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Schöpferische Indifferenz: Gesammelte Schriften Band 10
Schöpferische Indifferenz: Gesammelte Schriften Band 10
Schöpferische Indifferenz: Gesammelte Schriften Band 10
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Schöpferische Indifferenz: Gesammelte Schriften Band 10

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Um dieses 1918 veröffentlichte Buch (2. Auflage 1926) ranken sich Legenden; sein Titel ist, auch im Englischen (creative indifference) zum geflügelten Wort geworden. In Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Goethe, Schopenhauer, Nietzsche und Bergson entwickelt Friedlaender/Mynona seine polaristische Philosophie der Indifferenz, der "neutralen Größe", der persönlichen Mitte zwischen Extremen, des "indo-amerikanischen" Welt-Subjektes, das, aller simplen Begreiflichkeit entzogen, die Gegensätze schöpferisch balancieren, harmonisieren und zur Kooperation bringen kann. In fundamentalen Betrachtungen wird vorgeführt, wie sich dieses Konzept in Ethik und Politik, Kultur und Kunst, Philosophie und Theologie anwenden läßt. Friedlaender/Mynonas Hauptwerk aus seiner Berliner Zeit ist eine ungeheure Ermahnung zur subjektiven Autonomie: "messerscharf und dämonisch". Das seit Jahrzehnten nur schwer greifbare Buch erscheint hier in kritischer Neuausgabe. Der Herausgeber beschreibt ausführlich die verschlungenen Wege der Entstehung, gibt systematische Leitfäden zum Verständnis, weist auf eher verborgene Quellen hin und dokumentiert die erstaunlich weit verästelte Wirkung, bis hin zu Gestalttherapie, Kunst- und Kulturtheorie.
LanguageDeutsch
Release dateDec 28, 2013
ISBN9783732210541
Schöpferische Indifferenz: Gesammelte Schriften Band 10
Author

Salomo Friedlaender/Mynona

Salomo Friedlaenders aggressive Streitschrift, vor fast 75 Jahren erschienen, ist ein erstaunliches Dokument der frühen Einstein-Rezeption, in der die Weichen für eine sehr komplizierte, heute noch keineswegs abgeschlossene Diskussion gestellt werden. Das Buch greift über die bloss historische Dokumentation hinaus zu Perspektiven, deren Reichweite erst noch zu ermessen bleibt: zu einer aus Immanuel Kants nachgelassenem Werk, dem sog. Opus postumum entwickelten Äthertheorie. Kant gegen Einstein ist der erste Band einer Friedlaender/Mynona-Werkausgabe in 25 Bänden, in Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle der Universität Trier herausgegeben von Hartmut Geerken und Detlef Thiel.

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    Book preview

    Schöpferische Indifferenz - Salomo Friedlaender/Mynona

    Inhalt

    Einleitung: Friedlaender/Mynonas „Hauptwerk"? von Detlef Thiel

    Schöpferische Indifferenz

    Vorwort zur zweiten Auflage als Bekenntnis zu Immanuel Kant und Ernst Marcus

    Vorrede

    I Abhandlungen

    1

    2

    3

    II Skizzen

    1. Dionysismus

    2. Ethik

    3. Frieden

    4. Verschiedenheit

    5. Individuum

    6. Wert

    7. Schwebkraft

    8. Selbsteigenheit

    9. Liebe

    10. Unschuld

    11. Initiative

    12. Symbolik

    13. Weltperson

    14. Farbe

    III Aphorismen

    Rezensionen

    Anmerkungen

    Nachweise und Varianten

    Verzeichnis der Abbildungen

    Literaturverzeichnis und Abkürzungen

    Namenverzeichnis

    Sachverzeichnis

    Detlef Thiel

    Friedlaender/Mynonas „Hauptwerk"?

    „Haben Sie einen Verleger für Ihr Buch?"

    Indifferentismus polarer Observanz

    Die frühe Rezeption — Rezensionen und Dada

    A. Kubin, O. A. H. Schmitz, H. Bahr, Graf H. Keyserling

    Wirkungen in Kunst, Literatur und Kulturtheorie

    Walter Benjamin

    Die zweite Auflage 1926

    creative indifference — Zur Rezeption nach 1946

    Selbstkritik und Revision

    Werner Stein: Kulturfahrplan. Die wichtig sten Daten der Kulturgeschichte von Anbeginn bis heute, Berlin-Grunewald: Herbig 1946, ²1954, 1028

    Zeitgenossen haben dieses Buch Friedlaender/Mynonas „Hauptwerk" genannt. Etwas voreilig. Der Ausdruck verrät eine bürokratische Betrachtungsweise, welche die hier beschriebene reine Aktivität, den Widerstand gegen jede Verdinglichung, präzise verfehlt. Kann ein vom Verfasser in ganz bestimmter Hinsicht widerrufenes Buch dessen Hauptwerk sein? Gleichwohl legt es eine bestimmte Phase der Philosophie Friedlaender/Mynonas dar. Es bringt Grundzüge der expressionistischen Jahre auf den Begriff, spiegelt Aufbruch und Krise jener Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges. Es könnte ein ,Kultbuch’ sein .... Gibt es Kultbücher ohne Kult? Über dieses nach 90 Jahren wieder vorgelegte Buch ist in beschämendem Maß geschwiegen worden, und doch bildet es einen der verwickeltsten Knoten deutscher Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Seine Entstehung, Quellen, Absichten, seine verborgenen, aber weitverästelten Wirkungen werden im folgenden erstmals nachgezeichnet – Fragmente einer Begriffsgeschichte.

    1. „Haben Sie einen Verleger für Ihr Buch?"

    „Ein fundamentales Werk des Verfassers [...] dürfte noch dieses Jahr erscheinen."¹ Zur Zeit dieser Ankündigung, 1901, hatte Friedlaender/Mynona² eine Zusage des Leipziger Verlegers Wilhelm Friedrich für sein Manuskript Die lebendige Indifferenz der Weltpolarität. Die Publikation scheiterte an den Druckkosten – „glücklicherweise", schreibt F/M später; denn so konnte die Schrift ausreifen.³ Die weitere Genese läßt sich seit Ende 1912 konkreter fassen.

    Seit 1907 unterstützt Georg Simmel F/M mit Rat und Tat; er forciert den Druck des Nietzschebuches, das Ende 1910 erscheint. Seitdem veröffentlicht F/M in rascher Folge Grotesken, Aufsätze, Rezensionen, darunter den Ende 1911 auf einem Sturm-Abend gehaltenen Vortrag Polarität (GS 2). Am 21. Dezember 1912 schreibt ihm Simmel über ein unbekanntes Manuskript:

    „Verehrter Herr Doktor,

    Ich habe Ihr Manuskript gleich gelesen u. sende es Ihnen zurück, da ich nicht weiß, ob Sie seiner nicht bedürfen. Die Publikation hat m. E. große Schwierigkeiten über die ich mit Ihnen lieber mündlich verhandeln möchte. Vielleicht gestatten Sie, daß ich in einiger Zeit, wenn ich etwas zu Atem komme, Ihnen eine Unterredung vorschlage." (Simmel 2008, 150 f.)

    Wilhelm S. Ghuttmann und Erwin Loewenson, Mitglieder von Kurt Hillers „Neuem Club", planen Anfang 1913 die Zeitschrift Neopathos; das erste Heft ist für Oktober vorgesehen. F/M schickt am 7. März vier Texte: „I. Krieg und Frieden. / II. Persönliche Identität. / III. Inwendigkeit aller Auswendigkeit. / IV. Wille zu fliegen." Der zweite, dann der vierte Beitrag wird akzeptiert, das Projekt scheitert. Die Texte sind nicht erhalten, doch teils in das Buch eingegangen.⁴ In Simmels Brief vom 2. Mai 1913 geht es wieder um ein nicht zu identifizierendes Manuskript:

    „Ich [...] sende Ihnen nun Ihre Arbeit zurück. Wenn ich dazu einen Wunsch aussprechen darf, so ist es das: daß Sie Ihren Grundgedanken nun auf die Peripherie des Lebens verbreitern u. seine Fruchtbarkeit für alle Gebiete zwischen dem Innersten u. dem Äußersten zeigen möchten! Für jetzt hat die Form, in der sie ihn geben, sozusagen dasselbe Wesen, wie sein Inhalt: der Nullpunkt, in dem die Fruchtbarkeiten gesammelt, aber noch nicht zu Verwirklichungen erlöst sind, die Spannung, die blos Spannung ist u. ihre Kräfte noch nicht über sich hinaus aktualisirt. Der Weiterbau in Höhe u. Breite würde zugleich als Fundamentirung, als Begründung wirken. Ich meine damit nicht Wiederholung des Motivs in immer neuen Formen, sondern seine Erstreckung durch immer neue Materien; u. ich glaube auch, daß sich erst so eine Brücke zu weiteren Leserkreisen schlagen ließe." (Simmel 2008, 179)

    F/M hat den Rat durchaus beherzigt. Am 20. Juni schlägt Simmel die „schon vor Monaten geplante Zusammenkunft" vor (ebd. 189). Im Dezember 1913 erscheint in der Monatsschrift Die weißen Blätter F/Ms Aufsatz Dionysisches Christentum. Der Text wird in das Buch aufgenommen (Skizze 1). Am 20. Dezember bringt Franz Pfemferts Aktion den Aufsatz Das Individuum und die soziale Frage (GS 2, 385-389); er ist eingegangen in Skizze 5. Am selben Tag liest F/M im Neuen Club einen Prosatext: „Die Erlernbarkeit des Genies"; davon handelt Skizze 11. — Simmel, seit Frühjahr 1914 in Straßburg lehrend, antwortet am 24. April 1914 auf ein nicht überliefertes Schreiben F/Ms; es geht einmal mehr um die beiden materiellen Probleme, die F/M zeitlebens bedrängten:

    „Ihr Brief hat mich in hohem Maaße betroffen u. betrübt — ich dachte, die ökonomische Frage wäre für absehbare Zeit erledigt. Nun bin ich vorläufig ganz ratlos. An Ihre bisherigen Mäcene kann ich angesichts meines Verhältnisses zu ihnen nicht herantreten, meine eigenen Mittel sind auf lange Zeit hinaus festgelegt u. überhaupt sehr bescheiden, meine paar wohlhabenden Freunde habe ich für entsprechende ,gute Zwecke’ schon so in Anspruch genommen, daß ich von ihnen nichts erbitten kann. So sind zu meinem großen Kummer alle Türen verschlossen. Aber ich werde Ihre Frage dauernd im Auge behalten u. jede Möglichkeit ergreifen, die sich etwa bietet. / Haben Sie einen Verleger für Ihr Buch? Wenn es innerlich u. äußerlich möglich ist, will ich Ihnen ev. gern behilflich sein." (Simmel 2008,319)

