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Gier !: Kriminalroman
Gier !: Kriminalroman
Gier !: Kriminalroman
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Gier !: Kriminalroman

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About this ebook

Am Rheinufer erwacht ein Mann und hat sein Gedächtnis verloren. Auf der Suche nach seiner Identität wird ihm bewusst, dass er ein geschickter Taschendieb ist. War das etwa sein früheres Leben? Dann wird er gejagt – aber nicht von der Polizei ...

In Hamburg müssen Tom Haller und seine Kollegen von der Mordkommission den Mord an einer Frau aufklären. Es bleibt nicht bei diesem einen Mord. Sämtliche Spuren führen zunächst ins Nichts ...

Was hat der Mann vom Rhein mit den Morden zu tun?
LanguageDeutsch
Release dateFeb 21, 2012
ISBN9783844823158
Gier !: Kriminalroman
Author

Ulrich Behrens

Ulrich Behrens lebt und arbeitet in Freiburg im Breisgau.

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    Book preview

    Gier ! - Ulrich Behrens

    42

    1

    Den Schlag spürte er kaum. Nur das Geräusch war dumpf – als ob im Zimmer nebenan jemand unter der Bettdecke auf etwas einschlug. Das Kopfweh schien ihn schon länger zu quälen. Jedenfalls glaubte er das – nein er hatte das Gefühl, es sei so. Er konnte sich nicht bewegen. Wie gelähmt versuchte er verzweifelt, einen Arm zu heben – aber nichts bewegte sich. Es roch nach frischer Luft. Ein leichter Wind streifte über sein Gesicht. Wie oft hatte er unter Kopfweh gelitten, wenn das Wetter wechselte. Nicht so schlimm wie jetzt, aber es war das gleiche Kopfweh.

    Ein Schatten tauchte vor seinem Gesicht auf. Er erkannte nicht, wem er gehörte. Der Schatten bewegte sich, von links nach rechts, wieder nach links. Der Schatten eines Menschen, eines Tieres; oder nur der Schatten eines Baumes, den der Wind bewegte? Es schmerzte. Der Arm war noch immer lahm, der andere auch, die Beine, alles war lahm. Nur den Kopf konnte er leicht bewegen.

    Er erschrak, als er die Stimme hörte. Als ob der Wind sein Geräusch zu einer Stimme formte und hauchte: Was ist mit dir? Steh auf! Steh endlich auf! Er glaubte es kaum, was er da hörte. War das nur Einbildung? Träumte er nur von einer Stimme?

    Er drehte den Kopf, so gut es ging, auf die andere Seite. Noch immer war alles andere gelähmt. Er spürte den Schweiß auf seiner Stirn, vor Anstrengung, vor Angst, er konnte es nicht sagen. Er konnte gar nichts sagen. Sein Mund schien wie verklebt, zugenäht. Und die Schmerzen im Kopf. Und wieder diese Stimme: Steh jetzt auf! Das klang jetzt fast wie ein Befehl. Steh auf! Die Stimme wurde lauter. Du bist in Gefahr! Du musst laufen, rennen, fliehen! Lauf! Lauf!!

    Er spürte, wie sein Kopf rot wurde, weil er mit aller Kraft versuchte, sich zu bewegen, gleichzeitig seinen Mund zu öffnen, um der merkwürdigen Stimme zu antworten. Es gelang nicht. Du kannst nicht? Du musst! antwortete die Stimme, die seine Gedanken zu lesen schien. Du musst! Immer lauter wurde diese bedrohliche, doch zugleich warnende Stimme. Jetzt schepperte sie, blechern, widerhallend, laut, immer lauter.

    Noch einmal schien er zu schreien: Ich kann nicht!!! obwohl er den Mund noch immer nicht öffnen konnte. Dann wachte er auf.

    Ganz automatisch versuchte er, seine Gliedmaßen wieder zu bewegen. Es ging. Er öffnete seinen Mund und versuchte zu sprechen. Ich kann nicht. hauchte er. Aber er konnte sprechen. Seine Beine und Arme bewegten sich. Die Stimme aus dem Nichts war weg. Der Schatten vor ihm auch. Er hob den Kopf. Und ganz langsam ahnte er etwas. Hatte er geträumt? Er bemerkte erst jetzt, dass er auf dem Bauch lag. Er zog das linke Bein an, dann das rechte. Es ging. Er stützte sich langsam mit den Händen auf dem Boden auf. Er konnte sich hochrappeln – und merkte, dass er zwar geschwächt war, aber sich ganz gut bewegen konnte. Erst jetzt sah er, dass er auf einer leicht abschüssigen Wiese gelegen hatte. Es war fast windstill. Es musste ein Traum gewesen sein – die Stimme, der Schatten, die Bewegungslosigkeit. Oder träumte er jetzt? Und alles vorher war real? Nein, nein, nein, lieber nicht, dachte er.

    Langsam stand er auf. Er taumelte noch leicht. Seine Augen waren schon länger offen, aber erst jetzt nahm er langsam wahr, was um ihn herum war. Er spürte eine angenehme Wärme; die Luft war tatsächlich angenehm, roch gut. Wo war er? Langsam kamen Fragen, immer mehr, er konnte seine Gedanken kaum ordnen. Er stand noch am gleichen Fleck, leicht in die Knie gebeugt. Dann sah er einen Fluss, einen sehr breiten Fluss, auf dem sich einige Kähne in beide Richtungen bewegten. Der Fluss war kaum fünfzig Meter von ihm entfernt. Etwas oberhalb von ihm lag die Oberkante des Dammes. Ein abgetretener Pfad zog sich nach links und rechts. Kein Mensch war zu sehen, kein Haus. In einiger Entfernung vor ihm sah er eine Brücke, aber er konnte nicht erkennen, ob es eine für Autos, die Bahn oder für Fußgänger war. Als er sich nach hinten drehte, sah er nur einige kleine Wäldchen links und rechts des Flusses, und noch ein paar lange Schiffe, die sich langsam durch den Fluss fortbewegten. Wiesen, flaches Land. Die Sonne war angenehm warm, nicht zu heiß. Allein deswegen schien er sich wohler zu fühlen als noch vor ein paar Minuten.

