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Der Bausatz des Dritten Reiches
Der Bausatz des Dritten Reiches
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Der Bausatz des Dritten Reiches

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Bei der Erklärung der Entstehung des Nationalsozialismus ist ein Paradigmenwechsel erforderlich. Die vulgärmaterialistische Verelendungslehre muß von ihrem brüchigen Sockel gestürzt werden. Ein neues Modell, welches neben der Wirtschaft die Kultur in die Betrachtung einbezieht, kann die Verwerfungen dieser Zeit besser erklären: Einerseits beherrschte eine überalterte Führungsschicht, die gedanklich in der Zeit der späten Aufklärung zu Hause war, tradierte Parteien und Gewerkschaften des Kaiserreichs und der Weimarer Republik; auf der anderen Seite durchsetzten die jungen expressionistischen Heißsporne des Kulturbetriebs die bündischen Gremien, Gazetten und Institutionen, eskortiert von Funktiokraten der korporatistischen Wirtschaftsverbände.

Es geht um eine konsistente Erklärung der Entstehung des Nationalsozialismus. Darum erzählt dieses Buch die Geschichte anders herum: Beginn im 19. Jahrhundert bis zum Frühjahr 1933. Dabei werden Perspektiven freigelegt und rekonstruiert, die die Zeitgenossen wirklich hatten und haben mußten, wenn sie sich politisch, wirtschaftlich oder kulturell für ein nationalsozialistisches System entscheiden wollten. Eine Logik der Entscheidungen und Langfristigkeit von Überzeugungen wird deutlich, die bei der üblichen rückwärtigen Betrachtung verlorengeht. Verbindungsknoten zwischen verschiedenen Lebensreformansätzen werden gesucht, gefunden und dargestellt, ebenso wie die Berührung oder Verknüpfung mit nationalsozialistischen Überzeugungen.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateMar 29, 2015
ISBN9783000490125
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    Der Bausatz des Dritten Reiches - Wolfgang Prabel

    Inhalt

    Erklärungsnöte der Geschichtswissenschaft

    Der Konsens der Eliten

    Not, Nationalismus und ein Agitator

    Kulturelles Magma und politische Kruste

    Die Geburt des Elitarismus

    Der Kampf des Einzigen mit der Masse

    Mehr Konterrevolution als Revolution

    Unruhe in den Lüften der Kultur

    Quellen des Krisenstroms der Jahrhundertwende

    Genetische Grenzen des „Neuen Menschen"

    Darwinismus und Euthanasie

    Geisterwelten und Wurzelrassen

    Der Jude als antikapitalistische Projektionsfigur

    In jedem Suppentopf ein sexuelles Problem

    Der Krieg als Hygiene der Welt

    Dekadenz und Weltuntergang

    Nibelungen oder Gotham City - Heimatkunst und Abstraktion

    Die Dämonie des Werdenden und niemals Seienden

    Der Protest deutscher Künstler gegen den bedrohlichen Import französischer Kunst

    Reformsandalen auf dem Kriegspfad

    Die Welt soll brennen

    Scharnierpersonen zwischen Politik, Kultur und Wirtschaft

    Vom Liberalismus haben wir in Deutschland nichts mehr zu erwarten.

    Die Sozialdemokraten, das Wasserhuhn, der Kiebitz und die wilde Ente

    Die Partei neuen Typus für den Neuen Menschen

    Walhall, Revue und Tempeldienst

    Ludwig Klages´ Klagen über Technik, Kapitalismus und Vernichtung des Lebens

    Eine Frau wird sich genommen

    Sehnsucht nach Gewohnheit

    Es gibt keinen Frieden im wirtschaftlichen Kampf ums Dasein

    Eine mitteleuropäische Republik mit mittelalterlicher Organisation

    Friedrich Ebert als Arzt am Krankenbett der Kriegswirtschaft

    Verzunftung auf nationaler Ebene

    Die Historische Schule

    Preußischer Sozialismus und süddeutscher Traditionalismus

    Ständische Parteien in einer berufsständischen Republik

    Der Imperialismus, das Gegenteil der Marktwirtschaft

    Von der Marktwirtschaft zum Staatsauftrag

    Arbeit als Religion des Sozialismus

    Konforme Inhalte - trivial dargestellt

    Die Republik der Alten

    Der Krieg, wenn er weitergeht, wird weitergehen gegen den Westen allein ...

    Die unzeitgemäße Republik

    Konterrevolutionäre machen Revolution

    Freigeld und Freiwirtschaft

    Werbung für Kriegsanleihen und bolschewistische Plakate

    Der Kampf um die Reinheit im parteipolitischen Reformtempel

    Schild und Schwert der SPD

    Für eine Vertretung der wirtschaftlichen Stände

    Die Regierung der Volksschulabsolventen

    Weimar als heiliger Hain

    Die Herrschaft über Sonne, Mond und Sterne

    An der Spitze der jungen Völker

    Wir alle müssen zum Handwerk zurück

    Der Herr des Ausnahmezustands

    Die Verstetigung der Kriegswirtschaft

    Die Friedensbedingungen verhageln die Stimmung

    Außenhandel wie im Krieg

    Die Kreation des faschistischen Stils

    Das 25-Punkte-Programm der Deutschen Arbeiterpartei

    Thüringen im Tanztaumel

    Man sieht die Menschen fallen, zerpreßt werden und verfaulen

    Der Protest gegen den gegenwärtigen Saustall

    Das Wunder an der Weichsel

    Heizen mit Geldscheinen

    Unruhe bei den Kriegsverlierern

    Der Staatsstreich der Geistigen

    Intelligenzbrillen unter dem Wagenrad – Tagore in Deutschland

    Gegen die teuflische Versuchung und Korruption des Westens

    Hinter dem Rücken des Reichspräsidenten

    Knallen die Gewehre – tak, tak, tak aufs schwarze und aufs rote Pack

    Legionen, Kohorten und Zenturien

    Rudolf Heß gewinnt ein Preisausschreiben

    Das Schlüsselbund für die Unterwelt des Unbewußten

    Schlagt Cuno und Poincaré an der Ruhr und an der Spree

    Die Stunde der Umstürzler

    Warte, warte nur ein Weilchen....

    Ein höherer gesellschaftlich-biologischer Typus

    Bubikopf und Stahlhelm

    Völkische Wellen am republikanischen Gestade

    Gebete nach Rom und Pflichten in Berlin

    Neuwahlen aus nichtigem Anlaß

    Die Partei der Wendeverlierer

    Das Generationenproblem bei den Konservativen

    Im Strudel der Moskauer Machtkämpfe

    Das Kaffeehaus ist vorbei – ich habe zu funktionieren

    Körperliche und demokratische Grenzen

    Charleston, Freigeld und Linkskurve

    Der Reichsfeldmarschall als Republikaner

    Herr Landrat, keine Bange, Sie leben nicht mehr lange...

