestätigte, dass die jungen Familien auf das Festland ziehen, viele wollen auch nicht auf ein Auto verzichten. Insgesamt gibt es in Venedig und Mestre, die miteinander eine Verwaltungseinheit bilden, 300.000 Einwohner.

    Im Rahmen meiner Zimmersuche hatte ich Gelegenheit, etliche der prächtigen palazzi von innen zu sehen, in die man sonst nur abends, wenn sie erleuchtet sind, von außen hinein sehen kann. Einer war besonders eindrucksvoll. Schon das Treppenhaus war sehr großzügig, die Zimmer mehr als fünf Meter hoch, und riesig. Die ganze Wohnung misst 270 Quadratmeter und kostet im Moment 3,5 Millionen Lire Miete pro Monat. Die Familie, offenbar alle Anwälte, zieht demnächst aus, weil der Vermieter die Miete auf 5 Millionen Lire pro Monat erhöhen möchte. Zum Vergleich: ein junger Architekt, wenn er denn Arbeit hat, verdient ca. 1,5 Millionen Lire pro Monat, genauso hoch ist das Einkommen einer Verkäuferin oder einer Kellnerin in einem Restaurant!

    Für Franka war es das erste Mal, dass sie in Venedig war. Wir saßen im vorderen Teil des Schiffes, außen natürlich, und genossen die Fahrt auf dem Canalazzo sehr, trotzdem es ziemlich kalt und windig war. Es ging vorbei an Kirchen und palazzi, schönen und weniger schönen, restaurierten und offenbar verlassenen, die sich im Wasser spiegelten. Bei der Brücke der Accademia stiegen wir aus. Von hier waren es nur ein paar Schritte bis zu meiner Pension. Sie liegt in der Calle Capuzzi im Stadtteil Dorsoduro, zwischen der Fondamenta delle Zattere und der Accademia dei Belle Arti, nicht weit von der Piazza San Marco, dem Markusplatz, in einem ruhigen Teil Venedigs, dessen schöne Häuser liebevoll und ständig gepflegt werden. Die Calle Capuzzi ist ein enges, kaum mehr als schulterbreites Sträßchen, das von einem kleinen Canale abzweigt. In der Nachbarschaft gibt es nur wenige kleine Restaurants, ein paar Läden zur Deckung des primären Lebensbedarfs und einige traditionelle Handwerker. Elena hatte mir empfohlen, die Vermieterin anzurufen, sobald wir in Venedig angekommen sind, sie würde uns am Boot abholen. Ich hatte sie noch von der Autobahn aus angerufen, um mich zu vergewissern, dass sie zu Hause war. Nachdem das Boot an der Brücke der Accademia angelegt hatte, war es nicht schwer, mit Hilfe des Stadtplanes die richtige Straße zu finden. Als wir klingelten, öffnete uns die Besitzerin der Pension, eine große, schlanke Venezianerin, etwa Ende sechzig und auffällig geschminkt. Sie war überrascht, dass wir das Haus allein gefunden hatten und schon da waren. Bei der Pension handelte es sich um eine große Wohnung, die durch einen weiten, dunklen Innenhof zu erreichen war. Während rechts Küche mit Wohnzimmer lagen, führte links eine steile Stiege zu den Zimmern hinauf. An den Wänden des Treppenhauses hingen Malereien und Zeichnungen. Im oberen Flur stellten Bleistiftzeichnungen junge Frauen dar. Auf meine Frage, wer die Frauen seien, antwortete sie stolz, das seien sie und ihre drei Schwestern. Sie ließ uns raten, welches der Porträts sie darstellte. Franka erriet es sofort, und die Venezianerin war sehr geschmeichelt. Sie zeigte uns ein recht dunkles Doppelzimmer, dessen Fenster auf die enge Calle Capuzzi sah; in einer Ecke gab es eine kleine, mit einer Tür zu verschließende Kabine, die ein Waschbecken enthielt und von welcher ein kleines Fenster ebenfalls zur Straße ging. Das Zimmer sah aus, als sei es ihr ehemaliges Eheschlafzimmer. Auch hier hingen Bilder an der Wand auf einer eng gemusterten, dunkelgrünen Tapete. Ein Teil des Kleiderschrankes war abgeschlossen, durch einen kleinen Spalt konnte ich Kleider erkennen. Einen Schlüssel zum Abschließen der Zimmertür gab es nicht. Das Bad und ein separates WC befanden sich auf dem Flur. Alles war einfach, aber ordentlich und sauber, und das Haus strahlte Ruhe aus.

