Von Schneeflocken und Zahnstochern: Österreich macht frei
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About this ebook
Lebhafte Charakterstudien und eine sich stetig zuspitzende Dramatik garantieren für Spannung bis zur letzten Seite.
Peter Golmayer
Peter Golmayer, geboren 1976 in Salzburg, promovierter Mediziner (Studium an der Medizinischen Universität Graz), lebt mit Ehefrau und Zwei Kindern in Wolfsegg am Hausruck, Oberösterreich. Neben einigen Gedichten als junger Student ist dieser Roman das Ergebnis einer vergessenen Leidenschaft.
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Book preview
Von Schneeflocken und Zahnstochern - Peter Golmayer
XIV
I
Gustav G. saß eingepfercht in einem klapprigen Waggon zwischen dutzenden von Menschen, die dasselbe Schicksal ereilen sollte wie ihn selbst während er unbemerkt vom Strahl eines roten Riesen berührt wurde, der in unermesslicher Ferne nach und nach sein Licht aushauchte, um zu einem weißen Zwergstern zu verkommen. Zwischen dem wenig verbliebenen Stroh, das einen Hinweis auf die frühere Verwendung dieses Waggons erahnen ließ, lag neben ihm am Boden ein Zahnstocher. Völlig deplatziert, ein Zahnstocher erschien ihm hier völlig deplatziert.
Seit etwa zwanzig Minuten schleppte sich der Zug mit seinen ehemaligen Viehwaggons unter der erdrückenden Last seiner Insassen voran. Gustav umklammerte mit seinen Händen die Gitterstäbe, die als Fensterersatz jeweils eine Querseite der Waggons zur Hälfte beflankten. Die Haut an seinen Fingerkuppen war trocken und spröde. Die Landschaft vor seinem Gesicht zog vorbei wie ein verschwommenes grünbraunes Tuch. Er hätte sich gerne in Seide gehüllt, sich und alle Mitreisenden. Eine zarte Schutzschicht, die sie sanft umhüllen sollte. Er hatte keine Ahnung von Seide. Er stellte sich ein wunderbares Gefühl auf seiner Haut vor, zärtliche Frauenhände, die schwebend über seinen Körper streiften, um jegliche Gefahr zu bannen.
Zwischen den Gitterstäben schob sich ein breites sonnendurchflutetes Band hindurch. Ein Bild aus seiner Kindheit tauchte auf und ein kurzes Lächeln drängte sich in sein Gesicht:
Als kleiner Junge saß er in einem Zimmer. Das Zimmer wurde durch den Sonneneinfall in zwei keilförmige Hälften geteilt – einen Sonnenkeil und einen Schattenkeil. Seine kindliche Hand streifte über den Teppich. Feinste Staubpartikel wirbelten hoch und begannen im Sonnenkeil zu schweben. Sofort eilten ihm damals die letzten Sachunterrichtsstunden über den Aufbau der kleinsten Materieteilchen durch den Kopf. Der bedrohliche Blick der Lehrerin durch die viel zu dicken Brillengläser kam ihm in den Sinn. Ihre rougefarbenen Wangen und die knallroten Lippen. Er lief zu seiner Mutter und verkündete:
„Mama, ich kann Moleküle sehen."
Dass es sich dabei lediglich um Staub handeln sollte, ließ ihn erstmals an der Intelligenz seiner Mutter zweifeln.
Er spürte das sonnenwarme Metall der Gitterstäbe unter seinen Händen. Durch Korrosion und Rost war es brüchig geworden und blätterte in der Abendsonne wie silberrote Schneeflocken zu Boden. So bekam auch der Zahnstocher Gesellschaft. Es hatte ein wenig abgekühlt und auch der Fahrtwind tat gut. Das Warten in der glühenden Nachmittagssonne, stellte vor der Abfahrt, bereits eine erste große Herausforderung an die Reisenden dar. Der schwere Atem, die brennenden Füße, das Spannen der Sehnen.
„Rückt halt ein wenig zusammen, macht es euch gemütlich", verhallte das höhnische Johlen eines Graumantels in Gustavs Erinnerung. Eine angenehm kühle Brise strich über ihre Gesichter. Der deutliche Geruch von Schweiß war darin wahrzunehmen. Nicht dieser vertraute, von fleißiger Arbeit herrührende, Schweiß, der unangenehme und zum Teil penetrant stechende Sensationen in dem dafür vorgesehenen Sinnesorgan hervorrufen konnte – nein, es war eine Note von Schweiß, die von einer Reise in eine unbekannte Zukunft erzählte. Einer Zukunft, an die noch keiner der so bunt zusammen gewürfelten Insassen je zuvor auch nur einen Gedanken vergeuden wollte. Es war die Angst, die in der Luft lag, mit einer deftigen Priese Ungewissheit. Diese Mischung brachte nicht nur die Lokomotive, sondern auch die Fahrgäste zum Keuchen. Doch eigentlich war es der Geruch des nahen Todes, der sich in unerbittlicher Intensität ausbreitete.
