Zahlen und Zeilen oder das blaue Pferd: Mathematik und Lyrik im Gespräch
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Hier geschieht gerade dies. Einem kurzen mathematischen Text steht jeweils ein Gedicht gegenüber, das wesentliche Aspekte der mathematischen Aussage in der ihm eigenen Welt spiegelt, hinterfragt oder ergänzt. Dem Reichtum mathematischer
Themen entspricht auf der Lyrikseite eine gleichermaßen farbige Vielfalt von Formen und Inhalten. Die Bezüge zwischen den mathematischen Texten und ihren Partnergedichten erschließen sich in vielen Fällen sofort. Verborgene oder rätselhafte fordern die Phantasie heraus. Um die Texte zu verstehen, bedarf es
nicht besonderer mathematischer Kenntnisse, öfter jedoch einer gefestigten Vertrautheit mit der mathematischen Denkweise.
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Zahlen und Zeilen oder das blaue Pferd - Heinz-Dieter Ebbinghaus
(1907–1972)
Das Kugelparadoxon
Das Kugelparadoxon von Stefan Banach und Alfred Tarski (1924) gehört zu den erstaunlichsten Resultaten der Mathematik: Eine Kugel vom Radius r läßt sich so in endlich viele Teile zerlegen, daß man aus diesen Teilen zwei volle Kugeln vom gleichen Radius r zusammensetzen kann. Nach Raphael Robinson (1947) gibt es paradoxe Zerlegungen dieser Art, die aus nur fünf Teilen bestehen.
Der Beweis des Kugelparadoxons gibt keinen Hinweis darauf, wie die Teile aussehen könnten. Er ist, wie man sagt, ein reiner Existenzbeweis. Seine Eigenart hat ihren Grund darin, daß er wesentlich das Auswahlaxiom benutzt, ein Axiom, das wegen seiner Abstraktheit in der Mathematik lange umstritten war.
Da sich Volumina von Teilen beim Zusammensetzen addieren, müssen einige Teile einer paradoxen Zerlegung der Kugel so zerfasert
sein, daß sie kein Volumen haben. Selbst wenn sie aus Gold bestünden, hätten sie kein Gewicht. Träume, durch paradoxe Zerlegungen einer Goldkugel reich zu werden, lassen sich nicht erfüllen.
Das Kugelparadoxon besitzt eine gleichermaßen erstaunliche Verallgemeinerung: Es seien K und K' Punktmengen des dreidimensionalen Raumes, die eine endliche Ausdehnung haben und eine — wenn auch noch so kleine — Kugel umfassen; z. B. sei K ein Körper von der Gestalt einer Rosenknospe oder eines Spinnennetzes und K' ein Körper von der Gestalt des Freiburger Münsters oder gar der gesamten Milchstraße. Dann läßt sich K in endlich viele Teile zerlegen, aus denen man K' zusammensetzen kann.
Unter einem Apfelbaum
Ein rosenfarbner Frühlingsschaum
gelegt in knorrig schwarze Äste.
Sieh jene Blüte dort
an jenem Zweig:
sie birgt in sich
den ganzen Blütenhimmel,
und dieser, ohne sie,
bleibt ganz sich gleich.
Der Goldene Schnitt
Der Punkt C der Strecke AB teilt AB im Goldenen Schnitt, wenn sich die Länge a der Strecke AB zur Länge b des größeren Abschnitts AC wie b zur Länge c des kleineren Abschnitts CB verhält, wenn also b das geometrische Mittel von a und c ist:
Die Zeichnung deutet an, wie man C (über die Punkte B' und C') mit Zirkel und Lineal gewinnen kann.
Der von der Strecke AB ≈ 1, 618.
≈ 1, 615. Noch in den 1940er Jahren hat Le Corbusier eine sich am Goldenen Schnitt orientierende Theorie der Proportionen aufgestellt.
Der Barockgarten
Scheren die Natur verwalten,
schneiden Werden und Vergehen,
Wind möcht zögerlich nur wehen,
Zufall darf sich nicht entfalten.
Bannstrahl metrischer Gestalten
hat kein Quentchen übersehen,
fest auf allen Beeten stehen
Form und Maß, im Plan gehalten.
