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About this ebook

Klaus Konrad begibt sich Hals über Kopf auf die Suche nach seiner verschollenen Tochter. Dabei gelangt er in den Besitz eines alten Fotos, welches einen Hinweis auf einen verborgenen Schatz zeigt. Hinter diesem Hort ist offensichtlich die ganze Welt her. Der nachts von Alpträumen geplagte Vater gerät in das Visier der unterschiedlichsten Gruppierungen und wird gejagt.
Ein Höllenritt – an dessen Ende der Engel des Todes wartet.
LanguageDeutsch
Release dateMar 10, 2012
ISBN9783844846645
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    Book preview

    Suche - Jörg Schmidt

    Wahrheit?

    1. Kapitel

    Ostdeutschland zur Zeit des Kalten Krieges: In der Mitte der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. In der Gegend zwischen Wittstock und Kyritz. Dem heutigen Bundesland Brandenburg, in dessen nordwestlichem Territorium.

    D er Himmel über Ostdeutschland ist in dieser Septembernacht des Jahres 1987 wolkenverhangen, und ein feiner Sprühregen geht über das Land nieder. Bei Wittstock ist eine MiG-21 M der NVA ins Trudeln gekommen. Der Flugzeugführer Klaus Konrad, Leutnant der Luftstreitkräfte-Luftverteidigung, versucht vergeblich die Maschine wieder unter seine Kontrolle zu bekommen.

    Der totale Ausfall der gesamten Bordelektronik und Kommunikation mit der Bodenzentrale hat den jungen Mann in die schwierigste Situation seines jungen Lebens gebracht.

    Mit einer Tonne Munition war ein Nachtanflug auf das Übungsgelände der NVA bei Wittstock in der Kyritzerheide geplant.

    Doch nun ist alles anders gekommen. Die Maschine ist außer Kontrolle und droht direkt in die Stadt zu stürzen.

    Das weiß der junge Flugzeugführer und versucht die Maschine von dem Ort wegzubringen. Erst als sich die Lichter der Stadt entfernen und sich wieder ein schwarzes Nichts ausbreitet, wird dem jungen Mann bewusst, dass er aussteigen muss. Der Griff zum manuellen Hebel des Katapultsitzes KM 1 ist bereits vollzogen, und Klaus müsste nur noch ziehen, um den Notausstieg zu vollziehen, doch eine innere Stimme sagt ihm: »Tu es nicht!« Die Kanzel ist stockfinster, und die Nachtbeleuchtung der Armatur ist ebenfalls ausgefallen. Irgendwie hat Klaus das Gefühl, dass die Maschine kopfüber zu Boden geht. Er spürt den Druck seines Kartenmaterials auf seinem linken Oberschenkel nicht mehr. Hier steckt die Karte vom Zielgebiet in einer Beintasche, die oben mit einer durchsichtigen Folie verschlossen ist, sodass der Pilot nur seine Augen kurz zu senken braucht, um einen Blick auf die Karte zu werfen, wenn er sie benötigt. Mit einem Ruck am Steuerhebel will er sich vergewissern, ob dem so ist, und sein Gefühl hat recht. Die Maschine dreht sich, und sogleich merkt Klaus den Druck der verhältnismäßig schweren Karte auf seinem Oberschenkel wieder. Ein Glück, dass er den Notausstieg nicht vorgenommen hat, er ist bereits zu dicht über dem Boden, um kopfüber auszusteigen. Er sieht die Lichter eines Gehöftes auf sich zukommen. Es gibt einen Ruck, dem ein lautes Krachen und Knirschen folgt. Metall, das Holz streift.

    Die Maschine streift die ersten Kiefernwipfel, und das Haupt von Klaus wird von einer Sekunde zur anderen in der Maschine hin- und hergeschleudert. Während er ohnmächtig wird, verliert seine Hand den Griff des Notausstieges, ohne ihn gezogen zu haben.

    Berlin Neukölln: Im einundzwanzigsten Jahrhundert, in der Neuköllnischen Allee.

    Völlig schweißgebadet erwachte Klaus Konrad aus seinem Albtraum, den er nun schon seit dem Absturz Nacht für Nacht erlebte. Immer wieder die gleichen Szenen. Eigentlich kannte er nun schon alle Einzelheiten, die er Nacht für Nacht durchlebte. Einzelheiten, an die er sich anfangs nicht erinnern konnte, als man ihn zum Unfall befragte. Doch die Zeit schreibt ihre eigenen Gesetze, und in Klaus’ Träumen wiederholte sich alles. Schritt für Schritt. Und das alles nach über fünfundzwanzig Jahren.

    Doch es war nicht der Albtraum, der ihn diesmal aus dem Schlaf riss. Das Klingeln des Telefons, welches neben ihm auf dem Nachttisch stand, ließ ihn seinen unruhigen Schlaf beenden.

    Noch halb benommen griff er zum Hörer und gab nur ein »Ja?« von sich.

    Aus dem Hörer dröhnte eine vertraute Stimme.

    »Mann! Alter! Schläfst du noch? Sieh mal aus dem Fenster! Mensch, es ist gleich neun Uhr. Hast du verpennt? Wir wollten doch in die Pilze. Ich stehe hier und warte, und du liegst noch im Bett!«

    Klaus erkannte die Stimme seines Freundes Udo Richter. Mit Udo war er heute am Samstag um neun Uhr verabredet. Gemeinsam wollten sie zum Pilzesuchen in die Döberitzerheide, ein ehemaliges militärisches Übungsgelände nahe bei Berlin.

    Die Döberitzerheide liegt zwischen Falkensee und Potsdam am westlichen Rand von Berlin und ist zu einem Landschaftsschutzgebiet erklärt worden, was die Berliner nicht davon abhält, hier im Herbst nach Pilzen zu suchen.

