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"Itacker müssen (nicht) abkratzen!": Gelungene Selbsttherapie schwerer Traumata unter Psychoanalyse, EMDR und Verhaltenstherapie
"Itacker müssen (nicht) abkratzen!": Gelungene Selbsttherapie schwerer Traumata unter Psychoanalyse, EMDR und Verhaltenstherapie
"Itacker müssen (nicht) abkratzen!": Gelungene Selbsttherapie schwerer Traumata unter Psychoanalyse, EMDR und Verhaltenstherapie
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"Itacker müssen (nicht) abkratzen!": Gelungene Selbsttherapie schwerer Traumata unter Psychoanalyse, EMDR und Verhaltenstherapie

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About this ebook

"Itacker müssen abkratzen" - Dies harte Wort bekam Sofia als kleines Mädchen zu hören, als im Jahr 1954 ihre eigene Schulklasse in Hamburg-Lurup und die Parallelklasse sie einkreisten und ein fünfzehnjähriger Redelsführer ihre frische Blinddarmnarbe aufzuschlagen versuchte. Alle billigten sie diesen Anschlag. Nur einer nicht: "Der Herr über Leben und Tod!" In Ihrem zweiten Buch fasst sie zusammen und widmet sich weiteren Fakten. Ihr sizilianischer Vater überlebte den Zweiten Weltkrieg in Deutschland als Kriegsgefangener, jedoch nicht seine eigene Heimat. Er wurde von der Mafia noch vor Sofias Geburt erschossen, und ihre Mutter floh nach Rom. Später ging es nach Hamburg, wo sie unter reichlichem Mobbing aufwuchs und sich zu behaupten versuchte. Sofia erzählt ihre spannende Geschichte anschaulich in allgemein verständlicher Sprache; und es ist deutlich zu erkennen, dass ihre schwere Vergangenheit definitiv abgeschlossen ist. Das sollte Menschen mit bösen Erfahrungen und Traumatisierungen Mut machen, sich gründlich mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen - auch wenn sie schon lange zurück liegt und noch so schwer war.
LanguageDeutsch
Release dateDec 14, 2012
ISBN9783848262816
"Itacker müssen (nicht) abkratzen!": Gelungene Selbsttherapie schwerer Traumata unter Psychoanalyse, EMDR und Verhaltenstherapie
Author

Sofia Sörensen

Sofia Sörensen wurde 1946 in Rom als Halbitalienerin geboren. Sie studierte an der Musikhochschule Hamburg Operngesang. Konzertauftritte, Musik- und Sprachunterricht neben der Erziehung ihrer drei Kinder füllten sie viele Jahre hindurch aus. Ihr wechselvolles Leben in verschiedenen Ländern brachte aber auch reichlich schmerzvolle Erfahrungen mit sich. Mehrere psychotherapeutische und medizinische Fehlbehandlungen weckten ihr Interesse an einer ganzheitlichen Selbstbehandlung und führten sie zu der Erkenntnis: "Irren kann ich mich auch selbst. Dafür benötige ich keinen Arzt." Daraufhin absolvierte sie ein umfassendes, neunjähriges Heilpraktikerstudium mit Spezialisierung auf Homöopathie und Ernährungstherapie (ohne Abschluss) und hat sich intensiv mit allen Geisteswissenschaften befasst. Sie ergründete ihr Leiden in einer einzigartigen Selbsttherapie, und es gelang ihr nachhaltige Heilung. Zu ihrem Leben gehören Ganzheitlichkeit, Achtsamkeit und Bewusstheit, Vegetarismus, Naturheilkunde, Poesie und Musik.

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    Book preview

    "Itacker müssen (nicht) abkratzen!" - Sofia Sörensen

    Stelle.

    Es war einmal…….

    Amore und Bella Italia

    Im Februar 1945 beschloss der italienische Botschafter in Berlin, die Stadt zu verlassen und das Personal und alle Akten nach Süddeutschland zu transportieren, denn von Osten her drangen die Russen vor, und im Westen mussten sich die Deutschen ebenfalls zurückziehen. Der Krieg war verloren, das war klar, und meine Mutter mit ihren erst zweiundzwanzig Lebensjahren und schon allerlei schlimmen Erfahrungen ahnte nichts Gutes für Deutschland. Seit einem Jahr war sie in der italienischen Botschaft als Dolmetscherin und Übersetzerin tätig und fühlte sich ihrerseits sehr verloren in der Welt. Sie sah für sich keine Perspektiven in Deutschland und hatte Angst vor dem, was kommen könnte. Sie wollte nur noch weg!

    Ich möchte nach Italien sagte sie ihrem Chef. Ja, nach Hamburg zurückzukehren und dort ihrem Vater zu begegnen, dass war für sie ein schrecklicher Gedanke, denn seit der Scheidung ihrer Eltern hatte sie keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt. Sie stand ganz auf der Seite ihrer Mutter, der er dreiundzwanzig Kinder mittels Seifenlauge und Schere abgetrieben hatte.

    Bei einer der Abtreibungen war meine Mutter als Zehnjährige zufällig ins Schlafzimmer der Eltern gekommen und hatte eine Emailschüssel vor dem Bett stehen sehen, in der ihre mit Blut verschmierte, blau angelaufene kleine Schwester sich erstickend zu Tode strampelte, ein Püppchen von gerade mal dreißig Zentimetern Länge, weil die Kinder immer als Sechs-Monats-Föten abgetrieben wurden.

    Ihr Vater beugte sich über die Mutter und hatte noch die Schere in der Hand, mit der er wieder einmal die Fruchtblase aufgestoßen hatte, um schon bald nach der so genannten Fehlgeburt seine Frau erneut zu schwängern. Sie bekam dann Unterleibsinfektionen. Aber er verlangte rücksichtslos seine ehelichen Rechte, gab zu Hause kaum Geld ab sondern verschleuderte es mit leichten Mädchen, und glaubte dabei noch, gut für seine Pension Mama zu sorgen. Zu Hause aber herrschten Elend, Wut, Trauer, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

    Als meine Mutter mir diese Zustände im Alter von dreiundsiebzig Jahren erzählte, bebte sie am ganzen Körper, als hätte sie es gerade eben erst erlebt. Und schon wegen dieses schrecklichen Erlebnisses und der Tatsache, dass ihr Vater sie auch noch gezwungen hatte, ihn mit erigiertem Penis zu fotografieren, wollte sie ihn damals niemals wiedersehen. Dass sie sich später dann doch mit ihm versöhnte, ist ihrer eigenen psychotherapeutischen Aufarbeitung zuzuschreiben.