    Er taumelte die Böschung hinauf, vielleicht fünf Meter, um über den Damm zu sehen. Er sah: Wiesen, kleine Baumgruppen, aber kein Haus, keinen Mensch. Wohin sollte er gehen? Was sollte er tun? Warum war er überhaupt hier? Erst jetzt bemerkte er, was er am Leib trug: eine Jeans, eine leichte Jacke, beides etwas verschmutzt. Ein dunkelblaues T-Shirt. Sportschuhe. In der linken Hosentasche fand er Zigaretten, Marlboro, und ein Feuerzeug. Die rechte Hosentasche war leer. In den beiden Innentaschen der Jacke fand er nichts. Aus der rechten äußeren Jackentasche zog er einen zusammengefalteten weißen Zettel. Darauf stand gekritzelt, so, dass man es kaum lesen konnte, Unbedingt M. kontaktieren.

    M., dachte er, wer ist M.? Was wollte er von M.? Er hatte gar nicht bemerkt, dass er weitergegangen war, Richtung Brücke, dass er wieder einigermaßen zu Kräften gekommen war, normal gehen konnte. Er spürte jetzt Hunger, und vor allem Durst.

    Wer ist M.? raunte er leise vor sich hin. Es war jedenfalls so warm, dass er die Jacke auszog. Er schwitzte. War das wirklich die Sonne oder dieses Gefühl der Ungewissheit, der Ratlosigkeit, was ihm den Schweiß auf die Stirn trieb? Beides vielleicht. M.. Er kennt keine M., dachte er. Krampfhaft dachte er nach, aber eine M. war ihm nie untergekommen.

    Es traf ihn wie ein Blitz, wie ein Schock bei einem unvorhergesehenen Ereignis, und es stach ihn in die Brust, als er sich plötzlich selbst fragen musste: Nicht Wer ist M.? Wer bin ich???? Nicht M. jedenfalls, das war klar. Aber wie hieß er? Hatte er wirklich einen Schock? Eine kurzfristige Lücke da oben? Sicherlich würde es ihm gleich einfallen. Er hieß doch … er hieß …

    Er musste anhalten. Es wurde ihm schwindlig. Je angestrengter er nachdachte, desto schwächer wurden seine Beine. Er fiel fast hin, konnte sich aber noch halten, setzte sich auf den Damm. Er hieß … Nochmals kramte er in all seinen Taschen, fand aber nichts. Keinen Ausweis, keinen Führerschein. Nichts, was auf ihn hindeutete. Nur der Zettel, die Zigaretten, das Einwegfeuerzeug, dass ihm, als er es ansah, genauso anonym und unbedeutend vorkam, wie er sich selbst fühlte. Er hieß … Verdammt noch mal!!! Er hieß …

    Er saß da, die Hände verzweifelt im Gesicht, hätte fast geheult. Er ballte die Fäuste, trommelte mit einer gegen seine Stirn, als ob dadurch sein Gedächtnis wieder anspringen könnte. Nichts passierte. Ich heiße … ich heiße …., ging es ihm durch den Kopf. Mein Vater, ging ihm durch den Kopf, dann Mutter. Er versuchte, sich seine Eltern vorzustellen – kein Bild kam ihm vor die Augen. Nichts. Absolut nichts. Sein Herz hämmerte. Mit angezogenen Knien saß er immer noch auf dem Damm, der Schweiß rann ihm die Stirn hinunter. Tausend Gedanken quälten ihn. Keine Eltern, keine Geschwister, keine Arbeitskollegen, keine Freunde, Nachbarn, Bekannte, niemand, an den er sich erinnern konnte.

    Die Unruhe wuchs in ihm. Er hieß … er hieß … Dann gab er auf. Es nutzte nichts. Nachdenken nutzte nichts. Die Leere in seinem Kopf blieb. Plötzlich begann er, ganz ruhig zu denken, überlegt. Sein Puls senkte sich. Er stand wieder auf, ging ruhig, aber schnellen Schrittes auf die Brücke zu. Was wusste er überhaupt, wenn schon nicht seinen Namen oder den anderer? Strategie entwerfen, Plan verfolgen, nicht ablenken lassen! hörte er sich sagen. Was für ein blöder Spruch! Oder doch nicht? Vielleicht war das gar nicht so blöd. Dann bemerkte er, dass er Englisch konnte. I don't know what's my name. Can you help me? sagte er laut vor sich hin.

    Als er an der Brücke ankam, sah er Autos. Er schaute nur auf die Kennzeichen. K, also Köln. Viele K's. EUS, Euskirchen, sagte er vor sich hin. Rheinland, Nähe Köln, der Fluss, Rhein, das war schon mal viel, dachte er. Auf einem weggeworfenen Zettel, den er am Straßenrand fand, stand das Kinoprogramm eines Kölner Kinos, ein Film mit Tom Cruise. Den kannte er. Seine Eltern, seine Freunde kannte er nicht, aber Tom Cruise. Amerika, Bush, Obama, Clinton. Bundestag, Bundeskanzler, Hamburg, München – alles Mögliche schoss ihm durch den Kopf – all das kannte er. Er sah den Globus vor sich, wie aus einem Raumschiff, die Kontinente, die Weltmeere. Er sah zurück in der Geschichte, Adenauer, Hitler, erster Weltkrieg …

    Er schöpfte Hoffnung. Sein Gehirn war nicht völlig außer Funktion. Und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich zu jenen gehörte, die über alles Mögliche in der Welt noch Bescheid wussten – nur über sich selbst wussten sie nichts mehr.