    Am 10. Oktober 1914, mitten im allgemeinen Kriegstaumel, erscheint in der Aktion F/Ms Aufsatz Wink zur Abschaffung des Menschen; er bildet den Anfang von Abhandlung 3. Simmels letzter überlieferter Brief aus der „Grenzfestung" Straßburg datiert vom 26. Oktober 1914:

    „Nach den Mitteilungen Ihres freundlichen Briefes, für den ich Ihnen sehr danke, ist es mir wahrscheinlich, daß ich bei einem Verleger für die Übernahme Ihrer Schrift würde eintreten können. Nur sind Sie im Irrtum, wenn Sie den jetzigen Augenblick für dazu geeignet halten. Ich glaube mit Sicherheit behaupten zu können, daß kein einziger Verleger in Deutschland jetzt den Verlag eines philosophischen Werkes auch nur entfernt in Betracht zieht. Es werden überhaupt so gut wie keine Bücher gekauft, außer den auf den Krieg bezüglichen, u. die Verleger sitzen mit ihren unverkäuflichen Verlagsvorräten da; sie erleiden so ungeheure Verluste, daß, glaube ich, jeder Verleger mich auslachen würde, dem ich ein neues Unternehmen zumuten wollte. [...] Vor Beendigung des Krieges kann man überhaupt nicht daran denken, die Sache in die Hand zu nehmen, u. auch dann hängen natürlich alle Chancen davon ab, mit welchem Erfolge er beendet ist u. wie schnell sich das deutsche Wirtschaftsleben von dieser furchtbaren Katastrophe erholen wird. Denn von dieser Erholung wird die Fähigkeit des Publikums zum Bücherkauf bedingt." (Simmel 2008, 440 f.)

    In der Genese des Buches spielt auch Walter Hasenclever eine Rolle. Er hatte Ende 1913, mit 23 Jahren, sein Drama Der Sohn, einen Schlüsseltext des expressionistischen Theaters, beendet.⁵ Anfangs kriegsbegeistert, wandelt er sich rasch zum Pazifisten; seit Ende November 1914 studiert er an der Universität Bonn Germanistik und Philosophie. Am 17. Januar 1915 berichtet er dem Verlagsleiter bei Wolff, Georg Heinrich Meyer:

    „Mit größter Spannung lese ich zugleich mit Frl. v. d. Bank S. Friedlaenders Mskrpt. und finde es glänzend! Ungeheuer aktuell, eine Basis zur Weltanschauung, eine unendlich reiche Direktive! Übrigens, ohne Friedlaender je zu kennen, habe ich dramatisch das gleiche Prinzip angewandt: aus dem Mittelpunkte der Wesenheit vermittels Rotation die polaren Kreise zu entwickeln; deshalb steht ,Der Sohn’ auch unter der Einheit der Emotion wie des Geschehens – "

    Drei Tage später schreibt Hasenclever an F/M:

    „Sehr verehrter Herr Dr. Friedlaender.

    Ein glücklicher Zufall erlaubt mir, in Ihrem Buche vom Prinzipe des Indifferentismus zu lesen – der Verlag der ,W. B.’ lieh mir das Mskpt. Ohne Ihre Anschauung vorher zu kennen, war sie mir zur eignen Nachdenklichkeit als Dramatiker eine schon so gemäße, daß ich bewußt und konsequent ihr Prinzip in meinem Drama ,Der Sohn’ ausgestaltet habe und damals stark glaubte, die Erscheinung des neuen, heutigen Dramas von einem entsprechenden geistigen Aktivismus abzuleiten.

    Die Darstellung einer aus ihrem Zentrum vermittels dramatischer Rotation emanierten Urwesenheit, die alleinige Menschwerdung einer solchen entscheidenden Substanz in polarer Gegensätzlichkeit, hervorgerufen durch ihre polaren Figuren innerhalb der dramatischen Funktion, -: letzten Sinnes also das zentrifugale Pathos einer einzigen, heroischen Position (welche am Ende ihrer durchzogenen Axen, die Kurve verlassend, sich wieder zum Nichts ihres Mittelpunktes neutralisieren müsste) – dieses aufzuzeigen schien mir die Aufgabe des heutigen Dramas zu sein: das Thema vom neuen dram[atischen] Helden! Ich plane hierselbst eine Trilogie; ich glaube, verehrter Herr Doktor, daß wir die gleiche Richtung teilen! Ich brauche Ihnen also nicht zu sagen, wiesehr mich die Souveränität, das bereits zu-Ende-Gedachte Ihrer Deduktionen erfreut; die kühle Abstraktion des Philosophen wieder in handelnden Kosmos zu metamorphosieren, bleibt das Stigma der Poeten. —

    Der Grund meines Briefes ist folgende Frage. Augenblicklich bin ich, um zu promovieren, mit einer literarhistorischen Arbeit zwar, aber immerhin und für mich am wichtigsten in Philosophie. Gestern im Seminar, bei dem ausgezeichneten empirischen Psychologen Störring (einem der ältesten, umfassendsten Köpfe aus der Wundtschule), als man Windelband[s] neuestes Buch ,Einleitung in die Philosophie’ diskutierte, flocht ich unter Nennung Ihres Namens einige Ihrer Thesen ein — und wurde von Störring aufgefordert darüber am nächsten Dienstag im Anschluß an seine Ausführungen über Spinoza ein kurzes Referat zu halten. Ich sagte zu; möchte Sie aber auf alle Fälle erst fragen, ob Sie einverstanden sind, wenn ich unter Umständen einige Sätze aus dem Manuskripte vorlesen würde: die Zeit, in der wir leben, ist dazu angetan, die Interessen des Geistes zu wecken, solange wir noch dazu im Stande sind!

    Ich hoffe, Sie geben mir bald eine Antwort.

    Mit herzlichen Grüßen

    Ihr

    Walter Hasenclever

    F/M ist einverstanden und bittet Hasenclever um eine Empfehlung. Dieser berichtet am 24. Januar an Meyer:

    „Denken Sie: ich halte morgen im philos. Seminar bei einem der gescheitesten Professoren (ausersehen als Nachf. v. [...]: Prof. [...] Philologe) ein Referat über Dr. S. Friedlaenders bei mirweilendes, noch ungedrucktes Manuskript, und ich werde, im Einverständnis mit Friedlaender, wichtige Stellen daraus vorlesen! Sie sehen, es geschieht doch etwas zum Imperialismus des Geistes — sogar in Bonn! [...] Friedlaender bittet mich, mich für die baldige Drucklegung zu verwenden — ich halte das Buch für ausgezeichnet: wollen Sie mehr darüber hören? Bitte an Friedlaender ein Exemplar ,Der Sohn’ zu senden!"

    Hasenclever kann die Sache nicht weiter verfolgen: Mitte Februar 1915 meldet er sich als Dolmetscher in Gent, wird bei der Postzensur eingesetzt, dann in Kassel in einer Schreibstube, dann nach Galizien abkommandiert.⁹ Wenig später erhält F/M einen (nicht überlieferten) Brief von Alfred Kubin; damit beginnt eine intensive Korrespondenz bis zu F/Ms Tod. In seiner Antwort vom 27. März 1915 (Briefe Kubin, 14 ff.) dankt er für das Interesse, skizziert seinen Standpunkt, führt seine wichtigsten Publikationen an und teilt den vorläufigen Titel seines „echten Buches" mit:

    ,„Eigne Allmacht’

    (Vom

    Prinzip des Indifferentismus polarer Observanz

    zur

    Einführung des Begriffs der

    neutralen Größe

    in die

    Philosophie)."

    Die erste Formel im Untertitel hatte Hasenclever schon genannt; das folgende bezieht sich auf Kant (dazu Abschnitt 2); im selben Brief fällt auch die Wendung „schöpferische Indifferenz. F/M beklagt den „bewährten stumpfen Widerstand, der sich dem Publizieren entgegenstelle in Gestalt der „sonderbaren Hebammen, der lieben guten Verleger, dieser Engelmacher des Geistes". Er bittet Kubin, das Manuskript bei Georg Müller in München zu empfehlen – „auch Herr Leonhard Frank hier (der aber meine Idee nicht kennt) versprach mir, bei Müller für mich zu wirken". Darüber hat F/M später berichtet:

    „Meine jugendliche Konzeption des menschlichen Ich fand ihre Geburt als Schöpferische Indifferenz’. Das Erscheinen dieses Buchs verdankt sich einem komischen Zufall. Der Dichter Leonhard Frank, Autor des pazifistischen Novellenwerks ,Der Mensch ist gut’, besuchte mich, und ich klagte ihm mein Leid über die Unanbringbarkeit des Manuskripts. Er entflammte idealistisch, nahm die Handschrift nach München zu seinem Verleger Georg Müller mit und zwang diesen diktatorisch, wie er mir erzählte, zur Annahme, indem er ihm drohte, ihm sonst keines seiner Werke mehr anzuvertrauen. Als ich Frank später mal fragte, wie er mein Buch fände, gestand er mir, er kenne es gar nicht, mich aber kenne er als geistigen Menschen, und das genüge ihm ... Er sowohl wie alle diese ,linken’ Geistigen, orientierte sich, in die politischen Wirbel gestoßen, marxistisch. Das ist vielleicht eine ökonomische, sicherlich aber keine geistige Lösung."¹⁰

    Franks Vorstoß bei Müller muß Ende Mai 1915 stattgefunden haben. Am 7. Mai hatte es im Cafe des Westens folgende Szene gegeben: Der Journalist Felix Stössinger ließ sich zu der Bemerkung hinreißen, die soeben bekannt gewordene Versenkung der Lusitania mit 1198 Passagieren sei „die größe Heldentat der Menschheitsgeschichte; darauf schlug ihm Frank vor den Gästen ins Gesicht und ergriff sofort die Flucht nach der Schweiz; als französischer Agent denunziert, wurde er am nächsten Tag polizeilich gesucht. „Tatsächlich überschritt er aber erst im Juni 1915 die Grenze, nachdem er zunächst wegen Geldangelegenheiten seinen Verleger in München aufgesucht hatte.¹¹ Auch Kubin will bei Müller anfragen. F/M am 3. Mai:

    „Ich danke Ihnen für Ihre Absicht, mit Müller zu reden; ich würde auch sehr gern auf einen Eventual-Vertrag eingehen. Das Buch dürfte rund 400 Druckseiten stark sein. Eine Probe daraus hoffe ich, Ihnen im Sommer senden zu können. Die ,Weißen Blätter’ machen nämlich Miene, ein Kapitel zu bringen." (Briefe Kubin, 18)

    Kubin hatte Erfolg; zwei Wochen später schreibt ihm F/M:

    „Unser göttlicher Müller, das persönliche ∞, mahlt zwar unfehlbar sicher, aber vorerst qualvoller langsam als alle die übrigen Müller, den Georg nicht ausgenommen, den, für mich interessirt zu haben, ich Ihnen gern verdanke." (17. Mai; Briefe Kubin, 19)

    Das erwähnte Kapitel erscheint unter dem Titel Der Waghalter der Welt am 1. Juli 1915 in den Weißen Blättern; es wird, in drei Teile zerstückelt, in das Buch aufgenommen. Seiner Schwester Anna berichtet F/M am 31. Juli, er habe dafür eine „Abfindung eingeheimst (AAFMAG). Anfang September vermerkt er: „Soeben ist übrigens mein Vertrag mit Müller in aller Form Rechtens perfekt geworden. Das Buch erscheint aber erst nach Friedensschluß, aber dann spätestens in einem Jahr. (Briefe Kubin, 36) 12. November:

    „Jetzt schreibmaschinire ich aber mein Buch noch einmal selbst und bringe Verbesserungen und Ergänzungen an; außerdem habe ich privatim eine kleine Vorlesung übernommen, zu der ich mich präpariren muß. [...] Sehr gern würde ich Ihnen mein M[anuskript] schicken; es geht aber vorläufig noch nicht, weil ich es noch überarbeite; auch besitze ich nur wenige Teile im Duplikat, und diese Duplikate habe ich Müller solange anvertraut, bis ich ihm das ganze M[anuskript] übersendet haben werde. Der Vertrag machte sich so schnell, weil Leonhard Frank durch München kam, der jetzt auf M[üller] mächtigen Einfluß zu haben scheint. Die Bedingungen sind für mich sehr ärmlich und bleiben noch obendrein während der Dauer des Krieges rein formal." (Briefe Kubin, 40 f.)

