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Wo ist die Heimat der Seele, und was haben Hirnchirurgie und Sterbebegleitung gemeinsam?: Erinnerungen des Gymnasiasten, Studenten, Arztes und Familienvaters
Wo ist die Heimat der Seele, und was haben Hirnchirurgie und Sterbebegleitung gemeinsam?: Erinnerungen des Gymnasiasten, Studenten, Arztes und Familienvaters
Wo ist die Heimat der Seele, und was haben Hirnchirurgie und Sterbebegleitung gemeinsam?: Erinnerungen des Gymnasiasten, Studenten, Arztes und Familienvaters
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Wo ist die Heimat der Seele, und was haben Hirnchirurgie und Sterbebegleitung gemeinsam?: Erinnerungen des Gymnasiasten, Studenten, Arztes und Familienvaters

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About this ebook

Autobiografie mit Erinnerungen aus Gymnasialzeit, Studium und ärztlicher Tätigkeit vorwiegend in Chirurgie/Neurochirurgie und zuletzt Palliativmedizin. Betrachtungen über Differenzen und Gemeinsamkeiten der invasiven Medizin und der Betreuung Schwerstkranker und Sterbender.
LanguageDeutsch
Release dateJun 19, 2012
ISBN9783842313712
Wo ist die Heimat der Seele, und was haben Hirnchirurgie und Sterbebegleitung gemeinsam?: Erinnerungen des Gymnasiasten, Studenten, Arztes und Familienvaters
Author

Peter Gruß

Am 13. Januar 1940 bin ich in Dresden geboren. Nach der Zerstörung der Stadt, an die ich mich erinnere, konnten meine Mutter, die jüngere Schwester und ich zu bäuerlichen Verwandten ins westfälische Sauerland gelangen. Dort und später in Handorf bei Münster besuchte ich die Volksschule. Ab 1950 war ich Schüler des Gymnasium Paulinum Münster, wo ich nach dem Abitur 1959 die vorklinische Medizin studierte. Die klinischen Semester verbrachte ich in Münster, Kiel und größtenteils in Würzburg, wo ich mich in der Neurochirurgie als Famulus betätigen und eine Dissertationsarbeit beginnen konnte. Ich lernte eine charmante Studentin der Volkswirtschaft kennen, wir heirateten 1965, wurden beide in Stuttgart beruflich tätig, zogen dann um nach Annweiler am Trifels, wo unser erster Sohn geboren wurde. Gut eineinhalb Jahre arbeitete ich dann in Münster, wo unser zweiter Sohn zu Welt kam. Nach den Lehr- und Wanderjahren zog es uns wieder nach Würzburg zurück; 1970 bekamen wir eine Tochter. In der klinischen Neurochirurgie war ich tätig wie auch in Wissenschaft und Lehre. Von Würzburg verschlug es uns 1982 nach Regensburg, wo ich im Krankenhaus Barmherzige Brüder eine neurochirurgische Klinik aufbauen konnte, damals die erste in Ostbayern. 2001 zog ich mich von der operativen Medizin zurück und betreute ärztlich noch gut fünf Jahre die neu eingerichtete Palliativstation am o. g. Krankenhaus. Nach der Pensionierung ab 1. Januar 2007 helfe ich noch ein wenig in einer neurochirurgischen Praxis bei der Sprechstunde und halte bisweilen Unterricht oder auch mal einen Vortrag über Palliativmedizin. Meine Frau und ich sind vollauf begeistert von unseren Enkeltöchtern.

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    Wo ist die Heimat der Seele, und was haben Hirnchirurgie und Sterbebegleitung gemeinsam? - Peter Gruß

    hat.