    »Entschuldigung, Udo, ich habe voll verpennt. Es wird etwas dauern, bis ich bei dir bin.«

    »Schon gut. Dann sammeln die anderen uns die Pilze eben vor der Nase weg. Ich glaube auch kaum daran, dass es in der ersten Septemberwoche schon Pilze gibt. Jedenfalls nicht bei dieser Trockenheit und der Hitze, die wir haben. Mal was anderes, ich habe wieder Post aus Asien erhalten, von Takhias.«

    Klaus hatte den Hörer beiseitegelegt und auf Lautsprecher umgeschaltet und war nun schlaftrunken dabei, sich anzukleiden.

    »Von deiner Takhias, wie immer.«

    Udo führte seit zwanzig Jahren einen Briefwechsel mit einer asiatischen Frau. Takhias Khattiyasurin. Wobei sie ihm auf Thai schrieb und er sich den Brief dann hier in Deutschland bei einer Bekannten, ebenfalls Asiatin, übersetzen ließ. Seine Thailändisch- und Englisch-Sprachkenntnisse waren nicht so hervorragend, dass er seine Post aus Asien oder nach Asien selbst hätte lesen oder schreiben können.

    So ließ Udo eben seine Korrespondenz zwölf Mal im Jahr übersetzen und brachte zwölf Briefe im Jahr zur Übersetzung. Und das nun schon seit zwanzig Jahren.

    »Ja. Doch diesmal ist ein Gruß für dich dabei. Ist nichts Erfreuliches. Eher eine traurige Nachricht. Ich lese mal schnell vor:

    Grüße deinen Freund, den Klaus, von mir! Ich habe leider eine schlechte Nachricht für ihn. Seine frühere Freundin, meine Schwester Thidarat, mit der er ja eine Tochter, Inthanin, hat, ist vor drei Wochen an Aids gestorben. Ich muss dazu sagen, dass ich es auch erst vor drei Tagen erfahren habe. Einen so engen Kontakt hatte ich in den letzten zehn Jahren nicht mehr zu meiner Schwester. Es tut mir so leid, dass sie ihn damals mit seiner Tochter einfach verlassen hat. Das Mädchen ist nun auch schon an die zwanzig Jahre alt, und sie hat noch nie ihren Vater gesehen. Vielleicht weiß sie auch nicht, dass ihr Vater in Deutschland lebt. Ihrer Mutter traue ich es zu, dass sie ihr irgendein Märchen von ihrem Vater erzählt hat. Wie auch immer, eine so enge Beziehung hatte ich nie zu meiner Schwester, dass sie mich in so was eingeweiht hätte. Ich weiß, dass sie ein schwarzes Herz hatte. Doch was sie vor ihrem Tod noch mit ihrer Tochter gemacht hat, hat mich sehr berührt. Sie hatte Schulden, sie brauchte das Geld zum Leben und für die Medikamente. Ihre Tochter hat sie ja recht früh zum Anschaffen in einen Puff nach Chonburi gegeben. Da es mit ihr zu Ende ging, wollten alle von ihr das Geld zurück, das sie sich geliehen hatte. Und was hat sie gemacht? Sie hat ihre Tochter an einen Mädchenhändler verkauft, um ihre Schulden zu begleichen. Das arme Ding ist jetzt eine Sklavin, und ihr Ende wird so aussehen wie das ihrer Mutter. Da ihre Mutter tot ist, erbt sie jetzt auch den Nachlass ihres Großvaters Bounhenang, welchen sie erst nach dem Tod ihrer Mutter von einem Notar ausgehändigt bekommt. Stell dir vor, es soll sich um eine Schatzkarte handeln, die den Weg zu einem sagenhaften Schatz zeigt. So erzählen sich das die Alten hier.

    Damit es keinen Streit unter uns Geschwistern um die Karte gibt, hat der Alte sie einfach seiner Enkelin vermacht.

    Vielleicht kann sie sich mit dieser Karte freikaufen. Falls da was Wahres dran sein sollte, was ich nicht glaube. Bitte bringe deinem Freund den Tod von Thidarat schonend bei! Um seine Tochter soll er sich keine Sorgen machen, die jungen Mädchen hier bei uns sind in der Regel alle in dem Gewerbe tätig, das ist was ganz Normales. Für den Fall, dass ihr das Erbe ihres Großvaters die Möglichkeit bietet, ein neues Leben anzufangen, wird sie das mit Sicherheit auch tun. Er soll sich also keine Sorgen machen.

    Alles Weitere ist an mich gerichtet. Also, Alter! Wenn du kommst, kannst du dir ja den Teil der Post mal selbst durchlesen.«

    Stille herrschte in der Leitung.

    »Klaus, was ist? Bist du noch da?«, fragte Udo vorsichtig nach.

    Klaus war in Gedanken. Seinen Albtraum hatte er vergessen, und er war jetzt hellwach.

    Ein neuer Albtraum schien am Horizont aufzuziehen.

    Vor zwanzig Jahren, kurz nach dem Fall der Mauer, hatte er eine Beziehung zu einer thailändischen Frau, die fünfzehn Jahre älter war als er selbst. Mit Thidarat Khattiyasurin, einer bildhübschen Asiatin, die er in Berlin kennen gelernt hatte. Mit ihr hatte er ein Kind. Sie schenkte ihm eine Tochter mit dem Namen Inthanin. Bei der Namensgebung überließ er die Entscheidung, welchen Namen das Kind haben soll, seiner Lebensgefährtin. Sie entschied sich für einen thailändischen Namen. Ein halbes Jahr lang lebten sie nach der Geburt des Kindes zu dritt in Potsdam Drewitz, einem zu jener Zeit im Neubau befindlichen Stadtteil von Potsdam. Einem Plattenbaubezirk. Nach sechs Monaten gemeinsamen Beisammenseins war Thidarat plötzlich mit ihrer gemeinsamen Tochter verschwunden. Alle Bemühungen, der Behörden und seine eigenen, die vermisste Frau und das Kind wiederzufinden, verliefen im Sand. Bis heute.

    Umso mehr war Klaus jetzt geschockt, dass die Freundin von Udo über Jahre hinweg gewusst hatte, wo seine Tochter war, und erst jetzt eine Mitteilung machte.

