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Gottes unsichtbare Armee
Gottes unsichtbare Armee
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Gottes unsichtbare Armee

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About this ebook

Ist es vorstellbar, dass intelligente Viren das menschliche Gehirn bereits seit Jahrtausenden beeinflussen?
Während der bekannte Schriftsteller und Biologe Paul Calastana an seinem neuen Roman arbeitet, verdichten sich die Hinweise, dass ein heimtückisches, intelligent handelndes Virus für die weltweit zunehmende Anzahl der absonderlichen Vorfälle verantwortlich sein könnte. Nur wenige Eingeweihte nehmen den Kampf gegen den unsichtbaren Feind auf, der die Infizierten zu Angepassten umfunktionieren will. Als eines Tages zwei Personen aus Calastanas Umfeld als vermisst gemeldet werden, ermittelt ein Beamter der Hamburger Polizei auf eigene Faust. Was er entdeckt, bringt ihn bis an die Grenzen seiner Vorstellungskraft. Und darüber hinaus …
LanguageDeutsch
Release dateMar 30, 2015
ISBN9783738697506
Gottes unsichtbare Armee
Author

Gerald Gräf

Gerald Gräf, Jahrgang 1957, lebt in einer kleinen Ortschaft am Rande Hamburgs. Neben zwei autobiografischen Werken, "Die Liquor-Strategie" und "Wo bitte gehts denn hier zum Leben?" (Letzteres zusammen mit seiner Partnerin Iris Lewe) veröffentlichte der Autor bisher folgende Bücher: "Der Schatten von Apophis" Mystery-Science-Fiction-Roman, "Gottes unsichtbare Armee" Thriller, "Der Modellbauer" Thriller, "Der Pakt des Terroristen" Thriller. In dem vorliegenden Buch "Der Albtraummörder" verfolgt ein alternder Killer einen perfiden Plan. Nicht die Opfer sind das Ziel seiner Begierde, sondern die Augenzeugen ... und deren zukünftige Kinder.

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    Gottes unsichtbare Armee - Gerald Gräf

    MODELLBAUER

    1. Kapitel

    DIE MISSION

    Römische Provinz Galiläa, 13 nach Christi Geburt

    Das Reich Gottes…, der Junge aus Nazareth konnte es sehen. Er streckte den Arm danach aus, atmete die reine, unberührte Luft und sog den Geruch der paradiesischen Gärten in sich ein. Nur ein kleiner Schritt noch, dann…

    Das Bild verblasste.

    Verwirrung, Panik, und Schmerz. Todesangst…

    Kinderaugen, weit geöffnet, die ruhelos suchten. Niemand, der sich tröstend ihrer annahm. So oft es ging, umsorgte einer der Seinen den Erkrankten, doch das Tagewerk nahm alle in Anspruch, von Sonnenaufgang bis zur Dämmerung.

    Zäh fließender, gelblicher Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel. Er benetzte den staubigen Boden der Höhle mit einem Gebilde aus feucht glänzenden Linien und Punkten. Schweiß und Tränenflüssigkeit gesellten sich hinzu und vermengten die unfreiwillig ausgeschiedenen Absonderungen zu einer wachsenden Lache, auf deren Oberfläche sich das erschöpfte Gesicht des Jungen spiegelte. Stille erfüllte den Raum. Nur der rasselnde Atem des Kindes ließ das spärliche Licht der kleinen Öllampe zuckend hin und her flammen, sodass seltsam anmutende Schattenspiele an die karge Höhlenwand der Behausung projiziert wurden.

    Der Junge aus Nazareth war krank.

    Bereits seit Wochen wurde sein kleiner, schmächtiger Körper von Fieberattacken und Schmerzen gequält. Überall in der Siedlung waren Männer, Frauen und auch Kinder erkrankt; er hatte es aus den Gesprächen seiner Eltern herausgehört. Manchmal saß auch einer seiner älteren Brüder an der Schlafstelle und erzählte ihm von den Geschehnissen, die in jener Zeit die Menschen von Galiläa beunruhigten. Manche der Erkrankten starben, andere taten absonderliche Dinge, die in den Augen der römischen Besatzer stets als Widerstand gewertet und hart bestraft wurden. Nicht nur Palästina war seit vielen Monden von den Römern besetzt; das Imperium erstreckte sich um das gesamte Mittelmeer herum. Der Statthalter Roms verwaltete das Land mit harter Hand. Das Volk Palästinas litt unter den Besatzern; Abgaben und Steuern wurden ständig erhöht, jedes Fehlverhalten wurde umgehend bestraft.

