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Wechselnde Themen / Zehn Jahre - Erinnerungen und Begebenheiten
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Ebook966 pages13 hours

Wechselnde Themen / Zehn Jahre - Erinnerungen und Begebenheiten

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Herman Bang (1857-1912) hat vor allem wegen seiner Romane Berühmtheit erlangt. Nicht weniger bedeutend sind seine über 200 Reportagen, die er als Journalist der Kopenhagener "Nationaltidende" von 1879-1884 unter dem Titel "Wechselnde Themen" verfasste. Sie schildern Begebenheiten des Kopenhagener Alltags, befassen sich aber auch mit Kunst, Kultur und Theater. Außerdem enthalten sie Berichte über verschiedene Reisen, die Bang unternahm. In der Essaysammlung "Zehn Jahre" (1891) erzählt Bang in heiter-ironischer Art Ereignisse und Erinnerungen aus den Jahren 1877-1887.
LanguageDeutsch
Release dateOct 26, 2011
ISBN9783844870039
Wechselnde Themen / Zehn Jahre - Erinnerungen und Begebenheiten
Author

Herman Bang

Herman Joachim Bang (* 20. April 1857 in Asserballe auf der Insel Alsen; † 29. Januar 1912 in Ogden, Utah) war ein dänischer Schriftsteller und Journalist. (Wikipedia)

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    Wechselnde Themen / Zehn Jahre - Erinnerungen und Begebenheiten - Herman Bang

    Drangsal

    Gedränge – Ein netter Gedanke – „Eine Kleinigkeit zum Übernachten, guter Herr! – „Wandergesellen – Schweinebraten – Das Heim „der Obdachlosen – Tiefpunkte eines Lebens – „Der Kandidat – „Das ist Humbug" – Die Geschichte der Champagnerflaschen – Naßschnee – Die Lichter sind heruntergebrannt – Ein Blick durch das Fenster

    Die Lichter unseres Weihnachtsbaumes waren erloschen.

    Wie hatten sich die Kinder doch gefreut! Hänschen stand ganz ruhig, alle fünf Finger in den Mund gesteckt, unentwegt auf den Baum starrend; seine hellblauen Augen waren doppelt so groß wie sonst, doppelt so groß und strahlend. Wir waren um den Baum getanzt und hatten die alten Lieder gesungen, die uns wieder zu fröhlichen Kindern machten. Wir waren glücklich zu geben und froh zu empfangen; wir hatten Päckchen geöffnet und den Baum geplündert; wir hatten gelacht und gelächelt, bewundert und gedankt. Wie Viggo doch gejubelt hatte, als er seine Trompete bekam, und Jenny begann sofort „Den standhaften Zinnsoldaten"¹ und „Das Weib"² zu lesen. Der Baum leuchtete. Wie goldene Früchte hingen die Apfelsinen an seinen Zweigen, die großen Zuckerengel mit den gelben Flügeln schwebten auf den hohen Zweigen, mit roten Bändern festgebunden; die dunklen Zuckerkränze, mit leckerem Likör, der im Kerzenschein schimmerte, gefüllt, glühten in Licht und Glanz. Und ganz oben an der Spitze war ein großer Stern. Rundherum Kinderlachen und Singen.

    Nun waren die Lichter erloschen.

    Wir gingen die Straße hinab, sie war wie ausgestorben. Noch vor einigen Stunden war sie voller Menschen gewesen: Männer mit Paketen und Männer mit Körben, Jungen mit Christbäumen und arme Frauen mit Zweigen, Boten, die aneinander stießen und in der Eile ärgerlich fluchten, Herren, die aus dem Büro kamen, und Damen, die in die Kirche wollten. Die Läden waren gedrängt voll, man wurde vor der Ladentheke weggeschoben und hatte kaum Zeit, das Wechselgeld in Empfang zu nehmen, man vergaß sogar das Feilschen, und selbst ältere Damen entschlossen sich schnell. Man stieß aneinander und rief dann „Frohe Weihnachten anstelle von „Entschuldigung; man lachte, man drängelte, man rief. Der arme Handlungsgehilfe war schon ganz durcheinander, so daß er demjenigen einen Fächer einpackte, der um ein Zigarrenfutteral gebeten hatte. Dann wieder auf die Straße hinaus. Ein schnelles „Frohes Fest!" zu einem Freund, der gerade vorbeigeht, ein fröhliches vergnügtes Summen; man tastet seine Taschen ab, ob man jetzt nichts vergessen hat, ertappt sich dabei, wie man in das Pfeifen eines Straßenjungen einfällt, eilt schnell davon. Ja, und wie man sich beeilt! Und trotzdem regt es einen kaum auf, wenn ein eiliger Nebenmann einen unsanft in den Rinnstein stößt. Man nimmt es, wie es kommt: es ist so etwas merkwürdig Versöhnliches an Weihnachten, man ist nie dazu fähig zurückzuschlagen …

    Aber nun waren die Straßen leer. Die erhellten Fenster in ihren langen Reihen sahen in der Dunkelheit wie die glänzend strahlenden Augen des glücklichen Zuhauses aus. Genau: Zuhause, denn dies ist das allerschönste Geschenk des Heiligen Abends, daß es eine kurze Zeit lang in jeder Familie ein Zuhause zu schaffen vermag. Für einige ist der Weihnachtsgesang auf dem Felde Bethlehems zum hübschen Mythos geworden, dem sie nur den Wert eines alten Mythos zumessen können, aber das Evangelium vom Heiland lebt doch bei ihnen allen halbwegs. Es dämmert wie der Widerschein des Lichtes ihrer Kindheit, erklingt in ihrer Seele wie das tönende Echo eines lieblichen Gesangs, den sie fast vergessen hatten …

    Aber was gibt es wohl über dieses Weihnachtsfest zu berichten? Sie sind ja selbst Mutter, die den Weihnachtsbaum geschmückt hat, während Sie im voraus den Jubel und die Freude der Kinder genossen; selbst Vater, der vielleicht am Vormittag gebrummt hat, der ganze Sinn der Sache sei der, Geld auszugeben, jetzt aber abends, während der Baum im Lichterglanz erstrahlt, so unglaublich leichtsinnig ist, daß Sie gerne mehr als das Doppelte ausgegeben hätten, um all diese Freude zu sehen; selbst ein Kind oder ein Verwandter einer dieser glücklichen Familien, die Weihnachten, das Fest der Familien, doppelt so hell und fröhlich machen. Was könnte ich Ihnen Neues von all dem, was Sie so gut kennen, erzählen?

    Ich wußte, ich könnte es nicht, und gerade deshalb gingen wir durch die leeren Straßen, wo wir in Schneematsch und Schlamm herumwateten, und wo das Wasser in unsere Stiefel schwappte, hinaus, um das Weihnachtsfest nicht der Glücklichen, sondern der Obdachlosen zu suchen.

    Vor etlichen Jahren gingen einige junge Leute an Heiligabend hinaus auf die Straßen und Gassen und sammelten alle armen Kinder, auf die sie trafen. Sie brachten sie in einen warmen Saal, wo lange Tische bereit standen und wo man ihnen zu essen und zu trinken gab. Und es stand auch ein Christbaum da, ein wunderschöner großer Baum, wie wohl die wenigsten von ihnen jemals gesehen hatten. Er war edel gestaltet und schön geschmückt; aber es gibt mehr Obdachlose als die, die man auf der Straße trifft, und selbst mit dem besten Willen kann man keine Weihnachtslichter für sie alle anzünden.

    Und es sind Obdachlose verschiedenster Art. Da gibt es alte, einsame Leute ohne Verwandtschaft und Freunde, man nennt sie Heimatlose, weil man weiß, daß selbst an Heiligabend ihr einsames Kämmerlein zu keiner Heimat werden kann. Man trifft auf einen einzelnen älteren Mann, der schläfrig und mürrisch im Winkel eines Cafés oder eines Austernkellers³ sitzt, dies ist ein solcher Heimatloser. Dann gibt es andere, die in buchstäblichem Sinn Obdachlose sind, Leute, die beim Aufstehen nicht wissen, wo sie sich abends hinlegen sollen, Leute, die nichts besitzen und die keine eigene bleibende Statt haben; deren Leben ein beständiger Kampf ist, Leute, die sozusagen die wandernden Handwerksgesellen des Lebens sind, oft aber nicht einmal Tornister oder Bündel haben. Ihr Weihnachten suchte ich.

    Sie begegnen Ihnen bettelnd auf Kongens Nytorv⁴, wenn Sie abends vom Theater nach Hause zurückkehren. Sie haben ja so oft die übliche Bitte „Guter Herr, eine kleine Gabe für das Übernachten … „Guter Herr, eine kleine Unterstützung für die Nacht gehört. In Neapel geboren wären diese Menschen „Lazzaroni⁵ geworden. Sie hatten fast kein Einkommen, und ihre Wünsche reichen nicht weiter, als für heute das Notwendigste zu erwerben und für die Nacht ein Bett zu bekommen; sie helfen auf dem Markt und bieten ihre Dienste beim Zollamt an, manche bekommen Arbeit bei den Packhäusern, aber alles nur tageweise, und derjenige, der gestern etwas hatte, hat heute so gut wie nichts mehr. Deshalb muß er, wenn der Abend naht, hinaus, um für die 25 Öre zu kämpfen, die es kostet, im Obdachlosenheim, in das er möchte, zu übernachten. Denn der Wirt schreibt nicht an. Waren Sie schon einmal in einem solchen Obdachlosenheim? Oder glauben Sie noch an die alten Londoner Märchen vom nächtlichen Stehen, wo man mit den Armen schlafend über ein gespanntes Seil hängt? Die Räume unserer Obdachlosenheime werden von unserer Gesundheitspolizei genau überwacht, und man stößt hier auf keine furchtbaren Dinge – wie man genau so wenig natürlich auf besonderen Komfort trifft. Einige große Räume, deren Raumgröße genau bemessen ist, einige Betten längs der Wände, deren Anzahl die Polizei gemäß der Raumgröße bestimmt. An der Tür hängt ein Holzbrett mit der Hausordnung, die unter anderem bestimmt, daß die Bettwäsche im Monat mindestens einmal zu wechseln ist. Es ist ja fast das Übliche – aber man muß bedenken, daß ein Monat dreißig Nächte hat und daß jedes Bett in diesen dreißig Nächten meist dreißig verschiedene Besitzer hat. Übrigens gibt es in den Betten sowohl Bettdecke als auch Leintuch und zwei Kopfkissen, auf die aufzupassen recht schwer ist, wie der Heimleiter berichtet. „Diese Kopfkissen, sagte er, „sind ewig auf Wanderschaft. Mehrmals in der Woche muß ich aufs Polizeirevier, um sie wieder zu holen. Um für eine Nacht ein solches Lager zu ergattern, muß „der Kämpfer 35, 25 oder 15 Öre⁶ bezahlen, je nach dem, was es für ein Bett ist; denn es gibt verschiedene Arten von Betten und deshalb auch verschiedene Preise. Diese 25 Öre muß man sich abends oder nachts auf Kongens Nytorv verschaffen, wo es dann geschehen kann – denn es sind viele Landstreicher darunter –, daß die Polizei Nacht für Nacht einen guten Fang unter den wechselnden Bewohnern der Obdachlosenheime macht. Obdachlosigkeit führt zu Leichtsinn – dies ist eine alte Wahrheit …