    Das Schuldenkarussell dreht sich

    Auf dem Kriegspfad gegen die Planwirtschaft

    Der neue Franke

    Die Seifenblase der krisensicheren Planwirtschaft

    Verteilung der Kriegslasten und Kapitalmangel

    Neue Sachlichkeit

    Lebensreform für die Massen

    Der Marsch durch die Institutionen der Gehirne

    Die Verwilderung der politischen Sitten

    Kämpft für ein sozialistisches Sowjetdeutschland

    Die Sozialdemokratie ist in der glücklichen Lage

    Im Schatten der Wirtschaftskrise

    Welche Distanz bestand zu Hitler ?

    Entfaltet das rote Banner des Weltoktobers!

    Das Unbehagen in der Kultur

    Die Geburt der Massenkultur

    Jahrmarktsrohheit, Massenkrampf, Budengeläut und Halleluja

    Überstunden für den Reichspräsidenten

    Heilige Ziele jenseits des Klassenkampfs

    Vom Reformismus zum Nationalsozialismus

    Biografien zwischen Spätkaiserreich und Drittem Reich

    Mehr Straßenschlachten als Reichstagssitzungen

    Tat- und Kraftmeierei

    Die letzte Wahl für die nächsten hundert Jahre

    Lichterketten oder Werte?

    Die Entwicklung der politischen Milieus im Rückblick

    Der nationalsozialistische Baum im reformistischen Garten

    Lichterketten oder Werte?

    Quellen

    Erklärungsnöte der Geschichtswissenschaft

    Der Konsens der Eliten

    Das Gedankengut der Nationalsozialisten, der ganze Fundus des ideologischen Mordwerkzeuges im finstersten Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Auch wenn uns die Geschichtsinterpretation der Nachkriegszeit weisgemacht hat, dass dieses abgrundtief Böse quasi aus Hitlers „Mein Kampf" und der Weltwirtschaftskrise über uns kam: Die Wurzeln der Unmenschlichkeit waren schon tief im Zeitgeist des Spätkaiserreichs und der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre verankert.

    Der Bausatz der NS-Ideologie aus ökologischen und ökonomischen Irrlehren wurde vollständig vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt. Spätkaiserzeitliche Ideologiepuzzles wurden von den Lebensreformern immer wieder neu zusammengesetzt und dekonstruiert. Einzelne Teile kamen wie bei Kinderspielen weg, andere dazu. Adolf Hitler zimmerte aus dem nietzscheanischen Elitarismus, dem vermeintlichen Produktionsstreik der Natur, aus paranoider Aversionen gegen den Zins und die Banken, aus Antisemitismus und Verstaatlichungsphantasien, aus Volksbildung und Volksgesundheit, aus Ariosophie, Mutterschutz und Sportpflicht, aus Tierschutz, Vegetarismus und Katastrophenglauben, aus Angst vor großen Kaufhäusern und dem Freihandel, aus Rassenlehre und Euthanasie seine 25 Punkte als Parteiprogramm und seine spätere Regierungspraxis.

    Das Ergebnis dieser Politik war 1945 für die Deutschen so ernüchternd, daß der Neue Mensch und die Jugendbewegung mehr als ein Jahrzehnt Sendepause hatten. In der Mitte der 60er Jahre begann die Renaissance der Lebensreform. Wenn man die alten Bauklötze der Jugendbewegung unter Weglassung des Rassismus und der Germanenschwärmerei, wie von den 68ern praktiziert, wiederverwendet, kommt leider nicht das Gegenteil des Nationalsozialismus heraus, nämlich eine demokratische Bürgergesellschaft, sondern neuerlich ein kleinkarierter elitistischer Bevormundungsstaat.

    Da ein Bausatz immer auf einfachen Figuren fußt, ist keine besondere Intellektualität für den täglichen Gebrauch erforderlich - im Gegenteil. Eigenständige Orientierung und Nachdenken über Alternativen sind hinderlich. Ein Bausatz ist auch nicht wirklich flexibel. Es dominiert beim Nachbau der Lebensreform der Wunsch, sich als moralisch überlegener Zeitgenosse zu produzieren und zu profilieren sowie nebenbei seinen goldenen Schnitt aus Fördergeldern zu machen, seien es EEG-Stromvergütungen, Filmförderungen oder KfW-Beihilfen für Dämmfassaden. Hingebungsvolle Bereitschaft zur Unterwerfung unter ein Heilssystem war schon immer die Kehrseite eines irrlichternden Moralverlangens.

    Im Werkzeugkasten, aus dem sich Adolf Hitler und die Nationalsozialisten bedienten, lag also das erprobte Handwerkszeug der Lebensreformer, die bereits um 1900 die deutsche Befindlichkeit diktierten und bis zum heutigen Tag mit einer von wissenschaftlichen Grundlagen abgehobenen Naturreligion einen parteiübergreifenden Einfluß in Deutschland haben. Ein abschreckendes, aber prägnantes Beispiel für den bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik fortgeschrittenen lebensreformerischen Diskurs ist die Rassenhygiene- und Eugenikdebatte von 1890 bis 1933.

    Der Arzt Alfred Ploetz (18601940) war ein Opfer des Bismarckschen Sozialistengesetzes. Er war leidenschaftlicher Antialkoholiker und seit seiner Studentenzeit in einer Gemeinschaft organisiert, die ein „Gemeinwesen auf freundschaftlicher, sozialistischer Grundlage als Ziel der Träume hatte. Viele, auch heute noch bekannte Persönlichkeiten, waren Teil dieses schwärmerischen Treibens. Frank Wedekind zum Beispiel, Richard Avenarius, auch Carl und Gerhart Hauptmann. Dieser Alfred Ploetz, dem als Sozialist in Deutschland der Prozess gemacht wurde, dem er sich 1883 durch Flucht in die Schweiz entzog, gründete nach seiner Wiederkehr 1905 die „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene. Sein Ziel war die Förderung der arischen Rasse, der „Kulturrasse par excellence". Was für ihn gleichbedeutend war mit der Förderung der Menschheit insgesamt, da die Menschheit, wie er meinte, mit wenigen Ausnahmen, wie etwa der jüdischen Rasse, ohnehin arisch sei.

    Ploetz wurde 1933 Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft für Rassenhygiene und Rassenpolitik im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs und Rassenpolitik. 1937 nach Wegfall der Aufnahmesperre trat er in die NSDAP ein. Gründungsmitglied dieser Gesellschaft für Rassehygiene war auch der Arzt Ernst Rüdin (18741952), ein Schwager von Ploetz, Rüdin hatte sich bereits 1903 für die Sterilisation bei bestimmten Diagnosen ausgesprochen. Daß die Teilnahme an der Lebensreform oft in den Beitritt zur Partei mündete kann man an auch seiner Biografie ersehen. 1933 wurde er Kommissar des Reichsinnenministeriums für Rassenhygiene und Rassenpolitik, ein Jahr später Richter am Erbobergesundheitsgericht, 1937 wurde er Mitglied der NSDAP und 1944 endlich erhielt er den Adlerschild des Deutschen Reiches. 1945 verlor er allerdings die schweizerische Staatsbürgerschaft wegen unschweizerischen Verhaltens. Spät, aber immerhin.