    Ein Gefühl der inneren Unruhe kam in ihm auf. Gemischt mit der Enttäuschung über Udos Freundin, dass sie nie etwas über den Aufenthalt seiner Tochter mitgeteilt hatte, obwohl sie wusste, dass er seine Tochter suchte.

    Die flammenden Gefühle in ihm kochten zur Wut hoch. Er musste etwas unternehmen.

    »Ja, ja. Ich bin noch da. Wann und von wo geht der nächste Flieger nach Bangkok?«, gab Klaus spontan in energischem Ton von sich.

    »Was?«, kam die Reaktion von Udo.

    »Kannst du mich begleiten, wenn ich nach Asien fliege?«

    2. Kapitel

    Berlin, Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, im Bezirk Neukölln, Neuköllnische Allee: Berlin wurde aus den Kaufmannssiedlungen Berlin und Cölln an der Spree gegen Ende des zwölften Jahrhunderts gegründet. Als Gründungsjahr, so die offizielle Geschichtsschreibung, gilt das Jahr 1237, da zu dieser Zeit Cölln erstmalig urkundlich erwähnt wurde.

    B ernd Hohlweg vernimmt ein Tuten in seinen Kopfhörern. Das Gespräch, das er gerade abgehört hat, ist beendet. Der siebenundfünfzigjährige untersetzte Mann mit Halbglatze streift sich die Kopfhörer ab und sieht durch die Spiegelglasverglasung seines VW Touran hinüber zur anderen Straßenseite. Da, wo sein Zielobjekt wohnhaft ist. Die Neuköllnische Allee in Berlin Neukölln ist an diesem Samstagvormittag recht stark befahren, und Fahrzeuge aller Art fahren an dem auf einem Parkstreifen stehenden VW vorbei, ohne den Insassen und seine Technik zu sehen. Die Spiegelverglasung des Fahrzeuges macht es möglich, dass Leute wie Bernd Hohlweg in aller Öffentlichkeit ungestört ihrer Tätigkeit nachgehen können.

    Bernd speichert das Gespräch in seinem Rechner und filtert die erwähnten Namen aus dem Protokoll und lässt diese danach durch eine Datei seines Rechners prüfen.

    Und Bingo!

    Gleich zwei Namen auf einmal.

    Inthanin und der Großvater Bounhenang Khattiyasurin.

    Eine Schatzkarte wird vererbt, geht es Bernd durch den Kopf.

    Das Warten hat sich gelohnt. Lächelnd greift der Exmajor der Stasi zu seinem Mobiltelefon.

    Er betrachtet es eine Weile, bis er schließlich im elektronischen Telefonbuch zu suchen beginnt. Seine Suche dauert nicht lange. Dann hat er die Nummer seines Klienten. Seines einzigen Auftraggebers, der ihm nun seit zwanzig Jahren die Treue hält und für den er eigentlich nur diese eine Überwachung durchführt.

    Damals, als die Mauer fiel und die Stasi aufgelöst wurde, das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, haben sich Bernd und dreißig weitere Mitarbeiter der Ex-Stasi zusammengetan und haben eine private Detektei gegründet. Sie führten Aufträge aller Art durch. Von der Beobachtung untreuer Ehefrauen über den Kurierdienst, den Personenschutz, die Reisebegleitung bis hin zu Objektüberwachung machten sie alles, was sie an Aufträgen bekommen konnten.

    Das Geschäft lief am Anfang recht gut. Doch im Laufe der Zeit änderte sich das, und es blieb nur noch Bernd als Einziger übrig. Die Kosten waren zu hoch. Es gab keine Aufträge mehr, und sie waren zu viele Mitarbeiter. Als Geschäftsführer des Unternehmens reduzierte Bernd seinen Mitarbeiterbestand, bis er nur noch allein war.

    Er muss an die Zielprämie denken, die er sich heute verdient hat, die könnte ihn aus der enormen Schuldenfalle befreien. Mit dem rechten Daumen drückt er die grüne Taste.

    3. Kapitel

    Berlin, Hauptstadt von Deutschland, sowie das Umland von Berlin, südlich der kleinen Stadt Falkensee, die sich fast bis zum westlichen Stadtrand von Berlin erstreckt und somit die Nachbargemeinde von Spandau ist, einer Stadt, die zum Land Berlin gehört.

    D ie Sonne hat an diesem Samstag im September noch mal ihre volle Kraft entfaltet und verwandelt Berlin sowie dessen Umland in einen glühenden Kessel. Am Himmel ist nicht eine Wolke zu sehen.

    Udo wird wohl recht haben, was das mit den Pilzen betrifft. Es wird keine geben, denkt Klaus so vor sich hin, als er seinen Opel Kadett über den großen Parkplatz des Havelparks lenkt, eines Einkaufscenters an der B2 außerhalb von Berlin. Er möchte hier nicht parken. Nein, er nutzt den Parkplatz bloß als Zufahrt, um zu einer abgelegenen Wiese zu kommen, wo all die Menschen ihre Fahrzeuge abstellen, die hier in der Döberitzerheide Pilze suchen oder nur einfach spazieren gehen wollen.

    Nachdem Klaus sein Fahrzeug abgestellt hat, begibt er sich gleich auf den Weg zum bekannten Treffpunkt aller Pilzsucher, einem kleinen überdachten Rastplatz für Wanderer am Waldrand der Heide.

    Das aus Holz gefertigte Gebilde mit einem spitzen Holzdach und offenen Wänden hat im Inneren einen riesigen länglichen Holztisch mit zwei Holzbänken und wird fälschlich auch als Hütte bezeichnet. Obwohl keine Wände vorhanden sind, sieht der Rastplatz für den sich nähernden Betrachter von weitem aus wie eine Hütte.

    Dort wollen sich Klaus und Udo um neun Uhr morgens treffen. Mit dem Wissen, dass er zu spät kommt, schreitet er eilig seinem Ziel entgegen.