    Die Bevölkerung der Region musste in Armut leben, während die dekadente römische Obrigkeit ein allzeit ausschweifendes Leben in Reichtum und Luxus genoss. Jeglicher Widerstand wurde von den im Lande stationierten Soldaten erbarmungslos im Keim erstickt.

    Der Junge aus Nazareth war noch jungen Alters, doch sein Geist war der eines Erwachsenen. Er war wissbegierig und klug, gleichwohl kannte er nur die Welt um sich herum. So musste es wohl recht sein, dass sein Volk unter der römischen Instanz in Knechtschaft und Abhängigkeit lebte. Hunger und Elend, Krankheit, Tod und Bestrafung waren offenbar nicht zu ändernde Dinge, die das Leben vieler galiläischer Juden in der römischen Provinz prägten. Erst als seine Mutter ihn eines Tages zu dem Tempel ihres Gottes mitnahm, kamen ihm erste Zweifel. Bereits kurz nach Betreten des heiligen Ortes empfand er diese Gewissheit, ein seltsames Gefühl der Richtigkeit. Dieser Tempel hier war sein Ort, hier war er… angekommen. Es war ein Platz der Ruhe, der Besonnenheit, ein Platz für Gebete und Meditation. Er fühlte eine tiefe Kraft, eine spirituelle Energie, die in seinen noch jungen Geist eindrang und seine Gedanken beflügelte. In diesem Moment erkannte er, dass die Welt der Menschen nicht immer so bleiben musste, wie sie war. Es war der Weg der Veränderungen, den sie beschreiten mussten. Der Weg des Glaubens an eine bessere Welt. Und an die Welt der Taten. Ohne die richtigen Taten gäbe es keine Veränderungen.

    Der Junge aus Nazareth wäre gern öfter in den Tempel jenes einen Gottes gegangen, doch seine Zeit war noch nicht gekommen. Im Innenhof der Synagoge hatte er zusammen mit den anderen Jungen aus der Siedlung lesen und schreiben gelernt, hatte die alten Texte seiner Vorfahren gelesen und die Tora studiert. Er hatte die Pharisäer und ihre strengen Rituale kennengelernt. Mehrmals am Tage hatten sie die Gebete gesprochen, das hebräische Alphabet gelernt und alles über die religiösen Feste seines Volkes erfahren, dennoch waren sie alle nur der geringe Teil eines großen, göttlichen Planes. Er war ein Kind, eingebunden in die täglichen Verpflichtungen, die er seinem Familienclan gegenüber innehatte. Gehorsam musste seine Hand dem Vater, der als Zimmermann in Nazareth bekannt und geschätzt die Hölzer bearbeitete, zur Hilfe gehen. Der Tag war angehäuft von Arbeit. Das Vieh, die Weinstöcke, die Olivenbäume, der Anbau des Getreides und die Zubereitung der Speisen; jede Hand wurde gebraucht, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Auch das Wasser hatte seine Launen. Das Wadi – ein ausgetrockneter Flusslauf – führte nur nach starken Regenfällen das nasse Gut, und die Regenwasserzisterne im Innenhof des Hauses, das früher lediglich eine Höhle im nackten Felsen gewesen war, speicherte nur wenig Wasser.

    Die Gaben der Natur waren schwerlich zu erlangen, doch mit dem rechten Geschick konnte sein Volk der Arbeit Früchte einhertragen. Mit wenig Nutzen, wie sich herausstellte, denn die Römer verlangten von Jahr zu Jahr immer höhere Steuern und Abgaben.

    Sie waren lediglich Leibeigene, abhängig von den Launen ihrer Beherrscher. Doch das Reich Gottes dürstete nach Freiheit. Der Junge sah Aufstände und Unruhen, Kampf und Gewalt. Auch die Zeloten erhoben sich, um der Drangsalierung ein Ende zu bereiten, doch die Römer schlugen alle Aufstände blutig nieder, und nicht wenige der sich auflehnenden Landsleute wurden an das Kreuz geschlagen. Selbst die Einigkeit unter seinesgleichen war nur ein berauschender Traum; Zerrissenheit, Streit und Zwietracht durchzogen das Land wie schäumende Flüsse. In Jafa und Sepphoris hatte er seinem Vater oft bei der Arbeit geholfen und all die Widersprüche bemerkt. Juden und Samariter, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Hebräer, Griechen und Römer; viele Kulturen und unterschiedlichste Interessen. Ob es je einen dauerhaften Frieden zwischen den Menschen geben würde? Viele warteten auf den Einen, den, den sie den Messias nannten. Er wäre der Gesalbte, der Heilsbringer, der Erlöser, der Überbringer der Endzeit, und würde alles verändern. Das Reich Gottes würde verkündet werden, für alle Zeiten. Es war eine Hoffnung, doch wann würde er endlich am Horizont erscheinen? Wer würde es sein? Jemand aus seinem Dorf? Ein Mensch aus Fleisch und Blut?