    Am Ende des Jahres 1905 waren bereits 31 Mitglieder in der illustren Rassenhygienegesellschaft versammelt, vom populärwissenschaftlichen Literaten Friedrich Bölsche über den Jenaer Zoologieprofessor Ludwig Plate, der bereits 1922 durchsetzte, daß die ersten vier Reihen des Klinischen Auditoriums an der Uni Jena nur von Ariern besetzt werden durften, den sozialdemokratischen Sozialhygieniker und Reichstagsabgeordneten Alfred Grotjahn, der 1926 die planmäßige Ausmerzung durch Verwahrung und Zwangsunfruchtbarmachung erblich Belasteter forderte, bis zum linken Pazifisten und überzeugten Europäer Wilhelm Schallmeyer, der 1903 das Buch „Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker" herausbrachte, welches zum meistgelesenen Standardwerk diese Genres wurde.

    Die SPD blieb von der Neuerungswut nicht verschont: Oda Olberg verkündete 1907 im sozialdemokratischen Theorieorgan „Neue Zeit":

    „Nicht weil ich orthodoxer Parteisoldat bin, glaube ich, daß die Forderung der Rassehygiene in der sozialistischen Bewegung ihren wirksamsten Bahnbrecher hat, sondern ich bin Sozialist, weil ich das glaube."

    Kriminalität erklärte sie aus biologischer Minderwertigkeit, Kultur und zu geringe biologische Auslese würden zu einer Verschlechterung des Erbguts führen. Noch 1932 beklagte Olberg in frappierender Fehleinschätzung:

    „Der so notwendige Appell an ein rassenhygienisches Bewusstsein der Massen verhallt heute zum Teil deshalb so ungehört, weil der Nationalsozialismus diese Forderung in sein reaktionäres Programm aufgenommen hat."

    Der Zoologe Ernst Haeckel und der Philosoph Alexander Tille hatten bereits am Ende des 19. Jahrhunderts die Euthanasie, insbesondere für behinderte Kinder gefordert. Lange vor der Machtübernahme der NSDAP wurde auf sozialdemokratischen Parteitagen über die Sterilisierung von Idioten diskutiert. Bereits vor der Jahrhundertwende gab es in Deutschland eine radikal antisemitische Partei, die Deutsche Reformpartei. Sie schaffte es trotz Mehrheitswahlrecht immer wieder in den Reichstag. Die KPD war nach 1928 systematisch entjudet worden. Die deutsche Intelligenz begeisterte sich am Ausbruch des Ersten Weltkriegs und anschließend für die Revolutionsexzesse in Rußland. Der Rassismus war fast allgemeiner Konsens in der Gesellschaft des Spätkaiserreichs und der Weimarer Republik.

    In der Mischehendebatte, die am 7. Mai 1912 im deutschen Reichstag geführt wurde, zeigte sich, daß fast alle Parteien, auch die oppositionellen Sozialdemokraten, massive Vorurteile hatten und Ehen mit Negern und Südseeinsulanern mehr oder weniger ablehnten. Der Sozialdemokrat Georg Ledebour entrüstete sich wegen der unerfreulichen Tatsache, dass gewisse Frauen aus den wohlhabenden Kreisen für exotische Völkerschaften eine perverse Neigung bekundeten. Er sprach ausdrücklich von Entartung in diesem Zusammenhang. Den Samoanern und Bastards bescheinigte er in körperlicher und geistiger Beziehung den Europäern nahezustehen, die Einwohner Togos, Kameruns und Ostafrikas erwähnte er in diesem Zusammenhang nicht. Außerdem leistete er sich noch einen antisemitischen Ausrutscher, obwohl es in der Debatte nicht um Juden ging.

    Der Parlamentarier Mumm von der Wirtschaftlichen Vereinigung sprach in der Debatte bereits von Rassenschande. Er wollte nur verheiratete Beamte in die Kolonien entsenden. Der Abgeordnete Freiherr von Richthofen von den Nationalliberalen verwies darauf, daß der Eingeborene, der von den Weißen lernen soll, diese als Wesen ansehen muß, die weit und stark über ihm ständen. Lediglich der katholische Abgeordnete Gröber dachte praktisch und fromm: Die eingeborenen Frauen würden oft ansehnliche Viehherden in die Ehe einbringen, kämen mit den widrigen Verhältnissen in den Schutzgebieten besser zurecht als deutsche Frauen und zudem sei es sachlich einfach unmöglich zu sagen: „Christen dürfen untereinander nicht heiraten, weil die Frau eine schwarze oder braune Haut hat und der Mann eine weiße. Das kann vom religiösen Standpunkt aus unmöglich vertreten werden."

    Auch seien diese Ehen fast immer glücklich. Der Staat habe kein Recht in ein auf ehrenhafter Gesinnung beruhendes Zusammenleben einzugreifen.

    Wie man sieht: Die späteren Überzeugungen der Nationalsozialisten waren schon im späten Kaiserreich fast allgemeiner Konsens. Vor Hitlers Machtergreifung wurde dem Elitarismus, dem »Neuen Menschen« als Übermenschen und Führer, dem germanischen Blut, dem heimischen Boden, den deutschen Waldgewächsen, dem tradierten Brauchtum, den vorchristlichen Naturidolen, der Männlichkeit, dem Antikapitalismus, dem Antisemitismus, dem jugendbewegten Aktivismus und der Gewaltanwendung gehuldigt. Und zwar nicht nur von Nationalsozialisten, sondern von der ganzen jugendbewegten Intelligenz. Der Glaube an bevorstehende Gesellschafts und Naturkatastrophen und der Unglaube an Vernunft, Rationalität und Demokratie einte die deutschen Eliten. Es gibt keine politische Umwälzung auf der Welt, die nicht eine kulturrevolutionäre Vorbereitungsphase hatte.

    Es ist an der Zeit, die Periode zwischen 1890 und 1933 neu zu analysieren, weil sich die Geschichte zu wiederholen scheint. Die Bundesrepublik Deutschland beginnt nach der Periode des Wirtschaftswunders, der Etablierung der parlamentarischen Demokratie und politischer Aufklärung zurückzufallen in antidemokratische Denkweisen und kulturellen Obskurantismus. Fast alle totgeglaubten Gespenster des Kaiserreichs und der Weimarer Republik sind am Erwachen. Wie vor 100 Jahren glaubt sich jener Teil der deutschen Intelligenz, welcher die Medien und den Kulturbetrieb kontrolliert, im Besitz globaler Weisheit; egal ob es sich um den Weltfrieden, den Welthandel oder das Weltklima handelt.

    Ähnlich wie vor hundert Jahren verteilt die deutsche Intelligenzija anderen Eliten der westlichen und Dritten Welt politische Zensuren. Deutschland ist wie vor 100 Jahren Exportweltmeister bei Maschinen und idealistischen Ideologien. Und es ist wie vor 100 Jahren dabei, sich außenpolitisch zwischen alle Stühle zu setzen. Fast meint man, am deutschen Wesen solle wieder die Welt genesen. In der Gewissheit, die Stimmung einer Bevölkerungsmehrheit auszudrücken, sprach Altbundeskanzler Schröder 2002 vom deutschen Weg, den er beschreiten würde, und fiel in die Denkschablonen des Kaiserreichs zurück.