    Nach zweitausend Metern hat er sein Ziel erreicht. Der Rastplatz kommt in Sicht. Obwohl Klaus noch ein ganzes Stück von dem Rastplatz entfernt ist, sieht er bereits die ersten dort versammelten Menschen.

    Acht asiatische Frauen und vier deutsche Männer, einer davon ist Udo Richter, sein Freund aus Jugendzeiten, mit dem er durch dick und dünn gegangen ist und den er nun mehr als zuvor braucht. Denn Klaus ist innerlich immer noch aufgewühlt und würde am liebsten gleich von hier aus aufbrechen, um seine Tochter zu suchen.

    An der Hütte angekommen, sieht Klaus, dass alle Körbe der Pilzsucher leer sind. Er schlussfolgert für sich daraus, dass sich die Anwesenden gerade zum Suchen an diesem Ort versammeln oder dass sie ihre Suche bereits ergebnislos eingestellt haben.

    Wie dem auch sei, Klaus will nur zu Udo. Er will ihn treffen, um jeden Preis, und das ist am heutigen Tag nur hier möglich. Denn Udo ist immer gerne in der Natur, und an einem sonnigen Tag wie heute ist er erst recht draußen und genießt die Natur hier in der Heide. Er muss ihn sehen und sprechen, sonst würde das für ihn bedeuten, dass er Udo erst am Abend wieder erreichen kann.

    Das will er nicht. Er ist innerlich so angespannt, dass er alles unternimmt, um diese Spannung zu lösen.

    »Hallo!«, grüßte Klaus die anwesenden Frauen und Männer, die er allesamt nicht kannte.

    Freundlich grüßten und nickten die Frauen mit einem Lächeln zurück, während die Männer nur beiläufig nickten und Klaus etwas zurückhaltend ansahen.

    Nur Udo grüßte von den Männern freundlich.

    »Hallo! Nun bist du auch schon da. Du hast nichts verpasst. Es gibt noch keine Pilze.«

    Klaus nickte und sah in die Runde der Anwesenden, die sich nun zum Gehen aufmachten.

    »Bis zum nächsten Wochenende«, sagte einer der Männer und machte sich auf zum Gehen, gefolgt von einem weiteren Mann und den anderen Frauen.

    Als sich der größte Teil der Sammler zurück auf den Weg zu ihren Fahrzeugen machte, blieben nur Klaus, Udo und ein weiterer Mann zurück, neben dem eine asiatische Frau saß, die um die vierzig Jahre alt war.

    »Habe ich dir schon Olaf Lemke und seine Frau Lalidaporn vorgestellt, sie ist meine Übersetzerin«, erklärte Udo und grinste Klaus dabei an.

    »Hallo! Ich bin Klaus.« Klaus reichte dem Mann seine rechte Hand zum Gruß über den großen hölzernen Tisch, an dem die drei auf einer Bank Platz genommen hatten.

    Der Mann nickte nur und sah Klaus streng an, während die Frau an seiner Seite ein »Hallo!« von sich gab und Klaus mit ihrem hübschen Gesicht anlächelte. Dabei legte sie ihre beiden recht kleinen und geschmeidigen Hände auf die linke Hand ihres Mannes, die auf dem Tisch ruhte.

    Klaus zog seine Hand zurück und setzte sich gegenüber an den Tisch.

    »Du wolltest mir was zum Lesen geben«, begann Klaus das Gespräch. Doch er bekam von Udo keine Antwort. An dessen Stelle antwortete der Mann mit dem Namen Olaf Lemke, den Klaus auf Ende fünfzig schätzte und der mit seiner großen Gestalt und dem kräftigen Körperbau den Eindruck eines Schlägers machte. Der strenge Gesichtsausdruck verstärkte diesen Eindruck bei Klaus noch.

    Er kannte den Mann überhaupt nicht. Er hatte ihn auch nie zuvor in Udos Umfeld gesehen, und erwähnt hatte Udo den Namen auch nie. Nur dass er eine Übersetzerin für seine Post hatte, wusste Klaus. Wer diese Frau war, hatte er bis heute auch nicht gewusst.

    Während die Frau noch lächelnd zu Klaus blickte, begann der Mann in einem strengen Tonfall zu reden.

    »Hätte ich gewusst, was meine Frau da übersetzt hat, hätte ich ihr abgeraten den Teil der Post zu übersetzen, der für Sie bestimmt war. Udo hat mir mitgeteilt, dass Sie kopfüber nach Thailand wollen, um Ihre Tochter zu suchen. Ich persönlich kann Ihnen nur davon abraten. Die stellen Ihnen da irgendein Mädel als Ihre Tochter vor, nur um an Ihr Geld zu kommen. Lassen Sie die Finger davon! Nur ein guter Rat.«

    Wie Olaf das sagte, blickte er tief in Klaus’ Augen, und dieser stellte eine Verunsicherung in dem Mann fest. Dann fragte Olaf noch, als könne er es kaum glauben:

    »Sie haben wirklich eine zwanzig Jahre alte asiatische Tochter? Wie alt sind Sie eigentlich?«

    Klaus musste jetzt grinsen. Während er das Alter seines Gegenübers offenbar recht gut einschätzen konnte, hatte der Mann mit ihm offenbar ein Problem. Aber das hatten alle. Keiner konnte es glauben, dass Klaus bereits achtundvierzig Jahre alt war. Die meisten Menschen schätzten ihn auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Was er immer als Kompliment auffasste. Umso erstaunter waren alle, wenn er sein wahres Alter verkündete.

    Klaus hatte eine jugendliche Ausstrahlung, und mit seinen ein Meter zweiundsiebzig war er nicht groß von Gestalt. Sein Bürstenhaarschnitt unterstrich das jugendliche Erscheinungsbild, und seine schlanke Gestalt war für viele Leute offenbar der Anlass, ihm gegenüber immer respektlos aufzutreten. So wie ihn nun auch dieser Olaf mehr respektlos und bestimmend anredete.

    Klaus reagierte nicht auf das, was dieser Olaf von sich gab. Er überlegte, was das hier eigentlich sollte. Was will der Typ von mir? Den geht das gar nichts an.