    Der Junge dachte viel darüber nach, weitaus mehr als alle anderen Jungen in seinem Alter. Die Erwachsenen wunderten sich über sein Wissen und seine Fähigkeiten, und es schien ihnen, als wäre er ein Außenseiter, ein Sonderling, doch er fügte sich ein in das Leben im Dorfe. Mit Geduld und demütiger Ruhe. Er wusste, dass nur ein Stück des Ganzen das Ganze begreifen und neu gestalten könnte.

    Und nun waren so viele seines Volkes der schleichenden Pestilenz verfallen. Ein Teil der Arbeit blieb liegen; viele Gebete waren von Nöten. Auch zwei seiner Sippe waren erkrankt, ein Verwandter bereits im Reiche Gottes. In wenigen Wochen war der Rosch ha-Schana, doch die Vorbereitungen für das besinnende Neujahrsfest lagen brach wie die Weizenfelder in der Mittagssonne. Das Elend war groß und niemand wusste Rat, auch die Ältesten nicht.

    Der Junge aus Nazareth war krank. Nicht zum ersten Mal in seinem Leben, doch soweit er sich erinnern konnte, waren die Beschwerden zumeist nur von kurzer Dauer und kaum vergleichbarer Intensität gewesen. Er hatte gesehen, dass auch andere Kinder in der Siedlung manchmal krank waren, sodass sie die Häuser nicht verlassen konnten. Oft hatten sie die gleichen Zeichen der Krankheit und dieselben Leiden am Körper und im Geiste, so wie er selbst.

    So war es diesmal nicht.

    Er wusste nicht, wie die Anderen die Erscheinungen empfanden, oder ob sie überhaupt welche hatten, doch nie zuvor hatte sein fiebernder Geist so viele wundersame Dinge gesehen. Es konnten wohl nur Träume sein, dachte er verwirrt, doch derartige Träume hatte er bisher noch nie geträumt. Seit Tagen bereits erschienen ihm diese sonderbaren Visionen, auch dann, so meinte er sich zu erinnern, wenn er gar nicht schlief.

    Da waren Punkte, Muster und Farben. Sie schienen ein Gebilde zu formen, ein Horizont voller zuckender Sterne, die wie ein Tier springen und wie ein Mensch erzählen konnten. Und immer war da Bewegung. Vergehende und sich neu bildende Kristalle, farbige Strukturen von fremdartiger Schönheit. Sein Geist kannte keine Worte für das Gesehene, dennoch konnte er das Mensch-Tier-Wesen verstehen. Es sprach mit makellosem Wissen, das sich wie ein reich verzierter Teppich in seinem Geist ausbreitete. Es war das Wissen aller funkelnden Gestirne am Himmel, das Wissen vieler Dekaden der gewesenen Zeit. Das Muster bildete Speicher vergangener Erfahrungen, Strategien der Gegenwart und Modelle zukünftiger Erwartungen. Er sah das Bild des Tieres in seiner Gänze: seine Verästelungen, die Gabe des Reisens, der Wunsch nach Befriedung, die Verborgenheit und die geradezu verblüffende Einfachheit seiner kleinsten Teile. Er sah in die Vergangenheit und erkannte den allumfassenden Plan des Tieres, seine wachsenden Fähigkeiten und die unvorstellbare Größe. Das Wissen strömte wie ein unbändiger Fluss in ihn hinein, überflutete seinen Geist und durchschwemmte alle Fasern seines kleinen Körpers. Es schien ihn zu zerbersten, doch er widerstand.

    Ein Verdacht kam in ihm auf.

    Dies war nicht die Vorhersehung, so wie sie sein sollte. Dies war nicht des Erkranken Lauf der Dinge. Aus irgendeinem Grund widerstand er, vereinte sich mit dem Muster des Tieres, wurde zu dem Tier. Es ließ ihn teilhaben am reichen Schatz seiner Erhabenheit. Wie einen Auserwählten, einen Verbündeten.

    Doch warum?