    Wer auf diesen deutschen Weg zurück will, muß die Schlüssel zu den Schatzkammern der Erinnerung in seine Gewalt bringen; er muß die Geschichtswissenschaft auf Linie bringen; er muß alles Menschenmögliche tun, um die Zusammenhänge zwischen Nietzsches Gewaltphilosophie und der expressionistischen Kulturrevolution einerseits mit dem Sieg des Nationalsozialismus andererseits zu verschleiern. Er muß den Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Korporatismus und der tradierten deutschen Planwirtschaft mit dem politischen Erfolg des Nationalsozialismus leugnen. Er muß antidemokratische und antiparlamentarische Haltungen der kulturellen und wirtschaftlichen Eliten relativieren. Auf diesem deutschen Weg der Geschichtsaneignung sind wir ein gutes Stück vorangekommen.

    Es gibt fast keinen Schriftsteller, Maler, Dichter des Spätkaiserreichs, der sich nicht für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begeistert hat. Es gibt nur eine Handvoll Künstler, die in der fraglichen Zeit die parlamentarische Regierungsform akzeptiert oder unterstützt haben. Es gab auch in der Weimarer Zeit keinen konsequent demokratisch orientierten Kulturbetrieb. Bei den Mustervernunftsdemokraten Thomas Mann und Kurt Tucholsky findet man nur sehr sporadisch eine hilfreich ausgestreckte Hand für jene parlamentarischen Kräfte, die am Erhalt des politischen Status quo interessiert waren. Die Kraftkerle der Moderne waren in der ganz überwiegenden Zahl elitaristische Antidemokraten.

    Wer die kulturellen Wurzeln des Nationalsozialismus leugnet, der muß zu anderen Erklärungen seine Zuflucht suchen. In den Geschichtsbüchern für die deutschen Gymnasien führen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zur Machtergreifung Hitlers, ohne daß der Wirkungsmechanismus konsistent dargestellt wird; da ist eher alles etwas schwammig und nebligwabernd formuliert, zurück bleibt jedoch der Eindruck, die damalige Verelendung hätte den Nationalsozialismus herbeigeführt.

    Es ist nicht nur dieser banale Vulgärmaterialismus, auf den sich die deutsche Geschichtswissenschaft, Politik und Kultur als Erklärung für die Entstehung des Nationalsozialismus letztlich geeinigt hat. Hans Mommsen hat die Verelendungstheorie mit einer Verschwörungstheorie verknüpft: „Nicht das Versagen der republikanischen Politiker, sondern das Zusammenspiel der Gegner des demokratischparlamentarischen Systems in Wirtschaft, Armee, Bürokratie und Justiz (...) riefen die Endkrise des parlamentarischen Systems hervor"¹ Diese Erklärung für die Machtübernahme ist falsch, denn sie benennt jene Hauptgegner der Weimarer Republik nicht, die einen noch größeren Einfluß hatten als Industrielle, Militärs, Bürokraten und Richter zusammen; jene, die das intellektuelle Klima prägten: Redakteure, Schriftsteller, Dichter, Maler, Bildhauer, Politiker, die Vorstände von wirtschaftlichen Pressure Groups und nicht zuletzt die allmächtigen Medienzaren.

    Der populärste und produktivste Maler war Fidus, die potentesten Medienmogule waren Hugenberg, Mosse, Ullstein und Münzenberg. Diese hatten einen hundertmal größeren Einfluß auf die deutsche Befindlichkeit als von Seeckt, Groener, Thyssen, Krupp und Stinnes zusammen. Das Lichtgebet von Fidus hing in jeder vierten Wohnung, und fast ebensoviele Abonnenten lasen jeweils Hugenbergs, Münzenbergs, Mosses und Ullsteins Gazetten.

    Ohne deren Einfluß kann man weder den deutschen Imperialismus, den Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution noch die Machtergreifung Hitlers wirklich erklären. Viele andere Länder als Deutschland waren in der Weltwirtschaftskrise genauso verelendet wie Deutschland oder noch wesentlich ärmer und sie errichteten keine nationalsozialistische Diktatur, ja viele Länder haben nicht einmal einen Politiker hervorgebracht, der Hitler annähernd vergleichbar war. Allenfalls Rußland, Italien und Fiume haben ähnlich strukturierte Personen in der fraglichen Zeit als Staatsoberhäupter beschäftigt. Die Wahrheit ist: Die übrigen Länder standen nicht im selben Maße unter der Kuratel aggressiver intellektueller Gewaltjunkies, sie waren weniger reformistisch und hatten in Wirtschaft und Politik demokratischere Traditionen. Letztlich ist das Ausnehmen der kulturellen Eliten aus der politischen Verantwortung die erste Ableitung einer vulgärmaterialistischen Anschauung, weil es vulgärmaterialistischen Lehren adäquat entspricht, für alle Fehlentwicklungen allein die Wirtschaft und nicht auch die Kultur verantwortlich zu machen.

    Die Wahrheit ist: Sowohl ökonomische, wie auch kulturelle Traditionen haben den Nationalsozialismus in seiner Entstehung begünstigt. Die ökonomischen Ursachen werden jedoch über und die kulturellen unterbewertet. Und der Zusammenhang zwischen Ökonomie und Kultur wird nicht konsequent benannt: Große Teile der deutschen Wirtschaft hatten das Ende der zünftigen Monopole und die Auflösung der ländlichen Bindungen, seien sie feudaler oder genossenschaftlicher Natur, nicht wirklich angenommen. Moderne Wirtschaftsformen waren im Gefolge der napoleonischen Eroberungen nach Deutschland verschleppt worden und nicht verinnerlicht worden. Die Fortschritte wie Gewerbefreiheit und Judenemanzipation waren durch französische Plünderungen, Einquartierungen, Brandschatzungen, Säkularisierungen von Klosterbesitz und andere Gewaltexzesse diskreditiert.

    Der romantische Konservatismus war als Replik auf Napoleon ein zünftiger und bäuerlicher egalitärer Traditionalismus, der als Gegensatz zum modernen Industrialismus begriffen wurde, und damit auch als Gegensatz zum Marxismus. Der Marxismus wurde nicht vehement abgelehnt, weil er egalitär war, sondern weil er ohne die Symbiosen mit der Industrie und dem Kapitalismus nicht hätte überleben können. Dieser konservative, aus dem Heiligen Römischen Reiche tradierte Sozialismus der Zünfte, Gilden und Genossenschaften beherrschte als Modeströmung das ökonomische und kulturelle Denken des Spätbiedermeiers, des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Der kulturelle Antikapitalismus war die Kehrseite des ökonomischen Antikapitalismus.

    In diese restaurative Stimmung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts platzte Nietzsche mit seiner archaischen Blut und Bodenphilosophie. Nietzsche stellte die Frage nach der Umweltverträglichkeit der modernen industriellen Gesellschaft und verneinte diese, stellte die menschliche Vernunft selbst in Frage und geißelte das Christentum, welches die ursprünglichen germanischen Naturidole weitgehend verdrängt hatte. Die deutschen Aborigines sollten die römischen Priester zum Tempel herausjagen, um Waldschraten und Elfen ihren angestammten Platz zu verschaffen.