    Am Vormittag, als ich meine Ankunft anmeldete – es ist immer klug, dies vorher zu tun – wurde ich vom Heimleiter freundlich empfangen. „Ich hätte mir gerne einmal den ‚Heiligabend der wirklich Armen‘ angesehen, sagte ich zu ihm, „den Heiligabend der Obdachlosen. „Bitte sehr, aber hier gibt es keine Obdachlosen: Sie haben hier ja ein Obdach." Dann erzählte er, daß er von 7 Uhr bis 10 Uhr seine Stammgäste mit Schweinebraten, Bier und Schnaps bewirte. Er erwartete etwa zweihundertfünfzig, Alte wie Junge. Dies war ein vielversprechendes Programm.

    Dann gingen wir um 9 Uhr hin.

    Im Speisesaal sei gedeckt, sagt die Frau des Heimleiters, die in der Küche steht und riesige Kartoffelberge auf verschiedenen Schüsseln anrichtet.

    Im Speisesaal herrscht ein schrecklicher Mief. Eine Luft, die schwanger vom Tabakrauch ist – solchem Tabak, den solche Leute rauchen, – schwanger von Branntweindunst, dem Geruch der großen Schweinebraten, dem Gestank von Kautabak, Ausdünstungen und Schweiß dieser siebzig Menschen, die in qualvoller Enge an den hufeisenförmigen Tischen sitzen. Die Luft schlägt mir stickig entgegen. Anfangs versuche ich vergebens, etwas zu erkennen … Dunst legt sich wie ein dichter, alles bedeckender Qualm, wie ein Schleier über Menschen und Gegenstände. Der kleine Weihnachtsbaum mit dem großen Zwerg schimmert schläfrig durch den übelriechenden Nebel. Es wird nicht viel gesprochen, man ißt, denn nicht an jedem Tag bekommt man Schweinebraten und in Butter gebräunte Kartoffeln.

    Nach und nach gewöhnt man sich an die Luft. Man gewöhnt sich so schnell daran, bei jeder Art von Luft zu atmen, und auch die Augen beginnen zu sehen. Wie gierig sie essen, sie schneiden das Fleisch in große, breite Streifen, tauchen es in Senf und schieben es in den offenen Mund, wo sich die Zähne darüber schließen. Durch die einzelnen Rufe, durch die einzelnen Flüche hört man ein unaufhörlich murmelndes Schmatzen. So langsam erkennt man im Dunst die Gesichter.

    Bärtige Physiognomien, junge und alte, weiche und zerfurchte Züge; die meisten breitschultrig, muskulös, einige mit nackten Armen. Der dort mit der Bäckermütze und dem blonden Schnurrbart hat die Hemdsärmel hochgekrempelt – er hat ein Hemd an – um es bequemer zu haben. Die Muskeln längs des Armes bilden zähe, kräftige Bündel, die Hände sind groß, fleischig und drahtig. Er esse bereits die dritte Portion, sagt der Wirt. Jetzt nimmt er die Mütze ab: Er hat kräftiges, mittelblondes, leicht gelocktes Haar mit einem Mittelscheitel. „Ich habe den Beruf des Metzgers erlernt", sagt er dann zu einem meiner Begleiter. Dies konnte man an seinen Armen und dem Scheitel sehen. Neben ihm sitzt ein pausbäckiger Kerl mit großen, aufgeblasenen Backen und ganz hellblauen Augen ohne Farbe oder Glanz. Er hat bereits genug; Leute, die so viel trinken, sind selten hungrig. Nun sitzt er an der Wand und gähnt. Kurz darauf fällt er in Schlaf, fällt mit dem Oberkörper auf den Tisch, nach rechts zum Metzger, nach links zu Petersen, erhält einen Stoß, fällt zurück an die Wand und schnarcht. Petersen ist ein gedrungener Mann, leicht gebeugt von Alter und Jahren, seine Augen sind wäßrig, gelbrot im Weißen, der Mund eingefallen, die Nase scharf … Ich werde ihn im Auge behalten …

    Dann stimmt einer dröhnend ein Lied an. „Der er et yndigt land"⁷ … für gemischten Chor. Gebrüll, Gekreische, Geheul, Geheul nach Melodie. Jeder singt in seiner Tonart, fast jeder hat seine eigene Melodie. Der Kleine mit dem schwarzen Bart am Tischende wirft sich in die Arme des neben ihm Sitzenden, und einander eng in die Arme schließend liegen sie beide da und schreien einander ins Gesicht. Man trampelt den Takt, den es nicht gibt, wer nicht singen kann, pfeift, oder er schlägt mit dem Messerstiel Trommel auf dem umgedrehten Teller. Unten am anderen Tischende sitzt man einander auf dem Schoß und schlägt den Takt, indem man einander auf die Schenkel klatscht. Dann schreit man auf, macht Lärm, bleibt mitten im Vers stecken, fängt plötzlich mit „De sønderjyske piger⁸ an, stoppt nach der dritten Strophe. Der Metzger fängt mit „Den tapre landsoldat⁹ an, stößt seinem schlafenden Nebenmann in den Magen, so daß der besagte Schlafende erwacht, sich erhebt und mit einem langgezogenen Heuler hinfällt, der vom Gebrüll des Metzgers – dumpf wie der Ruf eines Nebelhorns – begleitet wird.

    Man erhebt sich von den Tischen und hilft beim Aufräumen. Jetzt kann man sie richtig beobachten. Der Speisesaal gleicht einer der abgerissenen Buden in der Helliggejststræde, wo die Kleider lebendig geworden sind und als zerbrechliche Decke um einige merkwürdige Gestalten wandeln. Man prügelt sich überall, und wir bestellen noch eine Runde. Der Heimleiter stellt das Bier auf den Tisch, die Gläser zu uns. Der Lärm steigt. Draußen vor der Schenke tanzen drei, vier Kerle trampelnd einen Volkstanz mit sechs Touren; ein anderer sucht sich eine Ecke, um zu schlafen; andere scharen sich um uns und betrachten uns neugierig, vielleicht ein wenig ängstlich. Gut gekleidete Herren kommen ihnen etwas feindlich vor, etwas, das zu sehr an die Leute mit dem Schild¹⁰ erinnert … Aber das Bier beruhigt sie, und nachdem sie erst sicher sind, wen sie vor sich haben, drängen sie sich alle vor, um ihre Geschichte oder, vielleicht besser, eine Geschichte zu erzählen. Sie sind darin überaus geübt, und sie sind gute Schauspieler. Sie sprechen halblaut, jammern, erzählen von unverdientem Unglück und Leid, das sie getroffen hat, ohne daß sie schuld daran gewesen wären … Aber es liegt so viel Unglaubwürdigkeit über ihren Erzählungen …

    Petersen hat sich neben mich gesetzt. Er zieht einige Empfehlungsschreiben hervor. Das erste Datum ist 1849. Da war er Soldat bei den Leibjägern, oder Krämer von Beruf. Dann wird er Unteroffizier, kehrt vom Krieg zurück, wird wieder Krämer. Einige Jahre vergehen. Das nächste Datum ist 1859. Ich frage ihn, wie diese Jahre verlaufen sind. Er schaut mich von der Seite an und sagt treuherzig: „Ich erinnere mich nicht daran." In jedem Leben gibt es Jahre, die man am liebsten vergäße, Zeiten, an die man sich nicht erinnert, weil man es nicht will, und weil man sich eigentlich zu gut daran erinnert. Nach dieser Zeit treffen wir ihn wieder als Bevollmächtigten des Bornholmer Landrats. Er bekommt gute Empfehlungsschreiben für Fleiß und Tüchtigkeit, auch die juristischen Angelegenheiten führt er gut durch, beginnt jedoch schnell wieder etwas Neues und wird Gehilfe bei einem Buchhändler, Angestellter bei der Ausstellung, Assistent im Alhambra¹¹, Wächter auf dem Turm der Nikolaikirche¹² und wieder Krämer. Wiederum ein toter Punkt, wo die sonst so beredte Kopie schweigt, wo der Mann aber beginnt, wortreich und überzeugend zu reden. Hätte er nicht diesen auf die Seite schielenden Blick, käme man in Versuchung, ihm zu glauben – so aber fragt man ihn, was er jetzt macht. „Er wohnt hier. Man sieht auf seinen ausgeblichenen Mantel, der sorgfältig gebürstet ist, auf seine Hände, die klein und so sauber sind, wie man sie ohne Seife bekommen kann; auf seine scharfen Gesichtszüge, die hübsch wären, wären sie nicht von seinem Blick verunziert, der nach unten gerichtet ist, weg, nie genau auf den, mit dem er spricht. „Möchten Sie eine Krone?, frage ich. Er blickt schnell mit einer Art Schimmer im schielenden Auge. Dann umfaßt er hart und krampfhaft mein Knie und flüstert leise: „Danke, aber sagen Sie es nicht den anderen. Sie verstehen, es ist für einen Mann wie mich schlimm … Ich lasse eine Krone in seine Hand gleiten. Wenn die anderen dies sähen, hätte er mit dem Geld keine große Freude. Dann müßte er ja „eine Runde schmeißen, das weiß er.

