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Romane und Novellen 9: Novellen und Skizzen in Zeitungen und Zeitschriften 1878-1886
Romane und Novellen 9: Novellen und Skizzen in Zeitungen und Zeitschriften 1878-1886
Romane und Novellen 9: Novellen und Skizzen in Zeitungen und Zeitschriften 1878-1886
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Romane und Novellen 9: Novellen und Skizzen in Zeitungen und Zeitschriften 1878-1886

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About this ebook

Die Werke Herman Bangs (1857-1912) gehören zu den bedeutendsten der dänischen Literatur, teils wegen ihres tiefen Einblicks in die menschliche Seele, teils wegen ihres impressionistischen, filmischen Stils, der die Prosa seiner Zeit veränderte und noch immer die Literutur der Neuzeit prägt. Die auf zehn Bände angelegte Neuübersetzung der Romane und Novellen fußt auf der großen historisch-kristischen Gesamtausgabe "Danske Sprog- og Litteraturselskap", Kopenhagen 2008-2010.
LanguageDeutsch
Release dateMar 2, 2012
ISBN9783844846393
Romane und Novellen 9: Novellen und Skizzen in Zeitungen und Zeitschriften 1878-1886
Author

Herman Bang

Herman Joachim Bang (* 20. April 1857 in Asserballe auf der Insel Alsen; † 29. Januar 1912 in Ogden, Utah) war ein dänischer Schriftsteller und Journalist. (Wikipedia)

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    Romane und Novellen 9 - Herman Bang

    Novellen

    Festbeleuchtung

    Skizzierte Zeichnung

    Die folgende Schilderung der Festbeleuchtung Kopenhagens hat Herman Bang in Form eines Briefes an eine Freundin geschrieben. Trotz vieler Mutmaßungen, es habe sich zum Beispiel um eine junge Adlige auf R.- Holm gehandelt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer fiktiven Person auszugehen.

    Der Grund der Festbeleuchtung war die Hochzeit der Tochter Christians IX., Thyra (1853–1933), die Herzog Ernst August von Cumberland (1845–1923) heiratete und sich von da an Herzogin von Cumberland nannte. Der Tag der Hochzeit war der 21. Dezember 1878.

    Sie bitten mich, gnädige Frau¹, Ihnen zu erzählen, wie die Festbeleuchtung war – wunderschön. Sie sind aber leider vorsichtig genug hinzuzufügen, daß Sie sich nicht einmal mit dem ansprechendsten Adjektiv zufriedenstellen lassen – und daß Sie auch nicht irgendeinen Bericht haben wollen. Was Sie zu haben wünschen, ist eine einfache Zeichnung, eine gemalte Skizze, meinen Eindruck vom Fest, in Worte geformt. Ich möchte, so schreiben Sie, nichts anderes als dies. Gar nichts anderes! Aber gerade das ist unglücklicherweise das Schwierigste von allem. Trotzdem, gnädige Frau, versuche ich Ihrem Wunsche nachzukommen, und ich tue das, weil es Ihr Wunsch ist, und weil ich hoffe, daß Sie mir mit einem glücklichen Lächeln für meinen guten Willen danken werden.

    Also: Wir haben uns einen Wagen genommen, mein Freund H.² und ich. Sie kennen H. ja vom letzten Sommer in Marielyst³, ihn, den großen blonden Juristen, den Sie den „Kriminalbeamten" nannten, weil er so neugierig war. Tatsächlich ist er ziemlich neugierig, er will unbedingt alles sehen, hören und erfahren; geht es aber um ein Fest, eine Menschenansammlung auf der Straße oder eine Militärparade, ist er der beste Begleiter, den ich kenne: sein einziger Fehler wird hier zur Tugend, und er nimmt alles auf sich, um Prinzessin Thyras Hut zu sehen oder um die Lichter in Schottländers⁴ Schaufenster zu zählen. Wir hatten uns also einen Wagen genommen, eine alte Droschke, deren Kutscher die Vermählung als eine Wohltat für die Droschkenkutscher ansah, und der deswegen das Doppelte verlangte; sonst ein umgänglicher Mann, der genauso würdevoll war wie sein Pferd. Wir brachen am Amagertorv auf. Es war ungefähr halb sieben, und in der Östergade zündete man die Lampen an. Es sind schon viele Menschen unterwegs, und wir müssen Schritt fahren, langsam, Schritt für Schritt; die Scharen, die sich noch nicht zu einer kompakten Masse vereinigt haben, halten sich in der Straßenmitte, um nach beiden Seiten blicken zu können. Ein lautes Gelächter, ein Witz, ein kleiner Schrei, sonst gebührende Ruhe und Ordnung überall. Mir fielen die Feste im Tivoli ein, wo das Publikum seine Ehre darein setzt, sich anständig zu benehmen. Und inzwischen zündete man überall, wie schon gesagt, die Lichter an – unbestreitbar eine glänzende Festbeleuchtung, aber meiner Meinung nach ziemlich aufdringlich. Man hatte Schwierigkeiten zu vergessen, daß es die Woche vor Weihnachten war, die Zeit der Werbeanzeigen par excellence. Das Gedränge wurde dichter, man ruft jetzt lauter, diese halb ironischen Rufe, die Sie ja von den festlichen Feuerwerken her kennen: „Oh!, „Ah!, „Nein!. Man klammert sich im Wagen fest, aber auch der steht: Wir sitzen fest. Die Schaufensterauslage von Brönderslev & Lohse⁵ zieht aller Augen auf sich; in ihrem großen Schaufenster haben sie ein Stück Leinwand ausgespannt, auf der ein schier unwirkliches Bild von der Prinzessin und dem Herzog zu sehen war, sehr einfallsreich und überaus hübsch. Überhaupt, wieviel Einfallsreichtum hatte man letzten Samstag nicht entwickelt! Ich habe ein Transparent gesehen, von dem man behauptete, es sei aus der Festnummer der „Dags-Avisen⁶ ausgeschnitten worden; in der Köbmagergade prangte eine Gruppe tropischer Pflanzen, die eine Niobe-Büste⁷ umgaben, und die Britische Bibelgesellschaft illuminierte in der Frederiksberggade eine Riesenbibel! „Die Bibel?, fragen Sie. Ganz sicher die Bibel zwischen einer Tanne und einer Fastnachtsrute. Einige meinten, das sei ein Symbol, andere wiederum, es sei Werbung. Wir sind ja aber noch immer in der Östergade, gnädige Frau, und wir fahren Schritt für Schritt. Überall strahlend helles Licht, nicht der Lichtschein, der die Nacht zum Tage macht – übrigens eine dumme Redensart, dies, die Nacht zum Tage zu machen! – Nein, ein blendendes Meer wogender Lichter, deren Strahlen sich brechen, während sie alles liebkosend verschönern: die Umrisse der Häuser, die sie uneinheitlich, unruhig und im wechselnden Schein verändern, die Gesichter der Menschen, auf die sie die kurze, betörende Schönheit des Lichtes legen. Um uns der Lärm der trampelnden Füße auf der Steinbrücke, lautes Gespräch, Ausrufe des Verwunderns, „Guten Abend! und „Auf Wiedersehen!" … Kopenhagen muß eine große Stadt sein, daß sie in ihren Mauern so viele Menschen beherbergen kann, diese vielen Tausend wogender Köpfe; ich versuche, die Hüte zu zählen, gebe aber schnell auf – es hieße, in ganz Kopenhagen eine Volkszählung durchzuführen.