    »Kann ich nun den Absatz in deiner Post lesen oder nicht«, fragte Klaus Udo und sah ihn erwartungsvoll an. Doch Udo schluckte und warf einen Blick zu Olaf, der für ihn antwortete.

    »Du hast nicht begriffen, was ich gesagt habe. Oder du bist taub.«

    Klaus war sprachlos. Er kannte es, dass ihn die Menschen immer wie einen dummen Jungen behandelten und permanent versuchten ihn zu bevormunden. Doch dieser Typ hier war sich seiner Sache offenbar zu sicher und behandelte Klaus, als sei er ein abhängiger Leibeigener.

    »Udo!«, sagte Klaus, wobei er sich von seinem Platz erhob.

    »Schade, dass unser Treffen heute so verlaufen ist. Aber wir telefonieren heute Abend noch miteinander.«

    Er klopfte mit der rechten Faust auf den Tisch und nickte der Frau zu, die ihn nun mit großen Augen und einem eindeutig gespielten Lächeln ansah.

    Klaus drehte sich um und verließ den Platz.

    Udo, Olaf und seine Frau sahen Klaus noch hinterher, wie er sich von ihnen entfernte.

    »Udo, hast du noch mehr solche Typen zu Freunden, dann kann ich dich nur bedauern. Die Pfeife soll der Vater von einer zwanzigjährigen Thai sein? Nicht zu glauben. Gut, dass du mich darum gebeten hast, dir den Flug nach Bangkok zu finanzieren. Denn hättest du selbst das nötige Kleingeld, wärst du mit Sicherheit schon mit dem Typen unterwegs, und ihr hättet eure Zeit und Mittel für nichts verschwendet.

    Von mir siehst du nicht einen Pfennig für ein Ticket nach Bangkok. Sieh zu, dass der Typ seinen Arsch hier in Deutschland lässt!«

    Udo sah Olaf fragend an. Er verstand nun gar nichts mehr. Denn schließlich hatte Olaf ihm immer geholfen, wie es bei Freunden so üblich war, und Olaf sollte Klaus heute nur kennen lernen, um ihm mit seiner Erfahrung in Asien hilfreiche Ratschläge zu geben. Natürlich sollte er auch Udo aus der Patsche helfen und ihm ein Ticket nach Bangkok finanzieren. Doch das war nicht Udos hauptsächliches Anliegen gewesen. Udo wollte von Olaf Hilfe und Ratschläge, die seinem Jugendfreund helfen könnten.

    Nun entwickelte sich diese Zusammenkunft nicht nur für seinen Freund Klaus zu einem Desaster, sondern auch für ihn.

    Udo verstand nichts mehr.

    »Udo! Rede mit deinem Kumpel und überzeuge ihn hierzubleiben! Wenn er dennoch nach Bangkok fliegt, dann teile es mir rechtzeitig mit!«

    Udo nickte nachdenklich und zog es vor, ebenfalls zu gehen.

    4. Kapitel

    Berlin: City West in der Nähe des Funkturms: Die Grundsteinlegung zum Bau des Berliner Funkturms fand 1924 auf dem Berliner Messegelände statt, zur ersten Großen Deutschen Funkausstellung. Der Bau dauerte bis 1926, und er wurde mit einer Rede von Albert Einstein eröffnet und in Betrieb genommen.

    D er Verkehr auf dem Funkturmkreuz, da wo sich in Berlin die A111 und die A115 treffen, ist an dem Samstagmittag fließend. Kein Stau. Obwohl es so scheint, als wollten alle Berliner die Stadt verlassen, um noch einmal ein schönes Wochenende außerhalb der Stadt im Grünen zu verbringen, bevor der Herbst in der Stadt Einzug hält, mit seinem deprimierenden Wetter.

    Horst Albrecht steht am Fenster seines Büros, das er in einem der großen Bürogebäude am Rathenauplatz in einer der oberen Etagen angemietet hat, und sieht hinaus auf das Funkturmkreuz.

    Ein wunderschöner Tag, geht es ihm durch den Kopf. Nicht nur dass das Wetter dem Tag diese Note – schön – gibt, nein, auch alles andere ist hervorragend. Der Anruf, den er heute Morgen von Bernd Hohlweg erhalten hat, macht den Tag richtig angenehm.

    Seine nunmehr dreißig Jahre lange Suche befindet sich mit dem heutigen Tag an einem Punkt, der ihm wieder Hoffnung und Zuversicht gibt.

    In den letzten zwanzig Jahren seiner Suche hatte Horst einen Fehlschlag nach dem anderen hinnehmen müssen. Es gab kaum noch Hinweise und zuverlässige Informationsquellen, die er nutzen konnte. Der einzige Strohhalm, den der Ex- Stasi-Oberstleutnant und heutige Wirtschaftsmanager noch hatte, war die Telefonnummer, die Bernd nunmehr seit Jahren überwachte.

    In Horst herrschte eine Art Aufregung, die ihn zum sofortigen Handeln drängte. Doch darin bestand die Gefahr, dass er Fehler machte und so unbedacht seiner Konkurrenz wieder einmal zu einem Vorteil verhülfe.

    Denn Horst ist nicht der Einzige, der auf der Suche nach einem sagenhaften Goldschatz ist, der irgendwo auf dem Territorium von Thailand versteckt sein soll.

    Mit seiner Suche nach diesem Schatz begann Horst beruflich als Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit, der so genannten Stasi, wie die Menschen das Ministerium im Volksmund nannten. Er arbeitete in der AGM, der Arbeits- Gruppe Minister. Hier begann seine Suche nach diesem Goldschatz.

    Die AGM beschäftigte sich mit Sonderaufgaben und befand sich unter der direkten Leitung des Ministers für Staatssicherheit. Zu den vielen Sonderaufgaben, wie dem Beschaffen von westlichen Luxusgegenständen, dem allgemeinen Gebrauch im Alltag für die Ehefrauen und Freundinnen der Staats- und Parteibosse, wurde auch nach besonderen Dingen gefahndet oder, um es einfacher zu umschreiben, fieberhaft gesucht.