    Die Vermieterin erzählte mir später, dass sie vier Zimmer vermiete, normalerweise ohne Frühstück, aber auf Wunsch biete sie auch caffé an. Auf meine Frage, ob sie mir denn ein Zimmer mit Küchenbenutzung für fünf Monate zu einem akzeptablen Preis vermieten wolle, sagte sie, es sei ihr zu lang, und ab und zu brauche sie auch Zeit, um sich zu erholen, dann schließe sie, schließlich sei sie ja auch nicht mehr die Jüngste. Mit Küchenbenutzung vermiete sie gar nicht, das habe sie früher einmal gemacht, aber das sei ihr zu viel Unruhe gewesen. Außerdem sei die Küche ihr Reich, in das sie nicht gerne jemanden hineinlasse. Sie habe die Erfahrung gemacht, dass junge Leute, StudentInnen, viel Lärm machen, besonders am Abend, und dass sie Freundinnen mit nach Hause bringen, Leute, die sie nicht kennt. Das alles gefalle ihr nicht und deshalb vermiete sie jetzt an Touristen. Aber sie bot mir an, sich für mich umzuhören. Franka fuhr am Donnerstagmorgen, und ich zog in ein Einzelzimmer um, nachdem die Vermieterin mich vorher gefragt hatte, in welchem der Betten ich geschlafen habe, damit sie das richtige Bettzeug umziehen könne. Mein jetziges Zimmer ist viel heller als das vorherige: das Fenster geht auf einen schön bepflanzten lnnengarten, der von einer hohen Palme dominiert wird. Leider war während der ersten beiden Tage, als Franka da war, das Wetter nicht besonders, aber wenigstens hatte es nicht geregnet. Gestern, am Tag ihrer Abreise war es grau, und es nieselte. Nachdem ich sie zu ihrem Auto gebracht hatte, ging es mir ziemlich schlecht, wegen des Wetters und überhaupt. Ich war, obwohl am Ziel meiner Wünsche: Venedig! niedergeschlagen. Am Abend hatte ich mich, mit Brot und Käse und einer fast vollen Flasche Rotwein, die noch von Frankas Besuch übrig war, ins Bett gelegt. Nachdem ich die Flasche fast geleert hatte, konnte ich schnell einschlafen. Ich verstand mich selbst nicht: Ich war gerade einmal vier Tage in Venedig, hatte eine akzeptable Unterkunft und kannte eine Frau, die mir weiterhelfen konnte und die sich freute, dass ich nach Venedig gekommen war. Dass ich noch keine Bleibe für länger gefunden habe, ist nichts Ungewöhnliches, ci vuole un po di pazienza. Trotzdem war ich häufig mutlos bis panisch. Nur wenn schönes Wetter war und ich im warmen Sonnenschein sitzen konnte, ging es mir vorübergehend besser, dann sah es so aus, als ob alles gut werden würde. Wahrscheinlich hing das auch mit der Situation in München zusammen. Peter sollte/wollte sich ja scheiden lassen. Obwohl ständig als Wahrscheinlichkeit präsent gewesen, traf mich das offenbar mehr als ich mir eingestand. Das wird meine Situation in der Zukunft sehr unsicher machen, da ich dann nicht mehr bei ihm und Julia wohnen kann, wenn ich in München bin. Zwei Freundinnen haben mir ihre Wohnungen angeboten. Das geht wohl für ein paar Tage, aber für länger? Und wo soll ich meine Sachen lagern, meine Kleider, meinen Hausrat, meine Bücher, die Möbel? Bisher konnte ich auf Peter immer zählen, aber nun, mit dieser neuen Frau, hatten sich die Verhältnisse verändert. Er war nicht mehr frei in seinen Entscheidungen, sondern tat, was sie wollte. Und wenn sie bestimmte, dass ich nicht mehr in unserem Haus wohnen durfte, dass er mich nicht mehr treffen durfte, und er sich fügte, würde sich unsere Beziehung verändern, zum Schlechteren. Er geht immer den Weg des geringsten Widerstandes und wird sich ihr fügen, nur damit er seine Ruhe hat.

    Noch während Franka da war und dann Donnerstag und heute habe ich wirklich alles, was mir einfiel, unternommen, um Zimmer und Job für den Winter zu finden: jede Menge Zettel ausgehängt und meine Dienste als Deutschlehrerin angeboten; etliche Sprachschulen angerufen; mich beim Deutsch-Institut vorgestellt; zahlreiche Zimmervermietungsagenturen angesprochen; jeden, der nur irgend passend schien, nach einem Zimmer gefragt; meinen Lebenslauf in etlichen Hotels abgegeben; mich mit einer Art Sozialstation für Frauen in Not in Verbindung gesetzt.

    Ich habe auch nochmals Mario angerufen, den Venezianer, den ich auf der Hütte in Cortina kennengelernt hatte; heute lebt seine Familie in Marghera und er ist immer in giro in den Bergen. Nachdem er sein halbes Leben als Fischer in der Lagune verbracht hat, verbringt er die andere Hälfte jetzt hauptsächlich in den Bergen. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er in einem Refugio, einer Berghütte in der Nähe von Cortina d'Ampezzo und war dort neben seiner Arbeit als Grill-Koch Mädchen für alles. Zufällig war er zu Hause. Er sagte mir aber, dass er schon am nächsten Tag wieder wegfahren würde. Das hat er vielleicht auch nur gesagt aus Sorge, dass ich ihn um eine Schlafgelegenheit bitten könnte. Als ich anrief, war sein Sohn am Telefon, und er sagte mir zuerst, sein Vater sei nicht zu Hause. Erst als ich auf seine Frage, wer ich sei, ihm wahrheitsgemäß antwortete, war Mario dann plötzlich doch da. Er nannte mir den Namen eines Mannes, der früher in Venedig Wohnungen vermietet hatte. Adresse und Telefonnummer wusste er nicht, nur den Namen der Brücke, in deren Nähe dieser Mann lebt. Aber er sei dort wohlbekannt. War gar nicht leicht, herauszukriegen, wo er wohnt. Weder den Namen der Brücke noch den Namen des Mannes hatte ich am Telefon gut verstanden. Ich wusste nur, dass die Brücke in der Nähe des Bahnhofs ist. Als ich dort einem Taxibootfahrer den Namen nannte, meinte er, Brücken gäbe es viele in Venedig und Menschen auch, er kenne leider weder den einen noch den anderen Namen, scusi, signora. Eine junge Frau in der Rezeption eines Hotels, wo ich meinen Lebenslauf abgab, wusste auf meine Frage sofort, welche Brücke ich meinte: Ponte delle Guglie, si, si.