    Kapitel 1

    Die altehrwürdige Schola Paulina Münster

    Noch vor dem Osterfest 1950 musste ich die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium bestehen. Von dem sechs Kilometer entfernten Dorf, in dem wir wohnten, fuhren wir früh mit dem Bus in die Stadt hinein. Es war kühl und windig, aber die Sonne schien, und ich war voller Erwartung, was auf mich zukommen würde, hatte aber einige Bedenken, weil ich kein besonders guter Schüler war. Vor dem alten Bau des Gymnasiums entließ mich meine Mutter, am Mittag würde sie mich wieder abholen, später müsste ich dann sowieso alleine gehen und fahren. Dieses „Später" erschien mir äußerst ungewiss als ich in den großen Klassenraum für die Aufnahmeprüflinge hinein kam: Über 30 Prüflinge schwirrten da herum. Ich kannte nur einen, der aus meinem Dorf war, der Sohn des Landrates, er war ganz nett, aber ich war nicht mit ihm befreundet. Der Raum hatte eine große Deckenhöhe, auch die Fenster waren entsprechend hoch, aber nach Norden gelegen. Meine Stimmung war etwas gedrückt. Ich wollte zwar von der Volksschule weg, weil ich den Unterricht dort oft eintönig fand und besonders weil ich von der Klassenlehrerin enttäuscht war: Zunächst hatte ich sie bewundert, aber nach dem ersten Halbjahr in der vierten Klasse hatte ich mal wieder nicht still sitzen können und auch noch meinen Nachbarn angeredet. Da rief die Lehrerin mich vor die Klasse. Ich musste meine Hand öffnen, sie schlug mit einem Stöckchen in die Handinnenfläche. Dort sah man noch nach drei Tagen einen roten Strich, und ich habe sie dann nicht mehr bewundert. Jetzt musste ich mich auf diese Prüfung konzentrieren: Ein kleines Diktat war zu schreiben, das schien mir kein Problem ebenso wie eine kurze Nacherzählung. Aber die drei Rechenaufgaben hatte ich nicht richtig begriffen und war ziemlich skeptisch, hatte aber dann doch die Prüfung bestanden und wurde nach Ostern ein Schüler dieser traditionsreichen Bildungsstätte, angeblich als Domschule etwa im Jahre 800 gegründet auf Anweisung Karls des Großen.

    Ich gelangte in die Sexta A, deren Unterricht in dem Raum stattfand, in dem wir auch die Aufnahmeprüfung absolviert hatten. Der Ruhm dieser altehrwürdigen Einrichtung verhinderte nicht, dass sich Langeweile einschlich und mangelndes Interesse an dem, was wir nun lernen sollten. Das Einzige, was mich fesselte, war der Biologieunterricht: Der Biolehrer war auch unser Mathematiklehrer, sein Herz schlug für die Biologie. Er erklärte uns botanische und zoologische Phänomene, beschrieb Strukturen, erläuterte Vorgänge und malte viel an die Tafel. Wir konnten unter seiner Anleitung sogar an Pflanzen präparieren, wozu wir nur eine Stecknadel benötigten. Eines Tages erklärte er uns, wir sollten doch zur nächsten Biologiestunde Lupinen mitbringen, diese würden überall in den Trümmern wachsen, sodass es kein Problem wäre, auf dem Schulweg einige zu pflücken. Am nächsten Montag um acht Uhr war Biostunde, einige Plätze waren noch frei. Eine Minute nach acht kam der erste Unpünktliche, der Lehrer rügte ihn. Ich selbst war Gott sei Dank pünktlich gewesen, obwohl ich mit dem Bus sechs Kilometer fahren und dann noch mindestens 20 Minuten in das Nordviertel laufen musste. Um 8:05 Uhr trafen zwei weitere Schüler verspätet ein, die natürlich eine Standpauke bekamen. Der Unterrichtsbeginn verzögerte sich, und das Stimmungsbarometer des Lehrers ging deutlich nach unten, zumal niemand auch nur eine einzige Lupine mitgebracht hatte. Um 8:10 Uhr ging die Tür auf: Duckwitz kam herein, ziemlich langsam und tranig. Warum er zu spät komme, fuhr der Lehrer ihn an. Duckwitz zuckte die Achsel.