    Das Tier war nicht der Gott, zu dem sie beteten und den sie verehrten. Der eine allwissende Gott, sein angebeteter Schöpfer aller Dinge, hätte sich ihm zu erkennen gegeben, sich offenbart. Doch was war es dann? War es ein Werkzeug Gottes? Vielleicht der Messias in einer anderen Gestalt, in einem fremdartigen Gewand? Doch dieses Wissen, diese Existenz war so fern jeglich menschlichen Daseins, dass nichts davon ihrem Glauben an Gott entsprach. Nicht ihrem Glauben und nicht ihrem Wissen von der Welt und von dem Himmel. Vielleicht würde er wieder gesund werden, vielleicht würde dieser Schatz des fremden Wissens in ihm verbleiben, dann wäre er wahrlich ein Auserwählter. Jemand, der in dem See des Wissens baden darf, der aber trockenen Fußes das Land betreten kann. Jemand, der die Fremdartigkeit in sich trägt, der aber unter Seinesgleichen bleibt. Vielleicht jemand, der eines Tages das unbeschreibliche Tier begreifen kann, es mit den Gedanken dieser Welt verknüpfen und daraus lernen kann. Dann wäre dieses Wissen möglicherweise die ganze Wahrheit und die reine Liebe, so wie es vorhergesagt wurde. Dann wäre das gesamte Universum wie ein Teppich aus Diamanten, gewebt mit dem Webstuhl des Glaubens.

    Der Junge aus Nazareth war krank, doch irgendwann hatte er das Tal der Qual durchschritten. Er gehörte zu den Überlebenden, er wurde gesund. Die berauschenden Erfahrungen seiner Visionen verblassten nicht, im Gegenteil. Sie wurden ein Teil in ihm, ein unerschöpflicher Quell sprudelnder Muster, die ihm Türen und Tore öffneten. Inspirationen und Eingebungen, fernes Wissen und erkannte Zusammenhänge, gelassene Weisheit und aggressive Überzeugung, Gefühle, Andeutungen und Erkenntnisse.

    Nur eines konnte er nicht erkennen: war sie gewollt, diese Teilhabe am Wissen des Tieres? War es Zufall oder Absicht? Ein Leck im Boote der Fremdartigkeit oder ein gezielter Pfeil der Erkenntnis? Und sollte es ihm, dem kleinen Jungen aus Nazareth, gelten, hatte dies einen Grund? Gab es eine Erwartung, eine Aufgabe, ein Ziel?

    Er würde Zeit brauchen. Niemand konnte an seinen Erlebnissen teilhaben, niemand würde ihn verstehen. Er würde es in sich verstecken – vorerst. Wie einen Schatz, der behütet und gepflegt werden wollte. Er musste lernen, damit umzugehen, es für seine Zwecke umzuformen. Vielleicht war der Schlüssel zum Verständnis wie eine neue Sprache, die er erst lernen musste. Konnte er sie dann irgendwann verstehen, würde er nicht nur sehen und wissen, sondern auch fragen und antworten können. Dann wäre das Tor zu den Sternen offen, der Zugang zu neuen Erkenntnissen begehbar. Dann gäbe es keine Grenzen mehr, keine Beschränkungen. Alles wäre formbar, veränderbar. Vielleicht war dies der Grund für die Netze, die das Tier auswarf, dachte der Junge und versuchte, Einklang in die Welt seiner Gedanken zu bringen. Einklang mit dem Glauben an Gott und an Gottes Werk. Dieses Leben war so klein, so unbedeutend im Vergleich zu all den fantastischen Dingen, die er durch die Augen des Tieres gesehen hatte. Vielleicht musste alles viel langfristiger gedacht werden; ein Menschenleben war viel zu kurz für grundlegende, nachhaltige Veränderungen.

    Vielleicht war dies der Anfang einer Mission.

    Seiner Mission.Und all die Anderen, würde es bei ihnen auch so sein, oder war er der Einzige? Er schob den Gedanken daran beiseite. Wenn es so sein sollte, würde er es herausfinden. Er musste warten, die Zeit würde es an den Tag bringen. Irgendwann hätte er die Zeichen der Offenbarung erkannt und alles gelernt, das es zu lernen gab. Irgendwann könnte er die Muster lesen und wüsste, ob es neben ihm noch andere gäbe, die in das Antlitz des Tieres geschaut hatten. Irgendwann könnte er das Wissen und den Glauben in sich vereinen. Wäre dieser Tag erreicht, würde seine Mission beginnen.

    Andere würden sich um ihn scharen, ihn verehren, ihm folgen und seine Gedanken mit sich tragen. Er konnte in die Zukunft sehen, konnte die Möglichkeiten erkennen, die ihm zuteil werden würden. Eine fantastische Welt offenbarte sich seinem kindlichen Geiste. Er sah Männer in bunten Gewändern, die ihn begleiteten. Berauscht vom Glauben gelobten sie, ohne Furcht um ihr Leben stark im Stand gegen alle Widrigkeiten dieser Welt zu kämpfen.

    Und er sah… eine Frau.