    Draußen auf dem Fußboden prügelt man sich in aller Freundschaft – –

    Ein kleiner untersetzter Bursche stößt mich an und sagt, er wolle gerne unter vier Augen mit mir reden. Er zieht mich zum Ausgang. „Was soll das heißen?, frage ich, „was wollen Sie von mir? – „Ich will den Herrn nur vor den anderen warnen. Es ist Humbug – Herr, reinster Humbug von ihnen. – „Ja, das weiß ich, antworte ich. „Möchten Sie 50 Öre haben?, füge ich schnell hinzu, als ich ihn seine Hand mit einer eindeutigen Geste ausstrecken sah. „Ja, danke, Herr, es fehlt ja noch für die Nacht. Aber die anderen – es ist nur Humbug. Wir gehen wieder hinein. Der gute Mann trinkt ein Bier für das Geld und ruft dann einen meiner Freunde zum Ausgang, um ihm dieselbe Wahrheit – über die anderen zu erzählen.

    Ich komme mit dem „Kandidaten" ins Gespräch. Er spricht Latein, spricht von Ploug¹³ als Dichter gewisser Atellanen, über die Dreißigjährigen als Jungen. Er spricht auch über Philosophie. „Ja, Nielsen¹⁴ ist ein tüchtiger Repetitor, sagt er. Ich sage ihm nicht, daß Rasmus Nielsen ein alter Professor ist. Für ihn ist er noch der tüchtige Repetitor. Es hat mit diesem Niedergang der Dreißiger etwas Entsetzliches auf sich. Und doch ist er in diesem Kreis eine Autorität, und wenn er spricht, schweigen die übrigen. Man hört sich andächtig seine hebräischen Brocken an, ruft „Er lebe hoch!, wenn er seine alten Witze erzählt, spendiert ihm einen „Schwarzen¹⁵, wenn man etwas zu spendieren hat. Er erzählt mir von damals, als er sich und seine Frau in Öl malen ließ. Es ist schon lange her, aber es verschafft doch Ansehen, besonders wenn man ein Studierter ist, der zu den „Vornehmen gehört hat. – –

    Welch merkwürdiger Begriff: „Die Vornehmen" für diese Menschen. Die Vornehmen sind alle, die auf der Oberfläche sind, alles, was sich oben hält ohne zu sinken.

    Hier ist auch ein alter Mechaniker; er hat in Korups Have¹⁶ Geige gespielt, studiert und danach geforscht, um das Perpetuum mobile zu erfinden, geforscht und den Bau einer Flugmaschine ersonnen, die einen Menschen tragen konnte. Nun sitzt er da und reibt an seiner alten Fiedel, die er in besseren Tagen in Korups Have gespielt hatte, die jetzt aber nur noch zwei Saiten hat, aus herausgefummelten Bindfäden gefertigt. – –

    Draußen auf dem Tanzboden tanzt man immer noch Volkstänze in sechs Touren. Ein Hüne in blauer Jacke, die offensteht, erzählt uns, daß er mindestens eine Bedingung erfüllt, um glücklich zu sein: Er hat kein Hemd, tanzt mit einem blonden Burschen von achtzehn, neunzehn Jahren, der trällert und pfeift und trampelt, und jeden Augenblick einen langen Zug aus der Champagnerflasche, die auf dem Tresen steht, nimmt. Hier drinnen sah ich nur Champagnerflaschen.

    „Sie sind das Einzige, was sie bei uns hält", sagte der Heimleiter.

    So landen Witwe Clicquots¹⁷ leere Flaschen hier. Welche Geschichten könnten uns die Flaschen nicht erzählen! Erzählungen von frohen und jubelnden Stunden in den Häusern der Reichen, muntere Gastmähler, Ehrenfeste. Man schenkte aus ihnen in schlanke, geschliffene Schalen ein, wo der Wein wie spielende Perlen funkelte; lachende Frauenlippen tranken ihren feurigen Wein, Begeisterung riefen sie empor, und flüchtige Liebe, deren einzige Frucht eine sekundenlange Berührung war, ein einziger verweilender Blick, ein schweigendes, suchendes Behagen. Sehnsüchte hat ihre Traube geweckt und Begierde und errötende Freude. Man hat ihn bei lärmenden Fanfaren getrunken, man hat ihn zu den weichen Tönen des Walzers geleert, auf Bällen, auf Maskenfesten, während des Taumels wacher Nächte; der Wein dämpfte Trauer, verstärkte Freude …

    Und nun stehen sie hier, mit dünnem Bier abgefüllt. Ein Dichter, der sie erblickte, hätte darüber ein Gedicht schreiben können, ein Gedicht, das abwechselnd und bunt wie die Zufälligkeiten des Lebens selbst wäre.

    Oder gibt es vielleicht keine Zufälle im Leben? Ich frage nur, ich blicke auf diese Champagnerflaschen, deren Silberpapier halb abgekratzt ist, ich frage. Aber Sie dürfen weder „ja noch „nein antworten. Hier gilt ein „alles oder ein „nichts.

    Wie stickig doch der Mief ist. Der „Pausbäckige schnarcht ganz fürchterlich. Der Metzger beginnt wieder loszubrüllen. Dort am anderen Ende des Saales beginnt man Lieder zu singen; sie bringen das eine mit dem anderen durcheinander, bleiben mitten in der Strophe stecken, erzählen Witze, beginnen wieder zu singen, werden schließlich von „Dummer Peter¹⁸ übertönt …

    Petersen ist in melancholische Betrachtungen versunken, er ist fertig mit seiner Geschichte, er hat sie uns allen vieren erzählt.

    Dauernd kommen Neue hinzu, die uns ihre Geschichten erzählen wollen und betteln. Der Heimleiter lädt uns zu einem Glas Punsch ein, wir dürfen Weihnachten nicht hinaustragen¹⁹. Ich erinnere mich daran, daß wirklich Weihnachten ist. Ich hatte sowohl Weihnachten als auch den Schweinebraten vergessen … Ja, es könnte nützlich sein, in reinere Luft hinauszukommen, außerdem ist es wirklich spät geworden, fast Mitternacht. Wir müssen nach Hause.

    Dort in der Ecke beim Ofen sitzt der Kandidat und doziert, der alte Mechaniker traktiert die Fiedel mit den Bindfadensaiten. Der Metzger singt zum siebten Mal die vier ersten Zeilen von „De sønderjyske Piger" … Wie Mief und Dunst sich doch in dem niedrigen Raum stauen … Sie singen entsetzlich falsch. Lieder klingen nicht gut, wenn sie falsch gesungen werden …

    Wir stehen wieder auf der Straße. Sie ist öde, leer und halbdunkel. Naßschnee peitscht uns ins Gesicht, legt sich wie nasse Kleckse auf die Wangen, verschließt unsere Augen wie mit einer Haut. Wir machen uns auf den Weg, drinnen aus dem Saal des Heimes brüllt der Baß des Metzgers. Ich sehe ein Gesicht an der Scheibe – es ist Petersen. Ich erkenne die scharf geschwungene Nase. Er nickt uns zu. Dann ertönt ein lautes Krachen.

    „Gut, daß wir schon draußen sind, sagt einer aus der Gesellschaft. „Jetzt werfen sie die Tische um.

    Zu Hause herrscht in allen Zimmern Durcheinander. Den Weihnachtsbaum hat man in eine Ecke geschoben; die Kerzen sind herabgebrannt und haben alle Zweige vertropft. Hier und dort hängt ein kleiner Fetzen hellrotes Seidenpapier; dort ist ein Kuchen, den zu pflücken man vergessen hat. Ich trete ans Fenster. Unmittelbar gegenüber steht die Kirche, von zitterndem Licht beleuchtet, hoch, majestätisch und ruhig. Die lärmenden Wogen menschlichen Elends können sich noch lange an dieser unberührten Steinmasse brechen. Und ganz oben auf dem schlanken Turm schimmert das Kreuz. –

    Anmerkungen

    1. „Der standhafte Zinnsoldat: Märchen von H.C. Andersen (1805–1875), 1838 erschienen („Den standhaftige Tinsoldat).

    2. „Das Weib: Es handelt sich wahrscheinlich um den Kinderreim „Katten og kællingen, sloges om vællingen (Die Katze und das Weib schlugen sich um den Brei).

    3. Austernkeller: Kellerwirtschaft, in der Austern angeboten wurden; der Begriff ist leicht herabsetzend.

    4. Kongens Nytorv: Zentraler Platz in Kopenhagen mit Königlichem Theater und Magasin du Nord. Die Fußgängerzone („Strøget) endet dort mit ihrem nordöstlichen Teil. Die Bettler, die sogenannten „Banditen hielten sich auf den Bänken rund um „Hesten („Das Pferd) auf.

    5. Lazzaroni (pl.), lazzarone (sg.) (it.): Nichtsnutz, Lump, Faulenzer.

    6. 1 dän. Krone hat eine Kaufkraft von etwa 10€ (2011); sie ist in 100 Öre unterteilt.

    7. „Der er et yndigt Land („Es ist ein liebliches Land): Das Lied des Vaterlands (damals noch nicht Nationalhymne) wurde 1819 von Adam Oehlenschläger (1779–1850) gedichtet.

    8. „De sønderjyske Piger („Die Mädchen im Süden Jütlands): Gedicht aus Holger Drachmanns Reisetagebuch „Derovre fra Grænsen" 1877. Vielleicht ist auch das Gedicht von Vilhelm Bergsøe gemeint, das 1879 als Untertext einer landesweit bekannten Fotografie zweier südjütländischer Mädchen in Nationaltracht veröffentlicht wurde.

    9. „Den tapre Landsoldat": Lied (1848) von Peter Faber aus dem dreijährigen Krieg 1848-1850.

    10. Die Leute mit dem Schild: Schutzmänner, Polizei.

    11. Alhambra: Volkspark, der im Jahre 1856 von Tivoligründer Georg Carstensen in der Frederiksberg Allé angelegt wurde. Die Anlage bestand aus einem großen Gebäude mit Konzertsaal und Theater, in dem leichtere Schauspiele, Ballette und akrobatische Darbietungen aufgeführt wurden. 1870 abgerissen erinnert nur noch der Alhambravej daran.