    Die Brücke hatte ich also gefunden, es fehlte mir nur noch der Mann. Ich hatte einen Vor- und einen Nachnamen und fragte einen barista in der Nähe der Brücke. Er konnte mit dem Namen nichts anfangen. Einen Mann mit dem Vornamen Riccardo kannte er, aber der Nachname stimmte nicht. Er schickte mich in den kleinen Laden, der Riccardo und seiner Frau gehörte. Ich hatte inzwischen im Telefonbuch eine Nummer gefunden, die auf den von mir gesuchten Mann passte, allerdings wohnte er im Stadtteil San Marco und war wohl doch nicht der Richtige. Im Schreibwarenladen lernte ich Riccardos Frau kennen; sie bestätigte, dass ihr Mann Riccardo heiße, aber der Nachname sei ein anderer. Ich kam mit ihr ins Gespräch und erzählte, wen und was ich suchte. Sie war sehr nett und empfahl für Zimmer- und Jobsuche ein einschlägiges Blatt, den ALADDINO. Plötzlich kam der barista in den Laden gelaufen und sagte mir, er habe den gesuchten Riccardo gefunden, und er zeigte mir, wo er wohnte: Gleich an der anderen Ecke der Brücke.

    Auf mein Klingeln öffnete ein untersetzter Mann von etwa sechzig Jahren, nur sehr spärlich bekleidet. Ich fragte ihn, ob er Mario kenne und die Antwort war ein genuscheltes mi ricordo. Leider hatte er keine Wohnung zu vermieten, das habe er vor langer Zeit einmal gemacht. Also Fehlanzeige. Riccardo war ein ganz seltsamer Geselle. Er schloss die Tür zweimal hinter sich ab, als ich wegging. Vielleicht hat er Angst vor der Mafia.

    Das Ergebnis meiner Unternehmungen bisher ist eventuell eine Arbeit beim Deutsch-Institut, chissa cuando und schlecht bezahlt, ein möbliertes Zimmer bei einem Mann im centro storico für 700.000 Lire bis zum 28. November, ein Apartment auf dem Lido, zu teilen mit einer syrischen Lehrerin, zu mieten und zu bezahlen bis Juni 2000, für 750.000 Lire pro Monat ein Zimmer mit Bad und Küchenbenutzung bei einer Venezianerin für 600.000 Lire. Das klang am Telefon ganz gut. Ich muss Montag hingehen. Vielleicht klappt es.

    Das Apartment wäre auch nicht schlecht, es würde auf jeden Fall Platz für Besuch bieten, aber bis zum Lido ist es doch weit und Elena hat gemeint, im Winter gäbe es viel Nebel und dann führen die Schiffe gar nicht oder sehr langsam. Wenn ich Arbeit in der Sprachenschule fände, hätte ich immer einen weiten Weg und viel Wegzoll zu bezahlen. Die einfache Fahrt vom Lido ins Zentrum Venedigs mit dem vaporetto kostet 6000 Lire. Das läppert sich ganz schön zusammen. Andererseits ist der Lido im Meer, mit viel Strand! Ich könnte viele schöne Spaziergänge machen und würde fünf Monate am Meer verbringen.

    Mit Karin telefoniert. Das Telefongespräch hat mir sehr gutgetan. Wenn das Wetter so schlecht ist habe ich einen erhöhten Bedarf an Streicheleinheiten. Außerdem hat Franka offenbar meine Entscheidungs-, Selbstvertrauens- und Notfalltropfen aus Bachblüten mitgenommen, die ich in der letzten Zeit jeden Tag eingenommen habe. Muss wieder neue herstellen. Auf jeden Fall wäre es jetzt schön, mit jemandem zu kuscheln und mich verwöhnen zu lassen. Sobald ich das Zimmer habe, werde ich mal nach Abano in die Terme fahren. Noch nicht einmal einen Tee kann ich mir kochen. Wenn ich nicht bald hier ausziehen kann, muss ich mir noch einen Heißwasserkocher kaufen.

    Sonntag, 7. November 1999

    Gestern Abend war ich auf dem Lido, um mir die Wohnung anzusehen; sie ist schön, hell, aber wegen Lido siehe oben. Auf dem Rückweg zum vaporetto hat es angefangen zu regnen, und über der Lagune hat es gestürmt und geblitzt. Dann hat es die ganze Nacht geregnet und heute Morgen konnte ich das Haus nicht verlassen wegen Hochwassers. Um 7.00 Uhr heulten die Sirenen und kündigten es an: acqua alta. Die Signora bot mir Gummistiefel an, falls ich ausgehen wollte, aber ich zog es vor, im Bett zu bleiben bis um 12.00 Uhr, dann trieb mich das schöne Wetter doch hinaus. Das Hochwasser war wieder gesunken.

    ***

    Immer häufiger wird Venedig vom Hochwasser heimgesucht. Das Ausmaß dieser Überflutungen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Es sind unterschiedliche Ursachen, die hier zusammen spielen. Zum einen hat sich die Stadt wegen zu vieler Grundwasserentnahme durch die Industrie gesenkt. Außerdem dringt durch die für moderne große Schiffe ausgebaggerten Einfahrten in die Lagune mehr Wasser als bisher ein. Auch Springfluten und starke Winde, die durch atmosphärische Druckverhältnisse entstehen, beeinflussen den Wasserstand, ebenso wie die zunehmende Erwärmung der Atmosphäre.

    Bis zum Jahr 2100 wird mit einem Wasserstand gerechnet, der 31 cm höher ist als gegenwärtig und pro Jahr 126 Fluten verursachen wird, die einen Wasserstand von einem Meter übersteigen. Zum Vergleich: In den zwanziger Jahren gab es diesen Wasserstand durchschnittlich einmal im Jahr. Besonders häufig kommt es zu acqua alta, wenn Vollmond ist. Wenn zur gleichen Zeit der scirocco, der Südwind, große Wassermassen in den Golf von Venedig drückt, kommt es zu einer Springflut, bei der die Wellen bis zu 2,50 m hoch schlagen.