    Schön, wild, liebevoll, im Geiste klug wie keiner der Männer. Niemand erkannte ihre wahre Größe, doch ohne sie würden seine Visionen zerrinnen wie der Sand in der Wüste. Sie wäre die Spitze des Pfeiles, der Schatten des Wanderers. Wie das Wasser, das sein Antlitz spiegelte, so würde ihr Geist dem seinem hinzugefügt werden.

    Zusammen könnten sie die Welt verändern.

    2. Kapitel

    LEGENDE

    Los Angeles, USA, 1962

    Gedämpftes Licht. Verbrauchte, mit Alkohol und Parfüm geschwängerte Luft, die sich nebelartig in den Zimmern der eingeschossigen Villa ausgebreitet hatte. Die Fenster waren geschlossen, die Jalousien heruntergelassen.

    Sie war geflüchtet, hatte sich vergraben in die Welt ihrer Illusionen. Das Refugium der attraktiven Blondine glich einer Kapsel, einer Zeitmaschine, die es ihr ermöglichte, in ein anderes Leben zu reisen. Die Isolation war ihr Rettungsanker, die Einsamkeit ein verlässlicher Freund. Morgen vielleicht war das Alleinsein unerträglich, doch heute gab sie sich hin: diesem Gefühl, das sich irgendwo zwischen Selbstmitleid und Todessehnsucht bewegte.

    Sie füllte das Glas bis zum Rand. Wie immer zu diesem Zeitpunkt haderte sie mit ihrem Schicksal.

    Sie hatte nie ein Ticket erhalten, war nie wirklich eine Reisende auf den Schiffen des Lebens gewesen. Nur eine Galionsfigur, die von allen begafft wurde, ein Pin-up-Girl, dessen zerknittertes Bild in den Spinden der Arbeiter und Soldaten hing: Mehr war nicht im Angebot gewesen. Sie hatte die Bühne zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort betreten. Die guten Rollen waren alle besetzt. Die Äußerlichkeiten, die erotische Ausstrahlung waren ihr Kapital, doch die Bürde wog schwer. Wie ein Korsett aus Blei zwängte sie ihre Seele ein. Es war ein Fluch, dem sie sich nur schwerlich entziehen konnte.

    Ihr blieb nichts anderes übrig, als mitzuspielen, doch die Früchte ihrer Bemühungen waren wertlos. Es war ein ungleicher Kampf gegen Windmühlen; andere entschieden über ihr Schicksal. Ihre Ambitionen waren unerwünscht. Sie wurde auf das reduziert, was die Welt von ihr sehen wollte: ein Stück Fleisch, eine Erotik-Ikone, eine Sexgöttin, eine Frau, die nur den Bruchteil eines Wimpernschlages benötigte, um sich von einem lasziven Vamp in ein unschuldiges Kind zu verwandeln.

    Alles, was sie fühlte, war eine große Leere. Da war nichts, für das es sich zu leben gelohnt hatte.

    Reichtum, Ruhm, Glamour und Sex: Nichtigkeiten, die ihre Seele vergifteten. Sie hätte es ertragen können, hätte dem Spiel noch etwas abgewinnen können, wenn da etwas gewesen wäre, an dem sie sich hätte festhalten können.

    Doch da war nichts.

    Enttäuschungen, unbeantwortete Fragen, Ängste und die immerwährende Suche nach Liebe, sonst nichts.

    Sie setzte sich hin, nahm den Block in die Hand und fing an zu schreiben. Es war die beste Möglichkeit, sich auszudrücken. Es fiel ihr leicht, die Wörter zu finden. Das Geschriebene war ein Spiegelbild ihrer Seele. Ein geschützter Raum, in dem sie die Person sein durfte, von der sie immer geträumt hatte. Ein Kind, das geliebt wurde, eine Frau, vor der man Respekt hatte, ein Mensch, der nach seinen Leistungen beurteilt wurde.

    Ihr Schatz blieb behütet. Sie achtete penibel darauf, dass sich niemand unerlaubterweise ihren persönlichen Aufzeichnungen näherte, doch ein Teil ihrer Selbst konnte nicht verleugnen, dass die Sehnsucht nach Offenbarung einer ihrer großen Hoffnungen war. Nicht zu Lebzeiten, doch vielleicht würden zukünftige Generationen die Mechanismen dieser Gesellschaft verändern. Vielleicht würde man ihr Leben aus einer anderen Perspektive betrachten und ihr den Respekt zollen, den sie verdient hatte. Als Frau, als Künstlerin und als Mensch, dessen Preis für das Leben als Kunstfigur selten mehr als die Traurigkeit war.