    Leise fluchte er vor sich hin, lehnte an dem Eisenträger der Brücke und dachte nach. Wo sollte er jetzt hin? Nach Köln, nach Euskirchen? Zur Polizei? Er hörte es hupen. Als er zurückblickte, lächelte ihm ein Mann entgegen und rief über die Straße: Alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?

    Er schaltete schnell. Können Sie mich mitnehmen? Ich hatte einen Unfall. Der Mann winkte ihn zu sich. Er stieg ein. Tag! sagte der Autofahrer, ich fahre Richtung Köln. Nützt Ihnen das was? Brauchen Sie einen Arzt? Er verneinte. Köln sei okay. Gräfe, mein Name, sagte der Fahrer. Er stutzte, aber nur den Bruchteil einer Sekunde. Steiner, freut mich, und danke, dass Sie mich mitnehmen.- Fahren Sie bis Köln? Nicht ganz, nur bis Bonn. In fünfzehn Minuten müssten wir dort sein. Da können Sie den Zug oder einen Bus nehmen. Er sprach hochdeutsch, keinen rheinländischen Dialekt. Okay, das ist okay, erwiderte er. Aber wie kam er ohne Geld nach Köln? Das war aber eigentlich kein Problem. Warum das kein Problem war, wusste er auch nicht, aber er spürte es: Es war für ihn kein Problem. Da hatte er schon andere Dinge hingekriegt. Welche wusste er nicht, nur dass wusste er.

    Vielen Dank, Herr Gräfe, das war sehr freundlich von Ihnen, bedankte er sich höflich. Ach, das ist doch selbstverständlich. Viel Glück! verabschiedete sich der Audi-Fahrer, während er, der vermeintliche Steiner, vor dem Bonner Bahnhof stand und sich am Kopf kratzte. Er schüttelte den Kopf. Wie war das nur passiert? Wie hatte er sein Gedächtnis verlieren können, und wieso lag er irgendwo am Rhein, dreißig Kilometer vor Bonn, ohne Papiere – nur mit M..

    Er steckte seine Hände in die Jackentasche. Es war sechs Uhr abends und jetzt leicht kühl. War es Herbst? Er schaute sich um, entdeckte einen Kiosk. Die Frankfurter Rundschau war vom 15. September. Ohne es wirklich zu bemerken, zog er die Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Er lächelte, als er es bemerkte. Er war also Raucher. Es krächzte nämlich nicht im Hals. Okay, dachte er, jetzt also nach Köln. Er ging in den Bahnhof und studierte den Fahrplan. In fünfzehn Minuten fuhr ein Interregio nach Köln. Aber warum eigentlich Köln?

    Er wusste es nicht, doch er spürte, dass er weder in Bonn bleiben konnte, noch zur Polizei gehen wollte. Was für ein merkwürdiges Gefühl, dachte er, eine Abneigung gegen die Polizei. Hatte er mit der schon unangenehme Erfahrungen gemacht, war er gar ein Krimineller? Er verdrängte diese Gedanken und schwor sich, nur auf sein Gefühl zu hören. Das schien ihm im Moment die einzige Möglichkeit weiterzukommen.

    Er stieg in den Zug. Dem Schaffner konnte er, erst recht bei dieser kurzen Strecke, entkommen. Als wenn er es gelernt hätte, dachte er. Es war nach halb sieben, als er im Kölner Hauptbahnhof den Zug verließ. Strategie entwerfen, Plan verfolgen, nicht ablenken lassen! dachte er und musste lächeln. Und seinem Gefühl folgen. Nur – wohin?

    Warum nur? stöhnte ich, und musste doch im selben Moment lachen. Denn es war ein schöner, langer Abend gewesen. Nur der Kopf leistete an diesem Morgen heftigen Widerstand. Ich torkelte ins Bad und ließ das kalte Wasser laufen. Die Luft blieb mir eine Sekunde lang weg, dann spürte ich wohltuend den Strahl der Brause. Fünf Minuten ließ ich es laufen, trocknete mir den Schädel ab. Es ging ein bisschen besser. Kopfschmerztabletten hatte ich nicht und nahm ich nicht gern. Keine Ahnung warum. Ich schlappte zurück zum Bett, sah die Uhr. Neun Uhr morgens. Sonntag. Nein, ich vermied es, wieder ins Bett zu gehen, lüftete statt dessen und atmete die kühle Luft tief ein. Nochmals fünf Minuten. Es ging mir besser.

    Gert dürfte es nicht besser gehen, dachte ich, der hatte noch mehr gesoffen im Alstersteg bei Feddersen als ich. Nur Birgit und Franz waren früher gegangen und wohl noch einigermaßen nüchtern gewesen. Gert und ich waren im Taxi nach Hause gefahren; erinnern konnte ich mich nicht mehr sehr gut daran. Gerts 49. Geburtstag war Grund genug zum Saufen. Dinah von Ungern, unsere direkte Vorgesetzte, Kriminalrätin, war nicht dabei gewesen, weil sie gerade auf einer Fortbildung in Rom war und erst am Montag zurückkehren würde. Die junge Kollegin Lisa, derzeit im Raubdezernat, hatte mitgefeiert, war aber auch früher gegangen. Mein bester Freund Gert und ich hatten noch mitgesungen, soweit man das in unserem Zustand Singen nennen konnte. Schunkellieder, Zotenlieder. Feddersens Kneipe war voll bis zum Rand gewesen. Die Stimmung war riesig und alle tranken immer wieder auf Gert. Wir kannten sie fast alle; fast alle waren Stammgäste bei Feddersen. Der war ein Hamburger Original, fast immer gut gelaunt und ein richtiger Kumpel.