    So zum Beispiel nach dem Bernsteinzimmer, das die deutsche Wehrmacht bei der Belagerung von St. Petersburg verschleppt hatte und das bis jetzt nicht gefunden wurde.

    Horst hatte allerdings eine andere Aufgabe in der AGM. Er fahndete nach diesem Goldschatz in Asien. Denn die DDR brauchte harte Währung, um zu überleben, und da war jedes Mittel recht und erst recht die Suche nach diesem Schatz. Es kostete ja nicht viel, nur eine Hand voll Männer und Frauen, die ihrem Staat und der Partei treu ergeben waren und mit wertlosem Papiergeld und Aluminiumchips bezahlt wurden. Vielleicht gelang es diesen Personen, den Schatz zu finden und zu bergen.

    Welch ein Gewinn für die Herrschenden!

    Horst wurde übel bei dem Gedanken, dass er zehn Jahre lang in deren Auftrag diesen Schatz gesucht hatte. Nicht vorzustellen, was die Herrschaften mit diesem wohl gemacht hätten, wenn sie ihn in die Hände bekommen hätten. Mit dem Bernsteinzimmer wollte man sich die Freundschaft zur Sowjetunion neu erkaufen. Aber mit diesem Schatz hätte man was anderes machen können, vorausgesetzt, er wäre auch von ihnen gehoben worden, und darin bestand ein kleines Problem, das wohl alle Schatzsucher bis heute haben.

    Nicht nur, dass der Schatz in Thailand verborgen war und die dortige Regierung eine Bergung und die Verbringung von ihrem Territorium nie erlauben würde, waren da noch die Japaner, die ihn versteckt hatten und nicht wollten, dass er gefunden wird.

    Mit dem vermeintlichen Wissen, das Horst heute hat, weiß er, dass ein behutsames Vorgehen angebracht ist. Denn die Japaner wissen, wo sich ihr Schatz befindet. Bis heute ist es den Japanern gelungen, ihn versteckt geheim zu halten, wobei er sich nicht einmal auf ihrem Territorium befindet.

    Sie legten eine Reihe von falschen Spuren und brachten Gerüchte in Umlauf, die nur ein Ziel hatten: den Schatz vor den vielen Suchenden zu verbergen.

    Die Erkenntnis, dass es einen verschollenen Goldschatz gibt, konnten die Japaner nicht in Zweifel stellen, so gern sie dies auch getan hätten. Diese Erkenntnis war weltweit unter den Nachrichtendiensten und Historikern eindeutig. Es gibt einen verschollenen Schatz der Japaner in Indochina. Aber wo? Die Frage aller Suchenden.

    Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren auch die Japaner von ihrer kommenden Niederlage bedroht. Auf dem Seeweg konnten sie ihre Truppen in Indonesien nicht mehr ausreichend versorgen. So waren sie gezwungen alles über Land zu transportieren, was so für die Kriegsführung benötigt wurde.

    Als die Lage der Japaner in Indochina militärisch aussichtsloser wurde, begannen die Japaner mit ihrem Rückzug. Dabei evakuierten sie ihre Truppen und nahmen alles mit, was sie gebrauchen konnten. Darunter soll auch ein Goldschatz gewesen sein. Ein ganzer Zug. Voll beladen mit Gold, das die Japaner über Land, auf dem Eisenbahnweg, nach Japan bringen wollten. Dabei lief einiges nicht so, wie es geplant war. Wie so oft in diesem Krieg veränderte sich der Verlauf der Frontlinie schneller, als vorhergesehen, und die Japaner wussten nun nicht, wohin mit ihrem Zug, der voll beladen war.

    Eine der Legenden besagt, dass die Japaner den Zug auf einer Nebenstrecke in einen Tunnel fuhren, ihn da abstellten und die Tunnelzugänge verschlossen und alles so tarnten, als gäbe es hier keinen Eisenbahntunnel. Anschließend hätten sie alle Arbeiter und sich selbst getötet.

    Heute geht Horst davon aus, dass das der Wahrheit am nächsten kommt.

    Eine Erkenntnis, die er über nachrichtendienstliche Mittel der Stasi erlangte, als noch der Eiserne Vorhang existierte und diese Organisation noch aktiv war.

    Nach dem Fall der Mauer beschäftigte sich Horst nur in seiner Freizeit mit diesem Thema, bis er erfuhr, dass eine ganze Expedition, die auf der Suche nach dem Zug gewesen war, im doch recht dicht besiedelten Thailand verschwunden war und nicht mehr aufgefunden wurde.

    Da wurde sein Interesse erst wieder richtig geweckt, und durch seinen Erfolg in der Wirtschaft als selbstständiger Manager hatte er auch die ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung.

    Nun ist er süchtig nach dem Gold, das er ein Leben lang gesucht hat. Er kann nicht mehr davon lassen, und er spürt die ständig steigende Ungeduld in sich, die ihn dazu drängt, die Sache zu beenden, so schnell es eben geht.

    Der Ruf der Vorzimmerdame über die Rufanlage des Telefons reißt Horst aus seinen Gedanken.

    »Herr Albrecht! Sie haben Besuch. Ein Herr Hohlweg möchte zu Ihnen.«

    »Ja, sehr gut, lassen Sie den Herrn ein und sorgen Sie dafür, dass ich nicht gestört werde!«, antwortete Horst und wippte auf seinen Schuhsohlen hin und her, während er gelassen durch das Fenster auf das Funkturmkreuz sah. Dabei hatte er seine Hände tief in den Taschen seiner Hose vergraben.

    Bernd Hohlweg trat in das Arbeitszimmer seines Auftraggebers und sah den Mann, wie er vor einem Fenster stand und nach draußen sah.

    »Guten Tag, Herr Albrecht!«, begrüßte Bernd seinen Gönner.

    Horst Albrecht machte sich nicht die Mühe, sich zu Bernd umzudrehen. Er starrte weiter aus dem Fenster und schien in Gedanken zu sein.