    Bei der Erklärung der Entstehung des Nationalsozialismus ist ein Paradigmenwechsel erforderlich. Die vulgärmaterialistische Verelendungslehre muß von ihrem brüchigen Sockel gestürzt werden. Ein neues Modell, welches neben der Wirtschaft die Kultur in die Betrachtung einbezieht, kann die Verwerfungen dieser Zeit besser erklären: Einerseits beherrschte eine überalterte Führungsschicht, die gedanklich in der Zeit der späten Aufklärung zu Hause war, tradierte Parteien und Gewerkschaften des Kaiserreichs und der Weimarer Republik; auf der anderen Seite durchsetzten die jungen expressionistischen Heißsporne des Kulturbetriebs die bündischen Gremien, Gazetten und Institutionen, eskortiert von Funktiokraten der korporatistischen Wirtschaftsverbände.

    Worin zeigt sich heute kultureller Obskurantismus? Die ersten 50 Jahre nach 1945 gab es hinsichtlich der jüngeren Geschichte einige rote Linien, die nicht überschritten wurden. Im neuen Jahrtausend werden diese historisch bedingten Tabus in einer gegenläufigen Tendenz in immer kleinere politische Reservate zurückgedrängt. Im Radio wurde das Camice Nero, das Schwarze Hemd besungen. Theaterregisseure, Architekten, Galeristen und Ballettänzer gehen kaum noch ohne schwarzes Hemd auf die Gasse.

    Der Vorsitzende einer großen Partei, Franz Müntefering, unterschied im Bundestagswahlkampf 2005 mit seiner Heuschreckenkampagne in einem Rückfall in altkonservativalttestamentarische Kampfbegriffe letztlich in raffendes und schaffendes Kapital und verhinderte damit eine desaströse Wahlniederlage seiner Partei. Der Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder schürte im Bundestagswahlkampf 2002 planvoll den Antiamerikanismus und gewann noch mehr Stimmen. Die NPD schickte Mitglieder mit Eselsmasken über die Marktplätze, die das Schild trugen „Ich Esel glaube noch, daß die USA Frieden, Demokratie und Freiheit bringen" und saß seither in zwei Landtagen und drei Berliner Bezirksversammlungen.

    Der Ex-Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz verglich Unternehmer mit Tieren, und zwar mit Nutz- und Lasttieren. Ein ehemaliger Vorsitzender der SPD, Oskar Lafontaine, verwendete im Bundestagswahlkampf das etwas belastete Wort Fremdarbeiter für arbeitswillige Mitbürger aus der EU. Prompt hängte die NPD Plakate gegen Fremdarbeiter auf. Viele neu errichtete Gebäude sehen aus wie das Casa del Fascio in Como, das 1932-36 errichtet wurde. In den Kaufhäusern nimmt die Zahl der Braun und Erdtöne unserer Bekleidung über einen längeren Zeitraum betrachtet zu. Immer wenn im deutschen Umfeld eine Regierung gewählt wird, die der SPD nicht passt, pöbelt Martin Schulz: Italien, Dänemark, Polen, das Vereinigte Königreich, Tschechien, Estland, Litauen, Österreich und die Niederlande standen bzw. stehen unter politischer Beobachtung.

    Die Außenpolitik wurde seit Kanzler Schröder zur Dienerin der Innenpolitik. Das kann Deutschlands Stellung langfristig nicht dienen, da es Europa spaltet und die Rache der geschulmeisterten Nationen herausfordert. Der Umgang Deutschlands mit seinen Nachbarn erinnert an die Bülow-Affäre vor hundert Jahren, als Kaiser Wilhelm den Wahrheits- und Weltmachtanspruch Deutschlands gegenüber einer englischen Zeitung bekräftigt hatte, mit den bekannten Folgen für die europäischen Bündnissysteme vor dem Ersten Weltkrieg.

    Wie kommt es zu dieser Krise des demokratischen Bewußtseins? Wie die obigen Beispiele zeigen, begeben sich die Medien und die sogenannte Enkelgeneration der Politik in eine größere Nähe zu tradierten deutschen Überzeugungen, als das ihre Großväter getan hätten. Der Emigrant Willy Brandt hätte nicht von Fremdarbeitern gesprochen, Konrad Adenauer hätte Israel nicht wegen Menschenrechtsverletzungen kritisiert und Ludwig Erhardt hätte nach dem Krieg für jede Heuschrecke ein Empfangskomitee engagiert. HansGeorg Kiesinger und Hans Filbinger haben sich in Bayreuth geflissentlich nicht sehen lassen.

    1967/68 begann der schleichende ideologische Rückweg in die deutsche Vergangenheit: Die NPD wurde damals mit bis zu 10 % in sieben deutsche Landesparlamente gewählt und verfehlte 1969 den Einzug in den Bundestag nur knapp; gleichzeitig wurden Antikapitalismus und Antisemitismus in der Studentenrevolte wiederbelebt. Man demonstrierte für Mao Tse Tung´s Kulturrevolution und die Avantgarde ließ sich in nahöstlichen Terrorlagern ausbilden. Es fehlte noch die Wiederauferstehung der totgeglaubten Lebensreform. Sie erfolgte mit geringem zeitlichen Abstand in der Mitte der 70er Jahre. Der erste grüne Barde im Deutschen Bundestag war der Niedersachse Herbert Gruhl, bald folgten grüne Wahlerfolge in Bremen und BadenWürttemberg. Seither nehmen die Allergien jedes Jahr zu, weil man sich einerseits vor Elektrosmog, Feinstaub, Ekelfleisch, Waldsterben, Erderwärmung, Genreis, Verkehrslärm, spanischen Paprika, chinesischem Spielzeug und Radioaktivität fürchtet, andererseits immer mehr Wasser und Gel unter der Dusche verplempert.

    Eine Bewegung wie die Lebensreform, die zwischen 1890 und 1945 das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben geführt und bestimmt hatte, auf deren ideologischen Krücken die politisch Lahmen und Blinden in Deutschland jahrzehntelang gehumpelt waren, konnte durch das Wirtschaftswunder nicht auf Dauer einfach wegradiert oder in den Sumpf ewigen Vergessens abgesäuft werden. Alte Kader und junge Spontis ergriffen bei der ersten Gelegenheit, nämlich während einer ersten Abflachung der Wachstumskurve ab 1965, die Chance zum kulturellen roll back. Anders als im Kaiserreich und in der Weimarer Republik regte sich jedoch immer wieder auch ernst zunehmender Widerstand gegen die Renaissance der Jugendbewegung und der Lebensreform.

    Die Lehre von der Erschaffung des »Neuen Menschen« blieb durch die Judenvernichtung, die Euthanasie, den verlorenen Weltkrieg und den Stacheldraht an der Zonengrenze diskreditiert. Viele kulturelle Erscheinungen der Jugendbewegung und Lebensreform wie zum Beispiel der Rassismus und der Antisemitismus konnten nur mit Mühe und Verfremdungseffekten wieder aufgegriffen werden, andere Erscheinungen wie Vegetarismus, Bodenkult, Naturschutz, Antikapitalismus, Antiamerikanismus und Expressionismus hatten es einfacher, weil neben Tätern und Mitläufern immer auch Verfolgte der NSPeriode als Zeugen der ideologischen Unbeflecktheit der jeweiligen Sekte vorgewiesen wurden.

