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Nach Albanien, Karl!: Eine andere Reise in das Jahr 1914
Nach Albanien, Karl!: Eine andere Reise in das Jahr 1914
Nach Albanien, Karl!: Eine andere Reise in das Jahr 1914
Ebook465 pages6 hours

Nach Albanien, Karl!: Eine andere Reise in das Jahr 1914

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About this ebook

Wie kommt ein deutscher Prinz vom Rhein (aus Neuwied) auf den Fürstenthron von Albanien, so geschehen im Jahre 1914? Diese Frage, schon vor 28 Jahren während einer Albanienreise entstanden, war der Ausgangspunkt für den Sachroman, in dem wir Karl Richter als Korrespondenten einer Wiener Tageszeitung auf die Zeitreise nach Durazzo (heute Durres) schicken, um die Frage zu beantworten. Sein persönliches Abenteuer vermischt sich mit dem politischen des Prinzen zu Wied, Fürst (Mbret) von Albanien. Die bewundernswerte Expertin Amelie von Godin, die couragierte Britin Miss Durham wie auch der umtriebige Baron Nopcsa begegnen ihm dabei, ein Interview mit Kaiser Wilhelm II. auf Korfu verschafft Abwechselung. Verrat, Intrigen und der Ausbruch des 1. Weltkrieges aber bereiten dem diplomatischen Experiment (Kondominium) der damaligen Großmächte nach 180 Tagen ein leises und unwürdiges Ende. Tröstlich nur, dass Karl Richter schließlich die Liebe seines Lebens findet.
LanguageDeutsch
Release dateNov 16, 2010
ISBN9783839177167
Nach Albanien, Karl!: Eine andere Reise in das Jahr 1914
Author

Peter Marxheimer

Peter Marxheimer (ein Pseudonym), Jahrgang 1950, stammt aus Stendal, ging in Detmold zur Schule und studierte Geographie und Politik in München und Marburg. An Studium, Promotion und Lehrerausbildung schlossen sich Reisen u. a. nach Iran, Albanien und Indien an. Das Interesse an der Geschichte der Kulturen und der Blick auf globale Zusammenhänge war dabei immer vorrangig. Den Lebensunterhalt bestritt er lange Zeit als Mitarbeiter in Arzneimittelfirmen, um zuletzt wieder im erlernten Beruf als Lehrer anzukommen. Die Idee, das Buch zu schreiben, entstand schon vor 28 Jahren auf der Albanienreise. Aber erst eine besondere Umbruchsituation vor drei Jahren verschaffte Zeit und Gelegenheit dazu. Der Gedanke, den Protagonisten Karl Richter wieder loszuschicken (Armenien/Kurdistan/Persien 1915), hängt nun von weiterer Zeit und Gelegenheit ab.

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    Book preview

    Nach Albanien, Karl! - Peter Marxheimer

    Literatur

    Begegnungen in Wien, ein Auftakt

    Ganz Wien ein Kaffeehaus!

    So empfand es Karl Richter, als er von Berlin nach Wien gezogen war. Gespräche aller Art, das Schreiben der Manuskripte, die Zeitungsrecherche - alles fand im Kaffeehaus statt. Deshalb hatte Wien eine Menge davon, an die 1 000 wohl.

    Es hatte auch mit der unterschiedlichen Haltung zum Leben zu tun: In Berlin vergnügt man sich zwischendurch, in Wien arbeitet man zwischendurch, hieß es. Oder: In Wien macht man einen Witz, in Berlin ist es schon Blasphemie. Beide Metropolen waren eben anders und Karl genoss den Unterschied: Des zackigen Bierernstes der Berliner Militärmonarchie überdrüssig, sprach ihn die weinselige Realitätsflucht des Wieners tausendmal mehr an. Sie half ihm, den oft blutigen Ernst seines Journalistenberufs besser zu verkraften.

    Ganz Wien ein Kaffeehaus, voran das Café CENTRAL. Mit seinen 250 stets aktuellen Zeitungen war es bald Karls Lebensmittelpunkt geworden. Hier verbrachte er alle Zeit, die nicht in der Redaktion oder in seiner kleinen Dachmansarde benötigt wurde, und studierte regelmäßig, was in der Welt so passiert war. Fast alle Freunde und Bekannte traf er hier und manch kleine Mahlzeit wurde der Einfachheit halber hier eingenommen.

    Dabei war Wien, was die Entstehung einer solch ausgeprägten Kaffeehauskultur anging, nicht einmal Vorreiter, sondern London, wo 1688 ein gewisser Edward Lloyd einen ausschließlich reinen Kaffeeausschank gründete. In seinem Kaffeehaus trafen sich Kaufleute, Kapitäne und Versicherungsagenten, um ›News‹ zu hören und Geschäfte zu machen. Bald darauf existierten nach Lloyds Vorbild 3 000 solcher Kaffeehäuser in der Londoner City, also auf engstem Raum. Aus dem Vorbild selber wurde später die größte Versicherungsgesellschaft der Welt und LLOYD hießen dann auch alle daraus hervorgegangenen Schiffsunternehmungen. In Wien, wo man sich immer rühmte, nach erfolgreicher Türkenabwehr das erste Kaffeehaus des Kontinents überhaupt eröffnet zu haben, kam es zu einer viel weniger spektakulären Entwicklung: Hier diente es Künstlern und Wissenschaftlern als Treffpunkt und wurde öffentlicher Schreibtisch für Journalisten, Literaten und alle, die sich dafür hielten.

    In diesem Sinne saß Karl an einem sommerlichen Augusttag des Jahres 1913 wieder einmal in solch einem Kaffeehaus. Nicht in irgendeinem, sondern im CENTRAL natürlich. Bei Kaffee und Zeitung ging er hier wie so oft seiner Arbeit nach - ›zwischendurch‹, wie der Wiener sagte. Diesmal aber hatte er ganz schön gehöriges Herzklopfen dabei, denn er wartete auf sie.