    Gert hatte mit Lisa kräftig geflirtet. Und Lisa flirtete genauso heftig mit. Beide mochten sich.

    Das Telefon klingelte, gerade als ich mir einen starken Kaffee machte. Es war Gert Mönich. Ich hörte, wie es ihm ging. Mies. Mieser als mir. Moin, raunte es. Moin! antwortete ich. Was los? Oh Tom! krächzte es am anderen Ende. Na, ich bin selbst schuld. Ich klage jetzt lieber nicht. Hab ich sowieso schon ne ganze Stunde – geklagt. Mich selbst angeklagt. Ich musste lachen, konnte mir genau vorstellen, wie er aussah. Heh, du Mistkerl, du hast immer nachgeschenkt, nachbestellt, du hast mich in die Scheiße geritten! klagte er jetzt doch. "Vergiss es, Alter, du hast gesoffen, du selbst hast dich fertig gemacht."

    Gert stöhnte tief. Arschgesicht, hallte er durch den Apparat. Wart nur, ich mach dich fertig. Wir mussten beide lachen.

    Tom, wurde Gert ernst. Es kommt schlimmer. Ich schwieg. Was konnte schlimmer sein? Franz hat mich gerade angerufen. Er und Birgit sind im Präsidium. Ich ahnte es. Der Sonntag sollte zum Arbeitstag degenerieren. Nein, bitte nicht, dachte ich. Sie haben eine Leiche gefunden. Und du weißt ja, die Kollegen vom II, er meinte die Mordkommission II, sind auch auf einer Fortbildung. Ich könnte an die Decke, aber …

    Alles klar, stöhnte ich schwer, kannst du fahren, oder … Ich hole dich ab, Tom, es geht schon, erwiderte Gert und hupte zwanzig Minuten später vor meiner Haustür. Die Tür klappte zu. Weißt du schon was näheres? fragte ich ihn. Gert sah schrecklich aus. Nee, Arschgesicht, grinste er. Wir boxten uns freundschaftlich gegen die Schultern, feixten kurz herum, bevor Gert losfuhr.

    Birgit Thomsen und Franz Bredow saßen schon an ihren Schreibtischen. Birgit war sauer. Sie hatte ihrem Mann und ihren Kindern versprochen, in den Zoo zu gehen. Pustekuchen. Franz war ebenso sauer. Birgit hatte ihn aus dem Bett einer seiner flüchtigen Bekanntschaften gerissen.

    Bevor ich fragen konnte, was passiert war, berichtete Birgit mit tiefer, fast bösartiger Stimme. Lisa hat mich aus dem Bett geworfen. Sie hat heute Bereitschaft. Man hat eine Frauenleiche gefunden, irgendwo an der Elbe; das heißt nicht irgendwo, fluchte sie fast über ihre eigene Ungenauigkeit, sondern in der Nähe des Ruschorter Hauptdeiches, im Sand zwischen Bäumen. Lisa und ein paar Kollegen von der Einsatzleitung sind schon dort. Am besten, wir ziehen gleich los.

    Birgit war so richtig stinkig. Sie jetzt anzusprechen, hätte ungeahnte Folgen gehabt. In spätestens einer halben Stunde würde sie wieder normal ticken; das wussten wir alle. Wir zogen also los.

    Der Fundort lag südlich der E22, weit von der Altstadt entfernt; eine relativ einsame Gegend. In der Nähe befand sich das Elbwasserfilterwerk. Als wir ankamen, war alles bereits abgesperrt. Die Spurensicherung war seit einer Dreiviertelstunde in ihre Arbeit vertieft. Die Pathologin Dr. Irina Metzger stand vor der Leiche. Gleich alle fünf, lächelte sie uns entgegen. Muss wohl eine Prominente sein, die da liegt. Als ich die Leiche sah, verging mir das Lachen. Birgit und Gert wurde schlecht. Birgit hielt sich ganz gut. Schöner Anblick, nicht? Frau Metzgers Pathologenhumor passte wie die Faust aufs Auge. Aber ich wusste, dass sie nach zwei, drei Witzchen immer ernst wurde. Das arme Ding. Vielleicht 25 Jahre alt, höchstens. Ihr Gesicht hatte jetzt fast den Ausdruck von Trauer. Sie wurde erwürgt, vielleicht mit einem Strick, aber das kann ich erst später sagen. Postmortal wurden ihr mit einem Messer kreuz und quer – ihr seht es ja – über den ganzen Körper Wunden beigefügt. Sieht aus wie ein Karree. Zwei bis vier Zentimeter tiefe Einschnitte. Aber wie gesagt, postmortal. Die Todesursache ist eindeutig.

    Missbraucht? fragte ich kurz. Erst nach der Obduktion weiß ich das sicher, aber wahrscheinlich nicht. Im Gesicht kannst du sehen, was der Täter noch hinterlassen hat. Die Nase ist abgeschnitten, die Ohren, die Augen wurde ausgestochen. Diese Körperteile haben wir nicht gefunden, er hat sie möglicherweise mitgenommen. Wie ihr seht, ist die Leiche splitternackt. Auch Kleidung haben wir – bislang – nicht gefunden.

    Lisa Toller näherte sich dem Fundort. Heh! Wer macht so etwas, Gert? Sie war total fertig. Meint ihr, ihr kommt ohne mich aus? Gert nahm sie in den Arm und ging mit ihr zurück zum Auto.