    Der Kontrast zwischen den beiden Männern, die fast im gleichen Alter waren, hättte nicht größer sein können. Horst Albrecht stand im schwarzen Nadelstreifenanzug vor dem Fenster und Bernd Hohlweg in der üblichen Bekleidung von Otto Normalverbraucher. Jeanshose und abgewetzter Jeansjacke.

    »Gute Arbeit, Bernd. Auf meinem Schreibtisch liegt ein brauner Umschlag mit der vereinbarten Zielprämie.«

    Bernd richtete seinen Blick auf den Tisch und sah den Umschlag, den er gleich an sich nahm.

    »Soll ich den Mann weiter überwachen, oder hat sich die Sache nun erledigt?«, fragte Bernd unsicher nach. Denn es könnte sein, dass sein Auftraggeber das bekommen hatte, was er wollte.

    »Weitermachen! Doch diesmal lassen Sie den Mann vollständig überwachen und nicht nur sein Telefon. Ich sorge dafür, dass Sie ausreichend Mittel zur Verfügung bekommen.«

    Bernd nickte nur. Er hatte verstanden, die Sache war noch nicht zu Ende.

    5. Kapitel

    Berlin, Industriegebiet Neukölln: In ihrer Entwicklung zu einer gemeinsamen Gemeinde bildeten Cölln und Berlin um 1307 zuerst eine Union. Sie waren nach außen eine Einheit, eine Stadt, waren aber zu dieser Zeit nach innen immer noch in einer jeweiligen eigenständigen Verwaltung gegliedert. 1360 wird die Stadt Mitglied im Hansebund und wird 1518 aus dem Bund ausgeschlossen, nachdem sich Berlin vom Hansebund losgesagt hat.

    K laus ist gerade dabei, seine Sachen für die Reise nach Asien zu packen, als sein Telefon läutet. Er greift nach dem Hörer und meldet sich mit: »Ja, bitte?« Nie nennt er seinen Namen. Wer etwas von ihm möchte, der kennt auch seine Nummer und weiß, wen er am anderen Ende der Leitung hat. Sonst braucht keiner zu wissen, dass ein Klaus Konrad diese Telefonnummer hat.

    »Hallo, Klaus, hier ist Udo«, meldet sich der Anrufer.

    »Mann, Udo, du hast ja Nerven, noch bei mir anzurufen! Was sollte das heute Mittag? Was war das eigentlich für ein Typ? Und was geht den meine Tochter an?«

    Am anderen Ende der Leitung herrscht für einen Augenblick Ruhe, und Klaus glaubt zu hören, wie sein Freund tief einatmet.

    »Also, das ist so! Der Typ ist der Mann von meiner Bekannten, die mir die Post übersetzt. Ich persönlich stehe bei dem Kerl in der Kreide. Ich habe Schulden bei ihm und wollte eigentlich nur von ihm, dass er mir ein Ticket nach Bangkok finanziert, damit ich dich begleiten kann. Dass der Mann heute Mittag so auf den Tisch gehauen hat, dafür kann ich nichts. Er ist sonst ganz in Ordnung. Ich verstehe das auch nicht.«

    »Schon okay, Udo«, gab Klaus enttäuscht von sich. Er hatte von Udo nicht erwartet, dass er seine Probleme gleich in alle Welt hinausposaunt. Doch es war geschehen, und er würde nun das machen, was er für angebracht hielt. Nach seiner Tochter suchen. Das würde er sich von keinem Menschen untersagen lassen.

    »Soll ich dich trotzdem begleiten?«, fragte Udo unsicher nach. Denn er hatte kein Geld für das Ticket.

    »Dann muss ich ja noch ein Ticket mehr beschaffen.«

    Klaus machte eine Pause und überlegte. Er wollte wohl, dass sich Udo dazu äußert, doch das tat er nicht. Dafür antwortete Klaus für ihn.

    »Okay, komm mit! Ich besorge die Tickets, und du bringst mich zu deiner Brieffreundin.«

    Am anderen Ende gab Udo ein erleichtertes »Okay« von sich. Erleichtert darüber, dass er auf Kosten von jemand anderem nach Asien reisen könnte, zu seiner Liebe.

    Als das Gespräch beendet wurde, bemerkte Bernd für den Bruchteil einer Zehntelsekunde in der grafischen Darstellung des abgehörten Telefongespräches auf dem Bildschirm seines Rechners einen kleinen, nicht weiter erwähnenswerten Ausschlag, der ihm eigentlich nicht weiter aufgefallen wäre, wäre da nicht ein plötzliches Knacken in der Leitung gewesen, das eigentlich immer nur dann vorhanden war, wenn ein Gespräch abgehört wurde. Es war für den Abgehörten immer ein sicheres Zeichen dafür, dass er überwacht wurde. So war es vor zwanzig Jahren gewesen, als die Überwachungstechnik noch nicht so ausgefeilt war wie heute. Doch heute würde kein Mensch mehr mitbekommen, dass er abgehört wurde. Was auch immer der Grund für das Geräusch war, veraltete Technik oder ein anderes technisches Problem, es war da, und auch die Grafik auf dem Bildschirm des Rechners zeigte einen kleinen Ausschlag an.

    Es hatte noch jemand mitgehört. Und Bernd stellte sich jetzt die Frage, wer noch Interesse an seiner Zielperson haben könnte. Oder war er derjenige, der überwacht wurde, und wenn ja, von wem? Hatte sein Auftraggeber noch jemand anderen beauftragt, um auf Nummer sicher zu gehen? Das Knacken in der Leitung ließ darauf schließen, dass es sich um veraltete Abhörtechnik handelte. Vielleicht ehemalige Genossen, die ebenfalls noch in dem Geschäft tätig waren. Denn sein Auftraggeber würde nie jemand anderen beauftragen. Dazu war er viel zu verbunden mit seinen Exgenossen. Er mochte im Geld schwimmen, aber er hatte immer an seine ehemaligen Mitarbeiter gedacht. Immer hatte er sie anderen Bewerbern vorgezogen.