    Während er eine ›Melange‹ schlürfte, seinen Lieblingskaffee, in dem Hell und Dunkel eine innige Beziehung eingehen, und sein Blick durch den Kneifer recht ziellos über die vor ihm liegenden Journalseiten irrte, stellte er sich insgeheim bange Fragen: Wie sieht sie wohl jetzt aus? Werde ich sie überhaupt wiedererkennen? Er hatte sie ja nur einmal gesehen bisher, das war in Berlin, kurz vor seinem Umzug nach Wien. Und sie hatte ihm zwar geschrieben, doch ohne Photo dabei. Das heutige Treffen kam kurzfristig und ausschließlich telegraphisch zustande.

    Würde sie ihn wieder so beeindrucken wie vor zwei Jahren, in Berlin? Karl spürte noch immer, wie er damals, als Volontär mit Korrekturen beschäftigt, über seinen Kneifer hinweg in ihr strahlendes Gesicht geblickt hatte. Seine Atmung blieb augenblicklich still, so verblüfft war er! Sie war von München angereist, um der Wochenschrift DIE ZUKUNFT einen engagierten politischen Artikel über die unsäglichen Zustände im osmanisch-türkisch beherrschten Albanien anzubieten.

    Albanien - dieser Name allein schon hatte sein Interesse geweckt. Dass dann eine Frau, eine so hübsche zumal, über das kleine Balkanland an der Adria geschrieben hatte und nach eigenem Bekunden auch noch infolge persönlichen Erlebens, hatte ihm jedoch den Atem verschlagen.

    Denn Albanien, das mythisch anmutende ›Land der Skipetaren‹, war ihm bis dahin fast nur aus Karl Mays Reiseerzählungen bekannt. Es war der geeignete geographische Hintergrund jugendlicher Reiseträume und Abenteuerphantasien. Lediglich ein engagierter Oberlehrer seiner Realschule hatte einmal versucht, die schöne Illusion platzen zu lassen und seinen Schülern die osmanische Provinz am westlichen Balkanrand in seiner Wirklichkeit begreifbar zu machen, es vom Dasein Mayschen Kulissenzaubers sozusagen zu befreien. Vergessen Sie Karl May!, hatte er dabei unmissverständlich gefordert - immer wieder.

    Nun wäre Karl Richter zu jener Zeit kaum in der Lage gewesen, sich ein anderes Bild als das aus Mays Büchern zu machen. Aus einem weniger begüterten Elternhaus stammend war an weite Reisen nicht zu denken. Der Vater bekam als kleiner Zollbeamter kargen Sold und lukrative Erbschaften boten sich halt nicht an. Seine Versetzung von Breslau nach Berlin brachte die Richters zwar der Ostsee näher, doch so ein Strandurlaub auf Rügen konnte kein levantinisches Lebensgefühl wie im Morgenland vermitteln. Ebenso die traditionellen Sommerwanderungen im Riesengebirge: Bei aller Phantasieanstrengung führten diese nie und nimmer durch irgendwelche ›Schluchten des Balkan‹. Die beschränkte Weltsicht aufgrund der beschränkten Möglichkeiten ersetzte eben nicht die tollen Reisephantasien, die May so trefflich mit geschriebenen Worten in Gang bringen konnte.

    Als habe Oberlehrer Szamatolski das berücksichtigen wollen, hatte er, der rundum talentierte Pultundtafel-Darsteller, in einer Mischung aus statistisch-geographischem Wissen und Erinnerungen an eigene Reisen, angereichert mit neuesten Forschungsberichten und das Ganze durchgespickt von mitreißender Mimik und Gestik -bei der türkische Sprachkenntnisse als überzeugendes Stilmittel wirkten -, versucht, seinen Schülern die Vorstellung von exotischer Ferne einfach, aber eindringlich nahe zu bringen. Wenn er also Albaniens Ebenen, Gebirge und unregulierte Flüsse als ungezähmte Natur und seine Bewohner als halbwilde, indianergleiche Figuren vor den geistigen Augen seiner Schüler auferstehen ließ, dann kamen Mays bekannte Schilderungen mit der erlebten und erforschten Welt des rein sachlich denkenden Lehrers im Schüler Karl Richter derart intensiv zusammen, dass der unbändige Wunsch, selbst einmal dorthin zu reisen, um sich vor Ort von der Rauheit des Landes, der Wildheit der Leute und dem Reiz exotischer Ferne zu überzeugen, immer häufiger aufkeimte.

    Aber Jahre vergingen und erst jene Begegnung damals mit Amelie, der schriftstellernden Freiin aus München, hatte eine - zugegebenermaßen zaghafte - Annäherung an den Balkan ausgelöst, indem Karl kurz darauf nach Wien zog und sich dort eine Stelle als Journalist suchte.

    Amelie - wo blieb sie eigentlich? Er wurde mit einem Male ungeduldig, ein Blick zur Uhr verschlimmerte alles. Da -

    »Sie Ärmster«, hörte er da hinter sich rufen. »Es tut mir furchtbar leid, dass Sie so lange auf mich warten mussten.«

    Karl sprang augenblicklich vom Stuhl auf, nahm den Kneifer von der Nase und drehte sich um. »Aaah - grüß Sie Gott, verehrte Baronesse.«

    Das sagte er mit jener Dehnung der Sprache, die dem Wienerischen so eigen ist und die er sich recht schnell angeeignet hatte. Alle Ungeduld war so wie weggewischt. »Machen Sie sich doch keine Vorwürfe wegen der Zeit.« Er lächelte die adlige Frau, die nur wenig älter schien als er, an und rückte nach einem hastig angedeutetem Handkuss etwas aufgeregt den freien Stuhl am Tisch zurecht.