    Drei weitere Vorabdrucke folgen: zwei Aphorismensammlungen, beide unter dem Titel Polaritische Gedanken (Die Aktion, Juli 1916); der Aufsatz Goethes Farbenlehre (Dezember 1916)¹² sowie Anfang 1917 zwei Seiten unter dem Titel Eigne Göttlichkeit.¹³ F/M an Kubin, 10. August 1916:

    „Es wimmelt so von Mißverständnissen um mich herum, daß ich meistens auf gleichgültige oder feindliche Empfängnis gerate. Der , Waghalter’ scheint klanglos verschollen. Ob es meinem Buche besser ergehen werde, lasse ich übergetrost dahin gestellt." (Briefe Kubin, 76 f.)

    So klanglos verschollen war der Waghalter keineswegs. Daß der Lyriker Alfred Mombert in Heidelberg seinem Freund Kurt Benndorf 1918 den Aufsatz empfahl, konnte F/M nicht wissen; wohl aber, daß Hannah Höch ihn auf einer Collage 1920 mit Albert Einstein verknüpfte.¹⁴ Über weitere Echos unten.

    25. November 1917: „Meine Schöpferische Indifferenz’ ist bereits im Druck."

    14. Dezember 1917: „Zur Ergänzung [...] sende ich Ihnen, als eingeschriebene Drucksache, den Anfang der Vorrede zur Schöpferischen Indifferenz’. Haben Sie die Güte, sie mir gelegentlich zurückzugeben."

    20. Februar 1918: „,Bonbons’ & Schöpferische Indifferenz’, längst gedruckt, lagern & lagern!!!"

    27. Februar 1918: „Die Schöpferische Ind.’ ist ausgedruckt. Bitte wenden Sie sich deshalb an Müller; ich thue es gelegentlich auch." (Briefe Kubin, 96-99)

    Anfang April 1918 kommt F/Ms Sonettensammlung Hundert Bonbons heraus, mit Titelzeichnung von Kubin. Am 26. April berichtet F/M über einen Besuch bei Müller in München und eine erzwungene „fieberhaft kurze Unterredung":

    „Ich selber erlangte schließlich einen Vorschuß und die Zusicherung eines Generalvertrages, der mir, statt einmaligen Honorars, eine monatliche Rente, in einer noch zu präzisie renden Höhe gewährleistet." (Briefe Kubin, 101)

    Um diese Zeit wird das von Kurt Hiller herausgegebene zweite Ziel-Jahrbuch, Tätiger Geist! veröffentlicht und, wie das erste, wegen antimilitaristischer Tendenz beschlagnahmt; darin F/Ms Aufsatz Individuum.¹⁵ Schöpferische Indifferenz erscheint im Juli 1918. Die Auslieferung erfolgt verzögert. Am 4. Juli moniert Kubin, das Buch sei ihm noch nicht zugesandt worden; am 23. Juli bemerkt F/M: „Müller verschickt Karten an die Subskribenten, wonach die Sch. Ind. soeben erschienen sei."¹⁶ Am 29. August 1918 berichtet er:

    „Der Verleger schreibt mir bereits, noch bevor er mir meine Exemplare zusendet, daß das Buch durchfällt; es kostet allerdings 16,50 M!!! Ich halte es für einen Glücksfall, daß es überhaupt vorliegt, bin auf die allerlangsamste und ebenso gründliche Wirkung gefaßt und ihrer unfehlbar sicher – sei es nun, daß das Buch direkt, sei es, daß es durch die Befruchtung eines besseren Kopfes wirke."¹⁷

    Im Oktober 1918 drucken die Neuen Blätter für Kunst und Dichtung un t e r dem Titel Zur Psychologie der Engel ein Stück aus Abhandlung 3 ab, ohne Hinweis auf die Quelle. Im März 1919 erscheint in Anselm Ruests Zeitschrift Der Einzige Skizze 11.

    2. Indifferentismus polarer Observanz

    Wie leicht scheint es, angesichts heutiger philosophischer Literatur, dieses Buch nach kurzem Durchsehen achselzuckend wieder wegzulegen! Eine Textwüste ohne Orientierungshilfen ... „sei es tausendfach wiederholt ... „immer von neuem gesagt (103, 138) – was soll die Litanei? wie langweilig! Das wäre besser auf ein paar Thesen gebracht und an Beispielen verdeutlicht worden .... Am Schluß der Vorrede wird der Leser gar aufgefordert, sich „der Belästigung durch die Monotonie der Variation zu unterziehen: „Der stete Tropfen dieser Ermahnung höhle den Felsen des Widerstandes ... Lektüre als Prozeß „schöpferischer Selbsterweckung"? Lesen als Therapie?

    Läßt man sich dennoch darauf ein, so bemerkt man bald ein kreisendes oder spiraliges Auf- und Abrollen der Themen, ein genußvoll orientalisches Weben und Verknüpfen. Viele Traktate zu allen klassischen Themen der Philosophie sind ineinander gefügt. Was in F/Ms Nietzsche begann, ist reif entwickelt: ein eigener Sprachduktus, völlig verschieden von den rund 70 Grotesken, die bis zum Sommer 1918 veröffentlicht waren. Präzis gegliederte Satzperioden mit klarer Melodie, das Tempo gleichmäßig ruhig – oft Illustrationen aus dem musikalischen Register: „automatisches Klavier, „Weltmusik, „Harmonie, „Kapellmeister. Nirgends läßt die Intensität nach. Gehobene Sprache, die sich laufend aus sich selber erneuert, wie Hobelspäne immer neue Wendungen abschält, die zu oft erstaunlichen Formeln, ja Axiomen gerinnen. F/M buchstabiert seine Intuition durch. Das Buch ist eine gewaltige Übung in Lakonismus und Abstraktion. Es gibt weder Willkür noch Spielerei. Doch überall stichelt es: „man soll, „man muß. Das sind methodische Anweisungen, Appelle, Aufforderungen. F/M will aufrütteln, wecken, erinnern – wen? wozu?

    Den Leser! Es geht um Tod und Leben. F/Ms Philosophieren vollzieht sich auf einer anderen Ebene als die intellektuellen Kulturdiskussionen, damals wie heute. Zwei Schlüsselsätze: „Wie tief geht die Möglichkeit des Selbstvergessens, wenn es nötig ist, eine ganze Philosophie an Stelle dieses Todes zu setzen! und: „Dies ist die Weissagung vom Individuum. Hier ist eine „neue Aussaat" (399, 112,98, 123, 548 f.).

    — Ach so, ein neuer Prophet! wohl gar ein heiliger Narr? Na, es war ja eine chaotische Zeit, damals ging alles drunter und drüber. Welche Botschaft verkündet er?

    Vorweg ist festzuhalten, daß F/M jede Systembildung sorgfältig vermeidet. Auf wichtige Inspiratoren spielt er nur versteckt an. Er führt harte Diskussionen mit philosophischen Klassikern — aber sie sind jeweils über das ganze Buch verstreut. Man kann diese literarische Technik auffassen als Ablenkung von den Quellen; man kann auch annehmen, daß der Autor auf lineare Darstellung verzichtet, weil er seine Gedanken „wie durch ein Prisma immer neu beleuchten und prüfen will. Man hat bemerkt, daß F/M bewußt nicht diskursiv argumentiere, seine Begriffe nicht trennscharf definiere; stattdessen arbeite er mit Widersprüchen und Paradoxien, mit Wiederholungen und Variationen; ja die Botschaft seiner Texte bestehe in ihrer „Ausdehnung, Tatsächlichkeit und Wortwörtlichkeit selbst.¹⁸ Mit solchen flachen Beobachtungen dispensiert man sich von genauerem Hinsehen. Tatsächlich enthüllen sich die vermeintlichen Widersprüche als kalkulierte Zuspitzungen und die Extension des Textes als durchaus strukturiert. Im übrigen ist das Buch teilweise ein patchwork: F/M hat bereits veröffentlichte Texte zerschnitten und neu zusammengesetzt. Die Aphorismen, ausgeschüttete Zettelkästen, enthalten die ältesten Stücke.¹⁹ Es gibt noch eine dritte Erklärung der literarischen Form: Die Zerbrechung, Verstreuung, eben das „Aussäen" soll die Inhalte vor oberflächlichen und flüchtigen Mißdeutungen schützen, allzu raschen Zugriff verhindern. Der Schutz war wirksam: Das Buch ist bislang noch niemals gründlich analysiert worden.