    ***

    Nach der stürmischen Nacht war der Himmel blau, die Sonne schien und es wehte nur noch ein leichter Wind. Der erste schöne Tag in Venedig! Am Morgen war ich einmal vor die Tür gegangen, um zu gucken, wie Hochwasser ist: es stand etwa zehn Zentimeter hoch in unserer calle. Obwohl im Frühjahr und im Herbst Hochwasser für die Venezianer ganz normal ist, ist es immer ein Anlass für sie, hinauszugehen und es zu besichtigen. Bei Hochwasser werden überall in den kleinen Straßen Holzstege, passerelle, aufgestellt, auf denen man laufen kann; besonders dort, wo eine Bootsanlegestelle ist, um ein Aus- und Einsteigen einigermaßen trockenen Fußes zu gewährleisten. Sie bleiben auch da, wenn gerade kein Hochwasser ist. Dann bieten sie eine Möglichkeit, sich darauf zu setzen, wenn die Sonne scheint. Den Tag heute habe ich angenehm und einigermaßen entspannt verbracht, mit caffé und Kuchen im Freien vor der Bar auf dem Campo Santo Stefano und später mit prosecco und nochmals Kuchen in einer anderen Bar, wo ich eine Amerikanerin aus Minnesota traf, die mir von ihren polnischen und den finnischen Vorfahren ihres Mannes erzählte. Danach wäre ich gerne ins Kino gegangen, Notting Hill ansehen, leider war es voll, als ich hinkam.

    Montag, 8. November 1999

    Heute war ein wettermäßig phantastischer Tag, blau und sonnig mit Sonnenuntergang, wenn frau ihn denn gesehen hätte (wäre ich schon auf dem Lido, hätte ich ihn gesehen, so konnte ich ihn nur ahnen), und ich habe telefoniert ohne Ende: Ich habe etwa zehn Nonnen-Kongregationen angerufen, fünf Hotels und fünf Reisebüros wegen eines Jobs, und einige Nummern wegen einer Wohnung. Am liebsten würde ich ja bei einer alten Frau in einem der großen, alten palazzi wohnen, eventuell als Gesellschafterin. Dann hätte ich eine schöne Wohnung und gleichzeitig einen Job. Die Nonnen waren alle sehr nett, zwei hätten fast etwas gehabt, eine hat mir eine Adresse gegeben, aber da sucht eine Frau für ihre Tante, die nicht allein sein kann, eine, die immer da ist. Das bin ich nicht. Am Abend bin ich noch in einer katholischen italienischen Messe in der Chiesa dei Gesuati gewesen, nur weil ich den Priester sprechen wollte. Leider kennt auch der sacerdote keine reiche alte Frau, die in ihrem riesigen antiken palazzo signorile wohnt und eine Gesellschafterin sucht. Darum kümmere sich eine Signora, die leider momentan im Krankenhaus sei. Auf jeden Fall bin ich jetzt perfekt im Stellen- und Zimmer suchen auf Italienisch am Telefon und live. Das Zimmer bei dem Mann hat sich als Zimmer in einer studentischen Männer-WG herausgestellt, das habe ich dann gleich abgelehnt, war auch nur bis Ende November. Das bei der Frau weiß ich noch nicht, entscheidet sich morgen. Dieses Zimmer liegt in einem abgelegenen, nicht so schönen Teil von Venedig zwischen Dorsoduro und dem Quartiere S. Maria. Die Wohnung ist miniklein (zwei Zimmerchen, Bad und Küchenflur) und die Besitzerin will ihr Wohnzimmer, welches sehr sonnig und wohl das größere der Zimmer ist, vermieten. Es soll 600.000 Lire kosten und ist wohl mehr, als sie für die ganze Wohnung bezahlt. Aber sie ist nett und scheint unkompliziert. Sie ist tagsüber berufstätig und auch abends oft weg, so dass ich viel allein wäre, was einerseits gut, andererseits nicht so gut ist, ich will ja viel reden, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Gut ist, dass sie sogar ein Faxgerät hat und ein aussteckbares Telefon; ich könnte also auch mein Notebook anschließen, falls ich den passenden Anschluss finde. Dies ist einigermaßen schwierig, da hier weder in den Computerläden noch in den Telefonläden jemand weiß, was ich dafür brauche.

    Meine Stimmung schwankt mit meinem Hormonspiegel rauf und runter und hin und her. Nach all den erfolglosen Telefonaten und apokalyptischen Vorstellungen, dass ich Venedig verlassen muss, weil ich weder Wohnung noch Job finde und was tue ich dann.....???? habe ich mir überlegt, dass ich auf jeden Fall dableiben werde bis Ende März. Koste es, was es wolle!! (Naja, nicht ganz so). Ich werde morgen nochmals die Vermieter von Apartments anrufen und mir ein Apartment nehmen, wenn das mit dem Zimmer bei der Frau nicht klappen sollte. Es gibt welche zwischen einer Million und eineinhalb Millionen Lire pro Monat. Das ist zwar nicht, was ich wollte, aber es wird mich nicht an den Rand des Ruins bringen. In diesem Fall müsste ich meine eisernen Reserven angreifen, aber angesichts dessen, was wir für die Scheidung zahlen müssen, ist das auch schon egal. Dann habe ich wenigstens in Venedig anständig gewohnt und eine hoffentlich schöne Zeit verbracht. Ein Apartment wäre auch besser für Weihnachten und Neujahr und carnevale; vielleicht möchte ja Julia an Weihnachten hierher kommen (oder auch Nora), oder Karin oder oder oder..... Ich könnte dann alle beherbergen, die wieder mal nach Venezia kommen wollen. Wollte Karin nicht eine Sprachreise nach Venedig machen, jetzt, wo sie italienisch lernt? Ich wüsste dann eine preiswerte Unterkunft bei einer netten Frau.......

    Was das E-mailen betrifft, funktioniert Hotmail gut. Franka hat mir zwei E-Mails geschickt, sie sind angekommen. Ich hoffe, dass ich, wenn ich mich endlich hier etabliert habe, auch mein Notebook anschließen kann.