    Vielleicht konnten ihre Texte überdauern, dann würden die Menschen erkennen, wer sie wirklich gewesen war. Sie würden nicht nur auf ihren Körper schauen, in ihr nicht nur das dumme Ding sehen, sondern erkennen, dass sie sich stets bemüht hatte, einen guten Job abzuliefern. Sie würden bemerken, dass diese Frau trotz aller Widrigkeiten eine intelligente, liebevolle, von Angst und Einsamkeit getriebene, komplizierte Person war, die immer auf der Suche nach aufrichtiger Liebe war.

    Fehler, rekapitulierte sie, so viele Fehler, mit denen sie sich immer tiefer in den Treibsand des Lebens gewunden hatte. Nuttige Kleidung, vulgäre Auftritte, Partys, falsche Beziehungen, Unzuverlässigkeiten, zu viele Tabletten und dieses elendige Lampenfieber.

    Ja, sie war kompliziert.

    Es gab nichts zu leugnen. Die Vorwürfe waren berechtigt.

    Waren sie das?

    Sie stand auf, ging mit dem Glas in der Hand in das Bad und schaute in den Spiegel. Sie musste lachen. Wer war dieses Spiegelbild? Eine schöne Frau? Eine Sexgöttin? Eine Witzfigur, die nie aus sich selbst heraus eine nennenswerte Leistung vollbracht hatte. Eine Person, mit der die Dinge immer nur geschehen waren.

    Sie sah ihrem Abglanz in die Augen. Welche Faszination ging von diesem Gesicht aus? Das platinblonde Haar, der Schmollmund, diese sinnlichen Augen, der Schönheitsfleck auf ihrer Wange: Ein hübsches, aber auch durchschnittliches Gesicht, dessen Schönheit sicher nicht einzigartig war.

    Oder vielleicht doch?

    Schöne Frauen gab es viele, doch die Welt wollte ihren Körper, ihr Gesicht sehen, nicht die ebenmäßige Perfektion der unzähligen Makellosen, die in jeder Hinsicht dem Frauenbild der heutigen Zeit entsprachen. Warum? Worin lag der Unterschied? Ihre Begabung war mittelmäßig, ihre Selbstsicherheit eine Katastrophe und ihre Launen legendär. Sie hatte nie wirklich verstanden, womit sie die Menschen begeistern konnte. Es musste eine Nuance sein, die sie von den Anderen unterschied. Eine minimale Abweichung von der Norm, die dafür sorgte, dass sie anders war als die Anderen. Eine Unstimmigkeit, in der das Geheimnis ihres Erfolges lag. Ausstrahlung, Charisma,diese erotische Aura, von der sie umgeben war: Es waren Erklärungen, die sich nur schwerlich mit Worten beschreiben ließen.

    Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Vielleicht war es auch diese Verruchtheit, die die Männer so an ihr liebten. Und wenn schon, dachte sie, es spielte ohnehin alles keine Rolle mehr. Irgendwann würde die Glut dieser Anziehungskraft erloschen sein. Die Zeit war knapp. Es wäre ein Fehler, zu lange zu warten. Sie hatte alles, was sie brauchte, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

    Jetzt…

    Sie leerte das Glas in einem Zuge und warf es schwungvoll in die Badewanne. Zahllose Splitter verteilten sich auf der weißen Emaille. Während sie das Badezimmer verließ, klingelte das Telefon.

    3. Kapitel

    ELYSIUM

    Römische Provinz Galiläa, 31 nach Christi Geburt

    Bewegung…, ein Muster voller Punkte, ein sich nähernder Horizont. Tausende von Farben, pulsierender Reflexionen, ein Tor in die Ewigkeit, sich öffnende Kaskaden an Informationen, unendliches Wissen.

    Das Ende der Mission? Seiner Mission?

    Sollte es hier enden?

    Der Mann aus Nazareth litt unsagbare Qualen. Tiefe Wunden durchzogen seinen geschundenen Körper, die Haut an seinem Rücken hing in Fetzen. Nägel in seinen Handgelenken und den Füßen hielten seinen Leib am Holze; eine Dornenkrone zierte sein blutiges Haupt. Ein langer Todeskampf, ein langsames Sterben. Die Römer ergötzten sich an seinen Qualen, so wie sie sich bei ihren Trinkgelagen am Wein berauschten, doch jede Faser seiner selbst sehnte sich nur nach einem: dem raschen Tod.

    Sehenden Auges hatte er den Weg Gottes gewählt, sich den Peinigern seines Volkes entgegengestellt. Die Verkündung seiner Worte hatte den Menschen Erlösung versprochen. Sie hatten erkannt, dass er derjenige war, auf den sie seit langer Zeit gewartet hatten. Der Messias, der das Reich Gottes verkünden würde. Alle Hoffnungen der Menschen hatten auf seinen Schultern geruht. Er hatte die Last getragen. Ohne Angst, ohne Kalkül, ohne das Wissen um die Dinge, die geschehen würden.