    Weißt du, wer sie ist? frage Franz. Dr. Metzger und wir duzten uns. Ich meine, hatte sie Papiere? Bevor Irina antworteten konnte, meldete sich Renner zu Wort. Renner war Einsatzleiter an diesem Sonntag. Er und seine Kollegen hatten die Leiche zuerst gesehen, den Fundort abgesperrt. Nichts. Ich meine, sie hatte nichts Persönliches bei sich. Die Kleider sind auch nicht zu finden. Der oder die Täter müssen das alles mitgenommen haben.

    Wir standen noch alle wie angewurzelt vor der jungen Frau, starrten sie regelrecht an. Wir alle hatten schon viele Leichen gesehen, auch solche, die schlimm zugerichtet waren, aber jedesmal war es ein Schock, der noch tagelang nachwirken sollte.

    Ist sie hier ermordet worden, und wann? fragte Franz. Nein, sie ist nicht hier ermordet worden. Das scheint mir sicher, erwiderte Irina. Tatzeit. Hm, ich schätze … heute Nacht zwischen Mitternacht und drei Uhr etwa.

    Wer hat sie gefunden? fragte ich. Renner erzählte von einem Angler, der hier mit dem Boot vorbeigekommen war. Der sei aber unverdächtig. Das hätte man schon nachgeprüft.

    Sonst noch etwas, ich meine Spuren, Fundsachen, irgend was? fragte ich. Nichts, antwortete Renner, aber wir suchen das ganze Gelände ab. Übrigens auch keine Autospuren oder Fußspuren. Der oder die Täter müssen professionell alle Spuren beseitigt haben. An der Stelle dort, er zeigte auf den Weg, sieht man, wie mit einer Decke oder etwas anderem die Fußspuren beim Rückwärtsgehen verwischt wurden.

    Es herrschte einen Moment Stille. Möglicherweise finde ich bei der Obduktion noch Spuren am Körper, mal sehen. Aber das sieht nach allem, was ich hier sehe, schlecht aus, meinte Irina.

    Wir hatten genug gesehen. Eine junge, hübsche Frau, schlank, weiße Hautfarbe, höchstens 25 Jahre alt – und auf üble Weise zugerichtet. Mein Kater war jetzt weg, die Gedanken an die feuchtfröhliche Geburtstagsfeier ebenso. Gert und den anderen konnte es nicht anders gehen.

    Wir fuhren zurück zum Präsidium. Es war still dort, denn die Kollegen von der II waren ja nicht da, Dinah von Ungern, unsere Chefin, war noch auf der Rückreise von Rom, wusste noch gar nichts. Wir setzten uns an den großen Tisch, der seit ein paar Monaten in einem uns zusätzlich zur Verfügung gestellten Raum stand, um uns zu beraten.

    Auf das Ergebnis der Rechtsmedizin mussten wir bis Montag warten. Die Identität des Opfers stand daher im Vordergrund unserer Überlegungen. Franz sammelte Informationen über vermisst gemeldete Personen, doch da die junge Frau erst einen Tag tot war, konnten wir uns auf diese Informationen nicht verlassen. Da das Gesicht der Toten derart verstümmelt war, dass man sie kaum erkennen konnte, versprachen wir uns auch hiervon wenig. Trotzdem gaben wir eine Rekonstruktion des Gesichts in Auftrag, eine am Computer angefertigte Zeichnung, die möglichst genau sein musste.

    Der Tag verging mit diesen Dingen. Birgit war schon frühzeitig nach Hause gegangen, um den Haussegen wenigstens teilweise zu retten. Gert folgte ihr bald, und Bredow und ich verließen das Präsidium am frühen Abend als letzte.

    Morgen gegen Mittag würde Dinah zurückkehren, die ich vermisste, ihre Zärtlichkeit, ihren Humor, ihre Blicke, alles. Seit langer Zeit war ich wieder einmal verliebt, so, wie eigentlich nie zuvor. Und trotzdem hatte ich ein merkwürdiges Gefühl. Ich mochte unsere Nähe, unsere wenigen Abende, die wir gemeinsam verbringen konnte, unsere Nächte, ihren Geruch, ihren Körper, ihre Sanftheit. Diese Nähe war berauschend, befriedigend. Aber sollte es mehr sein? Wollte ich mehr? Mehr als unser sporadisches Zusammensein außerhalb unserer gemeinsamen Arbeit? War das Angst? War ich doch kein Nähemensch, wie ich immer gedacht hatte?

    An diesem Abend schwor ich dem Alkohol ab. Zuerst dachte ich, der Grund dafür sei lediglich Gerts Geburtstagsfeier gewesen. Was man sich halt so vornimmt. Doch es war mehr. Die Stunden im Alstersteg, oft nach der Arbeit mit Gert oder auch mal Franz und Birgit – irgendwie ging mir das auf die Nerven. Nicht Gert oder die anderen, nein, aber die Sauferei. Und ich hatte auch das Gefühl, dass Gert ebenso empfand. War die Sauferei nicht nur eine schlechte Kompensation für den Stress, dem wir ausgesetzt waren?

    Die Nachrichten waren langweilig an diesem Abend. Was danach angeboten wurde, noch ätzender. Ich hätte schlafen können, aber ich wollte nicht. Der Tag war noch tief in mir am Arbeiten. Die junge Frau, diese schreckliche Verunstaltung ihres Körpers, der Schock saß tief. Die grauenhafte Präzision, mit der das bewerkstelligt worden war, unterschied diese Tat von anderen Morden, die aus Eifersucht, Gier, Hass oder Rache begangen wurden. Diese Akkuratesse wies auf einen Täter, der aus anderen Motiven gemordet hatte. Er hatte sein Opfer nicht vor dem Exitus gequält, nur schnell erwürgt und dann verunstaltet. Ein Psychopath? Aber dieser Begriff war oft so unscharf, so hilflos, meist weil man nicht wusste, wo das Motiv für eine solche Gefühlskälte liegen konnte.