    Dienstag, 9. November 1999

    Ancora disperata! War heute wieder mal den ganzen Tag unterwegs wegen Zimmer und Job. Der einzige Lichtblick am Morgen ist, wenn ich in den Internet-Point gehe und meine Hotmail-lnbox ansteuere. Meist ist entweder von Karin oder von Franka eine Nachricht da, manchmal sogar von David. Das cheert me up, almeno un po.

    Die Frau, die ihr Wohnzimmer an mich vermieten will, weiß noch nicht, wann ich da hinein könnte. Sie muss erst einen Schrank für sich besorgen, aber wann? Sie konnte es mir nicht sagen. Zum Glück ist das Wetter schön, kühl, aber sonnig. Die befürchtete Erkältung ist ausgeblieben. Inzwischen habe ich das Gefühl, ich kenne in Venedig schon jede Ecke. Wie viele Kilometer bin ich eigentlich hier schon gelaufen? Obwohl vieles gleich aussieht, erinnere ich mich an verschiedene Geschäfte und Bars. Hier gleich um die Ecke gibt es eine schöne Bar, die von einer venezianischen Familie geführt wird, Mutter, Vater und zwei schöne Töchter. Die Bar ist jeden Tag außer Sonntag von frühmorgens um 7.00 Uhr bis abends um 20.00 Uhr geöffnet. Sie haben gut zu tun und sind sehr aufmerksam. Am dritten Tag wussten sie schon, dass ich einen caffé lungo nehme (e anche una pasta).

    Heute war ich im Italienisch-Deutschen Kulturinstitut, um mal wieder nach Arbeit zu fragen; sie haben keine, aber die Sekretärin hat mich überall herumgeführt (sie residieren im Palazzo Albirizzi in Cannareggio) und mir angeboten, dass ich meinen Lebenslauf dalasse. Hatte ihn natürlich nicht dabei, bringe ihn aber später. Ich könne auch ein biglietto erstehen, mit dem ich sämtliche Veranstaltungen des Instituts im Winter kostenlos besuchen kann, Ausstellungen, Konzerte etc. Ich sagte, ich würde es mir überlegen.

    Auf dem Heimweg kam ich auf dem Campo S. Maria Zobenion an einem schönen Kunsthandwerkgeschäft vorbei. Ich wartete eine Weile, bis alle Kundinnen den Laden verlassen hatten und fragte dann die Besitzerin, ob sie nicht für diesen Laden eine Verkäuferin suche, da er doch zehn Stunden täglich geöffnet sei. Leider nicht; sie antwortete, dass zwei Ehepaare diesen Laden zusammen führen und sich die Arbeit teilen. Schade. Ein Zimmer wusste sie auch nicht.

    Es gibt hier viele kunsthandwerkliche Läden, die von Frauen geführt werden. Das Kunsthandwerk, Spitze, edle Stoffe, Spiegel, Glas, Goldschmiedearbeiten, trug lange zum Wohlstand Venedigs bei und tut es noch heute, da die venezianischen Werkstätten die alten Traditionen und überlieferten Techniken bis heute bewahren konnten. Zusätzlich entstanden modernere Handwerke, wie Vergoldungen, Restaurierungen von Möbeln, Maskenbau, Mosaiken, Herstellung von marmoriertem Papier. Die Tradition der Masken erlebte in den 80er Jahren eine Renaissance, als wieder begonnen wurde, den carnevale zu feiern. Die MaskenbauerInnen lassen sich von den Masken der Commedia dell‘Arte, aber auch aus alten Stichen und Gemälden inspirieren.

    Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, einen solchen Laden in Venedig zu führen, würde mir das gefallen? Eine Zeitlang sicherlich, aber für länger? Immer im Laden sitzen und warten, dass Kundschaft kommt. Die meisten Läden sind sehr klein und gehen auf kleine, enge und dunkle Gassen. Feucht ist es wahrscheinlich auch, und im Winter sehr kalt. Auch in Siena, das ja viel weiter südlich liegt und nicht so feucht ist, standen die Verkäuferinnen im Winter mit Mantel und Handschuhen in den Läden. Ich glaube, auf die Dauer wäre es mir zu wenig Licht und Luft. Manchmal beneide ich die Menschen, die zufrieden sind, wenn sie ihren Laden führen. Wie dieser Mann, der in der Nähe von der Piazza San Marco, gegenüber von McDonalds, einen kleinen Schmuckladen führt.

    Er erzählte mir, er sei Venezianer, wohne aber schon seit langem mit seiner Familie auf dem Festland, weil die Wohnungen in Venedig zu teuer seien. Zum Glück hätte er seinen Laden hier. Er sei ein echter Venezianer und es gehe ihm nur gut in Venedig. Durch die Arbeit im Laden verbringt er praktisch den ganzen Tag hier, und er ist zufrieden und glücklich . Io sono un chiacchierone, ich plaudere gerne mit den Menschen, sagte er, und das kann er in seinem Laden tun. Die Lage ist gut, es kommen viele Leute, hauptsächlich Ausländer. Er fragte mich, wie es käme, dass so viele Deutsche italienisch sprächen. Er könne nur etwa zwanzig Wörter in anderen Sprachen, und damit habe er immer gute Geschäfte gemacht.

    Aufgefallen war mir der Laden, weil schöner Korallenschmuck im Schaufenster lag. Neben dem konventionell angefertigten aus Torre di Greco bei Neapel, der in fast allen Schmuckläden angeboten wird, gab es schöne Ketten, Ringe und Ohrringe aus roten Korallen, die mit altem Silber verarbeitet waren.

    Als ich wieder in der Pension angekommen war, lag eine Nachricht auf meinem Bett; ich solle dringend Elena anrufen. Ich hatte eine Stunde vorher versucht, sie zu erreichen und nur auf den Anrufbeantworter sprechen können. Wahrscheinlich hatte Peter angerufen; er hatte als einziger ihre Nummer. Ich war ganz allein in der Pension; die Signora war ausgegangen, und andere Gäste waren keine da. Mit einem Buch von Simone de Beauvoir, Sie kam und blieb, ging ich zu Bett. Es gefiel mir, dieses Buch. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es darin auch um mich ging. Darum, wie man die Tage verbringt, was sinnvoll ist im Leben, um Beziehungen, alles auch meine Themen.