    Wir erreichen Kongens Nytorv. Wie soll ich Ihnen beschreiben, wie der schneebedeckte Platz sich ausnahm, von unendlich vielen Fackeln, Feuern und Lichtern überstrahlt! Schließe ich die Augen und lehne mich im Stuhl zurück, erblicke ich noch die erhellten Reihen der Häuser, die russische Gesandtschaft, in deren Säle die mächtigen Lüster angezündet waren, das Hotel d’Angleterre, dessen schlichte Regelmäßigkeit so wohltat. Inmitten dieses Lichtermeers ließ Etatsraad Meldahl⁸ die Kunstakademie unbeleuchtet, dunkel wie ein melancholisches und häßliches Mausoleum, und Kammerherre Fallesen⁹ begnügte sich damit, auf dem Dach des Nationaltheaters für Hymenaios¹⁰ ein Opferfeuer zu entzünden; er hat das herrliche Gebäude gerade so viel beleuchtet, daß man seinen Schemen erkennen kann. In diesem Augenblick fährt der König zum Schloß. Eine Abteilung Reiter schafft Platz, dann kommt die Majestät in einem geschlossenen Wagen, von berittener Polizei geleitet. Die Menschen entblößen ihre Häupter und grüßen mit lauten Zurufen, während der König heftig bewegt mit der Hand grüßt. Die Menge folgt der königlichen Equipage. H. und ich verzichteten darauf weiterzufahren und gingen zu Fuß nach Amalienborg. Im Palast des Königs war es dunkel, aber „das Pferd¹¹ war mit Gas erleuchtet, und am Ende der Frederiksgade lag die Jütlandsfähre „Brage, mit Flaggen geschmückt. Verzeihen Sie mir, gnädige Frau, aber Sie wissen, daß ich für das Theater schwärme, und so wie das Dampfschiff dalag, von Gasfackeln beleuchtet, zur Parade, hinter einem Eisengitter, erinnerte es mich unwiderstehlich an die Bühnendekoration von „Die Welt in achtzig Tagen"¹². Das Ganze war so theatralisch, daß es mich fast abstieß; aber ich wandte mich ab und sah zu den Fenstern des Königs hoch. Es war Prinzessin Thyras Kammer, dort im Zwischengeschoß. Wie viel könnten diese Mauern doch von ihrem Leben erzählen, für die der Salut nun vom Schloßplatz her erdröhnt, ein glückliches, sonniges Leben, voll Liebe. Oft werden die Gedanken der Herzogin von Cumberland in dieser Umgebung, die den Hintergrund in der Welt ihrer Jugend und ihrer Jugendträume bildete, verweilen. Es ist so merkwürdig, daß man oft mitten in einem Fest so wehmütig wird.

     Auf dem Gammeltorv war das Gedränge unbeschreiblich; ein Gewimmel von Menschen aller Schichten, Kinder, die schreien und kreischen, was man verstehen kann, da man auf sie tritt; Damen, die von ihren Brüdern und Ehemännern getrennt werden; Männer, die sich schlagen, um weiter zu kommen, und die deswegen weder vornoch zurückkommen; junge Laufburschen, die sich mit Absicht an die Damen drücken und sich dann entschuldigen; Damen mit Herren und Damen ohne Herren, Dienstmädchen, die nur mal kurz hinunter gingen, mit Schlappen, die sie verlieren, an den Füßen, und Schals um den Kopf; Labane, die schlimme Witze erzählen; ältere Bürger mit ihren Ehefrauen; füllige Damen mit vielen Blumen auf ihren Hüten; Studenten mit jungen Mädchen am Arm. – „Gott, Mikkelsen, mein Hut! … „Meine Überschuhe bleiben hängen! … „Oh, die Pferde! … „Ich sterbe! … „Laß uns weitergehen! … „Es lebe die Pressefreiheit! Welches Durcheinanderreden, welches Gedränge; man wird gedrückt, gepufft, gestoßen, geschlagen, bedrängt, zur Seite geschoben. In solchen Augenblicken verliert die Masse ihr Bewußtsein, ihren Willen und zugleich ihre Handlungsfähigkeit. Ich mußte an einen Pferch denken, den man mit zu vielen Schafen bestückt hat: Die Tiere stehen willenlos da und blöken, während sie sich ohne Plan stoßen. – Der Springbrunnen¹³ war unbedingt der Glanzpunkt der ganzen Veranstaltung; seine Strahlen krümmten sich im Fall dicht aneinander, und das Wasser fiel in einem schmucken Bogen wie ein wallender Schleier, den der Wind erfaßt und aufbläht. Und trotzdem mußte ich an die Zauberfontäne Professor Mellinis¹⁴ in Tivolis Zirkustheater denken. Sie lachen, gnädige Frau? Wie gesagt, es ist nun einmal mein unglückliches Schicksal, in der Natur das Theater zu sehen und nur das Theatralische in einer festlichen Veranstaltung. Man erzählt von Laube¹⁵, daß er, als er das erste Mal von Capri aus die Küste Neapels sah, in die Worte ausbrach: „Welch schöne Dekoration!" Ohne vergleichen zu wollen, ergeht es mir übrigens fast wie Laube.