    Es war kühl geworden. Das Abendrot zog sich wie ein breiter Schleier am Horizont entlang. Ich trauerte dem Sommer nach und fürchtete den Herbst und vor allem den Winter. Vielleicht hatte meine Schwester doch Recht, wenn sie sagte, ich müsse meine innere Sperre zerreißen, die, die mich daran hinderte, mich einem anderen Menschen voll und ganz anzuvertrauen. Vertraute ich Dinah voll und ganz? Sie mir sicher, das spürte ich. Aber ich ihr?

    Lange hatte ich meine Schwester nicht gesehen. Sie war Kunsthistorikerin und arbeitete in der Stadt der Städte, in New York. Ich hielt mich am Fensterrahmen fest, als ob ich bei solchen Gedanken in Gefahr wäre, gleich ohnmächtig zu werden. Kannte ich mich überhaupt? Oder kannte meine Schwester mich besser? Bea war zwei Jahre älter als ich, gerade fünfzig geworden, und eine Bilderbuchschönheit, umschwärmt von fast allen Männern, die sie kannten. Ihr Mann war gleichaltrig und hatte denselben Beruf. Die beiden verstanden sich in einer Weise, wie ich dies bei anderen selten gesehen hatte. Manches Mal dachte ich, Bea, Dr. Beatrice Lopez, sei so etwas wie mein zweites Gewissen. Wie oft hatte sie mir die Meinung gesagt, mich mit meinen eigenen Problemen konfrontiert, nicht aggressiv oder gar bösartig, aber präzise und treffend. Fast genauso oft war ich böse auf sie, und wenn sie dies merkte, und sie merkte es eigentlich jedes Mal, lächelte sie auf diese unverkennbare Art, die meinen Zorn sofort besänftigte – meistens.

    Bea war sauer, als ich vor einigen Wochen mit ihr telefoniert hatte. Ich konnte nicht zu ihrem Geburtstag kommen. Der Beruf fraß mich auf, dachte ich nach dem Telefonat. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, und das beruhigte sich tagelang nicht. Dann rief sie zwei Wochen später nochmals an und fragte, ob ich nicht wenigstens im Herbst oder zu Weihnachten nach New York kommen könne. Ich überlegte zwei Minuten lang, ob ich das zusagen konnte. Dinah stand neben mir, und ihr Blick war so eindeutig und nicht fehl zu interpretieren, dass ich versprach, noch in diesem Jahr zu fliegen. Den Urlaub, zwei Wochen New York, legte Dinah fest: Weihnachten. Sie versprach mir, mir den Rücken im Präsidium für diese Zeit freizuhalten.

    Am liebsten hätte ich an diesem Abend, nach diesem schrecklichen Tag, Bea angerufen. Was hinderte mich? Es war neun Uhr abends, in New York wohl drei Uhr nachmittags. Ich griff zum Apparat, wählte, doch dann fiel mir ein, dass Bea jetzt sicherlich mitten in der Arbeit steckte. Ich ließ das Telefon in die Basisstation sinken.

    Mir war unwohl. Aber warum, wusste ich nicht.

    2

    In solchen Situationen versagt alles. Das Sprechen vor allem. Man steht da und ist handlungsunfähig. Man sieht Menschen in ihrer unbeschreiblichen Trauer und hat keinen Trost. Oder was soll das für ein Trost sein: Wir werden alles tun, um den Täter zu finden. Das ist kein Trost, das ist ein Nichts, ein überflüssiges Nichts. Birgit und ich hatten die beiden in die Pathologie begleitet. Sie waren etwa so alt wie ich. Und nun standen sie vor uns, nachdem sie ihre Tochter identifiziert hatten, hilflos, fassungslos, voller Trauer, Verzweiflung. Die Wut würde vielleicht später kommen, jener Zorn auf den unbekannten Täter, die Rachegelüste, die Mordgedanken. Bei vielen Angehörigen konnte man das nach einigen Tagen, spätestens einer Woche beobachten. Die anderen vergruben sich in ihre Verzweiflung, die an ihnen fraß und fraß und fraß.

    Birgit hatte die Hände vor ihrem Bauch gefaltet; sie sah aus wie bei einer Trauerfeier in der Kirche. Ich sehnte mich danach, hier wegzukommen. Weit weg, noch weiter weg, ans andere Ende der Welt. Und doch wusste ich, wie sinnlos das war. Wie oft hatten wir hier gestanden, in dem kalten Raum mit Fliesen und weißen Wänden, dem Kühlraum mit den Leichen. Wie konnte man hier arbeiten? Irina konnte.

    Birgit begleitete das Ehepaar Kunz nach draußen. Ihre Tochter Katharina blieb. Mehr durch Zufall hatten wir an diesem Morgen die Identität der Toten ermitteln können. Die Vermisstenanzeige war um acht Uhr morgens eingegangen, irgendwo auf einem Revier in der Nähe der Wohnung von Herrn und Frau Kunz und ihrer Tochter, die noch zu Hause gewohnt hatte und Studentin war. Eine gute Studentin. Frau Kunz war zusammengebrochen, als sie die Leiche ihrer notdürftig von Irina hergerichteten Tochter sehen musste. Herr Kunz nahm seine Frau fest in den Arm, das Weinen war fast unerträglich. Wie nah war man diesen Menschen, und doch so weit von ihnen entfernt.