    Er hatte versagt!

    Allzu leichtfertig hatte er seine Gabe wie einen Schild vor sich hergetragen, als dass sie ihn immerfort schützen würde. Diese so wunderbare, alles umfassende Gabe des Wissens, die ihm zuteil geworden war von dem Einen, der selbst allwissend ist. Er hatte darauf vertraut, dass sein Gott ihm zur Seite stehen würde. Wunder waren geschehen. Sie würden immer geschehen, ihm Sicherheit geben, seine Stärke demonstrieren. Sie würden dafür bürgen, dass er seine Mission beenden könnte. Dies war sein Glaube gewesen, in dessen Schatten er sich in Sicherheit gewähnt hatte.

    Doch es war anders gekommen.

    Er hatte einen mächtigen Verbündeten gehabt. Vielleicht den Mächtigsten überhaupt. Das Gebilde, das wie ein Tier springen und wie ein Mensch erzählen konnte, war allezeit in seinem Geiste gewesen. Er hatte zahllose Dinge erfahren, er hatte das Wissen gesehen und Zusammenhänge erkannt, von denen selbst die größten Gelehrten nichts ahnten. Das Gebilde – die Gabe – war wie ein Werkzeug gewesen, das Gott ihm zur Verfügung gestellt hatte. Er konnte sich seiner bedienen, es benutzen, von ihm profitieren.

    Er konnte lernen, Zusammenhänge erkennen, sich in Andere hineinversetzten.

    Die Dinge waren so eindeutig. Warum hatte er es so weit kommen lassen? War es nicht naiv gewesen zu glauben, dass man ihn verschonen würde? War es nicht nur eine Frage der Zeit gewesen, bis seine Reise enden würde?

    Der Schmerz, das Leid beraubte ihn der Möglichkeit, einen Blick in sein Innerstes zu werfen. Er konnte nicht überleben, aber auch das ersehnte Sterben blieb ihm verwehrt.

    Wer war ich, dass ich nicht erkennen konnte, dass mein Scheitern unumgänglich war?

    Der Mann aus Nazareth flehte um Erlösung. Unvorstellbare Qualen folterten seinen geschundenen Körper. Er hob sein Haupt und schrie. Es war der Schrei eines Mannes, den nur der Tod noch besänftigen konnte.

    Dann geschah es…

    Eine nebelartige Substanz Überflutete seinen Geist. Die Dunkelheit war zum Greifen nah, doch plötzlich und unerwartet sah er das Gebilde, dieses so sonderbare Tier in seinem gepeinigten Geiste vor sich. Nur ein kleiner Schritt noch, dann…

    Die Erde bebte…

    Schreie, Panik. Umherlaufende Menschen, die voller Angst das Weite suchten. Ein chaotisches Spektakel voller Furcht, das die Menschen auseinander trieb. Umstürzende Ochsenkarren, Waren, die ziellos über die gepflasterten Wege polterten, Geröll, das von den Hängen herunterstürzte, Staub, der wie der Schleier einer ägyptischen Tänzerin die Sicht in die Ferne versperrte.

    Der Zorn Gottes? Die Strafe für einen gottlosen Akt der Barbarei an seinem fleischgewordenen Sohn?

    Unbeeindruckt beobachteten die römischen Soldaten das furiose Geschehen. Sie waren die Herren dieser Welt. Ihre Götter thronten über all den bedeutungslosen Götzen, die von den Bewohnern ihrer Provinzen angebetet wurden. Sie kannten keine Angst. Ihr Erfolg gründete auf der bedingungslosen Gefolgschaft, bis hin vor die Tore des Elysiums, durch welches sie nach ihrem Tode in das Reich der Glückseligkeit schritten.

    Die Leiden des Mannes aus Nazareth neigten sich seinem Ende. Der Körper wurde zum Ballast, ein stetiger Quell aus Schmerz und ohnmächtiger Verzweiflung.

    Er trennte sich von ihm.