    Da wurde der Klassenlehrer wütend, zog seinen Füllfederhalter und erklärte dem hilflos dastehenden Schüler: „Ich werde dich jetzt wegen nicht entschuldigten Zuspätkommens ins Klassenbuch eintragen, setz dich! Duckwitz polterte mit seinem Schulranzen und einer großen Tüte zu seinem Platz. „Was hast du denn da in der Tüte?

    „Lupinen, antwortete Duckwitz weinerlich. Wir konnten gar nicht so schnell schalten, wie sich die Mine des Lehrers aufhellte. Er klappte das Klassenbuch wieder zu, zog sein Notizbuch aus der Jackentasche und erklärte: „Ich schreibe jetzt Duckwitz eine Interessenszwei an für besonderes Bemühen um den Biologieunterricht.

    Die Lupinen waren zahlreich und gut, ebenso wie die folgende Biostunde, in der wir die Blumen präparieren konnten, während unser begeisterter Lehrer die Funktionen der Pflanzenteile erläuterte.

    Im Spätsommer bekam ich ein Fahrrad, es war herrlich. Die Freiheitsräume waren erweitert, die Beweglichkeit verbessert, und ich konnte morgens noch gut eine halbe Stunde länger schlafen; insbesondere konnte ich auf dem Schulweg absteigen und an der Landstraße Zigarettenschachteln aufsammeln, von deren Vorder- und Hinterseite wir Karten herstellten für ein Glücksspiel, das süchtig machte. Mit meinem Banknachbarn Hülso verstand ich mich bestens, er hatte immer einen Tropfen unter der Nase, und während der Lateinstunde spielten wir unter der Bank Zigarettenkarten.

    Der Lehrer, ein feiner älterer Herr bemerkte das und sagte: „Ich werde jetzt Gruß und Hülso gerechter Weise eine sechs anschreiben."

    Das tat er dann, und ich musste heulen, denn ich stand in Latein bei ausreichend minus. Hülso tröstete mich, ich solle doch nicht heulen, mit dem Latein das sei doch wurscht, flüsterte er mir zu. Der Tropfen unter seiner Nase vergrößerte sich und fiel herunter. Wir steckten schnell unsere Zigarettenkarten weg und täuschten Interesse am Lateinunterricht vor.

    Als das erste Halbjahr fast herum war, schrieben wir eine Biologiearbeit, die ziemlich kurzfristig angekündigt war und von dem Lehrer ausführlich begründet wurde: Er hätte gern eine Leistungs-kontrolle, obwohl in diesem Nebenfach Klassenarbeiten nicht vorgesehen seien, er werde die Ergebnisse mit Punkten bewerten. Ich fand das ganz interessant, und da ich gut aufgepasst hatte, konnte ich die Fragen leicht beantworten und sogar einige Bildchen dazu malen. Total beeindruckt hatte mich die Sache mit dem Stichling: Dieses winzige Fischmännchen baut nämlich ein Nest, dann lädt es das Weibchen, mit dem es zuvor im Wasser Liebesspiele getrieben hat, ein, in das Nest Eier zu legen. Wenn dieses Weibchen, größer als er selbst, die Eier gelegt hat, muss er es schnell verscheuchen, damit es die Eier nicht auffrisst. Er bewacht dann dauernd die Brut in dem Nest, dem er mit Bewegungen seiner winzigen Flossen und seines Körpers eine leichte Strömung zukommen lässt, offensichtlich zur besseren Sauerstoffversorgung der heranwachsenden Nachkommen. Als der Biologielehrer uns das alles erläutert hatte, war ich an den damals noch zahlreichen Teichen des Münsterlandes herumgestreunt, habe mich auf den Bauch gelegt, ins Wasser geschaut und gesucht und siehe da! Das große Erlebnis: Ich sah in freier Natur so ein Stichlingsmännchen vor seinem etwa walnussgroßen Nest unverdrossen Flossen bewegen und wedeln mit seinem kleinen Körper.