    Als die Vermisstenanzeige an uns um halb neun weitergegeben worden war, ahnten wir noch nicht, dass es tatsächlich Katharina war, die in der Pathologie lag. Die Beschreibung allerdings passte, Alter, Aussehen, Größe. Ein schrecklich schneller Volltreffer.

    Momentan war es unmöglich, die Eltern zu befragen. Ich hätte das nicht gekonnt, obwohl ich und alle anderen wussten, wie wichtig oftmals der Zeitfaktor bei Mordfällen war. Spätestens morgen früh mussten wir sie befragen; das war klar.

    Ich blieb noch in der Rechtsmedizin und ging zu Irina. Sie hatte ihr Gutachten so gut wie fertig. Alles hat sich bestätigt. Die junge Frau wurde erwürgt, aber nicht am Fundort. Die Schnitte am ganzen Körper wurden ihr mit einem handelsüblichen, langstieligen Haushaltsmesser zugefügt. Der Täter benutzte dieses Messer auch für das Abtrennen der Ohren und das Heraustrennen der Augen.

    Ich starrte auf die Leiche von Katharina. Irina bemerkte, wie abwesend ich aussah. Sie trat direkt vor mich und fasste mir an die linke Schulter, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Tom, ich habe leider so gut wie keine anderen Spuren gefunden. Die Leiche wurde post mortem gründlich gesäubert, gewaschen, dann wurden ihr die Schnittwunden zugefügt, die Ohren …. Ich verstehe, unterbrach ich sie. Sie wurde nicht missbraucht. Weder sexuell, noch durch Folter vor ihrem Tod. Eine merkwürdige Sache.

    Ich sah sie an. Also kein Psychopath im eigentlichen Sinn? fragte ich. Hm, das kann ich nicht wirklich beurteilen. Immerhin hat er ihre Augen und Ohren mitgenommen. Trophäen, das gibt es bei solchen Tätern ja schon. Aber da musst du wirklich einen Fachmann fragen. Vielleicht war es auch ein Racheakt, aber kein üblicher. Denn solche Täter morden, und damit genug. Sie nehmen keine Trophäen mit, in der Regel.

    Wir standen schweigend vor Katharina. Ich habe auch keine Kampfspuren festgestellt oder Hämatome. Das ist merkwürdig. Denn sie hat sich bestimmt nicht freiwillig umbringen lassen. Vielleicht hat sie den Täter gekannt. Oder er hat sich mit ihr auf eine unverdächtige Weise bekannt gemacht. Oder er hat sie betäubt, bevor er sie erwürgt hat. Es gibt solche Mittel zum Betäuben, die nach einigen Stunden nicht mehr nachweisbar sind; gefunden habe ich in dieser Hinsicht nichts.

    Du schickst uns das Ergebnis so schnell wie möglich zu? Sie versprach es. Ich weiß, wie sehr dich so etwas mitnimmt, Tom. Komm, Kopf hoch und an die Arbeit. Das war unmissverständlich und ein wenig aufmunternd zugleich. Ich verabschiedete mich mit einem leichten Lächeln.

    Als ich im Präsidium ankam, war Franz schon unterwegs zur Universität. Katharina hatte dort Mathematik und Physik studiert. Gert und Lisa, die seit heute der Mordkommission zugeteilt war und uns schon einige Male in anderen Fällen unterstützt hatte, auch wenn ihr Vorgesetzter das gar nicht schätzte, waren unterwegs, um Nachbarn der Familie Kunz zu befragen. Birgit saß am Schreibtisch und grübelte. Ich setzte mich zu ihr. Wir schwiegen eine ganz Weile, bis Dinah von Ungern plötzlich hereinkam. Mit einem strahlenden Lächeln, glänzenden Augen und völlig unwissend kam sie auf mich zu, umarmte mich, küsste mich kräftig und seufzte: Endlich wieder hier. Rom ist zwar einmalig, aber jetzt langt es. Birgit verließ den Raum, ohne einen Ton zu sagen, und ich erzählte Dinah kurz von den Ereignissen und dem schrecklichen Fund.

    Ihre gute Laune verwandelte sich schlagartig in Routine und sachliche Befragung. Tom, was habt ihr bisher unternommen? Ich schilderte ihr alles, jetzt in allen Einzelheiten. Ich weiß, wie dich so etwas trifft; noch mehr als die anderen hier. Wir sahen uns in die Augen, lächelten beide. Du hast mir gefehlt, Dinah, wahnsinnig gefehlt.

    Und wieder war keine Zeit, um unser Wiedersehen zu genießen, aber auch gar keine. Irinas Bericht lag vor uns auf dem Tisch; wir lasen ihn zusammen. Ich reiß mich jetzt zusammen, versprach ich. Wir müssen rasch handeln, sonst verläuft alles im Sande. Morgen früh werden wir die Eltern befragen müssen. Ich werde das mit Birgit erledigen. Oder willst du mit? Nein, antwortete sie, ich glaube ihr beiden könnt das am besten. Ich werde mit den anderen die Fakten zusammentragen, von den Befragungen an der Fakultät und in der Nachbarschaft. Und wir brauchen Prof. Hinze. Evelyn Hinze war Psychologin und eine der besten ihres Faches. Sie war auch das, was man Profiler nannte, und darin war sie noch besser. Viele Male hatte sie Täterprofile erstellt, die sich zu 90% oder mehr als richtig erwiesen hatten. Prof. Hinze war so etwas wie die Grande Dame des Präsidiums. Alle hatten Respekt vor ihr, manche auch ein wenig Angst, denn sie war nicht nur eine Autorität in ihrem Fach, sondern auch als Mensch. Etliche Männer im Haus hatten damit ihre kleinen oder größeren Probleme. Ich erinnerte mich, wie sie einen Kollegen von der Fahndung, der sie provozieren wollte, vor allen anderen lächerlich gemacht hatte – zu Recht –, auf eine Weise, die alle anderen schmunzeln ließ, nur diejenigen Machos nicht, deren es viel zu viele im Präsidium gab. Staatsanwalt Schuckert zum Beispiel, den man hinter vorgehaltener Hand schon einmal als blasierten Affen titulierte – was er auch war.