    Das Gebilde nahm ihn auf. Es vereinigte sich mit ihm, doch sein Muster blieb erhalten. Er wurde aufbewahrt, in Sicherheit geleitet. Seine Teile wurden der schier unerschöpflichen Macht des Gebildes hinzugefügt. Es sprach zu ihm, ließ ihm an dem Wissen um das, was geschehen würde, teilhaben. Er würde das Gebilde zu einem späteren Zeitpunkt kurzzeitig verlassen können, um seine Mission zu beenden, doch dann würde er endgültig an den Ort seiner Bestimmung zurückkehren. Es hatte ihn von seinen Qualen erlöst, hatte seinem Geist, dem Muster seiner Persönlichkeit, eine neue Bleibe zuteil werden lassen. Er würde es bereichern, so wie es seit endlosen Zeiten geschah. Es wuchs, nahm in sich auf, entwickelte sich. Es besiedelte neue Arten, hauchte ihnen den Funken der Erkenntnis ein, ließ sie wachsen im Gefüge der evolutionären Entwicklung und gewährte ihnen einen Platz im Kreise der Selbsterkenntnis. Manchmal tötete es seine Wirte oder gewährte ihnen einen außergewöhnlichen Platz in der Geschichte dieses Universums. So wie es bei ihm geschehen war.

    Seine Absichten blieben im Verborgenen.

    Der Leib des Mannes aus Nazareth hing leblos an dem groben Holze seiner Geißelung. Zum Leidwesen der Römer, denn es war ihr Bestreben gewesen, den Feind zu demütigen, ihn abzuschrecken. All diejenigen, die der Vollstreckung beiwohnten, sollten sehenden Auges gewarnt sein, sich nicht der Willkür ihrer römischen Besatzer entgegenzustellen. Die Kunde würde sich verbreiten. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind sollte die Wahrheit erkennen: Der Tod war kein gnädiger Erlöser, kein schneller Helfer für den Einzug in das Paradies. Sie zahlten einen hohen Preis für ihren verklärten Glauben an einen falschen Gott, der über allem stehen sollte. Ein tagelanger Todeskampf war die Antwort der römischen Besatzer.

    Qualen, Schmerzen und Erniedrigung.

    Das Leid dieses Mannes, der sich der Messias genannt hatte, war ungewöhnlich schnell gewichen. Der Tod hatte seinen Körper zu einem Zeitpunkt erlöst, der den Römern missfiel, doch nun waren sie machtlos und voller Zorn. Noch erkannten sie nicht, dass dieser so ungewöhnlich erscheinende Mann die Fundamente ihres Weltreiches ins Wanken bringen würde.

    Viele Jahre würden vergehen, doch die Steine für das Haus jenes Gottes, für den der Mann aus Nazareth gepredigt hatte, waren bereitgestellt.

    Ein neues Zeitalter bahnte sich seinen Weg.

    4. Kapitel

    DER AUTOR

    Hamburg, Deutschland, irgendwann im Jahr 2007

    Sie war fort, gegangen vor über zwei Jahren. Was soll's, erkannte ich, diese eigentümliche Angst vor der Einsamkeit, die anfangs einer meiner ständigen Begleiter gewesen war, musste sich mit mir arrangieren.

    Ich hatte noch andere Begleiter. Solche, die bereits an meiner Seite standen, als Susanne noch bei mir wohnte, und solche, die an meine Tür klopften, nachdem sie ihre Habseligkeiten aus dem Haus geschafft hatte. Acht Jahre konnte sie mich beobachten, hatte meine Begleiter studiert und sich für uns aufgeopfert.

    Dann ging es nicht mehr.

    So hatte sie sich ausgedrückt, es mir verständlich gemacht, mich behutsam auf den Tag, an dem es geschehen sollte, vorbereitet.

    Ich werde dich verlassen, Paul Calastana.

    Na und!

    Seit zwei Jahren wohnte sie in Altona, einem Bezirk am anderen Ende der Stadt. In dreißig Minuten wäre ich dort, doch was sollte ich ihr sagen? Dass es mir leid tat, dass ich sie immer noch liebte oder dass ich erst seit ihrer übereilten Flucht Über diese Inspirationen verfügte, die ich so maßlos vermisst hatte?

    Wenn ich heute in den Spiegel blicke, sehe ich einen 54-jährigen, ergrauten Roman-Autor, der mit seinen markanten, eckigen Gesichtszügen und diesen leuchtend blauen Augen deutlich jünger aussieht. Na gut, dachte ich selbstkritisch, wie bei den meisten in meinem Alter war die Figur etwas aus dem Leim geraten, doch die Spuren eines nicht gerade asketischen Lebenswandels hielten sich in überschaubaren Grenzen, sodass sich dem Betrachter ein durchaus respektables Gesamterscheinungsbild präsentierte. Es fiel mir schwer zu glauben, dass sich eine so intelligente Frau, wie Susanne sie zweifelsohne war, der Faszination des Erfolges auf derart radikale Weise entziehen konnte.

    Sei's drum, überlegte ich, wenn ich wollte, hätte ich schnell eine andere Frau an meiner Seite gehabt. Erfolg weckt Begehrlichkeiten und macht sexy; dies gilt umso mehr, wenn es eine schriftstellerische Leistung ist,

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