    Die Taktik derer, welche die belastete Lebensreform und den abgewirtschafteten Idealismus wiederbeleben wollten, war denkbar einfach: Erstens die Verfolgten des NSRegimes würdigen. Zweitens die nationalsozialistischen Nachkriegswendehälse geißeln, drittens die Geschichte von hinten nach vorn neu schreiben: Beginn mit der bedingungslosen Kapitulation 1945 und Ende mit der Machtergreifung 1933. Es gab zwischen 1933 und 1945 viele Gegner und Opfer des nationalsozialistischen Schönheitsstaates, die Hitler vor 1933 auf die politischen Beine geholfen hatten. Einige davon erhielten nach 1968 politische Heiligenscheine, andere nicht. Viele Wegbereiter Hitlers mussten 1933 das Land fluchtartig verlassen; für andere wäre es gesünder gewesen, dieses rechtzeitig getan zu haben.

    Es geht um eine konsistente Erklärung der Entstehung des Nationalsozialismus. Darum erzählt dieses Buch die Geschichte anders herum: Beginn im 19. Jahrhundert bis zum Frühjahr 1933. Dabei werden Perspektiven freigelegt und rekonstruiert, die die Zeitgenossen wirklich hatten und haben mußten, wenn sie sich politisch, wirtschaftlich oder kulturell für ein nationalsozialistisches System entscheiden wollten. Eine Logik der Entscheidungen und Langfristigkeit von Überzeugungen wird deutlich, die bei der üblichen rückwärtigen Betrachtung verlorengeht. Verbindungsknoten zwischen verschiedenen Lebensreformansätzen werden gesucht, gefunden und dargestellt, ebenso wie die Berührung oder Verknüpfung mit nationalsozialistischen Überzeugungen.

    Ein beiläufiger Untersuchungsgegenstand des Buches ist die bisher weitgehend ungelöste Frage, warum die völkische NSDAP und die bolschewistische KPD oft so eng beieinanderliegen; warum sich die beiden Parteien in Fragen des Antikatholizismus, Antikapitalismus, Antisemitismus, Antiamerikanismus, der Gesellschaftskonzeption, der Führungspraxis und –philosophie, der ästhetischen Anschauungen, der Menschenhaltung in Lagern sowie in außenpolitischen Fragen sehr ähnlich sind. Es ist, wie wir sehen werden, die gemeinsame Herkunft aus dem Geist der Jugendbewegung. Lenin entwickelte 1901 in Schwabing unter dem Einfluß des deutschen Elitarismus in seinem Werk „Was tun?" die bolschewistische Führerpartei mit einer neuen antimarxistischen Definition des Verhältnisses von Führung und Masse; Hitler begann 1920 von Schwabing aus seine nationalsozialistische Führerpartei aufzubauen. Gleichermaßen beeinflußt von Friedrich Nietzsche wie die aktivistische Jugendbewegung ist auch das Bild vom anzustrebenden Neuen Menschen, einmal als Weltproletarier, ein andermal als Weltgermane.

    Die Zentren der Avantgarde wie Schwabing waren durchaus keine linken Hochburgen per se, wie man es vermuten könnte, wenn man Ausstellungen der Avantgarde sieht. Neben Ästhetizisten, Anarchisten und Sozialisten gab es genauso viele Antisemiten, Rassisten, Deutschtümler und Germanenschwärmer. Bis zum Ersten Weltkrieg handelte es sich um ein gemeinsames Biotop, in welchem sich die Reformbewegung versammelte, ohne eine Trennung in links und rechts. Ob in Worpswede, in Schwabing, in Weimar, in Friedrichshagen oder im BrückeAtelier in Dresden: Immer teilten sich spätere Anarchisten, Ästhetizisten, Bolschewisten und Nationalsozialisten die Kunstzeitschrift, das Dach und die Konkubinen.

    Aus dem Weimarer Bauhaus, dem Werkbund und den Neuen Sachlichen gingen nicht nur Bolschewisten, sondern auch Nationalsozialisten hervor. Einige konvertierten, waren erst Bolschewist, später Nationalsozialist, andere umgekehrt. Einige Maler, deren Bilder in der Ausstellung „Entartete Kunst" hingen, zum Beispiel Emil Nolde und Peter Röhl, waren Mitglieder der NSDAP. Es ist heute kaum zu glauben, dass das möglich war. Eine Randnotiz aus dieser Olympiade des Ignorierens war auch die persönliche Anwesenheit von Erich Kästner bei der Verbrennung seiner eigenen Bücher im Mai 1933 in Berlin. Er wurde bei dem Großereignis zwar erkannt, aber ansonsten nicht weiter behelligt.

    Dieselben Probleme, die die Darstellung der Machtergreifung als durch Unterfinanzierung der Sozialsysteme bedingten historischen Betriebsunfall bereitet, finden sich auch bei der Anwendung der konventionellen Theorie auf die Novemberrevolution von 1918. War es eine demokratische Revolution? Wo waren da, abgesehen von den Kieler Matrosen und den nach Hause flutenden Soldaten, die Demokraten? Wie ist das Andauern der Revolution über Mitte November 1918 hinaus zu erklären, wenn die Parlamentarisierung vor Ausbruch der Revolution erfolgte, die Einsetzung von Friedrich Ebert als Reichskanzler, die Ausrufung der Republik und das StinnesLegienAbkommen mit der Einführung der 40StundenWoche, alle in der ersten und zweiten Revolutionswoche in trockenen Tüchern waren?

    Die Revolution von 1918 erscheint ab der dritten Novemberwoche in einem anderen Licht; ab da war sie eine reaktionäre Revolte gegen die parlamentarische Demokratie. Es war eine reaktionäre Bewegung vor allem derer, die den Ersten Weltkrieg herbeigesehnt, herbeigedichtet, herbeigemalt, herbeigebaut, herbeigeschrieben, herbeigeschossen und herbeigeredet hatten. Man kann fast von einem Revanchistentreffen sprechen, wenn man von den Arbeiter und Soldatenräten der ersten zwei Wochen einmal absieht.

    Die Soldaten waren Mitte November bei ihren Familien zu Hause oder auf dem Wege dorthin. Übrig blieben die Münchner Bohème, zum Beispiel der ewige Junggeselle Adolf Hitler, einige Berufsrevolutionäre wie Karl Liebknecht, der faschistoide „Rat geistiger Arbeiter", die Freikorps und die Funktionäre von USPD und KPD. Um den Idealismus als Gegenbild zum angloamerikanischen Kapitalismus über die deutsche Niederlage zu retten, wurde Rußland von einem Teil der Intellektuellen als letzte siegreiche Bastion des Antikapitalismus und Idealismus erkannt und zum Leitbild erwählt, die anderen bereiteten den Zweiten Weltkrieg vor, um die Siegwürdigkeit der Deutschen Ideologie ein zweites Mal zu testen.