    Man kommt F/M näher, wenn man seine Stellung zur philosophischen Tradition betrachtet. In unablässiger Auseinandersetzung mit Kant, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche entwickelt er einen spezifischen Subjektivismus. Er arbeitet aber nicht historisch. In spora-Einleitung dischen Urteilen zur Philosophiegeschichte faßt er sich lehrsatz-, ja bilderbuchartig: „Die eigne Schöpferkraft wird durch Kant diplomatisiert, durch Schopenhauer indisch sekretiert, erst durch Nietzsche proklamiert. (432, vgl. 479) Kant löste sich aus den „Londoner Nebeln der grob empirischen Philosophie, blieb aber im Dämmerland; die „Bravourstreiche Fichtes und Schopenhauers konnten das Gewölk nicht auflösen, erst bei Nietzsche strahlt die „Sonne der schöpferischen Freiheit, er streifte seine eigene Selbstbefangenheit radikaler ab als Fichte und Stirner.²⁰

    1) Die Kantkritik ist konzentriert in Abhandlung 3, Skizze 8 und 13. Aus dem Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) gewinnt F/M eine Präzisierung seines Leitmotivs der „neutralen Größe" und seines Polarismus. Kant unterscheidet logische und reale Entgegensetzung. Bei der ersteren wird von einem Ding etwas zugleich bejaht und verneint; die Folge „ist gar nichts (nihil negativum, irrepraesentabile), wie der Satz des Widerspruchs es aussagt". Bei der Realopposition kommen einem Ding zwei entgegengesetzte Prädikate zu, die sich aber nicht widersprechen. Z. B. wird ein Schiff durch die Meeresströmung zurück- und durch den Wind vorangetrieben: „die Folge ist Etwas (cogitabile)" bzw. Nichts „(nihilprivativum, repraesentabile)". Dieses privative Nichts nennt Kant auch „Zero = 0"; es bedeutet dasselbe wie „Verneinung (negatio), Mangel, Abwesenheit" (AA II, 171 f.).

    F/M beobachtet nun, daß alle Verneinung etwas Positives ist. Der Wegfall resultiert immer aus einem Widerstreit; Nein ist nicht Vernichtung des Ja, sondern „Gegen-Ja"; keine Nicht-Affirmation, sondern eine konträre Affirmation. Diesen Widerstreit, der etwa beim logischen Widerspruch sehr unauffällig sein kann, hat Kant übersehen; daher verwechselt er Verneinung mit Vernichtung, non mit nihil.²¹ Zwischen Nein und Ja gibt es etwas Drittes: „das neutrum et comrnune, die logisch und real dynamische Indifferenz. „Diese Null ist immer noch dreideutig, sie besagt stumm genug: minus null, plus null, neutrum. Dieses letzte ist die totale Indifferenz, das Zentrum des logischen Richtungsunterschiedes. Kants nihil negativum, das absolute Nichts, müßte letzten Endes auch sich selber vernichten. „Das wäre die unbändigste Affirmation von Ja und Nein. Das nihil negativum faßt F/M als nihil neutrale, als Möglichkeit von Entgegensetzung überhaupt, als den Punkt, „der, alles unterscheidend, selbst ununterscheidbar bleibt (392 f.; vgl. 133, 296, 374). Eben hierin, im „Grenzbegriff des ,Dinges an sich’, erkennt er das „schöpferische Nihil personale des polaren Weltunterschiedes, die „reinste neutrale, die „persönlich lebendige neutrale Größe (124, 161, 394).

    Diese höchst merkwürdige Figur tritt mit erstaunlicher Geste auf den Plan: „wie ein erlauchtes Gespenst alle massiven Garantien beschämend, unbesiegbar – „Hier ist die einzige Behauptung, welche mit ihrem Erweis persönlich zusammenfällt. (167; vgl. 121, 293) Wer nach Beweisen, nach Legitimierung verlangt, fühlt sich schon gebrochen, demonstriert seine Schwäche gegenüber dem „Erzdogma" jener Größe (163). Denn hier handelt es sich nicht um etwas zu Beweisendes, sondern um das Beweisende selbst.²² F/Ms Schachzug ist so gewaltsam wie raffiniert: Man schrecke vor dem letzten radikalen Schritt nicht zurück und identifiziere sich selber in einem blitzartigen Entschluß, der Schwungkraft verleiht, mit Kants Ding an sich!

    Absurd?! Man beachte, daß hier etwas prinzipiell nicht Definier- und Aussagbares gesetzt wird (201, 397). Neutrale Größe, lebendige Indifferenz, Individuum, Person, „Subjekt, Seele, freier Wille, Selbst, Ich, Geist, Gott" — all das sind nur Namen für etwas, was unendlich viele Namen hat – also gar keinen: Inkognito.²³ Die Namen sind sekundär, ihre Serie muß offen bleiben. Weiter ist zu beachten, daß jene Figur wie ein Gespenst auftritt. Hier geschieht eine „geisterhafte Revolution, ein „Vorspuk.²⁴

    Kant erklärt: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können" (KrV, § 16). F/M faßt das radikaler: Allein der Philosoph realisiert „die universale Regel, daß keine Vorstellung unabhängig vom erkennenden Wesen bestehe" (Mahnruf, 53). Zwar sieht Kant als Erster, daß Realität a priori sei, doch setzt er ihr Ideal noch als Ding an sich; er verobjektiviert es, weigert sich, den Schleier der „Erscheinung vom Wesen der Sachen selbst wegzuziehen (343). Er weist den Geist auf die Welt an, auf den Leib; er zwingt zur Kultivierung des Feldes der Erfahrung. Das bleibt Kants Leistung. Er weckt die reine Idee auf, damit sie den empirischen Menschen beherrschen lerne wie ein Instrument. Wie Kopernikus anstelle der Erde die Sonne, setzt Kant an die Stelle „einzelner mit Vernunft begabter Leiber das apriorische Ich ins Zentrum. Dieses ist „so wenig ein Subjekt wie das empirische, der Mensch (348), doch bleibt es noch zu formal. Kant vernachlässigt den Urteilenden, den Kritiker in aller Kritik. Er hat die Freiheit des Subjekts offengelegt, aber die Macht des Geistes immer noch „himmlisch verschleiert, ängstlich beschränkt und damit verhindert. Er erliegt noch der Illusion, daß das ,Wesen an sich’, das Ding an sich eine differente Bedeutung habe; da er diese nicht erkennen kann, verzichtet er auf die eigentliche Schöpferkraft; jene Bedeutung ist freilich, so F/M, nur als indifferenzierte zu fassen – d. h. im strengen Sinne gar nicht zu fassen (219 f., 224, 243).

    Kant formuliert das Vernunftgesetz, übersieht aber, daß es die absolute Freiheit nicht dirigiert, sondern aus ihr folgt. Seine Pflicht ist rigoros um ihrer selbst willen. Der freie Schöpfer dagegen spielt mit Pflichten und Bedingungen, mit der Rigorosität – Kants Ethik „gehört in die Pathologie des Schöpfers (240 ff.). F/M versteigt sich zu schroffen Worten, er nennt Kant einen Sklaven, ein „Angstprodukt, einen „Kammerdiener seiner eigenen Göttlichkeit, ja einen „Spießbürger (223, 535, 488, 434). Er hat dies bitter bereut und fortan radikal revidiert.

    2) Fichtes Ansatz ist, so F/M, prinzipiell richtig: Er zielt auf das persönliche Erlebnis des Absoluten. Man identifiziere sich nicht mit menschlichem Innen, sondern mit der Idee – das ist ein urplötzlicher, blitzartiger Entschluß (eine „Tathandlung)! Doch Fichte ist „derivativ zu korrigieren, weil ihm dabei Fehler unterlaufen. Zwar sieht er, daß Kants kopernikanische Revolution unvermeidlich sei, aber er nimmt das Absolute als „Ideal und hält dessen Erleben für Wahnsinn. Indem Fichte endlichen und unendlichen Geist, relatives und absolutes Subjekt unterscheidet, bringt er Mehrheit ins Subjekt, legt es dadurch lahm. Er ist noch kein freier Geist, sondern moralisch gebunden. Im „beklagenswerten Fall des Metaphysikers Fichte, resümiert F/M, lag das ineffable, unfaßbare Individuum „anbetend auf den Knien vor seiner eignen Superstition". ²⁵

    Schelling und Hegel werden im ganzen Buch nicht genannt, auch sonst nur selten. Doch liegt hier der Punkt eines gravierenden Mißverständnisses. Das Stichwort Polarität pflegt man mit den Naturspekulationen der deutschen Idealisten und Romantiker zu assoziieren. 1914 hatte F/M den „bösen Unfug beanstandet, den insbesondere Schellings Schüler mit der „magischen Formel der Polarität trieben (vgl. GS 2, 26 f.). Mit Blick auf universale Gesetzmäßigkeiten übersprangen sie das aktiv vermittelnde Subjekt. Seitdem begnügt F/M sich mit Epitheta wie „romantische Charlatanerie, „Schwärmerei usw. „Jede romantische Befassung mit Polarität führt zum Irrsinn. (437) Die antike Polaritätslehre eines Heraklit oder Empedokles war „gehorchend, konstatierend; dagegen setzt F/M eine befehlende, kreative: „polar definieren heißt erschaffen" (434). Diese Aufbruchsstimmung, der Anspruch, Neues zu bieten, durchzieht das ganze Buch.

    3) Den stärksten Impuls zu einer fruchtbaren Auffassung von Polarität gibt Goethe. Vor allem in der Farbenlehre erweist er sich als „echter" Polarist, der den Gedanken schöpferischer Selbstentzweiung konstatiert und realisiert (270, 464; Skizze 14). Polarisation ist das Entspringen des Unterschiedes, der Differenz aus dem Identischen (98). Goethe liefert F/M überall Zitate, Stichworte, Motive sowie eine vorbildliche Methode: intuitiv, objektiv, „sorgfältig sensual theoretisierend" (198 f., 231, 187). Gleichwohl übt F/M auch Kritik: an Goethes Identifizierung von Innen und Außen – jenes ist indifferenziert, dieses differenziert (455); an seinem Begriff der Steigerung — diese ist selbst wiederum polar (464, 481 f.); an dem Satz, der Handelnde sei immer gewissenlos — das recht verstandene Individuum ist, so F/M, das gute Gewissen in Person (569). Wie das Kantische Subjekt ist auch das Goethische noch unfrei, „Kammer diener, „Angstprodukt (487 f., 534).

    4) Die Auseinandersetzung mit Schopenhauer ist in Abhandlung 3 und in Skizze 3 gebündelt; in den Aphorismen werden einzelne Formulierungen zerpflückt. Schopenhauer streift die Logik des Indifferentismus (561), stets arbeitet er mit einem polaren Schema. Doch bietet er das klassische Beispiel des Fehlgriffs: Ernennt das Ich den „Weltknoten und erkennt darin die lebendige Mitte; aber er macht daraus ein Extrem, den Gegenpol zum Objekt. Das Individuum ist ihm nur das Besonderte eines Weltidentischen, Er scheinung des Weltwillens, nicht das Ding an sich selber, persönlich (175 ff, 295). Er zielt auf die Reinheit des Willens, doch über der Differenz von positivem und negativem vernachlässigt er den neutralen Willen, das Äquilibrium zwischen Ja und Nein (254 f., 190, 130 f.). Er proklamiert das absolute Subjekt und behauptet dennoch, daß der Mensch innere Einheit nicht erlangen könne; den „Frieden vermag er nur zu fassen als Aufhebung aller Erscheinung, welche nicht anders als dual, entzweit sein kann; entsprechend verwechselt er Willenlosigkeit mit der Aufhebung aller Differenz im Willen; sein willenloses Subjekt ist die Karikatur der Indifferenz (286 ff., 493, 511, 461). Er reißt Absolutes und Relatives auseinander, Nirwana und Sansara, anstatt dieses aus jenem herzuleiten (239, 506). Er ignoriert die Welt, um in einem christlichen Jenseits zu schwelgen; analog mißachtet er in seiner Farbenlehre den Sehenden, anstatt mit seinem Lehrer Goethe darin die Quelle von Licht und Finsternis zu erkennen.²⁶ Bahnsen, „einer der geistreichsten Nachfolger" Schopenhauers, treibt die innere Zwietracht zum absoluten Widerspruch und den Pessimismus auf die nihilistische Spitze der Verzweiflung (286 f., 321, 478).