    Die Masse wird mit Gewalt auf die Seite geschoben: Es muß für eine Droschke Platz geschaffen werden. Die Leute schimpfen auf den Polizeidirektor, der zuläßt, daß gefahren wird. Eine Dame von einem der Theater macht eine Fahrt. Die Dame hat es sich im Wagen an der Seite eines Herrn gemütlich gemacht und betrachtet herausfordernd die Menge, über deren Häupter ein vibrierendes, unartikuliertes Summen wogt, eine ungemütliche Mischung von Rufen und Wörtern aus der Menge und Pfui-Rufen. Bemerkungen gehen durcheinander, Wörter treffen sich, faule Witze fallen in Massen. Drüben vom Rathaus hört man einzelne Tonfetzen des Hochzeitsmarsches „Die Hochzeit auf dem Wolfsberg"¹⁶; es klingt fast wie ein schwaches Echo, das nur die Hälfte der Töne zurückzuwerfen vermag. Eine Dame fällt in Ohnmacht, aber glücklicherweise hat sie nicht genügend Platz um hinzufallen. Man drängt jedoch nach vorne, um sie fortzutragen, und ich werde von dem zusammenlaufenden Haufen hochgehoben. Den Ruf „Feuer" hört man vom Marktplatz; der Ruf schwillt an und wird wie der Schlachtruf der Vorposten weitergetragen, und tatsächlich fährt in schneller Fahrt eine Feuerspritze mitten durch die Menge, die in einem Gefühl, unbestimmt wie alle Gefühle der Massen, die nur Instinkte sein können, daß man hier Platz schaffen muß, zur Seite weichen. Die Feuerspritze streift die Droschke, in der die Schauspielerin mit beleidigtem Blick sitzt, einem Blick, der deutlich verrät, daß sie es als persönliche Beleidigung betrachtet, wenn es in der Stadt brennt und sie deswegen der Feuerspritze ausweichen muß. Ich drehe mich um, um nach H. zu sehen, aber er ist verschwunden; er wollte in der Nähe Balduin Dahl¹⁷ hören, und, wie er mir später berichtete, gelang ihm dies auch. Unterwegs verlor er doch tatsächlich seinen Hut, und ein wohlwollender Mitbürger stahl seinen Geldbeutel; er aber kümmerte sich nicht darum; er war zur Rathaustreppe¹⁸ gelangt, und das war es, was er wollte. Wenn wir, gnädige Frau, für die großen Aufgaben, die wir oft für die kleinen auf uns nehmen, auch so viel Kraft verwendeten, könnten wir alles erreichen; aber wir modernen Menschen setzen für unsere kleinen Liebhabereien so viel aufs Spiel, daß nichts Großes mehr übrig bleibt, um es dem zu opfern, was wirklich ein Opfer wert ist.

     Ich rettete mich ins Café Peter à Porta¹⁹ – es war so voll, daß die Gäste so eng wie Heringe im Faß nebeneinander saßen und die Kellner sich kaum durch das Durcheinander von Tischen, Stühlen und Hockern, die im Wirrwarr umgestürzt waren, drängen konnten. Und alle diese Leute reden von ein- und demselben: dem unbeleuchteten Nationaltheater und der Kunstakademie, den tausend Lichtern des Magasin du Nord²⁰ und von der Bibel. In einer Ecke saßen zwei Folketingsabgeordnete und tuschelten über die letzte Ledreborg-Wahlveranstaltung²¹; ein paar Schauspieler erzählten von einem neuen Skandal, aber alle anderen hatten es nur von der Festbeleuchtung. Und mit welchem Ernst diskutierte man nicht diese Bagatellen? Alles in der Welt, gnädige Frau, ist wirklich relativ, und es gibt nichts Großes oder absolut Kleines, dies habe ich am letzten Samstag im Peter-à-Porta-Café gelernt.

     Es war an der Zeit aufzubrechen, um wieder nach Hause zu kommen. Wir gingen die Vestergade entlang zum Halmtorvet²². Der Platz war voll von Menschen, deren Gesichter vor Kälte blau waren; man stand da und stampfte auf den Boden, um die Wärme zu halten; hin und wieder begann eine kleinere Gruppe „Den tapre Landsoldat²³ zu singen; manchmal macht die Langeweile die Leute patriotisch. Dahinter lag „Boulevarden, wo man gegen ein Eintrittsgeld von 50 Öre einen Platz erhielt, von dem aus man nichts sehen konnte, aber trotzdem hatten einige Tausend Menschen von dem guten Angebot Gebrauch gemacht. Vor uns prangte Tivolis prachtvoller Prunk – leichte, luftige Lichtbögen, wie das Schloß einer Fata Morgana, das in Wolken schwebt. Der Himmel, der grau und schwer über der Stadt lag, erhielt von diesen Tausenden von Lichtern und Flammen einen Widerschein wie von einem riesigen Scheiterhaufen, einer unermeßlichen Feuersbrunst; oder man wurde eher an den glühenden Himmel einer Julinacht erinnert, wenn man nicht weiß, ob es die Morgenröte ist, die heraufzieht oder die Abenddämmerung, die gerade schwindet; es sieht aber aus, als zöge am Horizont der Hauch der Morgenröte auf. Jetzt aber waren es die Fackeln des Brautzuges der Königstochter, die den Himmel erröten ließen. Ein Regen von Raketen steigt aus Tivoli auf. – „Sie kommen, sie kommen! Weiter drüben auf dem „Halmtorvet wurden die Rufe lauter und lauter – die Luft erbebte, von den unaufhörlichen Rufen bewegt und in sich kreuzende Ströme versetzt, eher jedoch ein brausendes Murmeln, ein lauter, gesammelter Schrei als eigentliche Rufe. Man drängte sich vor und zurück, man wurde gestoßen, man kämpfte. Außerhalb des Industrieausstellungsgebäudes konnte man letzten Samstag ein Stückchen Daseinskampf beobachten, auf dem Servierbrett präsentiert. „Hier kommen sie!. Der Polizeidirektor im ersten Wagen; darauf die Herren des Gefolges; König und Königin im geschlossenen Wagen, von berittener Polizei und Soldaten umringt – es sieht so finster aus, der König ist so bleich, aber es ist auch die letzte Tochter, die die königlichen Eltern aus einem glücklichen Heim fortschicken. „Jetzt kommen sie! In der goldenen Kutsche sitzen Braut und Bräutigam, die Prinzessin mit weißem Hut und weißem ledernem Umhang über dem Brautkleid, der Herzog in einer schmucken Uniform mit einer glänzenden Reihe Orden auf seiner Brust. Um den Wagen herum erschallt die Luft von lautem Jubel.