    Ihr war Schuckert nicht gewachsen. Die fast 60 Jahre alte Frau Professorin gehörte nicht zu jenen arroganten Personen, die sich etwas oder etwas mehr auf sich (und sonst nichts) einbildeten. Sie hatte sich eine Natürlichkeit und Wärme bewahrt, die ihr eben auch viel Sympathie eingebracht hatten.

    Bei einem derart mysteriösen Täter ist sie die beste. Ich konnte Dinah nur zustimmen. Dinah und Frau Hinze waren – unausgesprochen – so etwas wie Freundinnen. Keine der beiden redete darüber, nahm ich jedenfalls an, aber es war offensichtlich, wenn man nur ein wenig genauer beide beobachtete. Der leitende Kriminaldirektor Wagner hatte hinter vorgehaltener Hand einmal zu einem Kollegen bemerkt, die Hinze sei ein gestandenes Weibsbild, da könnte sich so mancher Kerl eine Scheibe abschneiden. Er hatte allerdings nicht bemerkt, dass die Hinze in diesem Moment hinter ihm stand. Als er dies bemerkte und leicht errötete, erhielt er prompt die Antwort: Da stimme ich Ihnen zu. Kommen Sie, an die Arbeit.

    Dinah und ich verabredeten eine Besprechung aller am späten Nachmittag, um die bis dahin vorliegenden Fakten zu ordnen. Ich rief Prof. Hinze an, die zwei Stockwerke über uns residierte. Herr Haller, ich bin dann um vier Uhr bei Ihnen. Wie sie dies sagte, machte mir einmal mehr klar, dass die Arbeit ihr Spaß machte, so traurig der Anlass auch war.

    Dinah informierte Gert, Lisa und Franz per Handy über die Besprechung. Birgit war inzwischen zurück; sie hatte etwas gegessen und wirkte etwas besser gelaunt als am Vormittag. In zwei Stunden mussten alle und musste alles beisammen sein.

    Er kannte das alles. Als wenn er hier gewohnt hätte oder noch leben würde. Der Dom, der Rhein, die Innenstadt. Fast fühlte er sich zu Hause. Zwei Stunden war er spazieren gegangen, vielleicht nur, um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der auf seine Identität schließen könnte. Es war ein mühsames Suchen. Doch er fand nichts und alles. Köln musste er kennen. Aber vielleicht kannte er auch Frankfurt, München, Kiel, Berlin, Hamburg, Stuttgart … Was bedeutete das schon. Ohne Geld, ohne Papiere, schlenderte er durch die Stadt, ziellos, ratlos. Vielleicht bereiste er Städte auch nur als Hobby. Vielleicht kannte er Paris, New York, Brüssel, Stockholm und etliche andere Städte – nur weil er dort schon Urlaub gemacht hatte. Zu viele Vielleichts.

    An den Dom zurückgekehrt, setzte er sich auf eine der Stufen der breiten Treppe. Viele Touristen gingen aus und ein, fotografierten, lachten, waren müde angesichts der Strapazen der Städtebesichtigung. Kinder schrieen. Babys wurden gefüttert. Rucksäcke wurden abgestellt und wieder auf den Rücken geschnallt. Es wurde gegessen und getrunken, geschwiegen, geredet, geschaut. Aber all das nutzte ihm nichts. Er musste überlegen. Wie kam er zu Geld? Warum wollte er nicht zur Polizei gehen? Dieses tief sitzende Gefühl der Abneigung gegen Polizisten war das einzige, was ihn wirklich beunruhigte. Es spürte geradezu einen Widerwillen, das nächste Revier aufzusuchen und sich zu erklären. War er nun ein Krimineller oder nicht? Oder hatte sich tief in seinem Gedächtnis etwas vergraben, das auf vielleicht nur einer einzigen negativen Erfahrung mit der Polizei beruhte? Vielleicht spielte ihm sein Gedächtnis nur einen Streich. Darüber weiter zu grübeln, hatte keinen Sinn. Er brauchte Geld, er hatte Hunger, Durst. Vor einer Stunde hatte er aus einem Lebensmittelladen eine Flasche Wasser mitgehen lassen. Aber die reichte nicht. Er hatte gestohlen und trotzdem kein schlechtes Gewissen. Also nochmals stehlen? Geld stehlen? Einen Touristen beklauen? Nein, das kam ihm auf irgendeine Weise zu primitiv vor. Es sollte jemanden treffen, dem es nicht sonderlich schadete.

    Eine Bank? Nein, sicherlich nicht. An so etwas war gar nicht zu denken. Ein Restaurant? Unsinn. Er stand auf, räkelte sich ein wenig, ging die Treppe hinunter und bog ab in Richtung Rheinufer. Auch dort waren viele Menschen unterwegs und genossen den schönen Herbsttag. Er schaute sich um und rempelte aus Versehen einen Mann an. Pardon, ich habe nicht aufgepasst. Der ältere Herr lächelte freundlich. Alles war in Ordnung.

    In diesem Moment durchfuhr ihn ein Gedanke, nur flüchtig, ganz schwach, aber doch deutlich erkennbar. Wiederum glaubte er an einen Streich seines malträtierten Gedächtnisses. Aber der Gedanke wich nicht. Er wurde stärker, mächtiger. Dieser Gedanke hielt ihn fest, so, als ob es eher eine Art Ratschlag seines Unterbewusstseins

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