    5) Nietzsches Impuls kündigt sich mit der Zitaten-Tafel an, das Buch ist dionysisch durchgoren. Doch wahrt F/M stets kritische Distanz, er setzt die 1911 geführte Diskussion fort. Nietzsches irreversible Leistung bleibt es, die Idee, das christliche Jenseits zur Welt, den Himmel zur Erde herumgedreht zu haben; sein Dionysismus beruht auf dem Christentum, das er kritisiert, auf Luther und Kant, die er verbannt (220, 261). An die Stelle der kantischen Vernunft setzt er „den göttlichen Experimentator und Abenteurer, den schöpferischen freien Geist, den Willen zur Macht (243). F/M würdigt Nietzsches „esoterischen Polarismus, seinen „Doppelblick, seine Erfahrung mit der „Geheimniswelt doppelter Wollüste; allerdings hätte er „seinen persönlichen Dionysismus polar objektivieren sollen (175 f., 160, 267 f., 479). Nietzsche unternahm den Versuch, die „einander lahmlegenden Differenzen der empirischen Menschlichkeit abzustreifen „durch die absolute Souveränität der eignen Person; doch war er dabei noch berauscht und „verirrte sich leider physiologisch in den „Übermenschen" – ihm war nicht klar, daß jene Person, das schöpferische Prinzip, indemonstrabel bleibt.²⁷

    Aus dieser Verirrung hat F/M gelernt. Er rückt das, worum es ihm in der Hauptsache geht, radikal aus jeder Handgreiflichkeit, Vorzeigbarkeit, Verdinglichung heraus. Er macht auf seine Weise Ernst mit Nietzsches Korrektur von Schopenhauers buddhistisch-christlicher Weltflucht: „Der Mensch aber ist etwas, das überwunden werden muß."²⁸ Leitmotiv des Buches ist „Entmenschung.²⁹ Gleich zu Beginn betont F/M: Mit den Ausdrücken Schöpferische Indifferenz und Individuum ist kein einzelner, empirischer Mensch gemeint, sondern das subjektive Ganze (97): „der kommune Solitär, „das wahrhaft Allgemeine (109 f., 126); der Mensch, der sich „indifferenziert, neutralisiert, universalisiert, individualisiert, „entstofflicht" hat (552, 223; vgl. 189).

    Aber wie soll das praktisch, konkret bewerkstelligt werden? F/Ms schockierende Antwort: „Soll die Weltperson beginnen, so muß diese Privatperson sich ertöten." ... „Vernichtung, Tilgung, Ausmerzung, Ertötung jedes Unterschieds im eigenen Selbste ist entrée zur Herrschaft über alles Unterschiedne. (173, 121) ... F/M hat zahlreiche Ausdrücke dafür: „Zersprengung, Tod, Vernichtung des Menschen bedeutet eigentlich nur dessen Exmission aus dem Individuum, die Evakuierung des Selbstes von Differenz. (489) Durch das „Selbsterlebnis einer radikalen, absoluten, eignen „Exemtion (Heraushebung) aus aller Differenz beherrscht man diese³⁰ ... „Depossedierung, „Expropriation alles Menschlichen (432, 527), „Hinausschießen aller Differenz, „entdifferenzieren, „hinausquetschen, „entäußern, „neutralisieren, „punktualisieren, „evakuieren, „desinfizieren, „stringieren.³¹ Der Verzicht auf die „Welt des Unterschieds geht unter die Haut: Die Sinne, als „Medien zwischen Subjekt und Objekt, gehören schon zum Objekt (120, 272). Der eigene Leib ist „organisch gewordener Aberglaube, eine Art Druckfehler; erst nach jener Indifferenzierung kann der „echte Leib entstehen, als „absolute Generation (508, 443). Folglich: „Stirb bei Lebzeiten"!³² Das ist die radikalisierte Fassung einer alten Operation, die seit Sokrates Selbstbesinnung, Selbsterkenntnis heißt. Diese Ausdrücke benutzt F/M freilich auch, er betont: Indifferenz ist alles andere als Gleichgültigkeit, sie ist niemals statisch, Ruhe, gar Faulheit; vielmehr muß die Balance unausgesetzt erarbeitet werden, in unermüdlicher Selbstbemühung, Selbstanstrengung (174 f.).

    6) Mit Bergson, den Georg Simmel seit 1909 in Deutschland bekannt machte, setzt sich F/M 1913/14 in drei kleinen Beiträgen auseinander.³³ Sie enthalten bereits alle Kritikpunkte, die nun in Abhandlung 3 und in den Aphorismen gebündelt werden. F/M unterstreicht die Wichtigkeit, die Bergson der Intuition zumißt ge genüber allem toten mathematisch-mechanischen Wissen (531 f.). Damit gelange er zur lebendigsten Anschauung jener inneren Freiheit (Göttlichkeit, Unsterblichkeit), die Kant zwar sah, aber noch im Dunkel des Dinges an sich bzw. der Moral ließ. Doch führt Bergson seine Intuition nicht streng bis zu Ende durch; er identifiziert seinen élan vital nicht mit jener neutralen medialen Größe; er insistiert einseitig nur auf dem lebendig Absoluten. Aus einem Extrem läßt sich das andere niemals ableiten, sondern beide entspringen zugleich, polar aus dem persönlichen Indifferenzpunkt, wie Kreis oder Kugel aus dem Zentrum. Dieses ist subjektiv, die Gegensätze sind objektiv. Bergson fällt in denselben Fehler wie Schopenhauer: Alle seine Begriffspaare sind „geradezu musterhaft falsch", wie F/M an Beispielen zeigt. Der Gegensatz besteht nicht zwischen Anspannung/Abspannung, sondern zwischen: Anspannung/Gegen-Anspannung; nicht: Schwarzweiß/Grau, sondern: plus Grau/minus Grau usw. (531 f., 245,422,482)-

    Neben diesen primären Gesprächspartnern gibt es en passant erwähnte: Francis Bacon, Spinoza, Feuerbach, Stirner, Emerson, Mauthner, Weininger. In unausgewiesenen Zitaten wird auf Zeitgenos sen angespielt: Ernst Mach, Heinrich Rickert, Georg Simmel, Kurt Hiller, Richard Dehmel, Wilhelm Ostwald.³⁴ Alle diese Verknüpfungen ordnen sich F/Ms Intention zu wie Eisenspäne dem Magneten. 1924, im Vorwort seiner einzigen Aufsatzsammlung, Wie durch ein Prisma, heißt es:

    „Denn schöpferische Indifferenz’ will nur besagen, daß das alte Gottvertrauen in Selbstvertrauen verwandelt werden soll, und daß dieses Selbstvertrauen die Indifferenz aller Weltdifferenzen ist und sie magisch regiert. Der Humorist wäre der Hofnarr dieses Gottes ,Ich’."³⁵

    Mit der ästhetischen und der religiösen Bedeutung von ,Schöpfer’ treibt F/M ein kalkuliertes Spiel; überhaupt nutzt er augenzwinkernd Ausdrücke der Sprache christlicher Theologen.³⁶ Den objektivierten, entmenschten Menschen nennt er „halb scherzhaft Engel, in innerster Balance schwebend, „allgeschlechtlich, „unsinnliche Angel aller Sinnenfälligkeit.³⁷ Unermüdlich wird die Warnung wiederholt: Der Schöpfer soll sich nicht mit seinem Geschöpf verwechseln, sich vom Rückschlag seiner eigenen Produkte nicht irritieren, blenden lassen. Die Gefahr droht stets; die Welt ist geradezu der „Gegenschöpfer; sie kann zur Hölle werden, wenn das Subjekt sich erschlagen läßt, seine Allmacht ignoriert (292, 154 f., 238, 250 f., 446). Dagegen postuliert F/M die absolut ungetrübte Selbstgewißheit: „Gott ist Atheist. ... „Das einzige Mittel, Atheist zu werden, ist: Gott zu sein. (314, 422, 464) Durch das „Illokalisieren der Person „im Nichts der Welt wird die schiefe Welt eingerenkt, in ihre Angel eingehängt: „Dieses ist die Selbstherstellung Gottes, der Autotheismus" – „Einem Gotte bleibt die Selbstherstellung nicht erspart."³⁸

    Offizielle Dogmatik mag solche Aussagen als Hybris, ja Häresie bezeichnen. Die Rede von Autotheismus erinnert an Debatten um die Mitte des 19. Jhs., betreffend Hegel, Fichte, Feuerbach und andere. Doch sollte man F/Ms Feststellungen präzise abwägen. „Der Atheismus ist die Ignoranz des Schöpfers um sich selber." (464) Oder mit Voltaire: „,Wenn Gott nicht existierte, müßte man ihn erfinden’: es genügt, sich selber zu entdecken; der Gott Selbst existiert allerdings nicht, er insistiert; die Existenz ist nur seine Polarisation." (552) Im späten 19. Jh. setzte nicht nur in Deutschland eine neo-mystische Welle ein; vor allem der Verleger Eugen Diederichs produzierte Texte aus dem europäischen Mittelalter, Indien, dem Fernen Osten. Im Hintergrund von F/Ms Buch lassen sich Spuren davon entziffern – das ist der spannendste Aspekt. Es sind bestimmte Vertreter der christlichen Mystik, die ihm Argumente und Denkfiguren liefern.