     Ich drängte weiter Richtung Eisenbahn. Über das Durcheinander, das hier herrscht, machen Sie sich keinen Begriff, gnädige Frau. Man zerquetschte einander, planlos stolperte man vor und zurück, man wurde herumgewirbelt, man wurde hochgezogen und fiel wieder hin. Und so geht es zu – während aus Tausenden Kehlen derselbe Jubelruf zur Ehre eines fürstlichen Brautpaares zu hören ist, begriff ich zum ersten Mal, wie leicht Revolutionen entstehen können. Ein Funke in solch einer Volksmenge, wo nur Instinkte regieren – ein Funke, mehr bedarf es nicht. Selbst wenn sie jubelt, hat die Masse etwas Grauenhaftes an sich. Sie lächeln und meinen, Sie würden mich in dieser Äußerung wiedererkennen? Sehr gut möglich, aber ich fühlte gerade, was ich hier schreibe, und es sind ja meine Eindrücke, um deren Schilderung Sie mich gebeten haben … Im nächsten Augenblick fragte ich mich selbst, ob wir keinen Maler haben, der dieses Bild malen könnte. Wie könnten Worte diese Szene zeichnen, die Makarts²⁴ Pinsel malen müßte: rundum Gesicht an Gesicht; dicke Proletariergesichter mit breiten Lippen und schweren Kinnen, das Haar strähnig in der Stirn – und dann die Hüte, ausgebeult, verfilzt, alt; Frauengesichter, jung, lächelnd, mit kleinen blinkenden Augen; alte Männer mit schlaffen Mündern und hängenden Kinnen; Damen, geschminkt, mit Seidenhüten, schmeichelnden Schleiern, Spitzenbesatz und Tüll; weiter entfernt die Husaren, das Licht der Gaslampen spielt auf den Säbeln, auf den Knöpfen, auf den Tressen der Uniformen, auf dem Zaumzeug der Pferde … Verwirrung, Lärm, ziellose Bewegung überall. Die Lokomotive pfeift; ein blendender Raketenschwarm erhellt den Himmel. – Dann wird das Gas im Bahnhofsdach abgedreht. Es ist vorbei. –

     Drei Stunden später ging ich durch die Straßen, es war Nacht geworden; die Häuser lagen dunkel, schweigsam, in ruhigen Massen ohne Leben da. Und nach so viel Lärm, gnädige Frau, klang nun die Stille in meinem Ohr wie liebliche Musik. –

     Nun, leben Sie wohl, liebe Freundin, und fröhliche Weihnachten! Wenn ich kann, schaue ich bei Ihnen nach Neujahr vorbei.

    Anmerkungen:

    1. Gnädige Frau: mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelt es sich um eine fiktive Person.

    2. Freund H.: auch hier handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine fiktive Person.

    3. Marielyst: auch Marienlyst. Badehotel bei Helsingör in einem Schloß, dessen Geschichte bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht; seitdem mehrere Umbauten. Christian VII. schenkte das Schloß der Königinwitwe Juliane Marie, die es nach sich benannte. 1857 ging es in den Besitz der Stadt Helsingör über, die es zu einem Badehotel umbaute. Ein neues Hotel, dem alten benachbart, wurde 1860–1861 am Strand gebaut und 1882 stark erweitert. Hier verbrachte Bang oft seine Sommerferien.

    Marielyst ist nicht identisch mit dem Ort Marielyst auf Falster, der zur Zeit Bangs keinerlei Rolle spielte.

    4. Schottlænder: die Firma Goldschmidt & Schottländer, Amagertorv 10, verkaufte Herrenfertigkleidung (Konfektionsware), was zur der Zeit etwas ganz Neues war.

    5. Brönderslev & Lohse: bekannter Herrenausstatter, Amagertorv 21.

    6. „Dags-Avisen: kleine, gesellschaftskritische radikale Zeitung, im November 1878 von V. Secher gegründet und 1886 mit der oppositionellen Zeitung „Morgenbladet verschmolzen; das Blatt wurde in bürgerlichen Kreisen unter der verhöhnenden Bezeichung „Das-Avisen („Klo-Zeitung) belegt.

    7. Niobe-Büste: Gestalt der griechischen Mythologie, Tochter des Tantalus, Ehefrau des Königs von Theben, dem sie zwölf Kinder gebar. Ihr Übermut über dieses Mutterglück weckte Apollons und Artemis’ Zorn. Sie töteten zur Strafe alle Kinder mit vergifteten Pfeilen. Auf Niobes Bitte hin verwandelte Zeus sie danach in einen Stein.

    8. Etatsraad Meldahl: der Architekt Fr. Meldahl (1827–1908) war von 1873–1890 und 1899–1902 Direktor der Kunstakademie. Der Titel „Etatsraad" wurde bis 1909 vergeben; in der Rangfolge war er der 3. Klasse, Rang 3 zugeteilt, in der u.a. die Leiter der königlichen Oberbehörden eingereiht sind (z. B. heute noch: Rektor der königlichen Akademie der schönen Künste, Universitätsrektoren, Reichsarchivar, Reichsbibliothekar, Direktor des Königlichen Theaters, Oberste).