    12. Turm der Nikolaikirche: Der Turm der Nikolaikirche (unweit von Kongens Nytorv) wurde bis 1892 als Brandwache genutzt.

    13. Ploug (…) Atellanen: Ende der 1830er und Anfang der 1840er schrieb Carl Ploug (1813–1894) unter dem Pseudonym Poul Rytter eine Reihe übermütiger satirischer, dramatischer Skizzen, die sogenannten Atellanen, die in der Studentenburse „Regensen" aufgeführt wurden und als Vorläufer der Studentenkomödien C. Hostrups gelten. Ploug war von 1841–1881 leitender Redakteur der Zeitschrift Fædrelandet. Atellane ist die Bezeichnung des antiken Theaters für die römische Volksposse (nach der oskischen Stadt Atella).

    14. Rasmus Nielsen (1809-1884): Bekannter Philosophieprofessor, weit bekannt für seine ausgezeichnete und einflußreiche Schriftsteller- und Vortragstätigkeit, weniger für seine wissenschaftliche Lehrtätigkeit an der Universität.

    15. „Ein Schwarzer": Kaffee mit Branntwein.

    16. Korups Have: Gartenlokal in Frederiksberg.

    17. Witwe Clicquot: Der Clicquot-Champagner wird von der Firma Veuve (Witwe) Clicquot in Reims hergestellt.

    18. „Dummer Peter": Nach einem Kinderreim der 1870er Jahre.

    19. „Weihnachten hinaustragen": Alter dänischer Ausdruck, der auf dem Glauben beruht, daß derjenige, der an Weihnachten das Haus verläßt, ohne etwas zu sich zu nehmen, Unglück über das Haus bringt.

    25.1.1880

    [Vor und hinter den Kulissen]

    Ein Theater am Vormittag – Im Foyer – Eine Uraufführung – „Lady Arabella" in zwölf Stunden einstudiert – Die Theatergarderobe – Eine Anekdote über Ristori – Erdbeben und Luftsprünge – Gedränge in den Kulissen – 300 Lichter – Der Tanz mit den Fächern – 1 Pfund Schießpulver – Herr Zangenberg am Südpol – Was Herr Direktor Andersen nicht zulassen konnte – Etwas, was er dagegen gerne sieht

    Es riecht nach frischer Farbe und nach altem Staub, nach Schminke und ausgeströmtem Gas. Rings herum ein Wirrwarr von Schnüren, Tauen und verschiedenen Gasrohren, von Schläuchen, Wasserrohren und Latten, von Balken, Sparren und Schnüren. Dort ein Stückchen Wald, hier ein Stückchen Straße, zur Rechten ein Salon, zur Linken ein Dachfenster. Und alle Farben sind verfälscht: Die Bäume schreiend grün, grüner als irgendein Spinatgrün, der Salon knallgelb und rot, die Häuser nur Kleckse, wo der eine Klecks ein Fenster sein soll, der andere eine Tür. Alles ohne Übergänge, ohne Nuancen und ohne Feinheit, übertriebene Farben, unmögliche Gegensätze, dunkelrot mit hellblau, lila mit hellgrün, alles schreiend, übertrieben und erlogen. Und andere Farben schmutzig, ausgeblichen, verblaßt und vergilbt, überzogen mit Staub, grau von Alter und Verschleiß.

    Rings um einen eine Düsternis, die den Tag vergessen läßt und doch keine Nacht ist. Ein Licht, verschwommen und undeutlich wie das eines Wintermorgens, wenn der Schein des Morgengrauens bleich, kalt und farblos Stunde um Stunde gegen das Dunkel ankämpft. Der Tag, der durch die geöffneten Luken und Fensterläden dringt, verirrt sich zwischen all diesen Schnüren, Leinwänden und Behängen, wird von den verwitterten Farben abgestoßen, weigert sich, mit dem Staub, Gasdunst und dem unendlichen Wirrwarr in den Winkeln zu kämpfen, bleibt weg und verliert sich im Dunkel hinter den unzähligen Luken, in den aufgestapelten Versatzstücken, hinter den Balken der Kulissenständer.

    So sieht vormittags ein Theater aus, und man muß Künstlerblut in sich haben, um wie eine unserer bekanntesten Schauspielerinnen, als sie das erste Mal gerade an einem solchen Vormittag auf die Bühne kam, in den Ruf auszubrechen: „Nein, wie ist das hier schön!" Denn es ist, gelinde gesagt, überhaupt nicht schön!

    Aber dann wird es Abend. Man läßt den Vorhang herab, und man schließt die Läden. Und wenn der große Vorhang sich wieder hebt, sind die Farben wahr, ist die Luft rein, die Bühne ein Zauberland. Die Fee des Theaters hat ihre Hand ausgestreckt und aus einem Chaos eine geordnete Welt erschaffen. Eine mächtige Fee, trügerisch wie eine Fata Morgana, verfänglich wie eine Elfe, zwieköpfig wie Janus, betörend wie die Königin der Sirenen, angebetet wie keine andere Fee in der Welt, mächtiger als die Elfen aller Märchen, Herrscherin im einzigen Märchenland, das uns der Unglaube der heutigen Zeit gelassen hat …

    Ich hatte „Kapitän Grants Kinder"¹ vom Zuschauerplatz aus gesehen, noch dazu am ersten Abend, als Carey² vor gerufen wurde und man für sein Geld fast doppelt so viel wie jetzt erhielt, wo über die Hälfte der Lieder gestrichen wurde. Wie alle anderen hatte ich Wallins³ Dekorationen bewundert, das elektrische Licht, die Ballettänzer, die so gut, wie man es verlangen konnte, tanzten, und die viel besser aussahen, als der verstorbene Bournonville⁴ uns zu verlangen hieß, den feuerspeienden Berg, der an Amicis⁵ Feuerwerke denken ließ, und das Erdbeben, das an die großartige Kulisse, die „Thrymskviden"⁶ rettete, erinnerte; besonders hatte ich jedoch Direktor Andersens⁷ Energie bewundert, denn seine Willenskraft war letztlich die beherrschende, lebendige Seele in diesem großartigen, unendlich verzweigten Organismus, dessen Schauseite ich an jenem Abend sah und dessen Rückseite zu betrachten ich durch Herrn Andersens Güte kürzlich Gelegenheit hatte.

    Das Leben hinter den Kulissen pulsiert immer heftig, aber niemals so heftig wie während der Aufführung eines Ausstattungsstückes, bei dem insgesamt 207 Personen mitwirken, und in das ein Ballett mit 80 Mitwirkenden eingestellt ist.

    Zwischen sechs und sieben versammeln sich all diese Leute im Theater. Maschinisten und Feuerwerker, Schauspieler und Statisten, Maskenbildnerinnen, Friseure und Friseusen, Musiker und Tänzerinnen, Feuerwehrleute und Regisseure, Schauspielerinnen und Soldaten, Garderobefrauen und Inspektoren, Schneider und Maler, die ganze unüberschaubare Masse an Kindern und Erwachsenen, Groß und Klein, sichtbar und unsichtbar Mitwirkende. In den Garderoben werden die Lichter angezündet, und die Ankleidezimmer sind voll von Lachen, Summen, Gesang und Geplauder. Man schminkt sich, der Liebhaber macht sich schön, der Schurke maskiert sich, die Liebhaberin pudert sich, kleidet sich und schminkt sich, schnürt sich, ordnet ihren Ausschnitt und putzt sich, der Vater legt sich seinen Bart an. Die Tänzerinnen prüfen die Trikots, die Kinder schlagen sich um ihre Palmen. Der Regisseur geht umher und ordnet alles, klingelt, ermuntert, warnt, ist überall zugegen.

    Auf der Bühne zeigen sich wilde Felsen: die berüchtigte Insel Balker, wo Kapitän Grant hungern muß und wo das arme Fräulein Betzonich⁸ ähnliche Schrecken wie die arme „Jungfrau Eselsfell⁹ aushalten muß. Wie lustig die Felsen von hinten aussehen. Der Felspfad ist eine Leiter; das Boot, das Ayrton und die anderen Bösewichte retten soll, wird wie Rollschuhe auf Rollen gezogen. Die ferne, auf Grund gelaufene „Britannia besteht aus zusammengeklebten Pappstücken, die auf einem Ständer befestigt sind. All diese Gegenstände, die so weit von den Zuschauern weg sind, nehmen sich, bei Nähe betrachtet, wie die Requisiten eines Puppentheaters aus. Unten von den Zuschauerplätzen hört man ein an- und abschwellendes Brausen, einen murmelnden Lärm, der wie eine Welle ansteigt, gegen den Vorhang brandet und über die Köpfe der Menge zurückweicht. Im Orchestergraben werden die Instrumente gestimmt, die eigentümlich klagenden Töne der größeren Hörner mischen sich mit den Stimmen der Geigen, mit den tieferen Tönen der Celli, werden durch den vereinzelten Schlag eines Beckens, den vereinzelten Laut einer Trommel, aufgeschreckt.