    Auf Blaise Pascal geht die populär gewordene, für F/M inakzeptable Wendung vom ,hassenswerten Ich’ zurück; aber auch der polaristische Satz, daß die Extreme sich berühren. Er faßt die Null, das Nichts als Gegenstück zum Unendlichen — das ist aber nur die halbe Zahlenskala: die ganze reicht von — ∞ zu + ∞.³⁹ Jakob Böhme wird gestreift, Meister Eckhart zweimal erwähnt, doch ist er öfter präsent (etwa am Ende von Abhandlung 3). Cusanus ist gar nicht genannt, aber anwesend in Gestalt seiner bekannten Formeln.⁴⁰ Ebenso geistert Johannes Scotus Eriugena durch das Buch, im 9. Jh. Lehrer an der Hofschule Karls des Kahlen, Urheber des Satzes von der „bewundernswerten Unwissenheit Gottes, daß er selber nicht weiß, was er ist" (263, 328). Diese Spur führt noch weiter. F/Ms Hauptwort, auf jeder Seite, ist Außen’, ,äußern’, Äußerung’. Das Innen ist das sich Äußernde, sonst nichts; es gibt kein Innen für sich. Kreative Simultaneität: Der Schöpfer ist nicht früher da als sein Geschöpf, er geht diesem nicht zeitlich voraus und er bringt es nicht nach Belieben hervor, sondern nolens volens, in unwillkürlichem Reflex, als automatische Funktion (235 ff, 252 f.). Dasselbe Argument bei Eriugena.⁴¹

    Der Schöpfer, erklärt F/M, muß sich äußern, weil er sonst kein Schöpfer wäre und weil er gleichsam in sich zuviel hat: „Selbstentzweiung aus Überschwang, „Überdrang, „Überfülle, „Überträchtigkeit (171), „Überinnigkeit. Die äußerlichen Unterschiede sind im Innern aufs extremste konzentriert, ihre „überinnige Verschmelzung ist „äußerlich das bare Nichts".⁴² Der griechische Neuplatoniker Dionysius Areopagita (5. Jh.), dessen Schriften zur Negativen Theologie durch Eriugenas Übersetzung im lateinischen Westen Europas zugänglich und christlich transformiert wurden, sprach von dem „Übergeeinten der überwesenhaften Gottheit.⁴³ Auf die Apophasis, die Negation aller Namen und Attribute Gottes, folge die Kataphasis, die Zuschreibung aller Namen. Beide Gesten kehren wieder in F/Ms Symbolik: Da kein Name präzise trifft, sind alle Namen möglich. Eriugena zeigt ausführlich, wie die aristotelischen Kategorien versagen: Gott definiert sich nicht selber. Dieses Leerlassen des Zentrums kennzeichnet gewisse Schaltstellen der philosophischen Tradition: etwa bei Platon, wenn es um die Definition der „dritten Gattung neben dem Sein und dem Werden geht; oder bei Kant, der im Opus postumum dem „Äther" keinen spezifischen Namen gibt; oder auch bei Derridas indécidables.⁴⁴

    Skizze 1, zuerst Ende 1913 veröffentlicht, enthält eine philosophische Betrachtung zur abendländischen Kulturgeschichte. F/M führt Nietzsches Impuls weiter. Die „rätselvolle Blüte der gesamten antiken Kultur, das Christentum, produzierte die vornehmste Deutung des persönlichen Erlebens: die „Idee der göttlichen Liebe. Sie wurde durch Luther, Kant, Nietzsche reformiert; F/M erkennt in ihr allerdings eine neutrale Größe und im Christentum die „embryonale Form" des Dionysismus. Das Christentum ist selber dionysisch, etwa in Meister Eckhart; aber mit seiner Weltverachtung zerstört es die Balance, verhindert die Polarität. Anstatt die Extreme aufeinander abzustimmen, disjunktiv kooperieren zu lassen, isoliert es sie, bevorzugt eine Seite, verurteilt die andere.

    Wenn F/M den Menschen an seine ursprüngliche Kreativität erinnert, die nicht radikaler gefaßt werden kann als mit theologischen Begriffen; wenn er davor warnt, sich selber nicht mit seinen Schöpfungen und Projektionen zu verwechseln und sich keinem unverfügbaren Außen zu überantworten, so ist das ein Aufruf zur Selbstbesinnung, ein Appell an die Autonomie des Subjekts, mit ungeheuren politischen Konsequenzen. F/M gibt genug Hinweise, wie das auf „Soziologie, Politik, Kultur anzuwenden sei (307); das ganze Buch hat politische Untertöne. „Die Macht einer Regierung bemißt sich nach dem Grad von Freiheit, welche sie dem Einzelnen gewähren darf ... Der vollkommene Staat wäre nur Automat des echten Subjekts ... Parteiung polarisiert sich aus dem „allparteilich neutralen Individuum".⁴⁵ Überhaupt entbrennt aller Zwist nur zwischen Polen, Extremen, Gegnern, aber es geht nicht um eine Entscheidung für den einen Pol oder den andern, auch nicht darum, einen Pol zu zerstören. Das wäre „Irrwahn. Die Extreme streiten nicht gegeneinander, sondern um ihre Mitte, ihr „Medium. Also sollen sie lernen, zu harmonieren, sich zu koordinieren, wie Flügel zu kooperieren. Das geschieht, indem zu jedem Extrem sofort das Gegenextrem aufgesucht wird, um die Balance zu finden im Schwebezustand, der weder Trennung noch Identifikation zuläßt, weder Chaos noch Konfusion.

    F/Ms Ausführungen zur Ethik sind gebündelt in den Skizzen 2, 4, 9 und 10. Hier ist zuerst wieder ein Mißverständnis zu korrigieren. David Baumgardt, ein Freund seit den Tagen des Neuen Clubs, Privatdozent der Philosophie an der Universität Berlin, schreibt 1928 im Jüdischen Lexikon: „Sein Hauptwerk ist die Schöpferische Indifferenz’ (19262), eine scharf überdachte metaphysische Polaritätsphilosophie, absolute Freiheitslehre und immoralistische Ethik ..."⁴⁶ Was soll man darunter anderes verstehen als einen Immoralismus im landläufigen Sinn, Ablehnung jeglicher Moral? Dreizehn Jahre später übersetzt die Universal Jewish Encyclopedia: „a clearly thought out metaphysical philosophy of polarity, the doctrine of absolute freedom and unmoral ethics".⁴⁷ Fünfzig Jahre danach übersetzt man das Etikett in Killys Literatur-Lexikon wieder zurück: „Seine Polaritätsphilosophie betrieb er als absolute Freiheitslehre u. immoralistische Ethik."⁴⁸ Die EncyclopaediaJudaica von 2007 beendet derlei Immoralismus — durch eine neue Verzerrung: „Also in his later, main philosophical work Die [!] schoepferische Indifferenz (1918), Mynona relied on Kant to overcome the classical dualism of subject and object in a purified, absolute self."⁴⁹ —

    Tatsächlich aber entwickelt F/M eine polaristische Fundamentalethik und Affektenlehre. In Skizze 2 verdeutlicht er den alten Satz operari sequitur esse, das HaBuch Friedlaender/Mynonasndeln folgt dem Sein, hängt vom Charakter des Handelnden ab: „Alles Was richtet sich nach dem Wer" (239 f.; vgl. 434, 494 f., 542, 571). Demnach ist es naiv, objektive Normen aufzustellen. Vielmehr gilt alle moralische Sorge allein dem eigenen Subjekt, dem sittlich indifferenten Ursprung sämtlicher, also auch der sittlichen und werthaften Differenzen: „Immoral als Waghalterin aller moralischen Differenzen." (133) Die neutrale Größe revolutioniert denjenigen Egoismus, der sich als privat einzelmenschlich mißversteht, zu einem absoluten oder Universal-Egoismus. Das Weltsubjekt funktioniert von sich aus altruistisch.⁵⁰

    Entsprechend dekonstruiert F/M in Skizze 4 den Rassenbegriff, gegen „rigoroseste Rassentheoretiker. Rasse erscheint stets polar, z. B. gibt es keinen Juden ohne einen Antisemiten; dieses Problem ist nur durch ein „rassenidentisches „Weltsubjekt aufzulösen (298, 304). „Toleranz ist das Symptom der Selbstvernachlässigung (299).

    Liebe (Skizze 9) ist ein weiterer Nicht-Name für die neutrale Größe — überhaupt sind die Titel aller Skizzen (außer 12 und 14) solche Namen. In Abgrenzung gegen einschlägige Diskurse, die das Thema allein auf der Seite von Gefühl, Pathos, Irrationalität abhandeln, entwickelt F/M den neutralen Blickpunkt, aus dem die realen Kontraste sich schlichten lassen: „Weltliebe, das „Welt-Ja (360). Die Extreme sind verknüpft wie durch elastische Fäden oder Magneten; zwischen Trennung und Verbindung muß die Welt „pulsieren".⁵¹ Das Motiv wird durch zwei Bildfelder illustriert: Akustik (Musik, Harmonie) und Liquidität (reinstes Wasser). Aller Haß ist Liebe, alle Verdorbenheit Unschuld. Diese ist Indifferenz, Beginn der Differenzierung, „Schöpferin, gleichsam das feminine Gegenstück; sie ist kein Kind, sondern dieses ist ihr Geschöpf (106 f., Skizze 10). F/M zieht notwendig das sexuale Register heran, auch gegen die Psychoanalyse: „Sexualität ist Geschöpf, nicht Schöpfer. (485)

    Am Wertproblem spielt F/M erneut seine Denkfigur durch (Skizze 6). Alles Relative setzt etwas Absolutes voraus; der Gegensatz besteht nicht zwischen diesen beiden, sondern allein auf der Seite der Relativa; sie streiten um ihre persönliche Mitte. Jede Wertskala, jede Axiologie ist korrelativ, jeder Wert Wertgegensatz. F/Ms Kritik des Relativismus kehrt wieder in seiner Polemik gegen Albert Einstein (vgl. GS 1).

    Skizze 12 enthält die linguistische Applikation des Polarismus, die Korrektur scheinbar selbstverständlicher, weil im Sprachge brauch verankerter Meinungen. Hehre Schillerworte werden seziert, auch Floskeln wie „Gott der Allerhöchste .... Die neutrale Größe ist Nichts, nichts Differenziertes; deshalb symbolisiert alles andere diesen ,Sinn’. Kunst, Musik, Philosophie sind Metaphern, Zeichen, Gleichnisse, „Chiffreschrift, „Sinnbilderschrift für das Unvergleichliche (138 f., 316, 460); der konkrete Mensch ist Symbol des Individuums. Die Sprache kann nur trennen, nicht verbinden; was der Denkende polarisierend im Gleichgewicht hält, das übersetzt sie unweigerlich in Unterschiede; sie differenziert, zerbricht, „zerspricht das polar Selbe (151,251 f., 350 f., 432, 513, 189 f.).