    9. Kammerherre Fallesen: Der ehemalige Offizier M.E. Fallesen (1817–1894) war von 1876–1894 Direktor des Königlichen Theaters. Der Titel „Kammerherre" wird auch heute noch vergeben; in der Rangfolge ist er der 2. Klasse, Rang 5 zugeteilt, in der u.a. die Richter des Höchsten Gerichtshofs (Højesteret), Staatssekretäre, Generalstaatsanwalt, Oberbürgermeister in Kopenhagen, die Bischöfe, Generalmajore und Konteradmiräle eingereiht sind.

    10. Hymenaios: In der griechischen Mythologie der Gott der Ehe.

    11. „Das Pferd": Die Reiterstatue Christians des V. auf Kongens Nytorv, von A. C. L’Amoureux, 1687.

    12. „Reise um die Erde in achtzig Tagen („Jorden rundt i 80 Dage): Dramatisiertes Reisemärchen mit Gesang und Chor, bearbeitet von Erik Bøgh, nach der französischen Dramatisierung von Jules Vernes berühmten Roman (1873). Dieses große Ausstattungsstück wurde von 1876-1898 ganze 316mal im Casino aufgeführt! Die Handlung folgt dem exzentrischen englischen Gentleman Phileas Fogg, der, von seinem französischen Diener Passepartout begleitet, in einem spannenden Kampf die Wette gewinnt, die er mit den Freunden seines Klubs eingegangen ist, um die Weltreise in achtzig Tagen durchzuführen.

    13. Der Springbrunnen: Gemeint ist der Caritas-Brunnen auf Gammeltorv, eine der schönsten Kopenhagener Erinnerungen an die Renaissance. Christian IV. ließ ihn 1608 errichten, um den Bürgern den Zugang zu sauberem Wasser zu ermöglichen und zu erleichtern.

    14. Professor Mellini: eigentlich Herman Mehl (1843-1923) war ein seinerzeit bekannter deutscher Zauberer, der seine sogenannten Wunderfontänen unter anderem in Skandinavien zeigte.

    15. Laube: Heinrich Laube (1806-1884): Ab 1829 Studium der Literaturgeschichte in Breslau. Seit 1830 Hauslehrer, sympathisiert mit den Ideen der französischen Julirevolution. 1832 Redakteur in Leipzig („Zeitung für die elegante Welt). Wegen seiner politischen Ansichten 1834-1835 im Gefängnis. 1837 verurteilt das Berliner Kammergericht Laube zu 7-jähriger Festungshaft, von denen er 18 Monate in Bad Muskau verbringt. Seit 1840 wieder in Leipzig, beginnt Laube, Theaterstücke zu schreiben, u.a. „Struensee. 1849 wird Laube zum künstlerischen Direktor des Burgtheaters in Wien berufen; dieses Amt kündigt er 1867 wegen Differenzen mit dem Intendanten Friedrich Halm.

    16. „Die Hochzeit auf dem Wolfsberg: „Bröloppet på Ulfsåsa, romantisches Schauspiel, 1865, des schwedischen Dramatikers Frans Hedberg (1828-1908). Musik von August Södermann (1832-1876).

    17. Balduin Dahl (1834–1891): dänischer Dirigent, 1872 Nachfolger von H.C. Lumbye im Tivoli.

    18. Rathaustreppe: Das Rathaus befand sich bis 1902 im Domhuset (heutiges Byret) auf dem Nytorv. Erst 1902 wurde es an der heutigen Stelle bezogen.

    19. Café à Porta: Bekanntes Kopenhagener Café Ecke Nygade/Gammeltorv, 1862 von dem Schweizer Peter à Porta begründet; nicht mit dem gleichnamigen Café am Kongens Nytorv (Hotel d’Angleterre) zu verwechseln, das von Stephan à Porta, einem Schweizer Konditor, der 1857 nach Kopenhagen einwanderte, gegründet wurde.

    20. „Magasin du Nord: ursprünglich Weißwarengeschäft an Kongens Nytorv, 1871 von den Großhändlern Wessel und Vett in dem Gebäude des alten Hotels „Hôtel du Grand Nord eingerichtet. Das Geschäft trug den Namen der Gründer Wessel und Vett. 1878 (im Jahr dieser Skizze) fügten die Besitzer nach Pariser Vorbild den Namen „Magasin du Nord" hinzu, an das sich die Kopenhagener nur sehr schwer gewöhnen konnten.

    21. Ledreborg: Lehnsgraf Johan Ludvig Holstein-Ledreborg (1839–1912), dänischer Politiker, der kurze Zeit im Jahre 1909 Konseilspräsident („Ministerpräsident") war.

    22. Halmtorvet („Strohmarkt"): bis ca. 1900 Name des heutigen Rathausplatzes.

    23. „Den tapre Landsoldat": Lied (1848) von Peter Faber aus dem dreijährigen deutsch-dänischen Krieg 1848–1850).

    24. Makart: Hans Makart (1840–1884), populärer österreichischer Maler von Porträts, lebensfrohen Genrebildern und historischen Motiven.

    Salonleben

    Brief an eine Dame

    Ein gutes neues Jahr, liebe Freundin, und tausend Dank für Ihren letzten Brief, der so liebenswürdig war, wie Ihre Briefe zu sein pflegen, oder richtiger, genau so liebenswürdig wie Sie selbst. Aber, gnädige Frau, wenn Sie wünschen – und Ihr Wunsch ist mir mehr als ein Befehl – daß ich diesen Brief so bald wie möglich beantworten solle, wissen Sie ganz bestimmt nicht, was Sie verlangen; die ersten vierzehn Tage eines neuen Jahres bin ich nämlich immer sehr schlecht gelaunt, gereizt, verdrossen, empfindlich. Und wenn man schlecht gelaunt ist, schreibt man immer unliebenswürdige Briefe, unangenehme, bittere Episteln, wie man sie an einen griesgrämigen Pessimisten richtet, die an eine junge Dame – ja, gnädige Frau, ich sage jung, denn man ist jung, wenn man 30 Jahre alt ist! – und hübsch wie nur wenige – zu schreiben, eine Unverschämtheit wäre. „Aber warum sind Sie um Neujahr so schlecht gelaunt?", werden Sie fragen. Dies ist ganz einfach. Nichts hasse ich mehr als Bücher aufzuschneiden, und wozu nutzen wir die ersten Tage des neuen Jahres anders als ein Buch aufzuschneiden, ein Buch, das wir nicht kennen, von dem wir aber wissen, daß wir es lesen müssen? Somit ein Buch, mit dessen Erscheinen wir leben müssen, und dessen Personen wir selbst treffen müssen. Deswegen habe ich schlechte Laune.