    Kurze Zeit später schrieben wir eine Mathematikarbeit. Hauptsächlich wurden die römischen Zahlen abgefragt, die uns der Lehrer zuvor ausführlich erklärt hatte. Diese römischen Zahlen hatte ich aber leider völlig verdrängt, weil ich einfach keine Lust hatte, dieses abstrakte und eigentlich überflüssige Zeug zu lernen; also bekam ich eine sechs. Der Lehrer war ärgerlich, als er mir die Arbeit zurück gab, wandte sich dann aber wieder der Tagesordnung zu. Ich hatte so ein dumpfes Gefühl, als wäre ich jetzt langsam abgeschrieben.

    Eine Woche später, es war wieder Montag, kam er mit unseren Biologiearbeiten unter dem Arm ins Klassenzimmer, schaute über uns Zöglinge hinweg und sagte: „Ja also, eine Überraschung: Die beste Arbeit hat der Gruß und zwar mit Abstand."

    Alle waren erstaunt, ich auch. Nach der Stunde rief er mich zu sich. „Es freut mich, sagte er, „dass du eine so schöne Biologiearbeit gemacht hast, aber es hilft dir nur weiter, wenn du in Mathematik mindestens ausreichend schaffst, sonst wird es nichts, weil du ja in Latein auch Schwächen hast.

    Ich begriff, dass er sehr wohlwollend war und lernte so viel, dass ich in Mathematik und Latein ausreichend schaffte und in die Quinta versetzt wurde. Hülso ging leider wieder zurück zur Volksschule in Appelhülsen, wo er einen Bauernhof hatte. Ich wusste nicht, ob ich ihn bedauern oder beneiden sollte, jedenfalls hatte ich keinen Bauernhof. Die Abb. 1 zeigt uns schon in der Untertertia.

    Abb. 1: Die Untertertia des Gymnasium Paulinum Münster 1953 mit ihrem Klassenlehrer, der Mathematik und Biologie unterrichtete. Der Autor selbst: 2. Bank vorne links mit Lederhosenträgern.

    In dieser Zeit konnte ich in den Bund Neudeutschland, eine katholische Jugendbewegung, eintreten. Gruppenabende, Veranstaltungen und Aktionen mit gleich- oder ähnlich gesinnten Jungen gehören zu meinen besten, schönsten Erinnerungen dieser Jahre. Als 12 bis 13-Jährige unternahmen wir eine Wanderwoche: Von Münster fuhren wir mit dem 12 Mann starken Fähnlein im Zug nach Haltern und badeten nachmittags noch im Halterner Stausee. Dann marschierten wir in die Heide, den Felltornister mit Schlafsack und Zeltbahn auf dem Rücken. Auf einer Wiese zelteten wir, übernachten auch. Das Zelt war mithilfe der alten Dreiecksbahnen der Wehrmacht errichtet. Für den Boden hatten wir vom Bauern Stroh bekommen. Trotzdem drang von unten die Kälte ein, aber dieses Erleben der freien Natur entschädigte mich, und ich nahm die Unbequemlichkeiten gerne in Kauf. Das ist bis heute so geblieben. Die Gruppenabende waren willkommene Abwechslung. Anfangs wurden mal Abenteuergeschichten vorgelesen, es wurde diskutiert, auch gesungen und bei gutem Wetter Sport getrieben, besonders gern mit dem Fußball. Später versuchten wir uns an religiösen und weltanschaulichen Problemen, wo natürlich viele Fragen offen blieben.