    3. Die frühe Rezeption — Rezensionen und Dada

    Das Spektrum der Rezensionen reicht, wie stets im Fall F/M, von krasser Ablehnung bis zu höchstem Lob. Im Oktober 1918 vermerkt Max Pulver, der später berühmte Graphologe, in Ernst Blochs Geist der Utopie das christliche Element, tadelt den nach Aktualität schielenden Synkretismus; bei F/M stellt er eine Verwandtschaft mit romantischer Anschauung fest, ein Ringen mit Fichtes Tathandlung.⁵² Kubin nutzt die Gelegenheit, um von seiner Bekanntschaft mit F/M zu erzählen.⁵³ Für die Neue Rundschau schreibt Adrien Turel, der als Student 1915/16 einen philosophischen Aufsatz von F/M zurückerhalten hatte mit der Bemerkung, es gäbe darin „so etwas wie eine kleine journalistische Begabung. Nun holt er zu Vorwürfen aus, kritisiert die Berechtigung des ganzen Buches, verfehlt aber dessen Intention, etwa die Funktion des Nullpunktes.⁵⁴ Edgar Steiger liefert eine flotte Verspottung aus der Sicht eines christlich-konservativen Sozialisten, er karikiert F/M als Plagiator von Bergson, Schelling, Fichte, Hegel (Rezension 4). Die F/M-Kenner Felix Stiemer und Walter Rheiner illustrieren den jeder Entscheidung vorhergehenden Prozeß, die explosive Geburt der Unterschiede (Rezensionen 3 u. 6). Einsichtiges über den geistesgeschichtlichen Kontext gibt Simmels Schüler Herman Schmalenbach; er sieht die Bezüge zu Fichte, betont aber die Differenz. Angesichts der Asystematik des Buches, des Fließens, Kreiselns, der unruhig sprühenden Assoziationen erwägt er die Erklärung: Hier seikein „Werk beabsichtigt, sondern reine Aktivität; ,Sein’ heißt Getanwerden. F/M repräsentiere philosophisch den Expressionismus, ja den Futurismus (Rezension 7). —

    Der mit F/M befreundete „Dadasoph" Raoul Hausmann studierte das Buch gemeinsam mit Hannah Höch; 1966 bemerkt er:

    „Dada ist die Unabhängigkeit von sich selbst, Dada entspringt aus einer Einstellung, die man Schöpferische Indifferenz’ nennt: dort, wo die eigentlichen Gedankenbildungen anfangen und von wo aus man sie nie mehr in falsche Bahnen zurücklenken sollte oder dürfte."⁵⁵

    Hausmann hat zeitlebens an F/Ms und an Marcus’ Ideen festgehalten („Présentismus", Exzentrische Empfindung); die zahllosen Anspielungen in seinen Werken harren immer noch ihrer systematischen Sammlung. Kurz vor seinem Tod unterstreicht er die Unpersönlichkeit des zentralen Motivs:

    „DADA war unerwartet, es sprang aus der magischen Büchse des Demiurg am Anfang der Welt und aller nur möglichen Haltungen der Einbildung der Schöpferischen Indifferenz’, die niemand personifizieren kann." ... „Das 1915 [!] erschienene Buch S. Friedlaenders, Schöpferische Indifferenz, bezeichnete ebenso sehr das Ende der klassischen Erkenntnistheorien als das Hervortreten anti-hagiographischer, nur vom Erleben bestimmter Phänomene als Denkgegebenheiten. Versunken alle geheiligten Kategorien."⁵⁶

    Hausmanns Kampfgenosse Richard Huelsenbeck erklärt 1920:

    Der Dadaist „ist der eigentliche Indoamerikaner, von dem S. Friedlaender in seiner Schöpferischen Indifferenz spricht ... Der Dadaist „ist der Bewegung des Lebens ganz hingegeben, er steht innerhalb der ,Kanten’ — aber er verliert doch niemals die Distanz zu den Erscheinungen, weil er zu gleicher Zeit die schöpferische Indifferenz, wie Dr. Friedlaender-Mynona das nennt, nicht aufgibt. Es erscheint kaum glaublich, daß man zugleich tätig und ruhig, hingebend und ablehnend sein kann; und doch besteht darin das Leben selbst, das naive selbstverständliche Leben mit der Gleichgültigkeit gegen Glück und Tod, Freude und Elend.⁵⁷

    Bei der blutigen Niederschlagung des Kapp-Putsches am 15. März 1920 beschädigt eine verirrte Kugel ein Rubens-Gemälde im Dresdner Zwinger. Oskar Kokoschka appelliert in einem in vielen Zeitungen gedruckten Aufruf, Straßenkämpfe abseits von Kulturgütern auszutragen; darauf antworten George Grosz und John Heartfield mit dem Pamphlet Der Kunstlump. Darin ist F/M zwar nicht genannt, aber doch gemeint: „Jede Indifferenz ist konterrevolutionär."⁵⁸ Wenig später wird Grosz deutlicher:

    „Was ist eure schöpferische Indifferenz und euer abstraktes Gefasel von der Zeitlosigkeit anderes als eine lächerliche, nutzlose Spekulation auf die Ewigkeit?"⁵⁹

    Auf diese Verspottung, in der Literatur oft ohne weiteres zitiert, antwortet F/M in seiner kritischen Grosz-Analyse mit einer Mahnung zur Besonnenheit: „Die Linie Kant-Hegel-Marx-Lenin ist ein einziges katastrophales Mißverständnis." (Grosz, 23)

    4. A. Kubin, O. A. H. Schmitz, H. Bahr, Graf H. Keyserling

    Kubin, der die Inkubationszeit der Schöpferischen Indifferenz miterlebt hatte, bezeichnet es später als „Buch der Bücher. Sein „völlig zerlesenes Exemplar, „voller Randbemerkungen mit verschiedenen Daten versehen, beweist Kubins geradezu existentiellen Kampf um ein praktisches Verständnis der Schöpferischen Indifferenz als Strategie der Lebensbewältigung."⁶⁰

    Kubins Schwager Oscar A. H. Schmitz notiert im März/April 1917 im Tagebuch Gedanken aus dem Waghalter ⁶¹ Wenig später veröffentlicht er in der Berliner Zeitung Der Tag, deren Mitarbeiter er seit langem war, einige Essays, in denen er F/Ms Ideen sehr nahe kommt, ohne ihn zu erwähnen. Er skizziert Meister Eckharts Gedanken zur Selbstvergottung des Menschen und beschreibt Nietzsche als „letzten deutschen Mystiker;⁶² er vergleicht Eckhart, den „größten religiösen Genius der Germanen, mit Angelus Silesius und Goethe (1917b), mit Lao Tse und Konfuzius; hierbei kommt er auf eine „von allem Menschlichen erlöste Indifferenz" zu sprechen (1917c). Tatsächlich ist Schmitz der erste Multiplikator von F/Ms Ideen. Dieser berichtet Kubin am 22. Juni 1917:

    „Ihr Herr Schwager, O. A. H. Schmitz, schrieb mir, nachdem er meinen ,Waghalter’ gelesen hatte, eine interessierte Karte, auf welche ich auch antwortete und ihn auf ein paar Sachen hinwies. Nun hat er sich aber im Berliner ,Tag’ über ,Schöpferische Indifferenz’ ausgesprochen, und zwar anerkennend, ohne leider auf den Waghalter hinzuweisen. Müller scheint aber zum Herbste mein Buch drucken zu wollen, wenn ich ihm Subskribenten garantiere. Ich habe hier rund 3 Dutzend erobert. Würden Sie die Freundlichkeit haben, einige Werbekraft anzustrengen, um mir ein paar sichere Adressen zu verschaffen? Wie wäre es, wenn Sie Müllern anböten, daß Sie mein Buch mit einem Umschlage oder lieber Emblem verzieren wollten?"⁶³

    Im Brief an Schmitz vom 1. April 1918 bedauert F/M, sein Buch noch nicht übersenden zu können; er diskutiert Einzelnes, weist auf Marcus hin. Am folgenden Tag berichtet er Kubin:

    „Von O.A. H. Schmitz hatte ich famosen Brief und sehr interessantes Groteskenbuch, ,Menschheitsdämmerung’, virtuose Dinge, in denen die schöpferische Ind. ihren Spuk treibt."⁶⁴

    Am 9. Mai schreibt F/M wieder an Schmitz; er lobt die Menschheitsdämmerung; leider habe er auf einer Vorlesereise nach Wien wegen seines Visums nicht in Salzburg haltmachen können, um Schmitz wiederzusehen:

    „Ich glaube, 1905 saß ich, schüttelreimend, auf einer Ottomane im verstorbenen Cafe ,Kurfürstendamm’ in Berlin, als Sie eintraten, sich vorstellten und sofort improvisierten: ,Sie sitzen auf der Ottomane, von der ich schon das Motto ahne.’"⁶⁵

    Schmitz traf sich 1916/17 mehrmals mit Hugo v. Hofmannsthal in einem Hotel in Salzburg; sie sprachen über Buddhismus und Indifferenz, über die indologischen Bücher von Karl Eugen Neumannn und Richard Garbe, über F/M.⁶⁶ Schmitz diskutiert auch mit seinem „Genossen Hermann Bahr in Salzburg über „meine Polaritätsphilosophie: „Bahr sagte oft, was daran richtig sei, finde sich schon bei Nikolaus Cusanus – der tatsächlich den Keim dazu bereits hat —, ich aber treibe hier eine Wahrheit auf die Spitze." (Schmitz 1927, 260 f.)

    Bahr, einflußreicher Kritiker, Verfasser zahlloser Theaterstücke, Romane, Essays, kommt in seinen fortlaufend veröffentlichen Tagebüchern dieser Jahre immer wieder auf F/M zu sprechen. Diese Aperçus geben durch ihre weitläufigen literarisch-kulturellen Assoziationen ein Bild davon, wie jene Ideen aufgenommen wurden. Bahr ist auch der Erste, der so etwas wie strukturelle Affinitäten zu Cusanus bemerkt.⁶⁷ So rezensiert er am 16. Juli 1917 einen Band der Goethe-Propyläe nausgabe:

    „,Lebhaftere Tänze wechseln sehr klüglich mit major und minor ab. Hier bringt Systole und Diastole im Menschen das angenehme Gefühl des Atemholens hervor, dagegen ich nie etwas Schrecklicheres gekannt habe als einen kriegerischen Marsch aus dem Mollton. Hier wirken die beiden Pole innerlich gegeneinander und quetschen das Herz, anstatt es zu in differenzieren.’ Und ich halte den Atem an, denn ist da nicht mit einem einzigen Satze alles, aber auch alles gesagt, was wir uns eben jetzt erst als Entdeckung unserer eigensten Sehnsucht aus uralter Weisheit Laotses holen, was S. Friedlaender in jenem nur unnötig geheimnisvollen Aufsatz über den ,Waghalter der Welt’ verkündigt, was mich seit Monaten immer wieder zu Nikolaus von Cusa treibt? Hat Goethe den Kusaner gekannt?"⁶⁸

    Am 8. November 1917 ergeht sich Bahr in einer langen Hymne auf Rudolf Pannwitz’ Buch Krisis der europäischen Kultur:

    „bis... das Entweder wie das Oder, beide aufs höchste gespannt, eben in dieser äußersten Spannung einander zuletzt sich genau die Wage halten: Maß, selige Ruhe, Geistesfriede, doch nicht erschlichen, sondern abgetrotzt [...]. Der sehr merkwürdige S. Friedlaender weiß in seinem kalauernden Tiefsinn dies doch alles auch, und insgeheim folgen ja schon viele dem Cusaner, vor dem es übrigens längst der heilige Paulus wußte ..." (Bahr 1918, 208 f.)