    Die Wohnung ihrer Mutter war durch Bomben zerstört worden. Diese arbeitete als Telefonistin an der belgischen und französischen Front. Und ihr elf Jahre jüngerer Bruder lebte seit der Trennung seiner Eltern hin und her gezerrt mal bei der Mutter, dann im Heim oder bei den Großeltern und ein ander Mal wieder beim Vater und dessen neuer Frau. Eine Familie hatte keiner der beiden mehr, nicht ihr Bruder noch sie selbst. Und ihre Großmutter hatte wieder geheiratet und war mit ihrem nunmehr fünften und endlich guten Ehemann in den Hamburger Arbeitervorort Lurup, das sie Fischkistendorf nannten, in eine selbst gezimmerte Bude gezogen, um der engen Stadt zu entfliehen. Und Fischkistendorf hieß es, weil viele Männer Hafenarbeiter waren und sich aus den Fischkisten ihre Bretterbuden gezimmert hatten. Darin hatten sie außerhalb des Hamburger Stadtkerns den Krieg unbeschadet überlebt und ernährten sich überwiegend von dem, was auf ihrem großen Pachtgrundstück wuchs.

    In Schenefeld half ihre Großmutter beim Bauern Sagemann aus, und so brachte diese von da selbst in der schlechten Zeit Wurst, Butter und Brot. Steckrüben und rote Wurzeln konnten sie sich vom Acker holen, so viele sie wollte.

    Und in Eidelstedt wurden auf dem ausgedehnten Rangierbahnhof gemeinsam die Kohlen von den Güterzügen geklaut. Die Polizisten guckten meistens weg. Und wenn sie es mal nicht machten, war das auch nicht so schlimm, denn dann konnte man sich in der warmen Wachstube der Polizei die kalten Glieder kostenlos aufwärmen, bis sie die Kohlenklauer dann doch wieder laufen ließen.

    Diese für die meisten entbehrungsreiche Zeit durchlebte meine Mutter in dieser Form nicht. Und am Kriegsende stand das den Deutschen ja erst noch alles bevor. Ihre Ahnung flüsterte meiner Mutter ein, dass es besser sei, aus Deutschland zu entfliehen. Und das südlich-warme Italien sehen und erleben zu können, wo all die munteren Italiener lebten, mit denen man so rasch warm wurde, wie sie aus der Arbeit mit den Menschen der italienischen Botschaft erfahren hatte, verstärkte ihren heißen Wunsch, den sie sich bis dahin nicht hatte erfüllen können. So erschien ihr dies unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Dritten Reichs als die letzte Gelegenheit, deutscher Kälte zu entkommen und menschliche Wärme zu finden. Doch sie wusste nicht, dass es neben einem warmen auch ein eiskaltes Italien gibt und dass die Menschen viel Schatten werfen, wo die Sonne besonders licht scheint. Und das ist überall auf der Welt dasselbe, denn bei allen Menschen menschelt es und bei manchen nicht einmal das.

    Sie durfte mit dem Lastwagen, der die Akten der italienischen Botschaft transportierte, in den Süden mitfahren. In Grafenwöhr in der Oberpfalz blieben alle auf einem Truppenübungsplatz und wurden in einer Kaserne untergebracht. Eines Tages holte sie der Krieg aber auch hier ein, und es gab Fliegeralarm. Sie nahm ihre Reisetasche, in der sie die wichtigsten Kleidungsstücke, Papiere und ihren Fotoapparat immer griffbereit hatte und lief in den nahen Wald. Die Gebäude wurden durch Bomben völlig zerstört, und hier konnten sie nun auch nicht mehr bleiben. Alle Botschaftsangehörigen begaben sich daraufhin nach München, und meine Mutter durfte wieder einmal mitkommen.

    Es war Ende April 1945. Für sie stand fest, sie würde heimlich über die Grenze nach Italien gehen. Aber wie? - Ein katholischer Pfarrer hatte ihr die Adresse eines Nonnenklosters in Novara gegeben; dort sollte sie hingehen, die Nonnen von ihm grüßen und um Unterkunft bitten. Sie würden sie sicher aufnehmen, versicherte er, und dann könnte sie dort bleiben, bis die allgemeine Lage sich normalisiert hätte.

    Und ein italienischer Soldat, der als Kurier zwischen der damaligen italienischen Regierung in Salo (Lago Maggiore) und dem italienischen Botschafter in Deutschland hin und her reiste, bot ihr an, sie mit über die Grenze zu nehmen. Er hieß Sebastiano Triscari. Dieser ehemalige Kriegsgefangene, dem sie bereits in Berlin begegnet war und für den sie hatte dolmetschen müssen.

    Am 5. Mai 1945, drei Tage vor Ende des Zweiten Weltkriegs, sind dann beide heimlich über die Grenze nach Italien gegangen. Gott sei Dank hat sie dabei niemand erwischt, denn sonst wäre die Geschichte hier schon zu Ende gewesen und meine hätte gar nicht erst begonnen.

    Sebastiano schützte meine Mutter vor den italienischen Partisanen, indem er sie als seine Verlobte ausgab und sie auch bald schon dazu machte, denn er verliebte sich Hals über Kopf in die blonde Inge aus dem kühlen Norden. Und er nahm sie mit sich in den Süden wie eine errungene Trophäe. Auf abenteuerliche Weise gelangten die beiden in Viehwagons und Güterwagen innerhalb von drei Wochen schließlich in seine sizilianische Heimat hinunter, nach Sceti bei Tortorici in der Provinz Messina.

    Sie haben ihre Ankunft nicht ankündigen können, denn es gab weder Telefon noch funktionierte die Post. In Capo d'Orlando lebte ein entfernter Verwandter von Sebastiano, der mit einer Deutschen verheiratet war und einen kleinen Sohn hatte. Dort konnten sie übernachten. Und nachdem sie während wohl drei Tagesreisen mit einem Eselkarren zum fünfzig Kilometer vom Küstenort entfernten Tortorici gelangt waren, wurde der Esel bockig und weigerte sich energisch, den Karren auch noch die letzten Kilometer nach Sceti hinauf zu ziehen. Sie mussten die letzte Strecke wohl oder übel zu Fuß zu der kleinen Häuseransammlung mitten zwischen Haselnuss- und Mandelplantagen, dem Heimatdorf meines Vaters, hinaufgehen.