    Sie schreiben, Sie hätten Weihnachten sehr behaglich verbracht. Am ersten Weihnachtsfeiertag seien Sie in der Kirche gewesen und hätten den Probst gehört – aber übrigens, was den Probst betrifft, gnädige Frau, warum sollte ich nicht glauben, daß er schön predigte? Ich bin überzeugt, daß Hochwürdens Predigt ausgezeichnet war, doch wohl kaum so trefflich wie das Mahl der Pröbstin; ich aber schulde es auch der Wahrheit zuzugestehen, daß die Tafel des Probstes die beste ist, die ich kenne – gleich nach der Ihrigen natürlich. Am zweiten Weihnachtsfeiertag hätten Sie selbst Gäste gehabt – „ein bescheidenes Mahl. Ja, ich kenne Ihre „bescheidenen Mähler, wo Gutsverwalter Siversen den Tisch vor dem Champagner verlassen muß, und wo Doktor Linnemann beim Nachtisch mit den Damen so spricht, wie ein Arzt spricht, wenn er gut zu Mittag gespeist hat. Und die Damen werden rot und röter – vom Wein. Ja, ich kenne Ihre „bescheidenen Mähler. Ich war auch zum Essen eingeladen – bei Frau S. Wir waren zu sechzehnt, – eigentlich haben in ihrem Eßzimmer nur vierzehn Platz, aber da die gnädige Frau sehr gastfreundlich ist, lädt sie immer sechzehn ein, weil „es ja in der Regel ein Paar gibt, das absagt. Dieses Mal jedoch hatten alle Eingeladenen Ja gesagt, so daß wir zwei zuviel waren … sechzehn Personen, gnädige Frau, in einem Kopenhagener Eßzimmer, von dem die Gastgeberin selbst sagt, daß nur vierzehn Platz haben, was nicht sehr bequem ist. Und dann saß ich noch neben einer Dame am Tisch, die sich beleidigt fühlte, als ich sie versehentlich mit meinem kleinen Finger berührte, und die mich dann fragte, ob ich wisse, neben wem ich eigentlich säße … Aber ich will Sie nicht mit der Beschreibung eines uninteressanten Mahls bei Frau S. ermüden. Sie ist eine Frau um die fünfzig, mager, spitz und immer schwarz gekleidet; eine Witwe, wie es sich gehört, die Martensen¹ hört und seine Ethik liest – auf jeden Fall liegt diese auf dem Tisch, der mitten in ihrem Wohnzimmer steht – sie hat ein Samstagsabonnement², hat auch das „Dagbladet³ und „Nær og Fjern⁴ abonniert, spendet genauso viel für die Armen, daß es ihr selbst an nichts gebricht, und hat Berührung mit dem Hof; mindestens kennt sie ein paar Hofdamen … Bei dieser Dame war die Gesellschaft genauso, wie es sich gehört, wie sie selbst auch – wie es sich gehört und genauso fade.

    Am nächsten Abend war ich auf einem Ball. Ich hatte natürlich eine gedruckte Einladung erhalten; wenn man so reich ist wie Großhändler N., schreibt und macht man selbst so wenig wie möglich. Sie kennen Frau N., glaube ich, eine kleine, korpulente Dame, nicht unbegabt oder auf jeden Fall im Besitz der Frischheit, die bei Damen mehr als glänzenden Geistesreichtum ersetzt. Ihr Mann ist nicht so ansprechend wie sie, und die Kinder, nun die Kinder sind keine Kinder und sind es nie gewesen, obwohl die Tochter erst vierzehn Jahre alt ist. Was soll man sagen? Die heutige junge Generation hat vor allem die Eigentümlichkeit, daß sie freiwillig auf das Glücklichste von Allem verzichtet, nämlich auf ihre Kindheit. Soll sie selber aus Schaden klug werden!

    Wir waren auf 8 Uhr eingeladen, und ich verließ mein Zuhause deshalb kurz vor 9. Als ich ankam, boten die Diener Tee an. Die Herren standen, wie gewöhnlich, in dem einen Raum, sprachen oder flüsterten miteinander über gleichgültige Dinge, aneinander geklebt, mit blasierten Mienen mit ihren Uhrketten spielend und verstohlen in die Spiegel blickend, die ihre schlaffen Gestalten und Gesichter wiedergaben, wo die Lippen, die halb offen standen, von nervösen Zuckungen bewegt wurden. Im Salon hatten sich die Damen versammelt, oder richtiger, wurden die Damen versammelt. Sie saßen längs der Wände wie die Figuren eines Wachsfigurenkabinetts, mit mehr oder weniger roten Köpfen, mehr oder weniger fiebrig. Denn Balldamen haben mit den Schauspielern gemeinsam, daß sie, selbst wenn sie alte Hasen sind, nicht damit aufhören, vor einem Ball oder vor der Vorstellung Lampenfieber zu haben. Aber man läßt sich das natürlich nicht anmerken: Man lacht, ein kurzes trockenes Lachen ohne Klang, man lächelt, man spricht laut, … dann und wann greifen die Finger nervös um den Fächer, während die Hände in den Handschuhen klamm sind … Alle zwei Minuten wird die Tür zu dem vorderen Zimmer geöffnet, und eine junge Dame kommt herein: der eine oder andere Neuling, der sich fürchtete, zu früh zu kommen, mit gesenkten Augenlidern und allzu zerknülltem Taschentuch mit groß eingesticktem Namen. „Wenn man solche Taschentücher hat, liegt die Konfirmation nie lange zurück, flüstert ein kleiner Leutnant zur See. Seine Schulterstücke glänzen überaus … wenn man solche Schulterstücke trägt, ist es noch nicht lange her, daß man zum Leutnant befördert wurde. Dann kommt Fräulein T. auf Kinderart gekleidet: mit kurzem Kleid und Gürtel um die Taille. Sie „will für diese Art von Mode die Bahn brechen. Es ist scheußlich, mit Schleppe zu tanzen, und außerdem hat die junge Dame einen sehr hübschen, festgeformten kleinen Fuß und einen wunderlich verdrehten Knöchel … es ist immer angenehm, eine gute Tat zu vollbringen, gnädige Frau, besonders wenn sie die eigenen Vorzüge ins beste Licht setzt.