    Drinnen im Foyer versammeln sich nach und nach die Spieler. Es ist nicht mehr der erste Abend. Sie gehen unruhig umher, ohne miteinander zu reden, haben ein eigentümlich würgendes Gefühl im Hals, werden abwechselnd rot und weiß unter der Schminke, richten jeden Augenblick, ohne sich dessen bewußt zu werden, mechanisch und unbewußt ihre Kleidung, betrachten sich flüchtig in dem großen Spiegel, trippeln rastlos und ruhelos umher und reiben sich die klammen, naßkalten Hände. In solch einem Augenblick könnte Rußland Republik werden, ohne daß sie sich wunderten, wenn man es ihnen erzählte; sie würden unbestimmt und gedankenverloren lächeln, wenn man ihnen von einem Unglück berichtete; mit tiefer Anteilnahme einem die Hand drücken, wenn man erzählte, das große Los gewonnen zu haben. Sie sehen nicht, sie hören nicht, sie haben nur dieses merkwürdige, ergreifende Gefühl im Hals, einen beklemmenden Druck auf der Brust, sie wissen allzu gut, daß das Publikum, das in einem solchen Augenblick immer ein aus tausend Mündern zischendes Ungeheuer ist, dort unten hinter der Reihe von Lampen sitzt und gerade auf sie wartet. Sie memorieren zum hundertsten Mal ihren großen Monolog, ihre beste Replik, sie gehen in eine Ecke und üben einen schnellen Abgang, einen langsamen Heldenabgang. Man kann dies ruhig tun: die anderen üben auch, und so sieht es keiner. Der Diener ist genauso ängstlich wie die Marquise, die Hände der Maskenbildnerin zittern genauso wie die der Primadonna; der Mann, der die Lampen anzündet, hat dasselbe merkwürdige Kribbeln in den Fingerspitzen wie der Direktor und der erste Liebhaber. Die Maschinisten reden leiser und fluchen weniger. Der Mann am Vorhang hat Schwierigkeiten, ihn hochzuziehen. Der Schauder des Lampenfiebers hat alle ergriffen und umfaßt.

    Aber nun, bei der neunten Vorstellung – ist die Angst vorbei. Man unterhält sich fröhlich, und man kommt und geht. Der Schurke steht vor dem Spiegel und parodiert seine Rolle. Ein paar Indianer diskutieren die „Schandorph"-Frage und die Unterstützung des Dichters¹⁰. Man lacht über ein paar schnell hingemalte Landschaften, die während des Ankleidens mit Hilfe von Schminke von einigen agierenden Künstlern entworfen wurden. Landschaften, die zeigen, daß es keine unbegreifbare Kunst ist, Signor Carlo zu sein. Man erzählt sich Bühnengeschichten, man erzählt sich verstohlen etwas in einer Ecke, zu zweit, man erfindet, man fährt fort, man plaudert. In einem Theaterfoyer schießen die Geschichten wie Pilze aus dem Boden, verbreiten sich wie Fliegen im September, sterben genauso schnell wie die Insekten, von denen Aristoteles berichtet, sie lebten nur drei Stunden. – Man sieht sich flüchtig im Spiegel, richtet etwas an sich selbst oder an einem anderen. – Dann läutet der Regisseur.

    Hinaus auf die Bühne. Man hört das Finale der Ouvertüre Brandts. Der Vorhang hebt sich. Wir sind auf der Insel Balker. Der Ärgernis erregende Ayrton. Er müßte ausgepeitscht werden; wie gut, zu wissen, daß er im vierten Akt stirbt. Und dann Burke, der mir schon, vom Zuschauerplatz aus gesehen, eine geheimnisvolle, sphinxartige Person zu sein schien, und der hier oben noch merkwürdiger und noch mystischer wird. Im Hintergrund beginnt man, das Feuerwerk vorzubereiten, das den Brand der „Britannia darstellen soll, drei Mann liegen hinter den Wellen auf den Knien. Nun stößt Ayrton vom Land ab, und das Boot rollt hinaus. Es hilft den Maschinisten, daß Burke bei Grant geblieben ist: Herr Hunderup ist nicht so leicht zu ziehen. Drüben in der linken Kulisse legt der Maschinenmeister das Boot zusammen und stellt es ab. Das ganze Fahrzeug war nur noch ein ziemlich kleines Paket. Nun soll die „Britannia in Flammen aufgehen. Das Feuerwerk zischt los – die drei Maschinisten, die hinter den Wellen auf den Knien liegen, kriechen heraus. Von der Lampenreihe unten hört man einen Schrei von Grant und seinem Sohn. Die Unglücklichen – alleine auf dieser entsetzlichen Insel, alleine mit ihrem Todfeind! Der Vorhang fällt – und der Darsteller Kapitän Grants geht hinunter, um sich in „Patience" zu üben.

    Während das Publikum vor dem Vorhang sich unterhält, verwandelt sich die Insel Balker im Nu in den lieblichen Park des Lords. Herr Wallin ist ein Meister, selbst von hier oben ist das Dampfschiff des Lords glaubwürdig – Lady Arabella kommt aus ihrem Ankleidezimmer. Wir nehmen auf der Terrasse einen Augenblick Platz, und die Künstlerin erzählt mir, wie ihr am ersten Abend zumute war, als sie – nach flüchtigem nächtlichem Durchlesen der Rolle – diese am Morgen um elf Uhr endgültig zugeteilt bekam und die vierzig Seiten lange und für den Erfolg des Stückes besonders wichtige Rolle zu spielen hatte. Sie spielte sie wie im Traum, die Angst hatte sie fast betäubt, alles, was sie tat, geschah mechanisch, aber sie gab die Repliken richtig wieder, vertat keine Pointe. Aber wie müde war sie auch, als es vorbei war! Sie mußte ja nicht nur die Rolle lernen, sondern diese mußte auch geprobt werden, und sie hatte sich zweimal umzukleiden. Das Publikum kennt die Opfer, die der szenischen Künstler tägliches Brot sind, nur selten und schätzt sie noch seltener. Trotzdem kann man glauben, daß ein gewisses Maß an Arbeit und Willen dazugehörte, solch ein Kunststück zu vollbringen.

    Ich möchte Ihnen eine Anekdote über Ristori¹¹ erzählen. Die große Schauspielerin war Tag und Nacht gereist, kam dann mit dem Zug von Korsör hierher, probte mit ihren Schauspielern, die sie noch nie gesehen hatte, und von denen Signor Piacentini seine umfangreiche Rolle in einem Zugabteil gelernt hatte, wartete während der Probe, wo sie im Laufe von zwei Stunden die dänischen Statisten mit ihrer italienischen Glut beseelte, ununterbrochen auf ihre Garderobe, die von Hamburg kommen sollte. Es war inzwischen jedoch vier Uhr geworden, und es kam keine Garderobe. Um sieben Uhr sollte Ristori als Medea sich zum ersten Mal vor fremdem Publikum zeigen. Sie durchsuchte eilends den Fundus des Theaters, wählte eine Einkleidung der „Iphigenie und ließ sie sich ins Hotel bringen. Daraufhin verbrachte Marchesa del Grillo¹² zwei Stunden damit, Medeas Kleidung zu nähen, spielte die Rolle abends und probte nachts für die „Maria Stuart. –

    Der Lord kommt aus seinem Ankleidezimmer herab. Der Akt beginnt. Es gibt nichts Besonderes in dieser Abteilung, und die Gewandmeister zeigen mir den Fundus. Welch unendliche Fülle an Kleidungsstücken, welche Gegensätze! Alle Länder, alle Zeiten und alle Völker haben in diesem Raum ihren Platz gefunden: Geister und Menschen, Engel und Teufel, Kaiser und Bettler, Königinnen und Feen, Zauberer und Bäcker, Helden und Feiglinge, Soldaten der Republik und Höflinge aus Sankt Petersburg, phantastische Bewohner märchenhafter Welten und das gemeine Volk der Straße. „Wie viele Jahre Theatergeschichte bergen diese Räume?, fragte ich. „Ach, wir gehen bis 1850 zurück, erwiderte der liebenswürdige Gewandmeister. Wieviel tausend Erinnerungen verstecken sich nicht innerhalb dieser Wände, Erinnerungen, die in den Falten der Kostüme lauern, die sich hinter den Atlasroben verstecken, den türkischen Seidenhauben, dem Sultansmantel, dem Kostüm der Königin Krinoline¹³, dem Jagdkostüm Aladdins. Tausende Märchen werden hier von Winkel zu Winkel geflüstert, die farbigen Gewänder erhalten Leben, das strahlend kurze blendende Leben der Lampenreihe. Jedes Stück hat seine Geschichte. Aus jedem einzigen Ärmel steckt eine schelmische Anekdote ihr lächelndes Antlitz, eine lustige Kulissengeschichte taucht aus jedem Ritterstiefel und jedem Fehdehandschuh hervor. Das Theaterleben von dreißig Jahren träumt und wispert längs dieser dichtbehängten Wände, wo alle Nationen, wo alle Zeiten und alle Länder sich in demselben verwirrten Karneval treffen.

    Dort liegen zwei Harnische von „Die schöne Helene"¹⁴. „Ich bin Ajax der Erste – „Ajax der Erste – man hört die ganze Operette; das Urteil des Paris auf dem Berg, das Duett, den Gesang des Orestes. Nun liegen die Harnische der Helden verstaubt neben der Klinge Aladdins und Morgianes Spinnrad¹⁵. Von „Helene" zum Märchen der Märchen. Der Weg ist lang, aber in einem Fundus liegt alles drunter und drüber, genauso wie die Ideen in einem modernen Gehirn oder die Phantasiegeschöpfe in eines Dichters Kopfe. Jahrhunderte werden Tage, und Offenbach hat an der Seite Oehlenschlägers¹⁶ Platz genommen. Es gibt keine Gesetze, ausgenommen die des Kataloges, der die Hosen für sich und die Westen für sich aufzuhängen gebietet.