    Mittwoch, 10. November 1999

    Um 9.00 Uhr heute Morgen rief Elena an, um mir die Nummer einer Frau zu geben, die ein Zimmer zu vermieten habe, direkt an der Accademia dei Belle Arti, unweit der Pension, in der ich im Augenblick wohnte. Das Zimmer sei ab sofort frei bis Ende Dezember. Sie habe gestern am Morgen angerufen, aber ich sei schon weg gewesen. Sie sagte, sie sei sehr zuversichtlich, alles habe gut geklungen, und das Zimmer sei nicht teuer. Es klang zu schön, um wahr zu sein, und ich befürchtete einen Haken, rief jedoch sofort die Nummer an und verabredete mich mit der Vermieterin am Fuß der Brücke der Accademia. Sie sagte, sie müsse sich nur schnell umziehen, dann komme sie. Ich wartete also, zunehmend ungeduldiger, es war ziemlich kalt. Nach einer knappen halben Stunde kam endlich eine junge, hübsche Frau mit langen, dunkelblonden Haaren. Sie stellte sich vor: sono Anna.

    Wir gingen zusammen zur Wohnung, die praktisch um die Ecke von meiner Pension lag, in dem schönen alten Palazzo Balbi-Falier in der Calle Nuova San Agnese, direkt gegenüber meiner Bar. Durch ein großes Tor gelangten wir in einen offenen Innenhof, wo zwei große Bäume vor einem alten Brunnen standen. Dann ging es weiter in einen überbauten Durchgang, der nach hinten offen war und auf den Canale Grande ging, mit eigener Bootsanlegestelle. Ich fragte Anna, warum sie ausziehen wolle und sie sagte, sie wolle mit ihrem Freund zusammenziehen. Momentan wohne sie bei ihrer Tante. Später erzählte sie mir, dass sie dieses Jahr viel verreist gewesen sei; unter anderem verbrachte sie im Rahmen des ERASMUS-Austauschprogramms für Studierende vier Monate in Berlin, und dort habe es ihr sehr gut gefallen. Sie sowie die drei anderen Bewohnerinnen studierten Philosophie. Anna beklagte, dass Philosophie in Venedig sehr konservativ und eng sei. In Berlin habe sie ganz neue Einsichten gewonnen, unter anderem gab es dort auch feministische Philosophie, was ihr ganz besonders gut gefallen habe. Zum ersten Mal habe sie sich in ihrem Denken gesehen gefühlt. Hier vermisse sie das sehr. Sie wollte gerne eine Arbeit über weibliches Denken schreiben, hat aber Angst, dass der italienische Professor sie auslachen würde. Sie wirkte etwas niedergedrückt durch diese Situation. Eine Frau, die nachdenkt und sich doch in ihrem Denken nicht gesehen fühlt. Diese Gefühle kenne ich nur zu gut.

    Die Wohnung, in der das Zimmer zu vermieten ist, geht auf den Innenhof. Sie besteht aus zwei Stockwerken: ebenerdig liegen die große, leider fensterlose Küche, das Bad und zwei Zimmer. Dann geht es die Treppe hinauf in den ersten Stock, der aus einem großen Flur und zwei Zimmern besteht, von denen eines ein eigenes Bad hat Das Zimmer, das sie vermieten wollte, hatte nur etwa zehn Quadratmeter, war spärlich möbliert mit Bett, Regal, Schreibtisch, Sessel, Stuhl und kleinem, fahrbaren Tisch, kein Schrank; es sollte nur 380.000 Lire kosten plus spese, den Nebenkosten für Heizung, Strom und Wasser. Es hatte, ebenso wie das Treppenhaus, Parkettfußboden, weiß getünchte Wände und dicke Eichenbalken an der Decke. Ein großes Fenster schaute auf den Brunnen im Hof. Im oberen Flur gab es schöne alte Möbel und ein großes Schlafsofa sowie einen Fernsehapparat. Der Telefonanschluss schien fest in der Wand eingebaut zu sein und somit leider nicht für mein Notebook geeignet.

    Dieser Anschluss hatte sich inzwischen als großes Problem hier in Venedig herausgestellt. In den alten Häusern gab es häufig keinen modernen Telefonanschluss, bei dem der Stecker herausgezogen werden kann. Somit war es nicht möglich, das Notebook anzuschließen, abgesehen davon, dass mir niemand sagen konnte, welches Kabel ich brauchte.

    Auch in der Küche gab es schöne alte Schränke, die jedem großen Wohnzimmer Ehre machen würden. Sogar ein Gästebett gab es. Das Zimmer gefiel mir gut, und ich hätte es sofort genommen. Auch die jungen Frauen, die in der Wohnung wohnten, waren mir sympathisch. Das war eigentlich so ähnlich, wie ich es gesucht hatte. Natürlich gab es noch andere Interessentinnen für dieses Zimmer, und sie wollten sich nicht vor Dienstag kommender Woche entscheiden. Ich war sehr entmutigt; noch eine Woche in der Pension! Und ich befürchtete, dass sie eine junge Studentin vorziehen würden. Dazu kam noch, dass ich mich wegen der Wohnung auf dem Lido nachmittags mit der Anwältin treffen wollte, um den Vertrag zu besprechen. Ich sagte, ich müsse auf jeden Fall bis abends wissen, ob ich das Zimmer bekäme. Enttäuscht ging ich in die Pension zurück, sicher, dass es nichts werden würde. Ich wollte mich erst mal ausruhen.