    »Ich kam schon heut früh mit dem Nachtzug direkt von München her und bin dann gleich mit der Droschken zu Pfarrer Roller.«

    Die nun Sitzende sprach das, noch außer Atem, mit jenem rollenden R, das Karl von der kurzen Begegnung in Berlin sehr vertraut war.

    »Der ist mit dem Verkauf meiner Novellensammlung sehr zufrieden und will auch meinen soeben fertiggestellten politischen Bericht zur Unabhängigkeit von Albanien veröffentlichen - allerdings wohl erst nächstes Jahr.«

    Karl nickte ständig, die Sprecherin nicht aus den Augen lassend. Die alte Faszination, das spürte er, war wieder da.

    »Aber dank meiner Freundin Ellen Ammann wird er noch in diesem Jahr in Schweden veröffentlicht: auf Schwedisch, von ihr übersetzt.«

    Der Kellner trat heran. Die Freiin bestellte ›Melange‹ - also eine Kaffeemilchmixtur, wie Karl sie liebte, und fixierte dann ihren Gegenüber.

    »Und Sie, Herr Richter? Wie fühlen Sie sich inzwischen hier?«

    Karl nickte lächelnd. »Ich bereue die Entscheidung nicht.«

    »Sie schrieben, Ihr erstes Engagement sei bald wieder zuende gewesen und Sie hätten eine neue Redaktion suchen müssen.«

    »Stimmt. Ich arbeite seitdem für DIE ZEIT, hier gleich um die Ecke.«

    »Oh, eine wohlbekannte Tageszeitung.«

    In der Tat hatte Karls erster Chef Dr. Siebertz, ein echter Albanienkenner, ihn damals nicht mehr beschäftigen können. Das war schade, da er sich von ihm viele Informationen über Land und Leute erhofft hatte. Dafür kam die liberale, hofkritische Haltung seiner jetzigen Arbeitsstelle seinem ausgeprägten Freigeist und dem Hang zum Pazifismus nahe.

    »Sie schrieben auch, Sie würden inzwischen Shqyp lernen.«

    »Ja, das stimmt«, nickte Karl wieder, erstaunt, wie genau Amelie seine Briefe gelesen hatte. »Aber ich bin mit dem Albanisch noch ganz am Anfang«, fügte er leicht verlegen hinzu. »Ich hatte bisher nur einige Stunden - erst bei Dr. Pekmezi, dann bei Dr. Jokl.«

    »Schön, bleiben Sie dran! Sie werden es gebrauchen können.«

    Die Freiin schaute Karl dabei wie auffordernd und mit einem Unterton der Gewissheit an. Das erinnerte ihn an die Begegnung in Berlin. In aller Offenheit hatte sie ihm da im Anschluss an die erste Verblüffung bescheinigt, dass er doch mit seinen dunklen Augen, schwarzen Haaren und dem dunklen Teint ›nach Albanien oder in den Orient gehöre‹. Er hatte es als spontanes Kompliment aufgefasst, das ihm nicht unangenehm war, obwohl er sich vorher oft gefragt hatte, warum er eigentlich so südländisch aussah. Seine Eltern, die vom Typus her weniger dunkel wirkten, hatten ihn immer beruhigt: In Schlesien gebe es viele Menschen mit diesen äußeren Eigenschaften.

    Nun schwiegen die beiden, nippten gedankenverloren an ihren Kaffeetassen und fixierten einander verstohlen. Karl spürte deutlich, dass ihn die hübsche, selbstbewusste Frau aus gutem Hause wieder in einer Weise reizte, die über ihr Albanienexpertentum hinausging -war es eine Art Verliebtheit?

    »Haben Sie«, nahm Amelie dann das Gespräch plötzlich und unvermittelt wieder auf. »Haben Sie eigentlich jemals meine Novellensammlung erhalten?« Sie sah Karl dabei groß an.

    Der stutzte, aufgeschreckt von seinen Gedanken und Gefühlen, und wusste nicht gleich, worauf sie hinauswollte. Dann -

    »Ja, ja - natürlich, das Buch kam vor ein paar Tagen durch einen Boten direkt zu mir in die Redaktion. Ohne den beiliegenden Brief wäre ich allerdings nie auf den wahren Absender gekommen.« Er lächelte, wurde aber gleich wieder ernst. »Doch sehen Sie, Baronesse: Ich bin mit der Rezension noch nicht fertig - leider.«

    »Oh, das macht nichts, lassen Sie sich Zeit. Lesen Sie alles gründlich.« Amelie Freiin von Godin, wie sie vollständig hieß, strahlte so bezaubernd wie seinerzeit in Berlin.

    Karl wurde es fast schwindelig. Bemüht, sich auf keinen Fall von irgendeiner Gefühlsduselei übermannen zu lassen, versuchte er, sachlich zu bleiben, und fragte vorsichtig nach dem neuen Manuskript. »Und Sie, Sie haben tatsächlich wieder alles selbst erlebt?« Er stotterte leicht. »A-Also die Staatsgründung Albaniens … vor neun Monaten … in Valona …« Wider seinen Willen klang ein zweifelnder Unterton durch.