    Gepäck hatten sie nur wenig, und so schafften sie auch noch diese letzte Strecke zurück aus Krieg und Bedrohung ohne besondere Mühe. Aber ob eine Heimat Sizilien wirklich frei von Bedrohung wäre und ihre Kinder schützen würde, dazu fehlte beiden Ahnung und Wissen. Sie waren eben selbst noch ahnungslose Kinder.

    Meine sizilianische Verwandtschaft lebt auch heute, ein dreiviertel Menschenleben weiter, immer noch dort in den Bergen vom Haselnuss- und Mandelanbau und hat außerdem am Ätna ausgedehnte Weideflächen. Das liegt aber wohl hundert Kilometer weit entfernt, und die Männer des umfangreichen Familienclans hüten dort abwechselnd das Vieh. Die Weiden sind weiterhin nur gepachtet, denn die sizilianischen Großgrundbesitzer kassieren auf diese Weise seit Jahrhunderten ab. Die schlichte Landbevölkerung aber ist immer noch ohne eigenen Boden und darum sehr arm geblieben. Und wenn sie mal ein Schwein schlachten, dann kommt die Kleinmafia des Dorfes, und holt sich erst einmal die bessere Hälfte als Schutzgeld ab.

    Und der Schutz sieht so aus: „Du gibst mir, was ich von dir verlange und bist dann sicher vor meiner Gewalt. Gnade dir aber Gott, wenn du nicht tust, was ich dir sage!" Unter diese Gewalt wird sich geduckt, und auch die Kinder werden schon früh zu solchem duckmäusernden Verhalten angehalten. Wer das nicht will, muss sich entweder mit der Mafia solidarisieren und mitmachen oder er bekommt eine Kugel in den Kopf. So einfach lassen sich Kräfteverhältnisse ausbalancieren…………

    Und der Witz bei alledem ist, dass das Wort „Mafia" gar nicht ausgesprochen wird, gerade so, als gäbe es sie nicht, wenn man nur ja nicht davon redet. Als könnte man den Teufel herbei reden. Also wird vermieden, seinen Namen auszusprechen.

    Die einfachen Bauern haben gerade mal das Nötigste zum Leben, denn da ist ja diese kleinstädtische und dörfliche, so genannte ehrenwerte Gesellschaft, die glaubt, sich einen besonders satten Teil aus den armseligen Habseligkeiten der Armen hohlen zu dürfen. Wer sich dem aufgezwungenen Schutz der überall gegenwärtigen kleinbürgerlichen Mafia nicht fügt, muss mit schlimmen Repressalien rechnen. Und wenn er auch damit nicht klein zu kriegen ist, muss er es mit seinem Leben bezahlen. Dann kuschen alle anderen und werden bei den nächsten Naturalien- und Schutzgeldforderungen sofort klein bei geben.

    Ein Grund mehr, warum die südlich von Rom lebende Bevölkerung ihr Geld immer schnell in die Erweiterung ihrer Häuser steckt, denn Mauern können nicht mehr erpresst werden. In meinem ersten Buch habe ich noch weitere Mafiagepflogenheiten beschrieben, mit denen ich selbst konfrontiert wurde.

    Die weit verzweigte Verwandtschaft meines Vaters wartete mit bangem Hoffen auf ihre Söhne, denn seit die Italiener im Krieg nicht mehr an der Seite Deutschlands gekämpft sondern sich den Alliierten angeschlossen hatten, waren aus vorher Verbündeten Feinde geworden, und viele deutsche und italienische Soldaten, die vorher kameradschaftich Seite an Seite gekämpft hatten, befanden sich plötzlich hier wie da in Feindesland und wurden zu Kriegsgefangenen.

    Und so macht die Politik aus Menschen, die nur Menschen und nichts anderes als Menschen sind, Ungeheuer und Feinde. Und Menschen, die eigentlich nichts anderes als Menschen sein sollten, werden zu Feinden von Menschen, die ebenfalls eigentlich nichts anderes sein wollen, als Mitmenschen. Aber der künstlich gestreute Hass gräbt unüberbrückbare Gräben.

    Nicht jede Hoffnung auf Leben und Rückkehr erfüllte sich damals. Um so glücklicher waren meine Großeltern, Salvatore und Grazia, dass ihr Ältester, der Sebastiano, noch am Leben war und plötzlich wieder vor ihnen stand. Er brachte ihnen zu ihrer großen Überraschung seine Braut mit, eine neue Tochter des Hauses, und sie nahmen die blonde Inge herzlich bei sich auf.

    Mein Vater, der von hoch gewachsener Statur war und alle anderen um mindestens einen Kopf überragte, bat seine Mutter gleich nach der herzlichen Begrüßungsumarmung um seinen schwarzen Samtanzug, den sie auch gut für ihn verwahrt hatte. Sie brachte ihn sogleich herbei, und mein Vater war von nun an wieder durch und durch und ganz und gar der Sizilianer. Meine Mutter kannte ihn kaum wieder. So sehr erschien ihr sein Wesen verändert.

    Mein Opa Salvatore begab sich noch am selben Tag zusammen mit den beiden ältesten Brüdern meines Vaters zu dem kleinen Schweinestall vor dem einfachen, schmucklosen Haus. Sie schlachteten gemeinsam das einzige Schwein, und die Hühner rannten flatternd und gackernd davon. Kaum war der Todesschrei des Schweins verklungen, da erschienen wie aus dem Nichts auch schon ein paar Männer in ihren schwarzen Samtanzügen, frisch gebügelten weißen Hemden und einem schräg auf dem Kopf sitzenden Schirmkäppchen. Sie verlangten „ihre" Hälfte des Tieres. Und von der anderen Hälfte gab mein Großvater später der weitverzweigten Verwandtschaft die besten Teile.

    Die Nachricht, dass Sebastiano wieder nach Hause gekommen war und auch noch eine deutsche Braut mitgebracht hatte, verbreitete sich in Windeseile, und sie kamen nun nach und nach zum Begrüßungfest mit allerlei Naturalien, vor allem mit Essbarem. Auch zwei lebende Hühner waren darunter und ein Kaninchen. Keiner wollte sich lumpen lassen, sondern teilte gern mit der Gemeinschaft.