    Kaum war ich in meinem Zimmer, als das Telefon läutete; es war für mich. Eine Frau rief an und bot mir ein Zimmer in der Nähe des Campo S. Margherita an, für monatlich 500.000 Lire. Ich machte sofort einen Besichtigungstermin aus. Ora spuntano fuori meinte die Vermieterin. Ja, es tat sich was. Das Haus lag in der Nähe des Campo S. Barnaba, in einer dunklen, engen Gasse, im zweiten Stock. Die Vermieterin ließ mich hinein, gab mir die Hand und stellte mir einen Mann vor, der zu meiner Überraschung ihr Sohn war. Ich hatte ihn für ihren Mann gehalten. Die Wohnung bestand aus einem langen Flur, von dem etliche Türen in die verschiedenen Zimmer führten. Sie zeigte mir das Zimmer, das sie vermieten wollte und das früher ihrem Sohn gehört habe, als er noch hier wohnte. Es war ein ganz normales Eheschlafzimmer mit zwei Betten, die zu einem Doppelbett zusammengestellt waren, einem Waschtisch und einem großem Kleiderschrank, den sie zum Teil noch benutzte. Das Zimmer war nicht besonders hell. Sie bot mir an, eventuell das eine Bett zu entfernen, damit ich Platz für einen Schreibtisch bekäme. Während sie ununterbrochen redete, stand ihr Sohn stumm dabei und nickte nur. Im Zimmer gab es zahlreiche Bücher mit medizinischen Titeln und ich fragte, wer sie lese. Sie antwortete, ihr Sohn sei Arzt und es seien seine. In der Wohnung sei ein weiteres Zimmer, das auf den Kanal gehe, an einen Studenten vermietet, und das mir angebotene hätte vorher ein japanischer Student bewohnt. Sie wolle gerne wieder vermieten, um etwas dazu zu verdienen und damit sie die spese, die Nebenkosten, nicht alleine bezahlten musste. Aber sie wolle, obwohl es sich ja um ein Doppelzimmer handele, es nur als Einzelzimmer vermieten. In Italien ist es durchaus üblich, dass zwei StudentInnen jahrelang in einem Doppelzimmer wohnen. Die Wohnungsnot ist so groß und die Preise sind so hoch, dass viele sich nur das leisten können, wenn sie nicht überhaupt gleich bei den Eltern wohnen bleiben.

    Auf meine Frage, ob ich ein Notebook anschließen könne, sagte mir der Arzt-Sohn - erstaunlicherweise wusste er, was das ist - selbstverständlich könne man das momentan fest an der Wand installierte Telefon in ein aussteckbares umwandeln, das koste nur einen Anruf bei der Telecom ltalia. Beide waren recht nett, und dennoch hatte ich ein komisches Gefühl. Nachdem wir vereinbart hatten, dass ich morgen anrufen sollte, ging ich wieder, sicher, dass ich das Zimmer nicht nehmen würde. Schließlich gab es ja noch das Apartment auf dem Lido, mit dem ich mich immer mehr anfreundete. Ich stellte mir vor, wie ich am langen Strand des Lido spazieren gehen würde. Und wenn ich wollte, konnte ich mit dem vaporetto in dreißig Minuten nach Venedig fahren.

    Als ich die Vermieterin des Apartments auf dem Lido zur verabredeten Zeit anrief, war der Sohn am Telefon und sagte mir, seine Mutter habe leider ins Büro gemusst und komme vor 19.00 Uhr abends nicht zurück. Na bravo! Das hieße also, dass ich abends, falls Anna anrief, nicht sagen könnte, ob ich die Wohnung am Lido bekäme. Ich war hin­ und hergerissen. Die Wohnung am Lido war hell, sehr schön und am Meer, sie bot auch die Möglichkeit, Besuch zu bekommen, denn in dem Zimmer, das sie mir angeboten hatte, gab es noch ein zweites Bett. Ich stellte mir schon im Geiste ein paar Tage mit meinen Töchtern, Karin, Franka oder sogar mit David vor.... Das Zimmer hier war im Zentrum von Venedig, in einer sehr guten Lage, zusammen mit drei Italienerinnen. Von hier wäre es auch einfacher zu arbeiten.

    Ich hatte noch die Nummer einer Frau, die ein Miniapartment in der Nähe des Campo Santo Stefano zu vermieten hatte, für eine Million Lire pro Monat inklusive spese. Eigentlich wollte sie nur für ein Jahr vermieten, und auf meine Bitte hin hatte sie mir die Nummer ihrer Kusine gegeben. Diese vermiete auch für kurze Zeiträume. Nach mehreren Anrufen, bei denen anfangs nur die Putzfrau antwortete, sagte mir dann schließlich ihr Ehemann, momentan sei keine Wohnung verfügbar. Ich rief also nochmals die andere Vermieterin an und fragte, ob sie nicht doch eine Ausnahme machen könne, fünf Monate seien ja auch nicht zu kurz. Nachdem sie mir ein weiteres Mal erklärt hatte, dass sie nicht dauernd Anzeigen in die Zeitung setzen wolle, willigte sie schließlich doch ein, mir die Wohnung wenigstens zu zeigen. Sie lag in der Calle di Pestrin, einer ruhigen Seitenstraße des Campo S. Stefano. An einer Seite des Hauses fließt ein schmaler Kanal vorbei.

    Das Miniapartment war wirklich mini: nicht mehr als zwanzig Quadratmeter groß, bestehend aus einem Zimmer, das mit einem Doppelbett, einem Schrank und einer Kommode so vollgestellt war, dass man sich nicht rühren konnte, dazu eine Miniküche, ein Minibad, Fenster zum Kanal. Kein Telefon, kein Fernseher, keine Waschmaschine, keine Bettbezüge. Wer hält es dort bloß ein Jahr lang aus? Ich jedenfalls nicht. Sie bot mir an, mich in Erwägung zu ziehen, wenn die anderen, die auch auf ihre Anzeige geantwortet hatten und eventuell die Wohnung für ein Jahr mieten würden, absagten oder ihr nicht gefielen. Aber mir war schon klar, dass ich das Apartment nicht nehmen würde. Wo sollte ich nur mein müdes Haupt hinlegen, während ich in Venedig war? Enttäuscht verließ ich das Haus.