    Es ist an der Zeit, zum Ausgangspunkt der Analyse des Entstehens des Nationalsozialismus eine Betrachtung elitaristischer Grundströmungen und korporatistischer Rückerinnerungen zu machen, statt den „Faschismus" als Sieg des Monopolkapitals über die Arbeiterklasse zu werten oder als Auswirkung der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus im Allgemeinen. Genauso falsch ist es, den Sieg des Nationalsozialismus als Déjà-vu des Kaiserreichs zu erkennen. Er ist ein Erfolg der elitaristischen Jugendbewegung, die sich im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ungestört ausbreiten konnte, die kulturellen Fundamente des Staats unterwühlen konnte, ohne vor 1933 jedoch die totale politische Macht zu erobern.

    Es ist ein Paradigmenwechsel bei der ökonomischen Analyse Deutschlands erforderlich. Für das Deutschland in der Epoche des Imperialismus ist selbst die Wirtschaftstheorie der Historischen Schule zielführender beim Rätsellösen, als die des Kapitalismus der freien Konkurrenz. Viele Erscheinungen des deutschen Wirtschaftslebens und der Wirtschaftsverfassung lassen sich mit einem geologischen Schichtenmodell, in dem sich mehrere ältere und neuere Gesellschaftsformationen überlagern und durchdringen, besser abbilden, als mit einer allgemeingültigen globalen Kapitalismustheorie.

    Die Schwierigkeiten beim Begreifen dieses Systems aus alten und neuen Formationen und des Triumphs eines uralten zünftig-korporatistischen Gesellschaftssystems über ein moderneres marktwirtschaftliches werden darin liegen, daß man nicht gewöhnt ist, zu akzeptieren, daß die Geschichte nicht ein Rad ist, das sich immer metaphysisch nach vorwärts auf ein Ziel hin drehen muß, zum Beispiel auf das Ziel des Sozialismus oder das Ziel individueller Freiheit. So zielführend ist Geschichte nicht. Sie beinhaltet immer auch Traditionalismus und dadurch bedingte Rückfälle.

    Zwischen zwei historischen Punkten ist selten die Gerade der wirklich zurückgelegte Weg, manchmal ist es das Labyrinth oder die Spirale. Nur Geschichtsbücher lesen sich oft so, als wäre es eine Gerade gewesen. Das Dritte Reich ist in solchen Darstellungen rückblickend als Betriebsunfall auf dem linearen Weg der Höherentwicklung der Gesellschaft betrachtet worden. Das ist nachträgliche Geschichtsbereinigung, die uns ein Zerrbild des Kaiserreiches und der Weimarer Republik vermittelt. Das Dritte Reich ist eine Konsequenz und kein Unfall. Um das zu erkennen, muß man richtig analysieren und sich vom Vulgärmaterialismus und einer kritiklosen Einordnung Deutschlands in ein allgemeingültiges globales Kapitalismusmodell befreien.

    Not, Nationalismus und ein Agitator

    „Eine genaue Schilderung dessen zu geben, was nie passiert ist, ist die eigentliche Aufgabe des Historikers", höhnte Oskar Wilde. Der populärste Erfinder und Propagandist einer Geschichte, die nie passiert ist, war Sebastian Haffner. Er zeichnete das Bild der Weimarer Republik mit dem Malkasten der frühen Bundesrepublik. Das erhöhte zwar die Verständlichkeit für die Leser, sie verstanden aber Unsinn. Das Ergebnis seiner historischen Diskurse verstellt den Blick auf die Spezifik der Zwischenkriegszeit.

    Die Ursachen für das Abrutschen in den Nationalsozialismus waren anscheinend so banal. „Die Not war der erste Grund, der Hitler die Massen zutrieb, schrieb Sebastian Haffner in seinem Rückblick „Von Bismarck zu Hitler. Den zweiten Grund sah er in einem plötzlich wiedererstarkten Nationalismus, und den dritten Grund in Hitlers Person selbst, dem größeren politischen Format, verglichen mit allen anderen, die damals auf der politischen Bühne standen.

    Wenn die Rezeptur für den Nationalsozialismus tatsächlich aus Not, Nationalismus und einem für seine abwegigen Zwecke talentierten Mann besteht, hätte es denn nicht ein bißchen weniger Tabubruch sein können, hätte es nicht ein Mussolini sein können, oder ein „aufgeklärter" Dutzenddiktator, wie er in den zwanziger und dreißiger Jahren in Europa vorherrschend und der Brauch war? Nationalismus gab es zu dieser Zeit doch auch in Frankreich, in Rußland, in Jugoslawien, in Polen, in der Tschechoslowakei und in Italien. Not gab es während der Weltwirtschaftskrise fast überall. Warum überlebte die Demokratie in Frankreich, England, den Vereinigten Staaten, Australien, Kanada, Tschechien und Skandinavien? Nur weil der Mann fürs Grobe fehlte?

    Das Deutschland der Epoche von 1890 bis 1945 gehörte nicht zu den Elendsgebieten Europas oder gar der Welt. Deutschland war um 1900 ein Land, das zunehmenden Wohlstand in allen Schichten zu verzeichnen hatte. Trotzdem zählt das Deutschland um 1900 nicht zu den Ankern für den Weltfrieden, nicht zu den Oasen der Toleranz und nicht zu den Musterländern der Demokratie. Daß Wohlstand unmittelbar und automatisch bessere Gesellschaftszustände schafft, ist eben Unsinn, entspricht einer vulgärmechanistischen Auffassung, nach der der Transfer von Talern in die Taschen der Werktätigen den Weg ins irdische Paradies ebnet. Wenn man betrachtet, wer ab 1930 NSDAP wählte, so kann man die Wohlstandskinder von 1900 nicht übersehen. Der Anteil der Arbeitslosen an Hitlers Anhängern wird dagegen überschätzt. Pointierend zugespitzt und provokativ könnte man die Hypothese aufstellen, daß die Kulturkrise der Jahrhundertwende und der aus ihr resultierende Nationalsozialismus mehr eine Wohlstands und weitaus weniger eine Elendskrankheit war.

    Reichen Not, Nationalismus und der richtige Mann am richtigen Platz schon aus? Sebastian Haffner war seine eigene Erklärung aus diesen drei Faktoren zu billig und er gab die Antwort selbst: „Schon 1918 und 1919 hatten sich viele Deutsche einen solchen Mann, wie Hitler ihn jetzt darstellte, als Wunschziel ausgemalt. Es gibt aus dieser Zeit ein Gedicht von Stefan George, in dem er die Hoffnung ausspricht, daß die Zeit

    Den einzigen, der hilft, den mann gebiert...

    Der sprengt die ketten, fegt auf trümmerstätten

    Die ordnung, geisselt die verlaufnen heim

    Ins ewige recht, wo grosses wiederum gross ist,

    Herr wiederum herr, zucht wiederum zucht. Er heftet

    Das wahre sinnbild auf das völkische banner.