Quell der Regelhaftigkeiten,
absoluter Herrscherwille
fesselt gar die Jahreszeiten.
Jenseits von Struktur und Stille
ein jauchzend Kind, und Schmetterlinge gleiten
von hier nach dort in bunter Fülle.
Primzahlen
Eine natürliche Zahl ≥ 2, die nur durch 1 und durch sich selbst teilbar ist, heißt prim oder eine Primzahl.
Die Primzahlen sind die multiplikativen Bausteine der natürlichen Zahlen; denn jede natürliche Zahl n ≥ 2 läßt sich — sogar bis auf die Reihenfolge eindeutig — als ein Produkt von Primzahlen schreiben. Man gewinnt ein solches Produkt, indem man n möglichst weit in Teiler zerlegt.
Nach Euklid (ca. 300 v. Chr.) gibt es unendlich viele Primzahlen. Denn zu je endlich vielen Primzahlen p1, p2,...,Pn gibt es eine weitere. Sei nämlich p ein primer Teiler von p1 ... pn + 1. Da p1 ... pn + 1 bei Division durch p den Rest 0, bei Division durch die Pi jedoch den Rest 1 läßt, ist p von den pi verschieden.
Nach dem Primzahlsatz (Charles Jean de La Vallee-Poussin und Jacques Hadamard 1896) geht der Quotient aus der Anzahl π(n) der Primzahlen ≤ n und n/log n mit wachsendem n gegen 1. Man sieht daraus, daß der Anteil π(n)/n der Primzahlen an den Zahlen ≤ n etwa wie 1/log n gegen 0 geht. Nur rund 8% (4%) der natürlichen Zahlen ≤ 10⁶ (≤ 10¹²) sind prim. Weiter muß es beliebig große Abstände benachbarter Primzahlen geben, beliebig große Primzahllücken. Das läßt sich auch direkt zeigen: Sei m eine (große) natürliche Zahl. Dann ist m! = 1.2.3 · · · m durch 2, 3,..., m teilbar, also m! + 2 durch 2, m! + 3 durch 3,..., m! + m durch m. Daher sind die Zahlen m! + 2, m! + 3,..., m! + m nicht prim.
Und kleine Lücken? Dazu ein Beispiel. Zwei Primzahlen mit dem Abstand 2, etwa 17 und 19, heißen Primzahlzwillinge. Es ist unbekannt, ob es unendlich viele Primzahlzwillinge gibt.
Regen spiel
Der Sonne Licht gewoben
in einen rieselfeinen Schleier
der von den Wolken niederweht
ein Bogen schwerelos geformt
aus reinen Farben himmelweit
sich öffnend lädt dazu
ihn auf der Bäume feuchten Wipfeln
zu durchschreiten.
Die Fibonacci-Zahlen
Die Fibonacci-Zahlen f0, f1, f2 ... sind kombinatorische Vielseitigkeitstalente. Sie beginnen mit 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 (manchmal auch mit 0, 1, 1 statt mit 1, 1). Exakt festgelegt werden sie durch die Bedingungen
f0 = f1 = 1 und fn = f n–1 + fn–2 für n ≥ 2.
Explizit ist
Die Quotienten fn+1 / fn des Goldenen Schnitts.
Zwei Beispiele aus der Kombinatorik:
(1) Eine natürliche Zahl n ≠ 0 läßt sich auf fn Weisen als Summe von Einsen und Zweien schreiben.
(2) Fibonacci, eigentlich Leonardo von Pisa, nach dem die Fibonacci-Zahlen benannt sind, beschrieb mit ihnen (um 1200) die Vermehrung von Kaninchen: Bekommt ein Kaninchenpaar im Geburts- und im Folgemonat kein und in den späteren Monaten je ein Paar von Nachkommen, so hat sich ein Paar n Monate nach seiner Geburt auf fn Paare vermehrt.
Auch in der Botanik treten Fibonacci-Zahlen auf. Bei Zapfen von Nadelbäumen etwa lassen sich zwei Scharen von spiralförmigen Blattreihen unterscheiden, die rechts- bzw. linksdrehend dem Grund der Zapfen entspringen. Die Anzahlen der Reihen in diesen Scharen sind benachbarte