Beständig ging die Fahrt voran. Das stetige Rattern der Räder auf den Schienen erweckte in seiner monotonen Gleichmäßigkeit, einen Hauch von Vertrautheit. Die blinzelnden Strahlen der Abendsonne rekelten sich nur noch gelegentlich hinter den vorüber ziehenden Hügeln und den mit Wehmut geschwängerten Wolken hervor. Eine sanfte Schwere legte sich auf die Reisenden und hie und da machte sich ein Funken Hoffnung auf den Weg, den Hügeln entgegen, um den Strahlen der Sonne eine Nuance an Impedanzschwankung zu verleihen. Die Nadel im Heuhaufen – gut, dachte Gustav, aber ein Zahnstocher im Stroh? Wenn es wenigstens ein passendes Sprichwort dafür gäbe. Die meisten Mitfahrenden hatten sich bereits erschöpft einen Schlafplatz im engen Waggon gesichert. Ihre Beine lagen durcheinander wie ein Mikado Spiel. Die Dämmerung verlor sich in der drängenden Nacht zu kleinen grauen Schatten. Der Mond umhüllte sich mit Sorgenfalten. Behäbig setzte sich nun auch der sonst so wendige und galante Gustav, in der unvertrauten Nähe so vieler fremder Körper, zu Boden. Er zupfte seine völlig verknitterte Hose zu Recht, neigte seinen Oberkörper zur Seite und folgte nach wenigen Minuten wirrer Gedanken dem dumpfen Sog der Erschöpfung in einen traurigen Schlaf.
Ein kurzer Stich ließ ihn diesen schmerzhaft unterbrechen. Zögerlich glitt er mit seiner rechten Hand die verknitterte Hose abwärts über den Unterschenkel bis zum Fuß. Dort zog er sich einen schmalen, spitzen Gegenstand aus der Sohle, streckte seine Hand hoch zu den Gitterstäben, und warf das kleine Hölzchen aus dem fahrenden Zug.
„Verdammter Zahnstocher", fluchte er vor sich hin, bevor er, vom orange getränkten Mond eine behütete Nacht vorgegaukelt, wieder in seichten Schlaf fiel.
„Österreich macht frei, Österreich macht frei", hörte man ihn noch murmeln, und das Stroh am Boden des Waggons verlor in der Tiefe der Nacht vibrierend an Wärme. Der Mond legte seine Sorgenfalten ab und hüllte sich in ein dichtes Grau.
Gustav wusste nicht, wie lange die Fahrt bereits gedauert hatte, als er mit steifen, schmerzenden Gliedern erwachte und zögerlich ein erstes verhaltenes Öffnen seiner Augenlider zuließ. Zaghaft versuchte er sich einen Platz zum Durchstrecken zu verschaffen. Mit der Bewegung ließen auch die Schmerzen nach und er wagte es sich aufzusetzen. Sogleich bemerkte er eine Veränderung. Das Rattern und Vibrieren, das ihm gerade noch ein Mindestmaß an Vertrautheit vorgeheuchelt hatte, war verstummt. Der Zug stand still. Hatten sie ihr Ziel bereits erreicht? Ihr Ziel, das verdammt noch mal nie ihr Ziel sein sollte und geschweige denn sein wollte. Langsam begannen auch in den übrigen Körpern vereinzelt Muskelgruppen zu zucken, um in träge, verhaltene und unsichere Bewegungen überzugehen. Einer nach dem anderen setzte sich auf. Ihre Blicke trafen holprig aufeinander wie die ersten Gehversuche eines Rehkitzes wenige Minuten nach seiner Geburt. Erneut breitete sich die Angst aus. Wie Brandzeichen einer Rinderherde markierte sie ihre Augen und hielt sie alle am Boden. Die Angst fesselte ihre Glieder, kerbte sich tief um ihre Gelenke und ließ sie in der lauen Morgenluft zittern. Keiner wagte es aufzustehen, sogar das Atmen schien ihnen eine bedrohliche Gefahr darzustellen. Gustav wischte mit seinen Händen das spärliche Stroh vor seinen verschränkten Beinen beiseite. Die blanken Holzdielen kamen zum Vorschein, dann stand er auf.
Die ersten Blicke durch die Gitterstäbe brachten ihm Gewissheit. Entsetzt sank er wieder zu Boden. Der Atem stockte ihm wie denaturiertes Eiweiß. Er spürte sein Herz bis in den Hals pochen. Die Mitfahrenden starrten ihn an; starrten auf seinen Hals. Konnten sie sehen, wie das Schlagen seines Herzens ihm langsam die Kehle zuschnürte? Konnten sie sehen, wie sich die Angst von den Augen hinunter bis tief in sein Herz brannte? Er sah alles,