    In der Untertertia, vierte Klasse im Gymnasium, lasen wir im Deutschunterricht Wilhelm Tell. Unser Deutschlehrer, Kriegsteilnehmer, war Hauptmann gewesen. Ich habe ihn bewundert. Er war ruhig, überzeugend und sehr diszipliniert; so blieb uns gar nichts anderes übrig, als das auch zu sein. Er erklärte uns den hohen Wert der Freiheit eines mündigen Volkes, welches das Recht und sogar die Pflicht hat, diese Freiheit und seine Würde zu verteidigen. Die Frage wurde aufgeworfen und diskutiert, ob Tyrannenmord im extremen Fall ein moralisch gerechtfertigter Weg sein kann, der Knechtschaft zu entrinnen. Wir lasen Teile dieses Dramas von Schiller mit verteilten Rollen im Unterricht. Ich war sehr nachdenklich. Er schwieg über die Zeit des Krieges, an dem er teilgenommen hatte, und wir haben uns nur zögernd getraut, ihm Fragen zu stellen. Mit seinen Antworten war er sehr vorsichtig, wesentliche Probleme blieben ungelöst.

    Inzwischen waren wir aus Handorf bei Münster in die Stadt umgezogen und wohnten in einer geräumigen Altbauwohnung. Mein Vater konnte seine Dienststelle zu Fuß erreichen, und ich hatte mit dem Fahrrad nur noch kurze Strecken zu bewältigen. Ganz in unserer Nähe war das Gertrudenhofkino. Dort lief ein Dokumentarfilm über die Befreiung der KZ-Häftlinge durch die Alliierten. Ich habe meine Eltern angegangen, dass ich diesen Film unbedingt sehen müsste. Ich war ja ein Zeitzeuge gewesen und hatte durchaus Erinnerung an die Bombennacht in Dresden. Mein Vater war damals Soldat gewesen und wusste nicht, ob wir das Chaos überlebt hatten. Unser Keller war zwar beschädigt, aber durch einige günstige Zufälle nicht eingebrochen. Das Haus war angeblich baufällig, und wir mussten weg. Ich durfte noch nicht einmal meine kleine Spielzeuglokomotive mitnehmen, als mein Onkel uns etwa eine Woche nach dem Angriff mit einem Holzgasauto abholte und ins Sauerland zu bäuerlichen Verwandten brachte. In eben diesem wunderschönen Sauerland bei Wevelsburg hatte ich selbst ein mit Stacheldraht umzäuntes Barackensystem gesehen. Dort wurde auch ein Häftling geschlagen. Er schrie laut, und ich hatte meine Mutter gefragt, was da los wäre; sie sagte, da werden Zigeuner und Juden eingesperrt, und wir alle müssen dafür noch büßen. Ich selbst musste eigentlich nicht büßen, wollte aber jetzt diesen Film sehen und konnte ihn auch bis zum Schluss anschauen, obwohl mir manchmal schlecht wurde. Besonders beeindruckte es mich, dass Menschen, die offenbar nur noch aus Haut und Knochen bestanden, sich noch bewegen konnten, wenn auch in Zeitlupe und mit völlig apathischer Mimik.

    Seit dem fragte ich erfahrenere Zeitzeugen noch mehr als zuvor, wie so etwas geschehen konnte. Die Antwort steht noch aus. Wo muss ich suchen? Der Mensch, homo sapiens, gesteuert durch sein Superorgan, das Gehirn, Gipfel der Evolution auf diesem Planeten hatte das Chaos veranstaltet. Und ganz vorn, fast einsam an der Spitze der Veranstalter stand unser deutsches Volk, dessen berühmter Dichter ein solches Drama wie Wilhelm Tell geschrieben hatte. Ich konnte mich dem Gedanken nicht entziehen, dass mit dem Gehirn von homo sapiens irgendetwas nicht stimmt. Kürzlich habe ich das umfangreiche Buch von Stern F., 2006 gelesen. Der anerkannte, aus einer Ärztefamilie stammende Historiker, 1926 in Breslau geboren, 1938 mit seinen Eltern nach Amerika emigriert, ging mit intensiven Recherchen der „deutschen Frage" nach, deren Lösung er an manchen Stellen seines Werkes scheinbar näher kommt, die er aber letztlich nicht beantworten kann. Er befasst sich intensiv mit Personen, die im Dritten Reich Widerstand geleistet haben, erwähnt aber seltsamerweise nicht die Weiße Rose und Sophie Scholl.