    Die Frauen waren meistens schwarz gekleidet und trugen selbst im Haus ein dunkles Kopftuch, denn sie pflegten nach einem Trauerfall ihre schwarze Kleidung immer mindestens drei Jahre lang zu tragen. War diese Zeit herum, wurde für mindestens ein weiteres Jahr dunkelblau getragen, und wenn dann inzwischen von der reichlichen Verwandtschaft wieder jemand verstarb, verlängerte dies die Trauerzeit. Wenn gar der Ehemann oder ein Kind starb, blieb ihre Kleidung für den Rest ihres Lebens schwarz.

    Das Foto auf der nächsten Seite zeigt meine sizilianischen Großeltern mit vier ihrer Kinder vor dem schlichten bäuerlichen Zuhause. Hinten rechts stehen mein Vater und seine älteste Schwester, die Antonina. Vorn links sehen wir Concetta und den Jüngsten, den Signorino, der nur drei Jahre vor mir geboren wurde.

    Die drei Schwestern meines Vaters und ein paar Cousinen mit ihren Kindern wohnten ganz in der Nähe, und mehrere Cousins, Schwager und Schwägerinnen füllten nun den Platz vor dem schlichten, am Berghang klebenden Haus. Einige betraten das einfache bäuerliche Gebäude durch seine recht schmale und niedrige Tür. Und der ansonsten fensterlose Raum, der sich ihnen auftat, wirkte fast wie eine Höhle, die an einer Seite mit einer langen Anrichte und einem schlichten Holzkohleherd ausgestattet war. Darauf stand einfaches Küchengeschirr.

    In der Mitte befand sich ein langer, grober Holztisch für die Großfamilie mit mehreren Hockern und Stühlen, und an der anderen Seite sah man hinter offenen Holzstäben, die den Eindruck eines Stalls vermittelten jedoch nicht von Küchenschränken, ein paar weitere Utensilien und wenige Vorräte. Einen Kühlschrank hatte man nicht, denn es gab ja keinen elektrischen Strom. Keller hatten diese Häuser auch nicht, und schon darum war nur sehr begrenzte Vorratshaltung möglich.

    Gegenüber vom Eingang erahnte man in dem schummrigen Raum entlang der hinteren Wand eine äußerst schmale, steile Steintreppe ohne Geländer, die hinauf in zwei enge Schlafkammern führte, in der die sieben Kinder meiner Großeltern zwischen drei und einundzwanzig Jahren und sie selbst schliefen.

    Sebastiano war das Älteste von insgesamt acht Kindern. Ein eigenes Bett hatte keiner von ihnen, sondern sie schliefen selbstverständlich immer mindestens zu zweit in den Betten, je nachdem, wie alt sie waren und wie viel Platz sie benötigten. Und wenigstens eines der noch kleinen Kinder pflegte die Nächte im Bett seiner Eltern zu verbringen, wo, sobald es eingeschlafen war, schon bald das nächste Geschwister chen gezeugt wurde. Auch erwachsene Geschwister und selbst Bruder und Schwester schliefen zusammen und haben wahrscheinlich auf diese Weise das eine oder andere Mal auch ihre ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gesammelt. Aber darüber redete man natürlich nicht. Ehen zwischen Cousin und Cousine waren ebenfalls völlig normal. Es änderte sich dann nicht einmal der Nachname der Frau.

    Meine Tante Concetta - jüngste Schwester meines Vaters - heiratete ihren Cousin Antonino. Er ist der Sohn des Bruders seines Schwiegervaters! Er hat also die Tochter seines Onkels geheiratet. Und hervorgegangen sind aus der Ehe drei gesunde, wunderbare Kinder. Wobei die älteste Tochter, Gaetana, auf sehr mysteriöse Weise in Hamburg einen Verkehrsunfall erlitt und im blühenden Alter von nur einundzwanzig Jahren bereits sterben musste. Möglicherweise hat ihr Exverlobter da nachgeholfen, denn er hatte ihr bei der Trennung versprochen, sie zu erwischen, ganz egal, wo auf der Welt sie sei. Möglicherweise war es aber auch nur ein ganz normaler Unfall. Seltsam war jedenfalls, dass der Unfallfahrer ein Pole italienischer Abstammung war. Vielleicht ein Zufall, vielleicht auch nicht.

    Man war durch die engen verwandtschaftlichen Bindungen und das sehr beengte Leben in den eigenen vier Wänden einander immer sehr nahe und blieb auch sonst füreinander da. Und das blieb so ein Leben lang und festigte die Gemeinschaft.

    Meine Oma Grazia bereitete nun nach der Rückkehr ihres Sohnes zusammen mit den Frauen ein üppiges Mahl. Wasser wurde vom wohl fünf Minuten entfernt gelegenen Brunnen, der sich auf dem Dorfplatz vor der kleinen Kapelle befand, in Schüsseln auf dem Kopf herbei getragen, denn natürlich gab es kein fließendes Wasser im Haus. Eifrig frisch gemahlenes Getreide knetend und dabei schwatzend, lachend und singend rollten sie behände Nudeln mit der flachen Hand auf dem langen, bäuerlichen Esstisch aus: Hand gemachte Spaghetti, wie sie noch heute bei Festen in den ländlichen Gebieten hergestellt und genossen werden. Jede einzelne Nudel ohne irgendwelche Nudelmaschinen sondern von Hand ausgerollt, bis sie fein und dünn zu einer etwa zwei bis vier Millimeter dünnen Spaghettistange von ungefähr einem Meter Länge geworden ist.

    Die Mahlzeiten wurden nicht nur an diesem Festtag sondern auch sonst praktisch nie mit Gemüse oder gar frischem Salat zubereitet, weil das gar nicht vorhanden war. Das Essen bestand meistens aus einfachen Mehlspeisen und vielleicht mal einem in reichlich Olivenöl gebratenem Spiegelei sowie einem vom Brotlaib abgebrochenen Stückchen, das man in das Öl eintauchte. Und da die häuslichen Getreidemühlen immer mehr verschwanden und man statt dessen raffiniertes Mehl und schließlich auch fertige Teigwaren beim Dorfkrämer einkaufte, litten sie alle an Nährstoffmangel und hatten meistens schon im Alter von zwanzig Jahren nur noch wenige Zähne.