    12. Mai 1918, zu Schmitz’ Menschheitsdämmerung:

    „Er und ich gehen von den selben Prämissen aus ein gutes Stück zusammen, bis ich bei meinem katholischen Glauben ankomme, er aber bei einem Kompositum aus Buddhismus und Kant, aber einem Kant, der schon mehr Friedlaender und Marcus ist." (Bahr 1919, 142)

    1. Februar 1919, Nachruf auf den Schauspieler Ermete Novelli:

    „Daß er jeden Abend immer wieder aufs Zeichen des Inspizienten bereit war, aus der Zerstückelung wieder in den dionysischen Schoß heimzukehren [...], das können wir anderen nicht verstehen, wir erotischen Laien, die wir uns schon selig preisen, wenn es uns in einem langen Leben zwei- oder dreimal glückt, dem Kerker unserer Eigenheit zu entspringen (zur Indifferenz zurück, um es in der Terminologie Friedlaenders und Oscar A. H. Schmitz’ zu sagen ..." (Bahr 1920, 67)

    23. Februar 1919, direkt an Schmitz gerichtet:

    „Sie konnten sich’s damals ja nicht versagen, auf Schritt und Tritt des vortrefflichen Friedlaender-Mynona Lehre von der alles heilenden ,Indifferenz’ des polarischen Menschen zu predigen ..." (Bahr 1920, 69 f.)

    15. Juli 1919. Das Reisetagebuch des Grafen Keyserling sei neben F/Ms Buch, „vielleicht die schönste Frucht des deutschen Geistes im letzten Jahrzehnt".⁶⁹ – Januar 1920, in einer Rezension zu Wilhelm Hausensteins Der Geist des Barock:

    „Alles was sich mitteilt, ist immer nur ein Teil, und so muß es den Gegensinn erregen, weil uns eingeboren ist, überall aufs Ganze zu dringen; wenn die Natur uns Blau sagt, antwortet unser Auge Gelb, um die verletzte Totalität wiederherzustellen. Ohne Friedlaender-Mynona noch zu kennen, wußte das der Künstler des Barock, als wenn er Nicolaus Cusanus auswendig gelernt hätte." (Bahr 1921, 175)

    3. Februar 1920. Gegen Ende einer Plauderei über die englische Komponistin und Frauenrechtlerin Ethel Smyth kommt Bahr auf die Schrift eines ungenannten Verfassers, L’âme païenne,

    „die mir vor zehn Jahren allzu sehr nach einem Artisten klang. Und siehe, jetzt ist sie mir auf einmal voll Anklang an unsere neueste Urväterweisheit von Polarität, Indifferenz und Docta Ignorantia, an Laotse, Walt Whitman und Friedlaender! Hab ich jetzt erst lesen gelernt? Oder ist’s weil jetzt Ethel Smyth dem Gedruckten die Stimme des Lebens souffliert?"⁷⁰

    30. März 1921, über Carl Ludwig Schleich:

    „Er ist sonst in Gefahr, mit Wilhelm Meyer, Flöricke, Bölsche und dergleichen Kosmosleuten verwechselt zu werden. Sie sind schätzenswert, er aber gehört in eine andere Reihe, in die vom Cusaner zu Friedlaender-Mynona: der Schöpferischen Indifferenz’ legt er ihren natürlichen Grund und sichert sie damit erst vor Verirrungen ins Metaphysische."⁷¹

    Bahrs punktuelle Assoziationen verdanken wohl vieles den Vermittlungen Schmitz’, der jedenfalls gründlicher über F/M gearbeitet hat. Kubin an F/M, 1. Mai 1922:

    „O. A. H. Schmitz hat ja auch nachdem er mich nun 20 Jahre kennt ,sein’ Kubinwerkchen geschrieben, einen fast 10 Druckbogen starken Essay betitelt ,Der Magier und die Dämonen, eine WürdigungAlf. K.s’ [...] Es geht natürlich sehr psychoanalytisch in dieser Schrift auch zu und Sie Verehrter und die schöpferische Indifferenz wird auch des öfteren zitiert [...] das Ganze wird in einen Band aufgenommen, den er ,Brevier für Weltverdrossene’ benennt."⁷²

    In diesem Band verweist Schmitz mehrmals nachdrücklich auf F/Ms Buch und zeigt, wie Kubin mit dessen Hilfe seine „Buddhismuskrise des Jahres 1916 überwand. Freilich zehrt Schmitz viel mehr von F/M, als er zugeben möchte. So übernimmt er stillschwei gend Ausdrücke wie „Zentralsonne oder die Ausführungen zum „Polargesetz" und zu Goethes Farbenlehre. Vom Standpunkt eines in westlicher wie östlicher Mystik, in Buddhismus, Psychoanalyse, Okkultismus Bewanderten kritisiert er den okzidentalen Intellektualismus, mit dem Anspruch, kulturelle Orientierung geben zu können; dabei zeigt er aristokratische, antidemokratische Tendenzen; seine philosophischen Bemerkungen sind nicht frei von Verzerrungen.⁷³ Schmitz vermittelt F/Ms Ideen auch an Graf Hermann Keyserling, den er psychoanalysiert und mit dem er in der Darmstädter „Schule der Weisheit" zusammenarbeitet. 1920 habe er erstmals Bücher des Grafen gelesen:

    „Sie übten eine geradezu bezaubernde Wirkung auf mich aus, der ich glaubte, nun für alle Zeit in einer Weltanschauung innerster Indifferenz ein Genügen gefunden zu haben, zu der den ersten Anstoß mündlich Alfred Kubin, schriftlich S. Friedlaender durch seine Schöpferische Indifferenz’ gegeben hatte. ... „Zugleich sei darauf hingewiesen, daß die polare Ergänzung indischer Weltbetrachtung durch europäischamerikanische Bejahung philosophisch von Friedlaender-Mynona in seinem Werk: Schöpferische Indifferenz’ (Verlag Gg. Müller) begründet und von Alfred Kubin in seinem ebenda erschienenen Roman: ,Die andere Seite’ zu erschütterndem dichterischem Ausdruck gebracht wurde.⁷⁴

    Keyserling singt Schmitz im Hausblatt seiner Schule 1923 ein Loblied; dabei weist er erstmals auf F/M hin – freilich in ambivalenter Weise, indem er den Vermittler über den Urheber stellt:

    „Schmitz erklärt selbst, viele seiner besten Gedanken und tiefsten Einsichten S. Friedlaenders Schöpferischer Indifferenz [...] zu danken. Mit dieser Quellenangabe hat er, wie ich mich neuerdings überzeugt habe, recht. Nur muß ich hinzufü gen, daß Friedlaenders Einsichten von diesem selbst so vorgetragen sind, daß sie nicht wirken können; sein Buch stellt recht eigentlich einen Versuch dar, dieselben totzumachen. In Schmitz’ Fassung hingegen leuchtet ihr Wahres jedem ein, so daß dieser zum mindesten als deren sozialer Schöpfer gelten darf."⁷⁵

    So urteilt, wer Bücher durchblättert, um den Eindruck aktueller Belesenheit zu erzeugen. 1927 faßt sich Keyserling noch schroffer:

    „Schmitz hat, wie er selbst bekennt, von S. Friedlaenders Schöpferischer Indifferenz seinen Ausgang genommen. Aber Friedlaender sind in Wahrheit nur ein paar fruchtbare Aperçus eingefallen; seine Ausführungen sind fast sämtlich wertlos, weil phantastisch. Hier ist ihm sein ,Nachfolger’ weit vorangeeilt."⁷⁶

    Das krasse Fehlurteil hindert Keyserling nicht, allerorten von Polarität zu reden und die Formel verstohlen in seine Texte einfließen zu lassen.⁷⁷ Das Verschweigen, Unkenntlichmachen, Überschreiben von Quellen gehört zu den geläufigen Verfahren. Vielleicht ist das die Revanche für die Serie von zwölf Rezensionen, mit der F/M im ersten Halbjahr 1921 die einzelnen Beiträge im ersten Band von Keyserlings Buchreihe Der Leuchter sorgfältig verrissen, und für das knappe polemische Porträt des Grafen, das er im April 1926 im Berliner Börsen-Courier gezeichnet hatte.⁷⁸

    Schmitz’ Fazit fällt anders aus: Kubin gebe „im wesentlichen eine künstlerische Versinnlichung von F/Ms Polaritätsphilosophie: „Diese war gewissermaßen der Katechismus, aber die Aufnahme seiner haarscharfen Formulierungen wäre nur verstandesmäßig geblieben, wenn ich nicht daneben urtümliche heilige Bücher gefunden hätte, die auf dem Weg über das Gemüt die Besinnlichkeit anregten: Lao Tse und Meister Eckhart.⁷⁹

    F/M notiert im Exil: „Übrigens erwähnt Graf Keyserling in seinem neuen Buche meine Schöpferische Indifferenz’; ich hörte davon, weiß aber nichts näheres."⁸⁰ Der Graf diskutiert darüber auch etwa mit Alfred Weber.⁸¹ Bis in seine letzten Bücher, 1941/42, arbeitet er mit der Formel.⁸² F/M hat Ende 1934 kompromißlos mit dem Grafen abgerechnet, ohne dies freilich publizieren zu können.⁸³ Keyserling mag als Initiator einer modernen Phase des Dialoges zwischen Ost und West gelten – F/M, dessen physisches Itinerar sich auf den damaligen deutschen Sprachraum beschränkte, hat das um Jahre vorweggenommen: „Der Osten hat die Indifferenz kultiviert, der Westen die Polarität: jetzt muß man in die westliche die östliche Kultur als deren Herz einsetzen."⁸⁴

    5. Wirkungen in Kunst, Literatur und Kulturtheorie

    Der Ausdruck „schöpferische Indifferenz" ist im Deutschen, im Französischen und Italienischen vor 1918 nicht belegt. Also sind spätere Buchungen auf F/Ms Titelformel zurückzuführen – womit freilich nicht ausgeschlossen werden soll, daß es sich in Einzelfällen um Neuschöpfungen handelt, die wie von selber unterliefen. Im folgenden einige Proben aus einem untergründigen Netz von Wirkungen, dessen ganzes Ausmaß noch kaum erkennbar ist.

    Gustav Friedrich Hartlaub, Kunsthistoriker und -pädagoge, seit 1913 tätig an der Mannheimer Kunsthalle, organisiert dort Anfang 1918 die Ausstellung „Neue religiöse Kunst. In einem Zeitungsartikel erläutert er das Konzept. Man suche nach Anzeichen christlichen Geistes in neuer Form; alter Glaube und neue Ahnung. Zur „jungen Ausdruckskunst notiert er: „Nietzsche ist

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