    In der Schule war ich inzwischen wieder ziemlich schlecht geworden, hatte im ersten Zeugnis des Jahres dreimal Mangelhaft, und meine Eltern hatten einen blauen Brief bekommen mit dem Vermerk, dass meine Versetzung gefährdet sei. Mein Vater rannte im Flur unserer Wohnung herum und schimpfte: „Er soll Schuster werden!"

    Da sagte ich etwas verzagt, das sei doch ein ehrenvoller Beruf, wenn man das handwerklich gut machen würde. Diese Antwort verbesserte die Situation gar nicht. Mein Vater wurde ganz ruhig, er war offensichtlich verzweifelt. Da tat er mir leid, und ich versprach, auf dem Osterzeugnis würde kein Mangelhaft mehr erscheinen. Also strengte ich mein Hirn an. Es gelang mir tatsächlich, zu Ostern wieder ausreichende Leistungen und damit die Versetzung zu erreichen.

    Während der großen Ferien machten wir mit der ND-Gruppe eine herrliche Fahrradtour mit Zelt ins Sauerland. Wir waren auch in der Nähe der Wevelsburg. Von dem Strafgefangenenlager konnte ich jetzt nichts mehr sehen. Wir fuhren jeden Tag 50 bis 70 km auf den ruhigen Landstraßen dieser hügeligen, waldreichen Gegend, zelteten abends am kleinen Fluss, einmal sogar am Möhnesee, kochten am offenen Feuer, redeten und diskutierten viel, sangen jugendbewegte Lieder und gingen morgens oft in die Kirche. Unser Fähnleinführer, drei Jahre älter als wir, war sehr religiös eingestellt, aber er war kein missionarischer Eiferer und ließ uns genügend Freiraum.

    Nach seinem Abitur ist er Pfarrer geworden, hat sich sehr in der Jugendarbeit engagiert, und ich habe ihn viele Jahre später noch einmal getroffen: Er ging mit einem geistlichen Kollegen in einem der schönen Orte am Lago Maggiore spazieren, wo ich mit meiner Frau und unseren drei Kindern Urlaub machen konnte. Wir tranken dann alle zusammen Kaffee, redeten über Gott und die Welt, auch über vergangene Zeiten. Er betrachtete doch recht nachdenklich meine Frau und die lebhaften Kinder, die hingebungsvoll ihr Schokoladeneis schleckten. Das Schwierige an dem katholischen Priestertum, stellte er fest, sei das Alleinsein und der Verzicht auf eine Partnerschaft. Ich konnte seine Betrachtung nachvollziehen und hatte das Gefühl, dass ich mit einem solchen Programm gescheitert wäre. Wir verabschiedeten uns. Ich habe ihn nicht wieder gesehen, aber gehört, dass er sich um seine Gemeinde sehr verdient gemacht hat.

    Die beiden letzten Jahre im Gymnasium wurden besser: Diese schreckliche Lektüre von Cäsar: „De bello Gallico", in der völlig trocken die Eroberung Frankreichs sowie die Vernichtung der Gallier und Kelten beschrieben wird, hatten wir hinter uns. Allerdings war mit dem Cicero nicht zu spaßen, und die Gedichte von Ovid konnte ich nicht übersetzen, aber es waren immerhin Liebesgedichte. In der Unterprima hatten wir eine sehr hübsche Referendarin, die uns in Latein unterrichten sollte. Wir waren alle sehr angetan, und einer unserer etwas

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