    Bernd dreht sich einmal um seine eigene Achse, um einen Rundumblick zu machen. Doch er kann nichts Auffälliges entdecken. Sein Fahrzeug steht ungünstig in einer Seitenstraße, nahe einer großen Zigarettenfabrik. Er hat keinen direkten Blickkontakt zu dem Gebäude, in dem sich die Zielperson aufhält, und damit auch nicht zu eventuellen Konkurrenten.

    Bernd entschließt sich die Protokolle der letzten abgehörten Telefonate und deren Grafik nach Auffälligkeiten zu prüfen. Vielleicht ist das ein technisches Problem, das nur jetzt aufgetreten ist, und er bildet sich alles nur ein.

    In einer der Parknischen der Neuköllnischen Allee parkt ein roter Volvo-Kombi mit ebenfalls abgetönten Scheiben, sodass Passanten das Innere des Wagens nicht sehen können. Auf dem Rücksitz des Volvo sitzen zwei Frauen mit asiatischem Aussehen.

    Beide Frauen sind mächtig mit sich selbst beschäftigt. Sie sind bei ihrer Arbeit. Nicht das, wonach es aussieht, das tun sie nur zum Zeitvertreib. Denn manchmal ist das, was sie tun, sehr öde, und Langeweile kommt auf, und das wollen sie bei ihrer Tätigkeit nicht haben, Langeweile.

    Das Piepen aus dem Lautsprecher des Notebooks verkündet, dass sich was tut. Denn die beiden Frauen tun das Gleiche wie Bernd, sie hören Telefonate ab, und das Piepsen verkündet nur, dass das angezapfte Telefon in Betrieb ist. Die Frauen brauchen nichts weiter zu tun, als den Scanner in die Nähe des abzuhörenden Telefons zu bringen, diesen einzuschalten und mit dem eingeschalteten Notebook zu verbinden. Die geführten Gespräche werden automatisch von dem Notebook aufgezeichnet, gespeichert und in diesem Fall per Funk an die Zentrale weitergeleitet.

    Doch gerade in dem Augenblick, als das Gespräch beendet ist und ein zweites Piepen folgt, berührt eine der beiden Damen das Notebook, welches von der Rücksitzbank fällt und dabei das Verbindungskabel zum Scanner kappt, der seinerseits seine Position verändert und damit seine Verbindung zum Zielobjekt verliert.

    Das Klappern des Notebooks lässt die beiden Frauen aufschrecken.

    Sie betrachten beide das Gerät und fangen dann an zu lachen.

    »Na, wie war ich heute?«, fragt eine der beiden.

    »Wie immer perfekt, und morgen besorg ich dir es.«

    Dann küssen sich die beiden und bemerken dabei nicht, dass ein VW Touran mit Spiegelglasverglasung an ihnen vorbeifährt.

    6. Kapitel

    Berlin, Stadtteil Schöneberg: Berlin hatte zur Jahrtausendwende drei Millionen dreihundertachtundachtzigtausend Einwohner. Die Stadt liegt im Kern 36 Meter über dem Meeresspiegel und geografisch im Berliner Urstromtal, das sich bis Warschau erstreckt. Ein Gebiet, welches geologisch von der letzten Eiszeit geformt wurde.

    O laf Lemke sitzt an seinem Schreibtisch in seiner Schöneberger Eigentumswohnung, von hier aus leitet er seine Nachtklubs und Bordelle, die in ganz Berlin verteilt sind. Zum Teil als Thaimassagesalons, zum anderen als Wellnesspensionen, die Thaimassagen anbieten.

    Er studiert ein Verzeichnis mit Namen und weiteren persönlichen Angaben von asiatischen Frauen, in dem Fall Thailänderinnen, die ein Visum für Deutschland erhalten haben und Ende Oktober nach Berlin kommen. Alle diese Frauen sind offiziell nur zu Besuchszwecken hier in Deutschland angemeldet und haben daher nur ein Visum für drei Monate erhalten.

    Vor dreißig Jahren konnte Olaf die Frauen und jungen Mädchen für sein Geschäft noch unkompliziert nach Berlin holen.

    Meistens wurde das über eine Heirat mit einem Deutschen organisiert, und die Frauen erhielten so eine Aufenthaltserlaubnis. Eine einfache Art, den Nachschub an frischem Fleisch aus Asien zu organisieren. Meistens waren die Mädchen mit älteren Männern verheiratet und wohnten nur zum Schein bei ihnen.

    Doch irgendwann fiel den Behörden auf, dass junge Frauen aus Asien, um die zwanzig Jahre alt, gerne ältere Herren im Rentenalter heiraten. Die Scheidungsrate stieg von Jahr zu Jahr, und es war kein Geheimnis mehr, dass die Asiatinnen, die nach Deutschland kommen, hier in den entsprechenden Einrichtungen die einheimische Männerwelt beglücken.

    Die Behörden handelten, und das Heiraten wurde erschwert. Mit der zunehmenden Vernetzung der Behörden in Thailand und Deutschland wurde die Zusammenarbeit der Behörden vereinfacht, und für Leute wie Olaf sind schlechte Zeiten angebrochen.

    Doch seine Kundschaft steht auf junges frisches Fleisch aus Asien, und so ist Olaf immer gezwungen sich etwas Neues auszudenken, um die Frauen nach Deutschland zu bekommen. Die Kosten sind enorm hoch, doch im Vergleich mit dem Gewinn sehr niedrig.

    Nur diese eine Liste mit jungen Frauen aus Thailand hat ihn ein Vermögen an Bestechungsgeldern gekostet, und nun das, seine eigene Frau hat dafür gesorgt, dass er Probleme mit einer der aufgeführten Damen bekommt.

    Sicher, sie weiß nichts von der Liste, doch als Olaf erfahren hat, was sie für Udo übersetzt hat, fiel ihm ein Name in dem Verzeichnis auf. Ein paar Telefonate, und Olaf hatte Gewissheit. Die Frau war identisch mit der Person in der

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