    »Ja, natürlich«, unterbrach ihn Amelie ohne Vorwurf, aber mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Ich war natürlich dabei. Sie werden es bald nachlesen können.« Sie fügte erklärend hinzu: »Ich kannte Ekrem Bey Vlora, den Neffen des Präsidenten, schon von früher her und konnte wie immer bei seiner Familie wohnen. So bekam ich auch die Kontakte zu den Freiheitskämpfern und ihren Klubs. Aber das wissen Sie ja schon alles, Herr Richter, das hatte ich Ihnen in Berlin schon erzählt. Mein Artikel für DIE ZUKUNFT über die jungtürkischen Massaker und die erbitterten Aufstände der Albaner beschrieb ebenfalls alles.«

    Natürlich kannte Karl den Artikel. Er hatte ihn damals regelrecht verschlungen und eine Menge gelernt dabei. Demnach hatten die osmanischen Türken jahrhundertelang nicht nur Albanien, sondern bekanntermaßen das gesamte Abendland bedroht. Mit den Siegen der Österreicher und Russen im 18. Jahrhundert wurde die Türkengefahr gestoppt. Seitdem bestimmten fremde Mächte das Schicksal am Bosporus weitgehend mit. Eine Zerstückelung des Reiches begann, aus der peu à peu Kleinstaaten wie Griechenland, Serbien, Montenegro, Rumänien und Bulgarien hervorgingen. Lediglich Albanien blieb bis zuletzt osmanische Provinz. Erst mit den Balkankriegen, die Karl seit 10 Monaten in Wien aus sicherer Distanz beobachtete und die erst vor ein paar Tagen mit dem Frieden von Bukarest ein vorläufiges Ende gefunden hatten, war eine endgültige Vertreibung der osmanischen Fremdherrschaft auf dem Balkan erreicht.

    Die Niederlagen des Sultans gegen Europa und die Unfähigkeit Abdulhamids zur Modernisierung hatten inzwischen aber, so Amelie, die innertürkische Opposition der ›Jungtürken‹ an die Macht gespült. Das weckte in den albanischen Patrioten zunächst die Hoffnung auf eine stärkere Autonomie. Ihre Forderungen reizten jedoch die neuen Herren in Konstantinopel wie vordem die alten und veranlassten sie sogar zu noch grausameren Gegenmaßnahmen - den Rest des Reiches wollten sie nicht so einfach hergeben! Erst die sichtbar gewordene Schwäche der osmanischen Armee im Balkankrieg und die Bedrohung durch einen neuen, einen türkischen Nationalismus, der einen Vielvölkerstaat wie bisher nicht dulden würde, trieb eine Gruppe von albanischen Patrioten um den Abgeordneten Ismael Kemal Bey Vlora an, für die endgültige Verwirklichung der Unabhängigkeit zu kämpfen.

    »Auch hatten im Balkankrieg Griechenland, Montenegro und Serbien damit begonnen, Albanien als Beute unter sich aufzuteilen. Das hätte die osmanische Armee nicht mehr verhindern können. Daher forderten alle albanischen Nationalkomitees die endgültige Unabhängigkeit und suchten den Beistand der Großmächte bei der Botschafterkonferenz in London. Vlora hatte Österreich und Italien als mögliche Schutzmächte ausgemacht, da die einen serbischen Vorstoß zur Adria um jeden Preis verhindern wollten.« Die Freiin machte nachdenklich eine Pause.

    »Und? Weiter?« Karl klang ein wenig ungeduldig.

    Amelie holte tief Luft und setzte, fast feierlich, fort: »Ja, so kam es am Abend des 27. November 1912 eben zur ersten albanischen Nationalversammlung in Valona - übrigens im selben Haus, wo Ismael Kemal Bey 70 Jahre zuvor geboren wurde.«

    Karl spürte, dass Amelie noch immer tief bewegt war von dem Erlebnis vor ein paar Monaten - bewegt vom historischen Moment darin.

    »Ich war schon seit September im Land und wohnte im Haremlik des mächtigen Gebäudes, ›Schlösser der Beys‹ genannt. Deshalb erlebte ich alles mit. Man einigte sich am nächsten Tag darauf, eine provisorische Regierung zu bilden. Die Erklärung wurde in türkisch und albanisch abgefasst und von den Delegierten unterschrieben. Zum Präsidenten wählten sie Ismael Kemal Bey, zu seinem Stellvertreter den Pfarrer Dom Katschorri. Während sie noch unterschrieben, rannte ich in das Zimmer, das mir als Gast immer zur Verfügung stand und wo Ekrem Bey, der leider selbst nicht da war, eine Fahne mit dem albanischen Doppeladler versteckt hielt. Die brachte ich in die Versammlung mit, von der sie dann unter Gesang auf dem Hof gehisst wurde.«

    Amelie hatte bei den letzten Worten Tränen in den Augen. Sie schaute gedankenverloren und schutzbedürftig. Karl hätte sie - wie überhaupt - gern in den Arm genommen, zögerte aber, weil er spürte, dass sie mit ihren Gedanken und Gefühlen woanders war - nicht bei ihm.

    Am frühen Abend verabschiedete er die Freiin auf dem Westbahnhof in den Nachtzug nach München, nachdem beide zuvor noch viel und ausführlich erzählt, einen Ausflug in den Prater unternommen und schließlich Karls Arbeitsstelle, die Redaktion der ZEIT, besucht hatten. Sie war längst abgereist, als ihm die Begegnung noch viele Stunden, ja, fast die ganze Nacht lang wie ein buntes Echo durch den Kopf hallte.

    Sie ist schon eine besondere Frau!, dachte er immer wieder. Fährt mit 24 Jahren mehr oder weniger allein in die Levante, freundet sich unterwegs mit dem reichsten adligen Junggesellen Albaniens an, lebt seitdem die Hälfte des Jahres in dessen Land und unterstützt praktisch wie publizistisch die Unabhängigkeitsbewegung der Albaner. Erstaunt hatte es ihn vor allem zu hören, dass man sich im ›Land der Skipetaren‹ ernsthaft zusammen zu raufen begann und aus einem Volk wilder Bergstämme, feudaler Sippen, höriger Bauern, konkurrierender Religionen und osmanisch erzogener Beamten eine Nation schmieden wollte. Fahren Sie doch hin!, hatte Amelie ihm vom Zug aus zugerufen. Schauen Sie selber!