    Die Söhne des Hauses verziehen sich indessen mit einigen Herren, die vorgestellt werden sollen. Man beginnt, Geschäfte abzusprechen, man intrigiert, man bedauert, man laviert. Und währenddessen drängen sich die Diener mit den Tabletts durch. Die Damen sehen verführerisch aus, – Damen sehen immer verführerisch aus, bis ihre Ballkarten voll sind; die Herren verbeugen sich, grüßen, plaudern. Alle strömen im innersten Zimmer zusammen, das so voll ist wie das Foyer bei der Premiere. Die Damen setzen sich. Das Licht der Lüster gibt ihren entblößten Büsten seinen eigenen Schein – weiß, elfenbeingleich. Die Männer, die über ihnen gebeugt stehen, lassen ihre Augen der Rundung des Halses und der Brust folgen, Juwelen und Ketten schaukeln an den Hälsen und betonen die weißen Schultern. Der Schein des Lichtes verschönert alles, die errötenden Züge, die aufgerissenen Augen, deren Umgebung so ungewöhnlich dunkel ist, die runden Arme, die halb von langen Handschuhen bedeckt sind; es glitzert im Glanz all dieser Seidenkleider in allen Farben, all dieses Gold, all dieser Schmuck und all diese verschiedenfarbigen Bänder. Die Fächer sind in dauernder Bewegung. – Dann wird zum Tanz geklatscht.

    Der erste Tanz, gnädige Frau, oder besser die ersten Tänze gleichen Trauerzügen. Die Alten, die zusehen wollen, drängen sich musternd in die Türen, und das Ganze sieht aus wie ein Spießrutenlaufen, eine Generalvisitation. An und für sich ist es eine ziemlich gemischte Gesellschaft. Einzelne junge Adlige, blond, groß, mit gebeugtem Rücken; sie stemmen ihre Klapphüte an die Hüfte und lehnen sich mit dem anderen Arm an die Wand, als hätten sie Angst zu fallen; dann und wann verbergen sie ein Gähnen hinter der Hand, während ihre Blicke aufdringlich umherschweifen und ihre Konversation so unverschämt wie möglich ist. Die Damen sind im Großen und Ganzen recht überheblich, gnädige Frau – sie entschuldigen allzu leicht Beleidigungen, wenn sie nicht allzu offensichtlich sind, und sie bedenken nicht, was sie verlieren, wenn sie diese dulden. Eine leichte Berührung, ein einziger Blick kann zu solch einer Beleidigung werden – aber vielleicht bemerken die Frauen dies nicht … Außerdem waren etliche Studenten da, kleine Menschen mit aufgebürstetem Haar, abgebissenen Fingernägeln und Schillerkrägen; ein paar junge Künstler mit tief ausgeschnittenen Hemden und kleidsamen Seidentüchern, in Knoten gebunden; einige Freunde des Hauses, Söhne reicher Leute aus der Finanzwelt, nervöse Personen mit bleichem Teint und dünnem Haar, im Nacken geteilt, strammen Hosen und glatten Hemden mit einem Einsatz aus feinstem Leder. Die Damen sind genauso unterschiedlich … Sehr junge Mädchen in Kleidern aus feinem weißen Baumwollstoff, die schlecht sitzen; eine einzelne fordernde Schönheit, die, wenn sie tanzt, was sie nur selten tut, da sie sich nur „zur Konversation einladen" läßt, wirft die Schleppe über ihren Arm; ältere Damen – mit 22 Jahren! – in bunten Seidenkleidern und mit Mundwinkeln, die herabhängen, als hätten sie es satt zu lächeln; größtenteils 20jährige Mädchen in Tarlatan⁵, der wie Wellen um ihre Figur fällt und der alles hervorhebt und viel verbirgt … Die Luft wird stickiger und heißer.

    Die Melodien des Klaviers, das von einem dicken, leutseligen Mann mit jüdischer Physiognomie gespielt wird, dessen kleine fette Finger über die Tasten hüpfen, sind süßlich, schläfrig, einlullend. Mitten auf dem Tanzboden tanzt ein einzelnes Paar, und beim Betrachten ihrer Bewegungen kommt einem der Gedanke an Schafe, die an Drehschwindel leiden. Es ist gegen 11 Uhr.

    In den Nebenzimmern spielt man Karten. Ein alter General, den man gebeten hat, das Ganze „zu schmücken", spielt in einer Ecke des Wohnzimmers Écarté⁶ mit einigen Etatsräten⁷, Börsenleuten mit roten Nasen und dickem Bauch. Gute Abendessen, gnädige Frau, sind die Triebfedern unseres schlappen Geschäftslebens, und außerdem ist es ungemein modern, im privaten Umfeld zu trinken – aber es stimmt, in dieser Hinsicht ist man in R.-Holm⁸ auf dem Laufenden … Die älteren Damen sitzen zusammen und haben göttlichen Spaß daran, über die jungen herzuziehen. Vom Ballsaal hört man undeutliches Summen, das durch die schwere Luft wogt, sich mit den Tönen des Klaviers vermischt, wo man die „Tarantel"⁹ spielt. Man wird bald zu Abend speisen.