    Dort steht die Sänfte der „Reichen Bäckerin"¹⁷. Von der Sänfte erzählt man sich eine lustige Anekdote. Bei der Generalprobe brach der Boden durch – die „Reiche Bäckerin hatte nicht folgenlos ihre Weizenbrötchen verzehrt. „Die sieben Soldatenmädchen¹⁸ hängen Seite an Seite mit den Mänteln der „Verbannten¹⁹. Dort ist ein Rock, in dem Pepita tanzte. Denk nur, welche Triumphe dieses Stück Atlas feierte! Der ganze Wahnwitz der Pepita-Tage²⁰ zieht an unserem Auge vorbei, wenn wir diesen Atlasrock betrachten, der mit seiner wunderbaren Schönheit die Menschen ergötzt hat, einer Schönheit, die Europa sogar mehr als „El Ole²¹ bewundert hat. Dort haben wir ein gesticktes Galakleid, voller Staub, aber es hat seine Geschichte. Adam Oehlenschläger trug es auf den Hoffesten. Nun wird es gelegentlich von Dienern vornehmer Häuser, die einen Trauerfall haben und deren Dienerschaft deshalb schwarz gekleidet ist, verwendet. Im übrigen: welche Mengen an Livreen! Etliche sehr kostbare, ein Paar original französische, das Adelswappen auf den Bändern, mit denen der Rock von oben bis unten besetzt ist, eingewoben. Alle Geister von „Mehr als Perlen und Gold²², die Hochzeitskleidung des „Kleinen Herzogs²³, die Bauerntracht des „Fastnachtsfests²⁴; Stigaards²⁵ Kostüm aus „Meister und Lehrling, diese Kleidung wurde für Kristian Schmidt²⁶ angefertigt; es ist Gulnares Schleier²⁷, der zuletzt von seiner Tochter getragen wurde; Zangenbergs²⁸ Hut aus „Die Glocken von Cornevil-le²⁹, Frau Schwartz-Nielsens³⁰ Toga aus „Die schöne Helene, die Uniformen der Hähne von „Dornröschen³¹, Fräulein Lerches³² Armreife aus „Madame Angot³³, eine Uniform von Erik Bøghs³⁴ erster göttlicher Neujahrsrevue³⁵, die Tracht der Pagen aus „Der kleine Herzog, Amagermädchen, die Krone des Bergkönigs aus „Eselsfell. Dieses Gewand wurde von Oda Larsen³⁶ getragen, diesen Königsmantel trug Amalie Hagen³⁷, jener Schleier gehört zur „Tochter der Luft"³⁸ und wurde von Fräulein Petersen benutzt, die genauso schön tanzte wie sie spielte.

    Dieser Keller ist nicht der Garten der Lampe, aber er ist ein wundervolles Land.

    Oben auf der Bühne sind sie bereits mit der dritten Szene fertig. Alle Kinder von Herrn Albrecht sind auf der Bühne aufmarschiert, um überprüft zu werden. Sie mögen es, recht schmutzig zu sein, die Kleinen. Sie kommen fast ganz geschwärzt hinauf, mit einigen großen, schwarzen Flecken im Gesicht. Deshalb werden sie wieder hinuntergeschickt, um noch einmal gewaschen zu werden; nach dem Waschen kommen sie wieder hoch und sind allzu sauber geworden. Das Kleinste, nur mit einem Hemd bekleidet, ist der Liebling aller, aber es ist auch schrecklich schwarz im Gesicht. Bernhard Olsens³⁹ Kostüme sind vom Besten – wenn nicht das Beste – am ganzen Stück. Die Komödie anzuschauen lohnt sich alleine wegen der Kinderkompanie, die Herr Albrecht kommandiert … Direkt hinter der Klippe liegt eine Matratze auf einer Erhöhung. Es ist der Abgrund, in den Fräulein Andersen abstürzt, von wo Robert hinunterrutscht, und wo der Patagonier ihn rettet … Der Vorhang geht auf, und das kleine Korps nimmt den Beifall entgegen. Hinter der Bühne bereitet man das Goldgräberfest vor, hinter dem eisernen Vorhang stellt man das Feuerwerk, das während des Erdbebens abgebrannt werden soll, zusammen. Die Kinder, die tanzen sollen, stehen im Gang der Damen und streiten sich um die Palmen, so daß der Regisseur sie zur Ruhe mahnen muß. Die beiden Fräulein Carey gehen, als Damen gekleidet, schnell durch das Foyer. – Robert ist bereits auf die Klippe gestiegen, wo er steht und über die Schlucht zu Frau Krum ruft, die im Hintergrund sitzt und auf das Stichwort wartet, das sie jedoch nicht hören kann, um ihn vor dem Sturz in den Abgrund zu retten. So rutscht Robert über den Rand der Klippe, und Fräulein Andersen fällt auf die Matratze, wo drei Mann kauern, um sie aufzufangen. Herr Aagaard hebt sie hoch und geht auf einer Treppe zum oberen Teil der Klippe. Dort steht er mit dem ohnmächtigen Robert in seinen Armen, und als der Lord fragt, wer er denn sei, nennt er ganz ernst – ein Patagonier ist sehr ernst – seinen barbarischen Namen, den ich vergessen habe und auf den ich nicht mehr komme.

    Bitten Sie mich nicht, etwas über das Erdbeben zu erzählen. Während der fünften Szene glaubt man auch hinter den Kulissen, den Anfang des Weltuntergangs zu erleben. Die Maschinisten fiebern, und die Ausstattungen tanzen Galopp. Man kann es unmöglich begreifen. Paganel steigt aus dem Keller empor, Fräulein Andersen verschwindet, und es ist fast lebensgefährlich, sich auf der Bühne zu bewegen, wo alle Luken geöffnet sind, so daß die Erde sowohl Klippen als auch Menschen verschlucken kann. Die Indianer kommen herein, das Unwetter beginnt. Jetzt kommt das Erdbeben. Die Indianer heulen, flüchten, kämpfen. Ein Unteroffizier der Kavallerie rutscht auf einem Felsstück oben von der Dekkendekoration hinunter in den Keller; ein vollendeter Luftsprung, der von hier aus genauso furchterregend aussieht wie von der Lampenreihe aus gesehen. Das Feuerwerk bricht los, eine ganze Feuerkaskade, versichere ich Ihnen, und fast genau so schön wie die größte Nummer in einem der Tivolifeuerwerke⁴⁰.

    Es gibt zwei Vorhänge.

    Drinnen im Foyer herrscht großes Gedränge, alle jungen Damen stehen vor dem Spiegel und üben mit ihren paillettenbesetzten Fächern. Burke kommt mit einer Jacke herein, die er einem Kohlenstauer für ein Viertel Branntwein abgekauft hat und die zuerst dampfgereinigt werden mußte, bevor man sie verwenden konnte. Die Fräulein Carey unterhalten sich lächelnd mit dem Lord und seinem Zweitkommandanten. Mary schlägt Ayrton freundschaftlich auf die Schulter. Welch ein Durcheinander von Tänzerinnen, Kindern, Goldgräbern, Matrosen und spanischen Kavalieren. Ein Reichtum an Farben, Seidenbändern, Fächern, Palmzweigen, tanzenden Röcken, wattierter Seide mit eingewobenen Goldfäden, Kettenhemden, Bändern, Flor und Schals, weißen Hälsen, strahlenden Augen, gepuderten Armen. Die Luft ist überaus warm und vom Duft der Fettschminke, des Parfums, des Veilchenpulvers und der Pomade gesättigt. Man riecht die Brennschere, die in verschiedenen Locken einen Brandgeruch hinterlassen hat, die Puderquaste, die über all diese Ausschnitte geglitten war. Man lacht, scherzt, trippelt vor und zurück in den Atlasschuhen. – Draußen auf der Bühne hat man damit begonnen, die große Reihe Leuchter für den Tanz aufzustellen. Ungefähr 300 Leuchter mit etwa 400 Lichtern. Die Leuchter stehen in langen Reihen, der Regisseur geht herum, um sie anzuzünden. Fräulein Holter sitzt unten auf der Bühne und summt ihren Gesang von den Goldgräbern, einen Gesang, den bereits ganz Kopenhagen summt, und der bald von allen Leierkästen gespielt wird. Wenn Herr Neumann⁴¹ Lady Arabellas Papagei getötet hat, geht der Regisseur schnell durch das Foyer und läutet mit seiner Glocke. Die Tänzer des Balletts strömen auf die Bühne, man kommt weder vor noch zurück, man bleibt – umgeben von Tarlatanskleidern⁴² – stecken, wie, nein ich kann im Augenblick kein Bild finden, das genügend schmeichelt. Alle diese Menschen sollen hinaus, um in einem Raum, der knapp 225 Quadratellen⁴³ groß ist, Figuren zu bilden. 80 Damen und Herren sollen sich frei auf dieser Bühne bewegen. Selbst im „Fackeltanz⁴⁴ des Balletts „Valdemar, wo man im Nationaltheater durch die Masse wirkt, treten nicht mehr als 60 Tänzer auf einmal auf.

    Die Prozession beginnt, die Damen richten ihre Kleider. Die Solotänzerinnen stehen hinter der Kulisse und bemalen ihre Füße mit Kreide. Nun gehen die Tänzer vor zur Reihe der Lampen und entfalten ihre Fächer. Das elektrische Licht blendet fast, wenn es durch die farbigen Gläser fällt. Diese Fächer und dieses Licht haben „Kapitän Grant Erfolg verschafft – alle wollen die Fächer sehen. Man kann mit geringen Mitteln viel erreichen, wenn man sie nur zu nutzen versteht, d.h. wenn man ein Ballettmeister Carey und ein Direktor Andersen ist. Und trotzdem – um dieses elektrische Licht zu erzeugen, hat man eine ganze Batterie aufgebaut, ausreichend für eine Telegraphenstation, 120 Einzelelemente umfassend. Solche „kleinen Mittel sind aufwendig. Der Fächertanz ist zu Ende, Leontine und Fany haben ihren alten Ruf wiederum behauptet – man stürzt in die Ankleidezimmer, um sich umzukleiden. Ein tüchtiger General vervielfacht seine Truppen … während die halberwachsenen Mädchen mit ihren Palmen zu Métras hinreißendem Walzer tanzen, wechselt ein großer Teil der Tänzerinnen seine Toilette. Dann tanzen sie einen Pas de Shavl, während all die unzähligen Lichter, die nun endlich angezündet wurden, für die Schlußszene bereitstehen. Sie haben doch diesen nervenzehrenden Wirrwarr von Lichtern gesehen? 300 Laternen verschiedener Farben, die durcheinander schwirren, surren und drehen sich im Rund, bilden Ehrenpforten und Girlanden, Halbkreise und gerade Linien, tanzen vor und zurück, stürmen im Lauf nach vorne und weichen im Walzertakt wieder zurück. Und sie werden von Groß und Klein getragen, Damen und Herren. Ein magischer Anblick. Man stellt sich in Reihen auf, die kurz nach ihrer Bildung wieder aufbrechen, man hebt und senkt alle diese Lichter, die einen Hexentanz aufzuführen scheinen, getragen von ausgestreckten Armen, von den tanzenden Körpern hin und her gewiegt. Die Solotänzerinnen eilen zwischen den Reihen hin und her, stürmen wie Bacchantinnen vor, verlieren sich dann im Getümmel. Und es kommen immer neue Lichter. Ein zitterndes Meer flackernder Lichter … Man ist fast blind, wenn der Vorhang fällt.