    Als wenn das für ihn so einfach war wie für sie, hatte er gedacht, aber zustimmend genickt. Herr Richter, kennen Sie eigentlich die Geschichte vom Herrgott und Albanien?, hatte sie dann noch gefragt und, als der den Kopf schüttelte, erzählt: Der Herrgott wollte eines Tages schauen, was aus seiner Schöpfung geworden ist, und wanderte von einem Land zum andren. Er fand sich aber gar nicht mehr zurecht, so durcheinander hatten die Menschen alles gebracht. Wie groß aber war seine Freude, als Er nach Albanien kam. Hier erkannte Er nämlich alles wieder. Hier war alles noch so, wie Er es geschaffen hatte … Eine schöne Geschichte!, hatte Karl gerufen, als der Zug sich schon in Bewegung setzte. Und spürte, wie Amelie ihn auf subtile Weise wieder animiert hatte, etwas wahr zu machen, das ihm bislang unüberwindlich erschien.

    Dieses euphorische Gefühl hielt in den nächsten Tagen sogar an und wurde durch überraschende Ereignisse und Begegnungen noch bestärkt. So saß er drei Tage später wieder im Café CENTRAL, ›arbeitete zwischendurch‹ und stieß bei der Lektüre der KÖLNISCHEN VOLKSZEITUNG auf Amelies neuesten Artikel zur Problematik der südalbanischen Grenze, also vier Wochen nach den Londoner Beschlüssen zur Eigenstaatlichkeit Albaniens und zwei Wochen nach dem Frieden von Bukarest zur territorialen Neuverteilung des Balkan. Seit einem Jahr, schrieb sie da, haben wir uns an die entsetzlichsten Nachrichten vom Balkan gewöhnt - Raub, Mord, Kampf, Brandstiftung und Schändung sind dort an der Tagesordnung. Doch was geht uns das an, nachdem ein europäischer Krieg durch die Weisheit der Diplomaten vermieden wurde?

    Bisher vermieden wurde, dachte Karl, ›bisher‹ müsste es heißen, und wollte gerade weiterlesen, als er laut angesprochen wurde.

    »Ach, schau an - Karl Richter!«

    Buchberger! Das war eindeutig seine Stimme. »Grüß Sie Gott! So ein Zufall.«

    Carl Buchberger, den Karl vor zwei Jahren - er war gerade erst umgezogen - kurz nach dessen Ausbildung zum Konsularattaché kennen gelernt hatte und der seitdem regelrecht verschollen war, galt als einer der wenigen echten Albanienexperten der Donaumonarchie, obwohl er gar nicht viel älter war als Karl. Woher kam dieser seltene Wienbesucher so plötzlich? War es wirklich Zufall? Immerhin las er gerade über Albanien.

    »Ja, welch freudige Überraschung!« Karl sprang auf und schüttelte die Hand des lange nicht Gesehenen. »Sie in Wien?! Was machen Sie hier?«

    »Na Urlaub, was sonst?« lachte der elegant gekleidete junge Mann mit den dichten Koteletten, aber ohne den üblichen Schnauzbart. »Ich bin ja ständig unterwegs, da fühle ich mich daheim wie im Urlaub.« Er erzählte kurz, wie er zunächst in Nordalbanien, in Skutari, und anschließend in Janina im Süden tätig war und vor einem Jahr dort das große Elend der osmanischen Niederlage sowie den blutigen Triumph der griechischen Massaker miterleben musste.

    »Ich dachte damals in meiner Naivität, Krieg und Terror gäbe es nur in der Ferne - in Asien, in den Kolonien oder so«, sagte er abschließend und schaute nachdenklich. »Demnächst arbeite ich in der neu gebildeten internationalen Grenzziehungskommission in Südalbanien mit.«

    »Ach«, rief Karl erstaunt. »Südalbanien? Wirklich? So ein Zufall.«

    »Wieso?«

    »Na, ich lese hier doch gerade einen Artikel darüber.« Er zeigte aufgeregt den Zeitungsartikel vor sich.

    Buchberger beugte sich zu ihm. »Die Londoner Botschafterkonferenz hat beschlossen«, las er murmelnd, »dass die Küste bis Kap Stylo gegenüber von Korfu und inneralbanisch die Stadt Koritza dem Wunsch von Italien und Österreich gemäß zwar dem neuen Albanien einverleibt werde, überlässt die Festlegung der dazwischenliegenden 250 Kilometer Südgrenze aber einer internationalen Kommission, welche in ihren Entschließungen dem Wunsche der ortsansässigen Bevölkerung folgen soll… Genau: das ist meine nächste Arbeit! Bis Weihnachten wollen wir fertig sein.«

    Eigentümlich, dachte Karl. Erst das Treffen mit Amelie, dann ihr Zeitungsartikel und nun Buchberger, der mit Amelies Thema zu tun hat… Zufall?

    »Soll aber die Abstimmung nicht nur ein lächerliches und ungerechtes Scheinmanöver sein und wirklichen Wert haben«, las Buchberger weiter, »so müssen die griechischen Truppen aus Südalbanien entfernt werden und die albanischen Patrioten dorthin zurückkehren können. Sonst wird die Grenzbestimmung einfach ein Produkt des Terrorismus, aber nicht der Gerechtigkeit … Recht hat er!«

    »Wieso er? Der Autor ist eine ›sie‹.«

    »Ach, wer denn?«

    Obwohl Albanien ja nicht groß ist und Amelie von Godin im deutschsprachigen Raum als Albanienreisende einen gewissen Bekanntheitsgrad genoss: Buchberger war ihr offensichtlich weder dort begegnet noch hatte er je von ihr gehört bisher.