    Sind Sie schon einmal im Zoologischen Garten gewesen, gnädige Frau, gegen 5 Uhr, wenn die Tiere gefüttert werden müssen? Natürlich sind Sie dort gewesen. Im Ganzen gesehen gibt es nur wenige Orte, wo man eindringlichere Studien menschlichen Lebens als in einem zoologischen Garten machen kann, weswegen ich auch über ein Abonnement für den unsrigen verfüge. Sie lachen? Kennen Sie nicht die Geschichte von Kapitän P.? Er ist ein sehr geistreicher Mann, ungewöhnlich begabt, kann ich Ihnen versichern. Er war letztes Jahr in Paris und hielt sich dort drei Wochen lang auf … Als er zurückkam, ging ich zum Bahnhof, um ihn abzuholen. Ich brannte darauf, seine Meinung über Paris zu hören, wie er sich vergnügt hatte und welchen Eindruck die Stadt an der Seine auf ihn gemacht hatte. „Ja", sagte er, „die Boulevards kann man nicht beschreiben, und der ‚Jardin des plantes‘¹⁰ ist einmalig. – „Jardin des plantes? „Ja. „Und sonst? „Sonst? Tatsache war, daß er von Paris nichts anderes gesehen hatte: Die Tage hatte er im „Jardin des plantes zugebracht und die Nächte auf dem Boulevard. Trotzdem behauptete er, er habe Paris gesehen. Sie meinen, der Mann habe sich töricht verhalten? Vielleicht – ich weiß es nicht. – Aber nun wollte ich etwas zu dem Ball bei N. sagen – was war es doch? – ja, gewiß, jetzt fällt es mir wieder ein. Man würde bald das Abendessen einnehmen: man merkte es von selbst – außerdem beginnen die Diener geschäftig umherzuwuseln, und in den anderen Zimmern klirren schon Gläser und Teller. Dieser Augenblick auf einem Ball erinnert mich immer an die 5-Uhr-Zeit im Zoo. Die Tiere werden unruhig, sie schnauben, sie wandern im Käfig auf und ab – es ist nicht diese leidige Unruhe, die sie vor einem Unwetter ergreift, sie verkriechen sich nicht, und sie heulen nicht – nein, sie schnüffeln nur und brummen – vor allem brummen. Und über die Gäste, die seit zwei Stunden auf das Abendessen gewartet haben, kommt gegen 12 Uhr dieselbe Unruhe, eine frohe, erwartungsvolle Bewegung. Man trippelt unwillkürlich von einem Fuß auf den anderen, man kann nicht ruhig bleiben, die jungen Adligen hören auf zu gähnen … es herrscht ein so wunderliches Murmeln im Saal …

    In allen Zimmern ißt man an kleinen Tischen, drei, vier Paare an jedem Tisch. Alle sind guter Dinge, fröhlich, erwartungsvoll. Nun erkennt man eigentlich die Gesellschaft am besten; sie hat sich in Schichten geordnet – in unserem gesellschaftlichen Leben gibt es immer noch die Kastenordnung, gnädige Frau, aber nirgendwo zeigt es sich stärker, als wenn man an kleinen Tischen auf einem Ball ißt. – In jener Ecke befinden sich die Studenten: Sie essen viel und probieren alles, vielleicht ist da einer, der noch nicht zu Abend gegessen hat, vielleicht, ungeachtet dessen, daß das Haus sehr reich ist. Aber Studenten können „so mitlaufen, selbst wenn sie in einer Mansarde oder einem Wohnheim wohnen. Je heißer man vom Wein wird – und die Diener füllen ununterbrochen die Gläser mit Chablis und Madeira nach – desto undisziplinierter wird die Stimmung an diesem Tisch; Minervas Söhne versuchen, eine Art Samstagssause mit Damen zu veranstalten, und was die Damen betrifft, sind sie jung, genauso jung wie ihre Kavaliere. Die Studenten trinken auf ihre Gesundheit, jeder auf die Gesundheit „seiner Dame, auf die „alte und doch ewig junge" Union¹¹, auf die Jugend – kurz gesagt, gnädige Frau, man trinkt ex, während die Damen einander zulächeln und sich dann und wann mit dem Fächer bewaffnen, mit ihrem Glas für alle Dummheiten, für die man selbst in unserer Zeit sein Glas leert, wenn man ungefähr zwanzig Jahre alt ist und viel Chablis getrunken hat. Oder sind das vielleicht keine Dummheiten? … Drinnen im Kabinett geschieht mehr als sich gehört. Dort hat sich die Noblesse um einen Diwantisch geschart. Die Damen speisen in Handschuhen, beschränken sich im übrigen aber hauptsächlich darauf, die Speisen anzuschauen und von einer kulinarischen Neuheit, einer Art Pudding aus gekochtem Reis, geräucherter Ochsenzunge und Trüffeln zu kosten – einem sehr feinen Gericht, gnädige Frau, das Doktor Linnemann gewiß beglücken würde. Wissen Sie übrigens, wie überaus gemütlich es ist, an kleinen Tischen zu essen? Man sitzt in der Regel auf allen möglichen Stühlen – Lehnstühlen, Diwanstühlen, Liegestühlen. Das ist sehr gemütlich, versichere ich Ihnen, es macht den Umgang freier: Der Herr kann sich so schön an den Arm auf dem Stuhl der Dame lehnen, und sie kann zurückgebeugt sitzen, fast liegen – wie Sarah Bernhardt¹² auf dem Gemälde Clairins¹³. Und wie doch dieser Teil von Frau N.s Gesellschaft – Frau N.s sage ich, denn in Wirklichkeit ist sie es, die die Gesellschaft gibt, ihr Mann trinkt mit Etatsraad B. Sherry – es versteht, sich alle Vorteile zunutze zu machen. Baron L. legt seinen Arm auf den Rücken von Fräulein T.s Stuhl, leicht, geradezu zufällig; dann beugt sie sich zurück, leicht, natürlich zufällig: Die weiße Hand des Barons mit ihren langen Fingern berührt

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