    „Ruhig, ruft der Regisseur, „sachte mit den Lichtern.

    Die nächste Dekoration ist die schönste des Stückes. „Sie macht uns bedeutungslos, sagt einer der Schauspieler zu mir. Es ist unmöglich, einem Kulissenmaler ein schöneres Kompliment zu machen. Während dieser Szene ist die Kulisse kein beneidenswerter Aufenthaltsort. Man schießt etwas zu viel – man verbraucht im Kampf gegen die Indianer ein Pfund Schwarzpulver. Ein rasender Matrose feuert unmittelbar vor meiner Nase eine Pistole ab. „Vorwärts, Kinder, vorwärts, brüllt der Zweitkommandierende des Lords, und seine Antwort ist wie ein gerufener Schuß in eine lebhafte Unterhaltung mit Frau X. über den Karneval der Studenten. Die ganze Szene ist voll Rauch und Schwarzpulverdampf. Man heult, schreit und feuert. Robert feuert zwei Schüsse ab und findet dies so lustig, daß die junge Künstlerin sich wünschte, daß das ganze Stück „Die Kinder des Kapitäns Grant" solch ein Gefecht seien.

    Aber das wäre sicher etwas zuviel des Guten.

    Kapitän Grant ist sehr alt geworden, und Fräulein Betzonich sieht sehr mitgenommen aus. Vielleicht hat der Tanz sie so angestrengt. Ich gebe ehrlich zu, ich schätze die letzte Szene nicht, aber das Publikum hat hier ganz sicher eine andere Meinung. Ich habe nie ein so tief empfundenes „Aa-h wie das, das durch das Haus ging, gehört, als Burke den Jungen töten wollte. Und dieses „Aa-h kehrt jeden Abend wieder. Für mich ist die Ausstattung des Lords und seiner Gesellschaft unbedingt das Lustigste. Lord Glenarvon geht am Südpol in Frühjahrsspaziergangstracht an Land, mit einem Überwurf – in der Hand. Das ist vom Lord unvorsichtig, sehr unvorsichtig; das Casino erlitte einen allzu unersetzlichen Verlust, wenn Herr Zangenberg hinginge und Schwindsucht bekäme. Direktor Andersen dürfte dies auf keinen Fall zulassen.

    Die Vorstellung ist vorbei. Unten im Saal eilt das Publikum nach Hause. Bald würden die Lichter erloschen sein – für heute abend. Aber morgen zieht Lord Glenarvon wieder los, um Kapitän Grant zu finden, und Sie wären ganz bestimmt willkommen, wenn Sie seiner Reise folgen möchten – vom Zuschauerplatz aus. Auf der Bühne ist doch zu wenig Platz.

    Anmerkungen

    1. „Die Kinder des Kapitäns Grant" ist ein Roman des französischen Schriftstellers Jules Verne. Der Roman erschien erstmals 1867/1868 in drei Bänden unter dem Titel Les enfants du Capitaine Grant. Die erste deutsche Übersetzung erschien 1874, die erste dänische 1879. Die Dramatisierung in fünf Akten mit 8 Szenen und Gesängen von P.M. (ungelöstes Pseudonym) wurde im Casino 114mal zwischen 1880 und 1900 aufgeführt. Als Kinderkomödie 1880 erschienen. Die Handlung des Stückes folgt im wesentlichen der Handlung des Romans:

    Der Schotte Lord Glenarvan findet auf der Jungfernfahrt seiner Yacht Duncan im Magen eines Hammerhais eine Flaschenpost mit drei nur noch teilweise lesbaren Schriftstücken – einem auf Englisch, einem in Französisch und einem auf Deutsch –, die einen Hinweis auf den Aufenthaltsort des verschollenen Kapitäns Grant enthalten. Es ist erkennbar, daß Kapitän Grants Schiff untergegangen ist und der Kapitän sowie zwei Matrosen den Schiffbruch überlebt haben. Nur der Breitengrad ihres Aufenthaltsortes, der 37. Breitengrad der südlichen Hemisphäre, ist lesbar, die Angabe des Längengrads wurde vom Salzwasser zerfressen.

    So bricht Lord Glenarvan mit seiner frisch angetrauten Ehefrau – Lady Helena -, seinem Vetter Major MacNabbs, sowie den Kindern des Kapitäns Grant, dem zwölfjährigen Robert Grant und der 16jährigen Mary Grant, auf, um die Verschollenen zu suchen. Mit an Bord der Duncan ist der zerstreute Geograph Paganel, der sich aufgrund einer Schiffsverwechslung auf der Duncan einschiffte.

    Die Reise führt zuerst nach Südamerika. Lord Glenarvan und seine Gefährten durchqueren den Kontinent entlang des 37. Breitengrades. Dabei geraten sie in den Anden in ein Erdbeben. Robert wird von einem Kondor entführt, kann jedoch gerettet werden. Sie finden in Südamerika keine Spur der Verschollenen. Als sie während ihres Rittes über die Pampa in eine Überschwemmung geraten, können sie sich auf einen Baum retten. Während sie auf dem Baum festsitzen, beschäftigt sich Paganel mit den Briefen aus der Flaschenpost. Er entdeckt eine neue Auslegungsvariante, die die Reisenden nach Australien führt.

    An der Westküste von Australien treffen sie auf Ayrton, einen ehemaligen Matrosen Kapitän Grants. Er erzählt ihnen, daß sich der Schiffbruch an der Ostküste Australiens ereignet habe und bringt den Lord und seine Gefährten dazu, mit ihm den Kontinent zu durchqueren. Unterwegs ereignen sich allerlei Zwischenfälle, die am Ende dazu führen, daß die Reisenden in der Wildnis festsitzen. Ayrton wird von dem mißtrauisch gewordenen Major MacNabbs als Ben Joyce, Anführer einer Bande entflohener Sträflinge, entlarvt.

    Im weiteren Verlauf der Ereignisse fällt die Yacht Duncan scheinbar in die Hände von Ayrton und seiner Bande; Lord Glenarvan und seine Gefährten erleiden Schiffbruch an der Küste von Neuseeland und werden dort von Kannibalen gefangengenommen. Natürlich kehren Lord Glenarvan und seine Gefährten auf die Duncan zurück, und Kapitän Grant wird doch noch gefunden.

    Das Werk lebt von seinen schrecklichen Katastrophen, überraschenden Wendungen und wunderbaren Rettungen, und zwischendurch berichtet der zerstreute Paganel über die Geschichte der Erforschung Patagoniens, Australiens und Neuseelands. Der Roman ist wegen der wechselnden Schauplätze und der Vielzahl der handelnden Figuren farbiger als manch anderer Roman Jules Vernes. Im ersten Band haben sich die Protagonisten hauptsächlich mit Widrigkeiten der Natur, wie Erdbeben, wilden Tieren und Überschwemmungen auseinanderzusetzen, in den beiden anderen Bänden haben sie es mit Menschen, Sträflingen und Kannibalen zu tun. Die Figur des Ayrton, der zum Schluß auf einer einsamen Insel ausgesetzt wird, taucht auch in Jules Vernes Roman „Die geheimnisvolle Insel auf. (Aus Wikipedia „Die Kinder des Kapitän Grant und Sten Rasmussen, „Vekslende Themaer" IV, S. 1481)

    2.

    Carey: Vater von Leontine und Fanny Carey, zweier französischer Ballettänzerinnen. Carey war während der Abwesenheit Bournonvilles 1862 Leiter des Königlichen Balletts. Von 1868 bis in die 80er Jahre komponierte er eine Fülle von Tänzen für seine Töchter, die auf offener Bühne im Tivoli und im Casino stürmischen Beifall erhielten, unter anderem auch in der Vorstellung „Die Kinder des Kapitäns Grant".

    3. Wallin: Keine nähere Information verfügbar.

    4. Bournonville: Auguste Bournonville (1805-1879), französisch-dänischer Tänzer und Choreograph. Verhalf dem Königlichen Ballett als Ballettmeister (1830-1877) zu Weltruhm. Schuf über 50 Ballette mit den Schwerpunkten nordische Mythologie und Folklore des Mittelmeeres. Die bekanntesten sind: „Sylfiden (1836), „Napoli (1846) und „Et Folkesagn" (1854).

    5. Amici(s): Keine nähere Information verfügbar.

    6. Thrymskviden: Ballett von A. Bournonville mit Musik von J.P.E. Hartmann (1868).

    7. Direktor Andersen: Theodor Andersen (1835-1909). Schauspieler. 1869-1884 Direktor des Casinos, 1884-1887 Direktor des Dagmar-Theaters. Seine Bedeutung für das dänische Theater bestand nicht zuletzt in seiner Fähigkeit, selbst mäßige Operetten und Ausstattungsstücke mittels einer durchdachten, farbenfrohen und oft stimmungsvollen Inszenierung zu sehenswertem Niveau zu heben. Sein Einsatz für eine große Anzahl französischer Dramen des zweiten Kaiserreiches war verdienstvoll. Sein Schauspielerstab bestand in der Saison 1880-1881 aus etwa 30 Personen; die meisten von ihnen sind in späteren Lexika nicht erwähnt. Von den weniger bekannten nennt das Feuilleton: Hunderup, Frl. Schmidt, Frl. Petersen, Aagaard, Frl. Holter.

    8. Fräulein Betzonich: Johanne Betzonick, Schauspielerin am Casino (1860).

    9. „Jungfrau Eselsfell: „Jomfru Æselskind wurde als Märchenstück 1879 von Erik Bøgh verfaßt und 33mal im Casino aufgeführt.

    10. Schandorph und die Unterstützung des Dichters: Im Januar 1880 bewilligte das Folketing nach lebhafter Aussprache ein jährliches Stipendium von 1 000 Kronen für den radikalen, aber auch volksfreundlichen Verfasser des Durchbruchs, Sophus Schandorph (1836-1901).