    »Also gut, dann ›sie‹ … Sie hat jedenfalls völlig recht: die griechischen Truppen sind entgegen jeder Konvention noch im Lande und decken vor allem die fanatischen Freischärler, die Andarten. Die treiben ein grausames Spiel dort. Ich hoffe, dass wir das beenden können.«

    Buchberger machte nach diesen Worten Anstalten zu gehen und verabschiedete sich. Er habe nicht vorgehabt, lang zu verweilen, und schaue demnächst in der Redaktion vorbei. Karl aber blieb noch, las Amelies Artikel zum zweiten Mal und machte sich dann auf den Weg zur Arbeitsstelle zurück.

    Kaum, dass er das Café verlassen hatte, wurde er von einem fremden Mann angesprochen: »Bitte schön, der Weg zum Prater?« Er stutzte erst, wollte dem vermeintlichen Besucher gegenüber aber nicht unhöflich sein und erklärte die Richtung.

    Dabei hatte er, ohne sichtlichen Grund, ein merkwürdiges Gefühl, das ihn in Wien bisher nur einmal beschlichen hatte: als nämlich eine Vorladung zur Fremdenpolizei in der Redaktion für ihn vorlag. Routine, hatte Dr. Kanner - einer seiner beiden Chefs - damals gemurmelt, alles Routine. Das ist normal nach einem Jahr. Karl aber hatte es dennoch merkwürdig gefunden. Er war zwar Reichsdeutscher und nicht Untertan der Donaumonarchie, klar, aber es waren befreundete Mächte, Verbündete im Frieden wie im Krieg - warum also solche Kontrollen?

    Der Sommer ging, der Herbst kam übers Land, auch nach Wien. Durch die Zeit war Karls Ambition, nach Albanien zu reisen, so verblasst wie das Laub der Bäume. Von Amelie hatte er nichts mehr gehört. Er hatte ihr seine Rezension zu ihrer Novellensammlung als Kopie zwischenzeitlich zukommen lassen, mit einigen verbindlichen Zeilen - doch eine Antwort blieb aus.

    Auch von Carl Buchberger hatte er nach dem zufälligen Treffen nichts mehr gesehen oder gehört. Um so überraschter war Karl Mitte November, als in der Redaktion ein Telegramm aus Albanien für ihn lag: Die Arbeit der internationalen Grenzziehungskommission Süd sei so gut wie fertig, schrieb Buchberger, aber sein Chef läge todkrank in Janina, da alle Kuren ineffektiv geblieben seien. Mit dieser zwiespältigen Nachricht im Kopf ging er anschließend in frischer Herbstluft, der Himmel grau in grau, ins CENTRAL - wohin sonst?

    Diesmal wurde er zwischen Tabakrauchschwaden und emsiger Gastronomie dort erwartet: von einem ruthenischen Exilanten jüdischer Abstammung nämlich, der mit seiner Familie seit sechs Jahren in armseligen Vorstadt-Behausungen lebte. Die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen in der russischen Heimat hatte ihn mit vielen anderen 1905 auf die Petersburger Barrikaden getrieben. Der polizeilichen Verfolgung fortan ständig ausgesetzt, musste er aus dem Vielvölkerstaat des Zaren in den der Habsburger fliehen. Hier lebte er, mehr schlecht als recht, von journalistischer Tätigkeit, von Vorträgen und von der Propagandaerstellung für die russische Sozialdemokratie.

    Die Rede ist von Leo Bronstein, auch unter Trotzki als einem seiner zahlreichen Tarnnamen bekannt. Ihn hatte Karl kennen gelernt, als er für eine Reportage über die russische Kolonie in Wien recherchierte und in dem welterfahrenen Intellektuellen einen angenehmen Interviewpartner vorfand. Jedenfalls hatte er sich bis dato einen russischen Sozialrevolutionär anders vorgestellt.

    Diesmal wollte er den Kriegsjournalisten Bronstein sprechen, der den Balkan während der Kriegswirren der letzten Monate für eine ruthenische Zeitung bereist und darüber regelmäßig berichtet hatte.

    »Herr Bronstein, wie kamen Sie mit den Kriegsparteien als Berichterstatter überhaupt zurecht?«

    »Nun ja, in Sofia wurden nur solche Journalisten an die Fronten gelassen, die Sänger im Lager der Krieger waren, also Kollegen, die wie Nachtigallen singen und wie diese nichts mehr um sich herum wahrnehmen, kein Elend, nichts. Als prinzipieller Kriegsgegner habe ich mich deshalb auf das menschliche und materielle Leid als Folge des Krieges konzentriert. Die Verlierer aller Kriege sind ja nicht Heere, sondern Menschen. Deren Führer kommen leider meist glimpflich davon. Also habe ich mich in Sofia und später in Belgrad auf Informanten eingelassen - Verwundete zum Beispiel, die gerade vom Schlachtfeld kamen und als Augenzeugen berichteten. Da war sicher viel Subjektivität dabei, aber alle Berichte zusammen ergeben ein recht objektives Bild.«

    »Im Sommer wurde extra eine internationale Kommission zur Aufdeckung der Gräuel im Balkankrieg losgeschickt«, warf Karl ein.

    »Meinen Sie die Carnegie-Kommission?« lachte Bronstein erstaunt los. »Die ist doch eine Farce.«

    »Wieso?«

    »Ich bitte Sie, Herr Richter! Bei aller edlen Absicht, die der amerikanische Stifter haben mag, um sein Milliardärsgewissen zu beruhigen. Wissen Sie, was da rauskommen wird?«

    »Al-le Bal-kan-völ-ker sind Bar-ba-ren?« fragte Karl, der diese Diskussion nicht zum ersten Mal führte, Silbe für Silbe.