    Ich beschloss, ins Kino zu gehen und mir Notting Hill doch noch anzusehen. Es war ein romantischer Märchen-Film! Ich verstand zwar vieles nicht, aber die Bilder sprachen für sich. Eine wunderschöne Julia Roberts und erst Hugh Grant! Er ist der Typ Mann, der mir gefällt, und er ähnelt Peter. Eine schöne Geschichte mit viel Liebe, alles sehr englisch (brachte schöne Erinnerungen zurück), und sie spielt auch noch in einem Stadtteil von London, den ich zusammen mit Nora nur wenige Wochen vorher besucht hatte. Es tat mir richtig gut. Bevor ich ins Kino ging, hatte ich nochmals die Vermieterin der Wohnung auf dem Lido angerufen. Sie entschuldigte sich vielmals und sagte mir, dass die Vermietung momentan hinfällig sei, weil die andere Frau, eine Lehrerin aus Syrien, nicht in Venedig bleiben, sondern nach Rom gehen wollte. Mir allein wollte sie die Wohnung nicht geben, da ich nur bis März bleiben wolle. Sie hatte sie sowieso bis Juni 2000 vermieten wollen und würde einfach nochmals versuchen, für diese Zeit eine Wohngemeinschaft oder zumindest zwei Mieter zu finden. Und ich hatte mich schon auf den Lido gefreut!

    Als ich nach Hause kam, lag eine Notiz da mit einer Telefonnummer. Ich rief zurück und es meldete sich Anna, die mir das Zimmer im Palazzo Balbi-Falier zusagte, ich könne sofort einziehen.

    Donnerstag, 11. November 1999

    Gleich heute Morgen ging ich hin, um mir das Zimmer nochmals anzusehen. Die anderen StudentInnen waren überrascht, dass sich Anna so schnell entschieden hatte, ohne sie noch einmal zu fragen oder abzuwarten, was mit den anderen Interessentinnen sei. Ich hatte zuerst ein unsicheres Gefühl, aber es war trotzdem für sie in Ordnung. Also packte ich meine Sachen und bezahlte meine Rechnung in der Pension. Die Vermieterin beglückwünschte mich zu meinem Zimmer. Sie hatte vorher schon immer gesagt: Venezia e sempre Venezia. Sie ist Venezianerin und hat ihr ganzes Leben hier verbracht; Venezia ist ihre Stadt. Auf dem Lido zu wohnen käme für sie gar nicht in Frage.

    Ich hinterließ ihr meine Telefonnummer, falls jemand für mich anrufen sollte und verabschiedete mich. Der Umzug war einfach, es waren ja nur ein paar Schritte, so dass ich nicht alles auf einmal zu tragen brauchte. Im Zimmer stellte sich heraus, dass es keine Decke und kein Bettzeug gab. Auch wollte Anna die Miete für den ganzen November, obwohl es schon der 11. war. Ein bisschen sauer willigte ich ein, dennoch froh, ein einigermaßen billiges Zimmer in einer Wohngemeinschaft direkt am Canale Grande und in einem bevorzugten Teil von Venedig bekommen zu haben.

    Nun hatte ich es in einen alten palazzo am Canale Grande in Venedig geschafft! Ich wohnte an einem Ort, von dem viele Menschen ihr Leben lang träumen! Nachdem ich mich etwas eingerichtet hatte, machte ich mich auf den Weg, um Bettzeug zu kaufen. Dazu fuhr ich in ein centro commerciale auf dem Festland; in Venedig ist alles viel zu teuer. Ich nahm den kostenlosen Bus ab Piazzale Roma und fuhr nach Marcon. Dort fand ich eine in verschiedenen Blautönen karierte große Steppdecke sowie mit rosa Rosen versehenes Bettzeug, Mode der fünfziger Jahre, bestehend aus einem Spannbetttuch, einem Kopfkissenbezug und einem Laken, das man hier unter die Bettdecke legt. In Italien gibt es normalerweise keine Bettbezüge wie in Deutschland. Man deckt sich mit einem großen Laken zu, über das eine Steppdecke oder auch nur eine Wolldecke gelegt wird. Letztes Jahr in Siena gab es nur Wolldecken. Als es kalt wurde, hatte ich vier Schichten Wolldecken auf mir liegen, aber ich fror zum ersten Mal in meinem Leben in meinem Bett und dachte über die Frage nach, was besser wärmt: ein Mann oder eine Wärmflasche. Ich las gerade den Reiseführer Australien der Frauen, und eine australische Dichterin hatte in ihrem Gedicht eine deutliche Antwort gegeben: eine Wärmflasche. So ganz sicher war ich da nicht.

    Ich kaufte auch ein paar Lebensmittel, um mir eine richtig schöne Mahlzeit zu kochen. Ich wollte pasta essen! Es war schon dunkel, als ich, müde vom Einkaufen, Warten und Schleppen, durchgefroren vom Fahren auf dem vaporetto, in meinem neuen Zuhause ankam. Endlich konnte ich selber kochen. Nach einem wunderbaren Essen und einem gemeinsamen prosecco mit den anderen als Einstand ging ich früh zu Bett, zum ersten Mal einigermaßen zufrieden in Venedig. Ich schlief auch zum ersten Mal gut und ohne aufzuwachen.

    Freitag, 12. November 1999

    Heute blieb ich lange im Bett und genoss mein neues Leben. Gestern hatte ich jede Menge pasta, gnocchi, Gemüse und pesto gekauft und hatte gnocchi mit pesto gegessen, und es hatte mir vorzüglich geschmeckt. Jetzt lag

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