    11. Ristori: Adelaide Ristori (1822-1906) war eine weltbekannte italienische Schauspielerin. In Cividale (Friaul) geboren, entfaltete sie zuerst im Lustspiel, dann in der Tragödie, eine bedeutende Begabung. Vermählte sich 1847 mit dem Marchese del Grillo. Seit 1855 europaweite Kunstreisen (Wien, Paris, London, Berlin, Kopenhagen, 1857 Spanien, 1860 Holland, 1861 Rußland). Ab 1864 auch außereuropäische Reisen (1864 Konstantinopel, 1867 USA, Mittel- und Südamerika, ab 1870 Australien und England, sowie Deutschland und Schweden). Tiefe Innerlichkeit und Leidenschaft zeichnete ihre Gestalten Lady Macbeth, Phädra, Maria Stuart u.a.) aus.

    12. Marchesa del Grillo: 1847 heiratete Ristori den Marchese del Grillo.

    13. Königin Crinoline": Singspiel in 2 Akten, von Erik Bøgh bearbeitet und im Casino von 1865-1893 aufgeführt.

    14. „Die schöne Helene: „La belle Hélène (1864), parodierende Operette von Jacques Offenbach mit Text von Halévy und Meilhac, dänische Bearbeitung von Ad. Recke. Von 1865-1891 123mal im „Folketheatret" aufgeführt, von 1876-1905 47mal im Casino.

    15. Morgianes Spinnrad: In Oehlenschlägers Märchenspiel „Aladdin oder die Wunderlampe" (1805) spinnt die Mutter der Hauptperson Aladdin, Morgiane, Baumwolle.

    16. Oehlenschläger: Adam Oehlenschläger (1779-1850). Dänischer Dichter und Verfasser. Berühmt sind von seinen Gedichten (1803) „Guldhornene und das lyrische Drama „Sanct Hansaften-Spil. Begründer der Romantik in der dänischen Literatur. Das Märchenspiel „Aladdin" folgte 1805.

    17. „Die reiche Bäckerin: „La boulangère a des écus, Operette von Meilhac und Halévy, Musik von J. Offenbach. Im Casino von 1878-1902 72mal aufgeführt.

    18. „Die sieben Soldatenmädchen: Vaudeville in einem Akt von Francis, Armand und Théaulon: „Les jolis soldats ou la forteresse mal défendue. Übersetzt von J.L. Heiberg, im Folketheatret 1862-1865 32mal aufgeführt, im Casino 42mal von 1854-1887.

    19. „Die Verbannten: „Les Exilés, Schauspiel von V. Sardou und Eugène Nus, nach dem gleichnamigen Roman von Lubomirsky, 1878 29mal im Casino aufgeführt.

    20. Pepita-Tage: Pepita d’Oliva (1830-1868), von Erik Bøgh, 1855-1860 Direktor des Casinos, engagierte spanische Tänzerin. Sie erweckte beim Kopenhagener Publikum großes Aufsehen, insbesondere mit ihrem Auftritt in der kleinen Gelegenheitskomödie „En Caprice", die für sie geschrieben worden war.

    21. „El Ole": spanischer Tanz.

    22. „Mehr als Perlen und Gold": Komödie (1849) von Hans Christian Andersen (1805-1875). 1849-1888 im Casino 162mal aufgeführt.

    23. „Der kleine Herzog": Le petit duc (1878). Operette von Meilhac und Halévy mit Musik von Charles Lecocq, im Casino 39mal von 1879-1880 aufgeführt.

    24. „Das Fastnachtsfest: „Fastelavnsgildet: Singspiel in einem Akt (1858) von Erik Bøgh, 113mal im Casino aufgeführt, 1855–1889, im Folketheatret 1870–1905 73mal.

    25. Stigaard: Lauritz Stigaard (1829–1889), Schauspieler an Privattheatern; seine Spezialität waren Rollen als kecker junger Mann. Eine besonders hervorragende Darbietung war die Rolle als Aage in dem Singspiel von C. Hostrup „Meister und Lehrling" (1852), die er noch an seinem 40jährigen Jubiläum (1888) spielen konnte.

    26. Kristian Schmidt: Christian Schmidt (1822–1865). Schauspieler an Privattheatern, 1865 zweiter Direktor am Casino. Als Schauspieler spielte er die unschuldige Munterkeit des Lustspiels in Erik Bøghs Vaudevillen und den treuherzigen Held in H.C. Andersens Komödien.

    27. Gulnares Schleier: In Oehlenschlägers Lustspiel „Aladdin eller Den forunderlige Lampe" (1805). 58mal 1878–1882 im Casino aufgeführt. Im 2. Akt belauert Aladdin Prinzessin Gulnare, die am Eingang zu ihrem Badehaus den Schleier aufschlägt und ihr Gesicht zeigt. Er ist daraufhin hoffnungslos in sie verliebt.

    28. Zangenberg: Christian Zangenberg (1853–1914). Schauspieler mit einem großen Repertoire von Vaudeville-Liebhabern sowie volkstümlichen Komödien- und Operettenhelden. 1881 von Frau Heiberg an das Königliche Theater verpflichtet.

    29. „Die Glocken von Corneville: Operette in vier Akten nach L.F. Clairvilles „Les cloches de Corneville, von Erik Bøgh übersetzt und bearbeitet, wurde im Casino 110mal aufgeführt (1877–1896).

    30. Frau Schwartz-Nielsen: Thora S.-N. (1854–1894), Schauspielerin, die auf der volkstümlichen Bühne des Casinos mit ihrer guten Laune, ihrer Derbheit und dem ausgelassenen und pikanten Gebrauch ihrer guten Stimme, glänzte. Verließ das Casino endgültig 1890.

    31. „Dornröschen": Komödie von Vilhelm Bergsøe, 1877 im Casino aufgeführt.

    32. Fräulein Lerche: Camilla Lerche (1836–1914), Schauspielerin, die 1858–1884 am Casino wirkte. Ging mit Direktor Th. Andersen ans Dagmartheater.

    33. Frau Angot: „La fille de Madame Angot" ist eine Oper von Clairville, Siraudin und Koning mit Musik von Charles Lecocq, 58mal im Casino von 1878–1893 aufgeführt.

    34. Erik Bøgh: (1822–1899). Konservativer Autor, Feuilletonist und Dramatiker, der dem Casino seine beste Kraft widmete. 1850–1860 belieferte er das Theater mit etwa 50 Stücken und Singspielen, darunter etlichen Bearbeitungen.

    35. Seine erste göttliche Neujahrsrevue: Die Zauberfarce „Neujahrsnacht" (1850) wurde 1849–1875 35mal aufgeführt.

    36. Oda Larsen: Oda Petersen, geb. Larssen (1851–1936), in der Theatergeschichte am besten unter dem Namen „Oda Nielsen bekannt, Schauspielerin am Casino, Dagmartheatret und dem „Königlichen Theater.

    37. Amalie Hagen: geb. Price (1831–1892), seit 1857 Tänzerin und Schauspielerin am Casino, wo sie in der Volkskomödie, Vaudevillen und der Farce den Platz der Primadonna behauptete. Sie zog sich 1867 zurück.

    38. „Tochter der Luft": französische Zauberkomödie aus den 1830ern, Verfasser sind die Gebrüder H. und Th. Cogniard. Das Stück war in den 1850ern in Kopenhagen äußerst populär.

    39. Bernhard Olsen: (1836–1922) wird hier als der Kostümbildner des Casinos genannt, wurde später als Gründer des „Dansk Folkemuseum" bekannt.

    40. Tivolifeuerwerk: Tivoli – der große Kopenhagener Vergnügungspark zwischen Hauptbahnhof und Rathausplatz, von Georg Carstensen 1843 nach englischem und französischem Vorbild gegründet. Die Fläche beträgt 80 000 m². Die bekanntesten Gebäude sind der Glassaal, das Pantomimentheater und der Konzertsaal. Fahrbetriebe und vornehme Restaurants runden das Bild ab.

    41. Herr Neumann: Sophus Neumann (1846–1912), bedeutender Schauspieler und Komiker, der an die 700 Rollen im Repertoire der Kopenhagener Privattheater spielte.

    42. Tarlatan: sehr leichter, glatter Baumwollstoff, locker gewoben, meist einfarbig. Nicht waschbar, preiswert. Wurde meist für Ballkleider benutzt.

    43. 225 Quadratellen: 225 Quadratellen sind 87,75 m², 1 Quadratelle = 0,39 m².

    44. „Fackeltanz: „Valdemars Fakkeldans. Im Ballett „Valdemar" (1835) von Bournonville mit Motiven aus Ingemanns historischen Romanen.

    21.3.1880

    Unser Umgang mit den Verstorbenen

    „Deshalb ist, so schloß einer der Universitätsprofessoren seine philosophischen Vorlesungen für die Studenten dieses Jahres, „das Ergebnis unserer Untersuchungen jenes, daß wir nur mit Wahrscheinlichkeiten rechnen können und deshalb alles anzweifeln müssen. Es gibt nur eine Wahrscheinlichkeit, die meiner Meinung nach an Gewißheit grenzen dürfte, diejenige, meine Herren, daß jeder von uns eines schönen Tages sterben muß. Deswegen tun wir vielleicht gut daran, mit dieser Wahrscheinlichkeit vor Augen zu leben.

    Der Professor verneigte sich und stieg mit leicht gebeugtem Rücken die Stufen des Katheders herunter. Dann ertönte das Aufbruchszeichen, das rasselnde Umdrehen des Schlüssels im Türschloß. Aber heute blieb man ruhig. Es war einige Sekunden lang, als ob ein einziger Gedanke allen die Luft genommen hätte, als ob seine ruhigen Worte in einem merkwürdig geronnenen Augenblick sie von Angesicht zu Angesicht mit dem „Sprung in das Dunkel" konfrontiert hätten. Und dann schwoll der Lärm an wie der Lärm einer Sturmbö, deren Brausen ansteigt.

    Was der Professor sagte, verdiente, Nachdenklichkeit zu erwecken. Es besteht ja eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß wir eines Tages sterben werden. Und „tot ist „tot. Der Tod ist ein und derselbe für alle. Nur die äußeren Umstände des Todes sind verschieden und müssen es auch sein, denn diese äußeren Umstände des eigenen Todes „sind das Letzte, was man kaufen kann". Mit einem letzten Gruß schmücken wir

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