    Bronstein schaute amüsiert. »Ja, genau«, sagte er, »genau das wird herauskommen. Viel Tinte gegen noch mehr Blut! Diplomatie im Moralkostüm. Bedenken Sie: nie wurde in Klassengesellschaften je etwas friedlich gelöst, die europäische Diplomatie hat jedes Mal versagt. Blut statt Tinte war immer die Antwort. Das Schlimme aber ist: Wofür der Dreißigjährige Krieg so lang brauchte wie er heißt, würde in unserem Jahrhundert weniger als ein Jahr benötigen - dem waffentechnischen Fortschritt sowie der großzügigen Handelspolitik der Großmächte sei Dank. Ein Krieg im Zeitalter von Fabriken und Maschinen, mit Schnellfeuerwaffen und neuer Artillerie zerstört in einem Monat soviel wie ein alter, handwerklich geführter Kampf in einem Jahr! Da ist kein ›Hurra, auf ihn‹ mehr zu hören, keine Karl Maysche Silberbüchsen-Romantik im Land der Skipetaren. Jetzt kämpfen Völker gegeneinander, keine Söldner. Der nationale Hass verstärkt alles und ist selbst die stärkste Waffe in der Hand der Kriegsführer.«

    Bronstein hatte sich beim Reden regelrecht erregt und war so laut geworden, dass einige Nachbartische erstaunt aufblickten. »Ich muss jetzt aufhören - ich bin ja auch in Wien nie unbeobachtet. Ich gehe hinüber zum Schachzimmer. Währenddessen haben Sie Zeit, das Manuskript hier zu sichten.« Dabei kramte er in der verschlissenen Ledermappe, die er immer bei sich hatte, und zog ein Typoskript hervor.

    Karl war ziemlich neugierig auf das, was ihn da erwartete.

    »Sie interessieren sich doch für das Schicksal Albaniens«, murmelte Bronstein und sah ihn fragend durch seine Brille an. »Sie hatten es jedenfalls einmal erwähnt.«

    »Doch, doch!«

    »Hier, das kam gestern aus Belgrad. Es wird demnächst veröffentlicht.« Er drückte dem verdutzten Karl den Packen maschinenbeschriebener Seiten mit dem Vermerk ›Kopie‹ in die Hand. »Lesen Sie es zügig durch und sagen Sie mir nachher Ihre Meinung dazu.« Karl nickte und Bronstein verschwand.

    Mit dieser Wendung der Dinge hatte er nicht gerechnet. Er legte den Packen Papier deshalb zunächst zögerlich auf den Tisch und las den Titel der Schrift: ›Serbien und Albanien‹, von Dimitri Tuzowitsch - nie gehört den Namen. Karl blätterte und las weiter: ›Die Balkanhalbinsel ist ein Schmelztiegel von Völkern mit jeweils kreuzweise übereinander liegenden historischen Erinnerungen. Die einzelnen Teile der Halbinsel, die in den historischen Erinnerungen jede eine Region für sich darstellen, sind miteinander verflochten. Das gilt vor allem für seine zentralen Teile Alt-Serbien und Makedonien, also für jene Gebiete, die das Haupterbe der Türken tragen.‹

    Alt-Serbien, das wusste Karl, entsprach der Region Kosovo, jenem albanischen Gebiet also, das in den Londoner Beschlüssen der Diplomatie zum Opfer gefallen und vom neuen Staat Albanien abgetrennt worden war. Hier hatten einst Serben gelebt, waren dann donauwärts gesiedelt und Albaner nachgerückt. Nun wolle es Serbien, so Tuzowitsch, aus nationalistischen Gründen zurück und führe deshalb Krieg mit Albanien. ›Serbien ging nicht als Bruder nach Albanien, sondern als Eroberer. Darüber hinaus war es auch nicht Politiker, sondern grober Soldat.‹

    Welcher Serbe stellte sich so unpatriotisch auf die Seite der Albaner? Der Autor, entnahm Karl dem Vorwort, war Führer der serbischen Sozialdemokraten und saß als ihr Abgeordneter im Belgrader Parlament - in der Opposition, versteht sich. Er hatte als einziger gegen die Kriegskredite gestimmt. Die Umstände wollten es, dass ausgerechnet er als Offizier Krieg gegen Albanien führen musste und half, den Zugang zur Adria freizuschießen. Er nutzte sein unfreiwilliges Schicksal zum Sammeln von Daten und Informationen und daraus entstand schließlich die vorliegende Schrift.

    ›Die Albaner sind zweifellos das einzige Volk Europas, das in einer Stammesordnung lebt. Diese nach der Familie zweite Form menschlichen Zusammenlebens stellt auf dem Balkan die vergleichsweise niedrigste Entwicklungsstufe dar. Doch wenn auch einige Völker sich - gesegnet von günstigen historischen Bedingungen - schneller entwickelten als andere, gibt das den Befürwortern der kapitalistischen Unterdrückungspolitik noch lange nicht das Recht, die rückständigen, schwachen, widerstandslosen Völker für eine schwächere, unfähigere, inferiore Rasse zu halten, ihnen jede kulturelle Fähigkeit abzusprechen und sie zu ständig Unmündigen zu erklären, die ihrer kulturellen Vormundschaft bedürften.‹

    Bravo, das ist klar und deutlich! Das entsprach Karls vollster Überzeugung. ›Die Elemente, die eine Nation zur Nation machen, und die Faktoren, welche die Bedingungen für ein gemeinsames Staatsleben definieren, kann kein ernsthafter Mensch durch Vermessen von Schädeln und Rasseforschung aufdecken - sie werden vielmehr von der Geschichte und Sozialisation bestimmte.‹ Genau so ist es!