    Viele litten unter rheumatischen Beschwerden oder hatten ständig Kopfschmerzen, wie die älteste Schwester meines Vaters. Dennoch wurden sie oft sehr alt, denn sie aßen bei ihrer Arbeit in den Mandel- und Haselnussplantagen und beim Hüten der Rinder so manches natürliche Kraut direkt vom Wegrand. Und das glich den Mangel wieder etwas aus.

    Zu den Nudeln bereiteten sie eine einfache Soße aus gekauftem Tomatenmark, mit reichlich Olivenöl, Knoblauch, Zwiebeln, frischem Rosmarin und Thymian, die wild hinter dem Haus wuchsen, etwas Basilikum und Oregano. Doch einige bevorzugten Spaghetti in bianco (= weiß) ohne Tomatensauce und taten sich lediglich etwas frisches Öl an ihre Spaghetti. Dazu aßen sie das nicht gerade appetitlich wirkende Schweinefleisch samt Adern und Sehnen sowie vorher gut gewaschenen Därmen und dem klein zerschnittenen Magen. Das war für sie das Köstlichste an der Mahlzeit. Und dass die Mafiosi sich ein halbes Schwein unter den Nagel gerissen hatten, das gehörte eben zu ihrem Leben. Was sollten sie sich darüber aufregen?

    Inzwischen war es dunkel geworden, und sie zündeten ein paar Öllampen an, die flackernd schummriges Dämmerlicht in dem sonst düsteren Raum verbreiteten. Sie setzten sich um den inzwischen vom Mehl wieder gereinigten großen Holztisch herum, ihre munteren Gespräche fortführend, von denen meine Mutter nur wenig verstand, denn der sizilianische Dialekt ist selbst für einen Italiener nur schwer zu verstehen. Und da die wenigsten - wenn überhaupt, dann nur drei Jahre - in die Schule gegangen waren, hatten sie ihre Sprache auch nicht kultivieren können und redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war.

    Da nicht alle Platz am Tisch fanden, stellten sie sich mit den Tellern in der Hand daneben, oder sie setzten sie auf der Anrichte an der Wand neben dem Ofen ab.

    Nach der Mahlzeit rückten sie den Tisch nach hinten an die Treppe und schoben die Stühle eng aneinander um einen offenen Holzkohleofen herum, der in die Mitte auf den Boden gestellt worden war. Rund um das runde, metallene Feuergefäß lief eine hölzerne Fußbank, auf die sie ihre Füße stellten. Das flackernde Licht von Öllampen und offenem Feuer verbreitete eine anheimelnde Atmosphäre, und sie wärmten ihre Rücken in dem sonst kalten Raum mit großen Tüchern, in die sich vor allem die Frauen einhüllten.

    Mäntel oder warme Jacken, außer vielleicht Strickjacken, besaßen sie alle nicht, obwohl es hier oben in den Bergen im Winter oft recht kalt wurde und auch durchgängig mal Schnee lag. Und sie hatten auch nur zwei Röcke und zwei Pullover zum Wechseln, denn die Armut vereinte sie alle miteinander ebenso wie ihr intensives Zusammengehörigkeitsgefühl, in der jedes Familienmitglied und jeder, sei er nun eigenes Kind oder Schwiegerkind, als besonderer Reichtum empfunden wurde. Und sie pflegten sich gegenseitig als Geschenke ihres Herrgotts, denn die Familie war das größte Glück und hoch zu schätzender Besitz.

    Sie saßen noch bis tief in die Nacht hinein beisammen, tranken rauhen Landwein und erzählten sich vom vergangenen Krieg und von der düsteren Zukunft, die sie jedoch nicht beunruhigte, denn sie waren ihre Armut seit Jahrhunderten gewohnt.

    Um so mehr freuten sie sich über die Braut ihres Sohnes und über jedes neue Kind, das ihre Gemeinschaft bereicherte und ihnen Freude in ihr schlichtes Leben brachte. Und ihre Schwiegertochter in spe, die blonde Inge, schenkte ihnen die Vorfreude auf das Enkelkind, das sie bereits in sich trug, worüber man während der kommenden Wochen zuerst tuschelnd und dann zunehmend lauter und voller Freude miteinander plauderte. Man sprach sogar davon, das elterliche Haus anzubauen und den beiden mit Hilfe der gesamten weitverzweigten männlichen Verwandtschaft ein eigenes Dach über dem Kopf zu schaffen. Aber es sollte ganz anders kommen…..

    Meine Mutter wurde schon am nächsten Morgen durch aufgeregtes Gezeter über gestohlene Rinder aus dem Schlaf gerissen. Als meine Mutter aus dem Fenster hinunter sah, wurde sie zunächst von niemandem wahrgenommen. Sebastiano stand unten auf dem Hof zusammen mit seinen Brüdern, ein paar Cousins und Schwagern. Sie gestikulierten heftig mit ihren Händen und dem ganzen Körper, und steigerten sich immer lauter in ihren berechtigten Zorn hinein.

    Während des Kriegs, so erfuhr mein Vater nun, hatten die Mafiosi sich an dem Vieh seiner Sippschaft schamlos bedient, weil nur wenige Männer nicht in den Krieg hatten ziehen müssen und man die Jungens nicht allein zum Vieh hüten zu den wohl hundert Kilometer entfernten Weiden hatte schicken wollen noch können. Außerdem: Was hätten die schon ausrichten können?

    Sebastiano ergriff zornig das Wort. Denen werde ich's zeigen! Ihr duckt alle zu sehr vor diesen Aasgeiern! Die können mich mal. Ich habe keine Angst! Ich hol' uns das Vieh zurück. Wir müssen nur fest zusammen halten und gemeinsam…. - Das ist unmöglich. Viel zu gefährlich, konterten sie, die sind doch in der Überzahl und haben Gewehre! Und so ging es hin und her, und es wurde ein immer heftigeres Wortgefecht.

    Nach ein paar Tagen, die sie immer wieder diskutierend und gestikulierend beieinander gestanden hatten - und die von Weitem zusehenden Frauen ahnten dabei nichts Gutes und versuchten vergeblich zu beschwichtigen - entdeckten sie plötzlich, dass ihnen nachts heimlich alle Hühner gestohlen worden waren. Und dem Hund war Gift gegeben worden. So hat er auch nicht bellen können.