    Die erwähnten Stammesstrukturen, schrieb Tuzowitsch weiter unten, träfen hauptsächlich auf den gebirgigen Norden zwischen Alessio und Montenegro zu, also dem Gebiet der sogenannten Gegen. ›Damit spiegelt sich in den politischen Differenzen zwischen den Vertretern des Nordens und des Südens, zwischen den Gegen und den Tosken, auch der Unterschied in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung wider: Die nordalbanischen Stämme begreifen die Autonomiebewegung als Erneuerung der alten Privilegien von Stammesautonomie, die Südalbaner haben diese Phase, in welcher der Stamm noch die Welt bedeutete und das Gewehr das größte Heiligtum war, bereits hinter sich. Denn sie fühlen sich inzwischen als Klasse und wittern in der Bewegung ein Mittel zur Erweiterung ihrer Klassenherrschaft in ganz Albanien.‹

    So deutlich hatte selbst Amelie, die Expertin, den Unterschied nie beschrieben! Karl ließ sich die Sätze deshalb noch einmal auf der Zunge zergehen und wollte schon weiterlesen, da -

    »Herr Richter, da bin ich wieder«, tönte es plötzlich. Bronstein! Es war eine Stunde vergangen. »Ich hoffe, Sie konnten der Schrift einiges entnehmen, das Sie interessiert. Ich selber muss los zur Straßenbahn, meine Familie wartet. Aber wir treffen uns wieder. Machen Sie’s gut!«

    Bronstein hatte es jetzt offenbar eilig. Er war auch nicht mehr allein, sondern in Begleitung: russische Exilanten wie er wohl. Dadurch fielen Karl die beiden Männer, die mit dem kleinen Trupp das Café verließen, zunächst nicht auf. Nur ein Gefühl sagte ihm kurz darauf, dass die beiden jene Schatten sein mussten, von denen der Ex-Revolutionär gesprochen hatte. Und davon ausgelöst schwappte urplötzlich in ihm die Erinnerung an jene Vorladung hoch, die sein Chef seinerzeit als Routine verharmlosen wollte, die aber mit einer ausführlichen, hochnotpeinlichen Befragung auf der Präfektur endete: wie er lebe, mit wem er verkehre und warum er so viele Kontakte zu Pazifisten und Sozialisten habe. Karl, der überaus friedliebende Zeitgenosse, hatte daraufhin vor Wut, Zorn und Ohnmacht vorübergehend die Welt nicht mehr verstanden.

    Wie gut, dass ihn in diesem Moment der aufwallenden Erinnerung etwas ablenkte, etwas sehr Angenehmes. Wut, Zorn und Ohnmacht wollten nämlich erneut in ihm aufsteigen, da blickte er über drei, vier Meter hinweg direkt in das Gesicht eines Mädchens oder einer jungen Frau inmitten einer dichtsitzenden Gruppe von Studenten nebenan … Umrahmt von schwarzer Lockenpracht und feinen, ansprechenden Zügen um die hübschen, dunklen Augen hob es sich derart angenehm von der Umgebung ab, dass Karl wie gebannt hinschauen musste und darüber seinen aufsteigenden Ärger vergaß.

    Zu Beginn des Jahres 1914, Karl war vom Weihnachtsurlaub bei seinen Eltern in Berlin soeben zurückgekehrt, hatte er im Restaurant SACHER eine Begegnung, die seine lediglich schwelende Ambition, einmal selbst nach Albanien zu reisen, erneut entfachte. Diesmal von Dauer.

    Die Rede ist von Baron Nopcsa, der für DIE ZEIT von Fall zu Fall als Auslandskorrespondent tätig war, aber nun nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Ausgerechnet jetzt, da klar war, dass ein deutscher Prinz vom Rhein mit Hilfe der Großmächte den albanischen Thron besetzen würde! In dieser Situation war die Redaktionsleitung umgehend an Karl herangetreten mit der Bitte, für Nopcsa einzuspringen und von Albanien aus zu korrespondieren. Die Begegnung im SACHER, dem bevorzugten Lokal Nopcsas, war dafür arrangiert worden und Teil einer gezielten Vorbereitung.

    Karl kannte den Baron, denn der war schon häufiger in der Redaktion aufgetaucht. Er schien äußerst albanophil zu sein, wenn auch aus ganz anderen Gründen als beispielsweise Amelie von Godin. Nur aus echter Manie heraus waren die vielen beschwerlichen Forschungsreisen, die er seit einem Jahrzehnt im Land der ›Skipetaren‹ unternahm, zu verstehen. Die Kosten dafür bestritt er vom Erlös seines Gutes in Siebenbürgen. Nach einem bravourösen Studium der Geologie und Paläontologie und anschließender Promotion konnte er den gesamten Balkan unter Einbeziehung volkskundlicher und kartographischer Tätigkeiten somit finanziell unabhängig bereisen.

    Wieso aber immer wieder Albanien?, hatte Karl ihn bei der ersten Begegnung in der Redaktion einmal gefragt. Da hatte er gelacht: Das sollten Sie besser meine Schwester Ilona fragen - die meint nämlich, ich hätte während der Wiener Schuljahre zuviel Karl May gelesen.

    »Grüß Sie Gott, Herr Richter.« Im eleganten Trenchcoat, den Hut in der Hand, hatte Nopcsa, von Karl zunächst unbemerkt, das Restaurant betreten und war an den Tisch herangetreten. »Wie geht es Ihnen?«

    Der das fragte, war mindestens ein Jahrzehnt älter als Karl. Er wirkte mit dem gepflegten Schnauzbart, den buschigen Augenbrauen und dem dunklen Teint jedoch

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