    Das war der Moment, wo mein Vater sich entschloss, sich notfalls allein gegen die Mafia zu stellen, koste es, was es wolle. Er fürchtete weder Tod noch Teufel! Hatte er im Krieg doch viel schlimmere Sachen überlebt, wie er glaubte. Und so umarmte er seinen innerseelischen, kapriziösen Ziegenbock und zog glücklos allein zu Felde gegen eine Macht, die aus jedem normalen Ziegenbock einen Sündenbock machte. Und der wird nicht geduldet sondern erschossen.

    Denn wer nicht sein darf, wie und was er ist, der wird von einer Bande selbst ernannter Machthaber kaltblütig aus dem Weg geräumt. Wer leben darf, wer nicht: das bestimmen oftmals andere. Nicht aber diese eigenwilligen Selbstbesitzer. Die Bande von Hitlertypen nehmen sich selbst noch das Selbst eines Menschen und radieren es gnadenlos aus. Und dies durchaus nicht nur in Sizilien sondern überall auf der Welt: Sogar in Hamburg-Lurup, wie wir noch sehen werden……………

    Meine Mutter befand sich gerade in der Küche, als ein paar Gewehrsalven durch die Luft knallten und mehrere Männer Flüche hinterher riefen. Und als sie, ihre Hände rasch am Rock trocknend, an die Haustür eilte, kam mein Vater auch schon herein gestürmt.

    Ich bin zu Hause gewesen! Sag den Leuten, dass ich die ganze Zeit hier war! rief er meiner Mutter zu. Ein wild flatterndes und gackerndes Huhn mit dem Kopf nach unten in der Hand und die Taschen voller Hühnereiern - die meisten waren ihm schon bei seiner wilden Flucht zerbrochen - preschte er an ihr vorbei und drückte sie heftig beiseite. Dabei knallte er mit der Hüfte an den Türpfosten, und nun lief ihm die ganze Soße an Eigelb und Eiweiß unten aus den Hosenbeinen heraus und in seine Schuhe, und das Huhn floh entrüstet flatternd und gackernd wieder nach draußen.

    Seine Angst spornte seine Wut an, doch seine Verfolger ließen von ihm ab, obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, ihnen hier und sofort zu erschießen. Kein Hahn hätte nach ihm gekräht, und die ängstlichen Hühner sowieso nicht.

    Sebastiano hatte Ordnung und Gerechtigkeit wieder herstellen wollen. Aber seine hilflose Unternehmung war von vornherein zum Scheitern verurteilt, und derart selbstbewusste und selbständige Menschen, wie mein Vater, hatten in Sizilien keinerlei Überlebenschance. Meine Mutter sah von der Tür aus noch, dass ein paar Männer mit Gewehren in der Hand davon liefen. Die Gefahr schien also zunächst einmal gebannt.

    Sebastiano machte inzwischen auch keinen Unterschied mehr zwischen Schuldigen und Unschuldigen. Er wollte einfach nur noch den Viehbestand wieder auffüllen. So hatte er gleich mehrere Feinde in seinem kleinen Dorf, und mein Großvater versuchte vergeblich, seinen Sohn zum Aufgeben zu bewegen.

    Mein Vater fühlte sich in seinem Stolz gekränkt, und auch am nächsten Tag und alle weiteren Tage versuchte er wieder und wieder, die Ehre seiner beklauten Familie wieder herzustellen und das Recht auf seine eigene Weise zu erzwingen, indem er nun auch noch Kaninchen klaute. Doch das Recht lässt sich nur durch Böses beugen, jedoch nicht von Rechtschaffenen erzwingen.

    Und wieder und wieder verfolgten sie ihn mit ihrem Hass. Sie schossen auf den Flüchtenden, drangen aber nicht ins Haus ein, denn sie respektierten meinen Großvater, der von sehr ausgewogenem Charakter war und voller Güte.

    Meine schwangere, völlig verängstigte Mutter ertrug das alles immer weniger und sann auf Abhilfe für sich und das werdende Leben in ihrem Leib, denn sie hatte erkannt, dass es Sebastiano über kurz oder lang erwischen würde. Und was sollte sie dann noch in dieser so völlig anderen Welt anfangen? Sie hatte sich ihr Leben in Italien wahrhaftig anders vorgestellt!

    Da die Frauen grundsätzlich niemals einzeln und unbegleitet zum Brunnen, dem Kaufmann, in die Kirche oder zu den nah bei wohnenden Verwandten zu gehen pflegten, suchte meine Mutter ein paar Wochen hindurch vergeblich nach einer Möglichkeit, zu entwischen. Es gelang ihr irgendwann aber doch, sich heimlich im Morgengrauen weg zu schleichen, als mein Vater nachts wieder einmal versucht hatte, Kleinvieh zu stehlen und nicht zu Hause war.

    Sie gelangte nach ein paar Tagen Flucht, zu Fuß bergauf und bergab rennend und sich dabei immer wieder ängstlich umsehend und verbergend, nach Capo d'Orlando an die Küste zurück und vertraute sich Anita, der jungen Deutschen an, die sie auf ihrem Weg nach Sizilien kennen gelernt hatte. Telefon gab es ohnehin noch nicht, und so konnte sie auch niemand rasch verraten, selbst wenn er sie gesehen hätte.

    Anita versorgte meine Mutter heimlich und ohne dass ihr Mann etwas davon erfuhr, mit etwas Geld, einem Stück Brot, Oliven und sogar ein paar Äpfeln und schickte meinen völlig aufgelösten Vater, der bald schon nachfragen sollte, in die entgegengesetzte Richtung nach Palermo. Meine Mutter war aber bereits unterwegs in Richtung Messina und dem italienischen Festland. Anita hatte ihr noch die Adressen von den deutschen evangelisch-lutherischen Diakonissen in Neapel mitgeben können. Dorthin sollte sie sich wenden. Die würden ihr sicher helfen können, hatte sie ihr geraten.

    Sie hörte lange nichts mehr aus Sizilien. Erst Jahre später, als wir bereits in Deutschland lebten, erhielt sie einen Brief von Anita und erfuhr nun, dass mein Vater einige Wochen nach ihrer Flucht von Unbekannten hinterrücks erschossen worden war, als er am Fuß des Ätna versucht hatte, von den Mafiosi das geklaute Vieh seines Vaters zurück zu holen. Er hörte auf niemandes Rat mehr und war nach der Flucht seiner Braut völlig unzugänglich geworden. Man fand ihn schließlich mit einer Kugel im Kopf. Offiziell hat nie ein Mord statt gefunden, sondern man stellte lediglich fest: Man hat ihn tot aufgefunden. Ich habe später selbst nachgeforscht und ein entsprechendes behördliches Schreiben erhalten. Niemand hatte jemals ein echtes Interesse daran, solche Fälle aufzuklären, da ihm sein Leben und das Leben seiner Familie lieber ist.

    Anita wanderte in den folgenden Jahren irgendwann mit ihrer Familie nach Australien aus, und meine Mutter hat danach nie wieder etwas von ihr gehört.

    Den zweiten Weltkrieg überlebte mein Vater und auch die deutsche Gefangenschaft jedoch nicht die Forderungen seiner sizilianischen Heimat, seinem Vater zu gehorchen, gegen seine eigenen Überzeugungen zu handeln und den Mafiosi Tribut zu zahlen. Er widersetzte sich alledem, damit auch seinem Über-Ich und wurde im blühenden Alter von nur dreiundzwanzig Jahren Opfer seines stark entwickelten Selbstbehauptungswillens. Und weil genau das nicht geduldet wurde, wurde er ein Opfer der Mafia und bezahlte seinen Wunsch nach Gerechtigkeit mit seinem Leben.

    Meine Mutter nannte meinen Vater einen Dickschädel, der sich selbst geschadet habe. Mir aber wurde er schon in meiner schweren Kindheit zum unbewussten Leitbild. Und so rief er mir wohl aus seinem Grabe zu: Nicht beugen lassen, Kind! Egal, was Menschen dir antun! Lass dich niemals beugen! Und das ist auch das Erbe, das mir mein Vater hinterlassen hat. Ein Vermächtnis, dass ich oftmals als Bürde empfunden habe, vor dem ich mich aber freiwillig ehrfürchtig beuge. Mein väterliches Über-Ich heißt „Wahrhaftigkeit".

    Unterschiedlicher als meine Eltern konnten zwei Menschen überhaupt nicht sein. Auf der einen Seite meine Mutter, eine oftmals recht zwanghafte Person, die zudem alles weg schob, was sie belasten könnte und notfalls die Flucht davor ergriff oder aber immer wieder versuchte, sich durch übertriebene Unterwürfigkeit und tausend und eine Absicherung einem scheinbar unausweichlichen Schicksal zu beugen und auf der anderen Seite mein Vater, der sich trotzig und erhobenen Hauptes der gnadenlosen Mafia entgegenstellte und geradewegs in seinen Tod hinein rannte. Der Aufrechte musste sterben und ein Leben lang tot sein, Die sich Beugende durfte weiter leben. Welcher Preis ist nun höher: Gebeugt zu leben oder aufrecht zu sterben?

    Ich habe beides durchlebt, bin fast erschlagen worden und habe mich dennoch wieder aufrichten können, weil mich - Gott sei Dank - niemand wirklich umgebracht hat. Ich habe Glück gehabt, mein Vater aber nicht. Er blieb – Ironie des Schicksals - ein Leben lang tot. Durch mich habe ich ihm vielleicht ein Stück seines Lebens zurück gegeben. Aber auch nicht, ohne meinen Preis dafür gezahlt zu haben.

    Das kalte und das warme Rom

    Meine Mutter gelangte auf ihrer erneuten abenteuerlichen Flucht schließlich von Sizilien nach Neapel. Italien war so unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg den Deutschen durchaus nicht sonderlich wohlgesonnen, denn die hatten schwer gewütet und reichlich Leid ins Land gebracht.

    Ich lernte Jahrzehnte später in Terracina eine Italienerin kennen, die mir ihr schreckliches Erlebnis mit den Deutschen schilderte, als sie ein kleines Mädchen war. Ihre Mutter trug den kleinen Bruder, der noch ein Baby war, auf dem rechten Arm, und an der linken Hand hielt sie ihre achtjährige Tochter. Sie schaute deutschen Soldaten fest dabei in die Augen, als diese eiskalt das Gewehr anlegten und Mutter und Brüderchen erschossen. Sie wuchs mit diesem schrecklichen Erinnerungsbild bei Verwandten auf. Und trotzdem hegte sie keinen Hass und bewahrte sich ein reines Herz, denn sie war mit der Gabe der Unterscheidungsfähigkeit begnadet.

    Meine Mutter war inzwischen im fünften Monat, und die blonde junge deutsche Frau, fiel sicher allgemein auf. Sie benötigte in ihrem Zustand dringend die Hilfe guter Menschen. Von der italienischen Botschaft aus Deutschland her hatte sie noch ein paar Anschriften und von Anita die der deutschen Diakonissen in Neapel. Dorthin ging sie erst einmal. Sie schickten sie gleich weiter zu ihren Schwestern nach Rom, und diese guten Frauen vermittelten ihr eine Arbeit als Hausmädchen bei der Familie Spagna in Grottaferrata in den Albaner Bergen nahe der italienischen Hauptstadt, wo sie der Provinz Rom zunächst einmal von seiner warmen und herzlichen Seite begegnen konnte.

    Der Hausherr war Rechtsanwalt und den Deutschen freundlich gesinnt, was ihm nach dem Krieg jahrelang Schwierigkeiten einbrachte. Die Spagnas besitzen bis heute reichlich Ländereien, von denen sie sich auch nach dem Krieg schon gut allein mit Nahrung versorgen konnten. Und so konnte meine Mutter in Ruhe ihrer Niederkunft entgegensehen. Dem kaltherzigen Rom begegnete sie erst ein paar Monate später…..

    Auf der folgenden Seite habe ich ein paar alte Fotos aus dem Jahr 1946 zusammen mit neueren des Jahres 2006 zusammengestellt. Dazwischen liegen also sechzig Jahre. Zum dreiundachtzigsten Geburtstag lud ich meine Mutter im April 2006 nach Grottaferrata in ein schönes Hotel ein. Grottaferrata liegt übrigens nur sechs Kilometer von der bekannten Weinstadt Frascati entfernt. Und unweit davon befindet sich die päpstliche Sommerresidenz in Castellgandolfo. Wir wurden bei unserem Besuch sehr herzlich begrüßt. Frau Spagna lebt natürlich nicht mehr. Aber Laura, ihre Tochter, die auf dem Schwarz-Weiß-Foto neben ihrer Mutter steht und dann daneben auf dem Farbfoto mit mir zusammen. Auf dem Farbfoto darunter ist sie zusammen mit meiner Mutter zu sehen.

    Oben links auf den Fotos der Seite 31 sehen wir das bäuerliche Haus und daneben hält mich meine Patentante, eine evangelisch-lutherische Diakonisse, auf dem Arm.

    In der Mitte trägt mich Signora Spagna und daneben - rechts auf dem Farbbild -steht ihre Tochter Laura, die wir rund sechzig Jahre später im April 2006 zusammen mit meiner Mutter wieder getroffen haben.

    Unten links sehen wir die beiden Frauen nochmals und rechts daneben war ich ein Jahr alt. Da war ich allerdings leider nicht mehr dort, sondern ich hatte meine ersten grausamen Lebenslektionen bereits abbekommen.

    Mein Geburtshaus lag hinter diesen gewaltigen, antiken römischen Mauern, die der Volksmund Le Muracce (die hässlichen Mauern) nennt.

    Es wäre für uns besser gewesen, wenn meine Mutter bei den Spagnas, die wirklich gute Menschen waren, geblieben wäre. Das hätte uns sehr viel Leid erspart. Aber wer kann schon in die Zukunft sehen?

    Die ersten fünf Monate meines Lebens blieben wir dort. Weil aber auch ein behinderter zwölfjähriger Junge hier lebte, vor dem sich meine Mutter sicher grundlos fürchtete und wegen der großen Hunde, die wohl mal meinen Kinderwagen umgeworfen hatten und vielleicht auch, weil ihr ganz einfach die Hausarbeit nicht gefiel, ging meine Mutter nach nur fünf Monaten dort weg und in die Stadt nach Rom, wo sie wieder im Büro arbeiten konnte.

    In Rom lebten auch einige der vormaligen Botschaftsangestellten, sodass sie wieder freundschaftlichen Kontakt hatte. Sie lernte in ihrer neuen Stelle ihre gute Freundin Monique Bourgés kennen, die später den Guido Scalia heiratete. Die beiden verbindet bis heute eine tiefe Freundschaft. Monique war ein junges Mädchen, als sie am Kriegsende wegen der Deutschfreundlichkeit ihres Vaters zusammen mit ihrer Familie aus Frankreich hatte fliehen müssen. Doch das ist eine andere teilweise recht tragische Geschichte im Gefolge dieses unseligen Zweiten Weltkriegs gewesen, der viele Lebensgeschichten von Generationen nachhaltig prägen sollte.

    Erst unter de Gaulle konnten sie nach einer Generalamnestie nach Frankreich zurückkehren, ohne dass die zuvor ausgesprochene Todesstrafe vollzogen wurde. Und die Franzosen taten sich sehr schwer mit dieser Amnestie! Verzeihung zu üben ist eben Charaktersache. Monique aber blieb in Rom, denn sie hatte ja inzwischen mit Guido eine eigene Familie gegründet. Beide arbeiteten später bei der internationalen Lebensmittel- und Landwirtschaftsorganisation FAO.

    Meine Mutter gab mich nun einer alten Bäuerin in Obhut, die der Madonna gelobt hatte, eine gute Tat zu tun, damit sie ihren Sohn vom Alkoholismus befreien sollte. Diese gute Tat war dann ich. Offensichtlich war ihr eigenes Kind als Erwachsener nicht ohne Grund in den Alkohol geflohen, und es wurde meiner Mutter leider erst nach achtzehn langen Monaten hinterbracht, dass diese Bäuerin mich regelmäßig den ganzen Tag lang in ihrem stockdunklen Badezimmer verwahrte.

    Ja, weißt du denn nicht, was das für eine ist? Wie kannst du ausgerechnet der dein Kind anvertrauen? hatte man ihr gesagt.

    Und da nahm sie mich sofort dort wieder weg, verließ ihre zufriedenstellende Arbeit und damit ihre persönliche Chance auf ein gutes Leben und berufliches Fortkommen in Italien. Von da an teilte sie wieder voll und ganz das Schicksal der ledigen Mütter, ohne zu murren. Dass ihr eigenes Schicksal aber für ihr Kind weitreichende und fast lebenslange schwere Folgen haben würde, wurde ihr sicher niemals klar.

    Sie versuchte, das Beste zu tun, aber unsere Gesellschaft ist eben noch nicht so weit gediehen, einander Respekt zu zollen und die Würde des Menschen unangetastet zu lassen, wie es das Grundgesetz doch zu garantieren scheint. Es ist bis heute eine Farce geblieben. Die Ziele sind da, nur die Wege dorthin liegen noch verhüllt in undurchsichtigen Dschungeln und in Wüsten ohne Wasser. So sind Grundgesetz und Menschenrechtsgesetze eine viel gezeichnete Karikatur geblieben, die sich selbst verhöhnt.

    Tatsächlich litt ich meine ganze Kindheit hindurch an böser Dunkelangst und träumte oft von einer knöchernen Hand, die nach mir griff und mich schüttelte. Meine Mutter erzählte mir wohl dreißig Jahre später, diese Frau habe mich stundenlang mit nacktem Po in die Badewanne gesetzt, um sich das Windeln zu sparen und außerdem schon früh zur Sauberkeit zu erziehen. Meiner Mutter aber war es wichtiger, dass ihrem Kind nichts zustoßen sollte, als sich selbst in einem guten Beruf verwirklichen zu können, und sie zog die Konsequenz sofort.

    Das Muttertier in mir funktionierte, sagte sie mir später mal. Und darum funktioniert dies Muttertier auch jetzt immer noch in mir, wo sie mich wegen ihrer Altersdemenz braucht. Mütterlichkeit will pflegen, auch wenn es mühsam ist. Mütterlichkeit scheut keine Mühe und keine Beschwerden. Sie handelt, weil sie bewahren will. Wir benötigen mütterliche Menschen, und wir benötigen mütterliche Väter! Denn Mütterlichkeit ruht ebenso im Mann. Er darf gern zu seiner Mütterlichkeit vordringen, die ein Schatz ist. Er wird nur leider oftmals von Drachen bewacht wie das goldene Rheingold.

    Meine Mutter hat mir das wirklich Selbstverständliche vorgelebt, und ich bin für sie da, auch wenn es mir nicht immer so ganz leicht fällt. Einzig und

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