    Er führt durch sturm und grausige signale

    Des frührots seiner treuen schar zum werk

    Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich."²

    George war, wie wir sehen werden, nur einer von Millionen, die nach dem Führer Ausschau hielten. Wir werden dieser von George herbeigesehnten treuen Schar auf den Fersen bleiben und den grausigen Signalen im Sturm der Weimarer Republik lauschen. Sebastian Haffner hat angedeutet, daß es da noch etwas gab außer Vulgärökonomie, Nationalismus und einem talentierten Fachmann für theatralische Aufzüge, mitreißende Reden, erfolgreiche Wahlkämpfe, respekteinflößende Uniformen und feierliche Weihen. Haffner beschrieb das tiefere, kulturelle Problem mit dem Gedichtzitat sehr subtil, um sich Ärger mit der herrschenden Meinung zu ersparen.

    Umstritten ist nach wie vor Hitlers Rolle. Blutrünstiger Lakai des Großkapitals oder terroristischer Todfeind der goldenen Internationale, der Warenhäuser und der Plutokratie? Rechte Randfigur oder ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft? Geistersegler gegen den großen Wind oder Wellenreiter des Zeitgeists? Antreiber der Moderne oder Blockierer des Rads der Geschichte? Reaktionär oder Revolutionär? Obskurantist oder Rationalist? Kam Hitler aus einer herrschenden vorgefundenen Stimmungslage heraus an die Macht, erzeugte er die Stimmung, die ihn nach oben trieb, oder war er einfach nur ein Virtuose auf dem Klavier latenter Stimmungen?

    Wir werden am Ende sehen, daß es zweifellos ein ganzes Lebensgefühl war, das von Hitler aufgefangen wurde. Joachim Fest bezog sich in seiner Hitler-Biografie auf Jacob Burkhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen, in denen die Bestimmung der Größe des Politikers sich daraus ergibt, „daß sie einen Willen vollzieht, der über das Individuelle hinausgeht und die „geheimnisvolle Koinzidenz" zwischen dem Ego des Einzelnen und dem Gesamtwillen voraussetzt.³ Nicht die dämonischen, sondern die exemplarischen, normalen Eigenschaften hätten Hitler seinen Weg ermöglicht, meinte Joachim Fest. Die Theorien, die Hitler im prinzipiellen Gegensatz zur Epoche begriffen, seien fragwürdig und ständen unter Ideologieverdacht. Hitler war weniger der große Widerspruch der Zeit als ihr Spiegelbild. In die Person Hitlers ging nichts ein, was nicht schon vorhanden war.⁴

    Kulturelles Magma und politische Kruste

    Die politische, die äußere Geschichte ist die kurzatmige Geschichte des taktischen Denkens und Handelns, der Finten, Charaktere, Motivationen, Aufstände, Skandale und Tricks, die Geschichte aus der Sicht der Tagesschau. Mommsen, Haffner und tausende wissenschaftliche Zuträger haben jeden Brief, jede Reichstagsrede und jedes Parteitagsprotokoll aufgespürt und analysiert. Jeder Gedanke von Brüning, von Hindenburg, von Schleicher und von Papen ist erschlossen, aber der Nutzen dieser Kenntnisse ist fast gleich null.

    Die kulturell bedingte innere Geschichte ist die Geschichte der langfristigen Überzeugungen, die Geschichte der Traditionen, die Geschichte der hartnäckigen Vorurteile, die Geschichte der Grundtugenden und Untugenden. Quellen sind zeitgenössische Lehrbücher, Bildbände, Kochbücher, Plastiken, Gemälde, Filme, Feuilletons, Schlager, Romane und Gedichte von namenlosen und prominenten Autoren. Die kulturelle Geschichte ist die Geschichte des Zeitgeists, des Mainstream.

    Die politische Geschichte ist nicht sinnvoll denkbar und nicht überzeugend erzählbar ohne die kulturelle Geschichte. Die Kulturgeschichte eilt der politischen Geschichte voraus, kulturelle Rückschritte, die bereits in der Spätkaiserzeit gemacht wurden, wurden nach 10 Jahren Widerstand („Verteidigung der Republik") in politische Rückschritte umgemünzt.

    Innere und äußere Geschichte können in ein geologisches Bild gefasst werden. Die kulturelle Unruhe agiert als flüssige Phase der Erde, als Magma im Untergrund. Die politische Geschichte spielt sich institutionalisiert an der erkalteten Oberfläche der Welt ab. Der Expressionist malt im kulturellen Untergrund das Mögliche, während sich der Reichskanzler an einer Verfassung und deren Unmöglichkeiten abarbeitet. Unten regiert ein Farben und Formenchaos, oben wird nach Geschäftsordnungen und Hauptsatzungen agiert. Nun ist es in der Geologie so wie in der Gesellschaft: Unter hohem Druck will das heiße Innere an die Oberfläche. Mit Ausbrüchen von gewaltigem Ausmaß bahnt es sich vulkanischrevolutionär seinen Weg, um an der Oberfläche Ironie der Geschichte – zu erkalten und eine bizarre Form anzunehmen, deren scharfe Kanten der Bestimmtheit der Wind der Zeit abschleift.

    Ein zweites geologisches Phänomen ergibt ein weiteres Bild der politischen Landschaft: In der Reihenfolge ihrer Sedimentierung haben sich die Formationen, welche die menschliche Gesellschaft durchlaufen hat, abgelagert und verfestigt. Unten lagern die Schichten der Urzeit, darüber die Schichten Roms und des Mittelalters, darüber feudale und bürgerliche Schichten. Die Schichten schwimmen auf der heißen Phase, durch gewaltige Kräfte zerbrechen sie und werden schräg gestellt oder gefaltet. An den Bruchkanten streichen ältere Schichten aus und werden oberflächlich sichtbar, genauso wie gefaltete Schichten durch Erosion freigelegt werden. So wie nicht immer die jüngste geologische Schicht oberflächlich ansteht, bleibt auch die jüngste gesellschaftliche Schicht nicht immer als die bestimmbare an der politischen Oberfläche.

    Auf jeden Fall ist die Kultur das Magma und das politische Tagesgeschäft ist die erkaltete institutionalisierte Kruste.

    Wir werden am Beispiel der Weimarer Republik sehen, dass sowohl ein kulturistischer Ansatz, der die Kultur als entscheidendes Moment der gesellschaftlichen und politischen Veränderung betrachtet, als auch ein Ansatz, der die reine Wirtschaftsverfassung als konstitutiv für die politische Entwicklung betrachtet, geradewegs in den Nationalsozialismus führt. Wie die Dualität von Welle und Körper bei der Erklärung des Lichts funktioniert hier eine Dualität von Kultur und Wirtschaft. Man kann machen, was man will, man kann es erklären, wie man kann; es kommt unter den gegebenen Weimarer Umständen immer zwangsläufig Adolf Hitler heraus.

    Die Geschichte der Weimarer Republik muß neu erzählt werden, um die Logik der Verschiebungen der politischen Platten der Weimarer Republik erkennbar zu machen: statt einer Geschichte der politischen Kruste muß auch die Geschichte des kulturellen und wirtschaftlichen Magmas erzählt werden, das diese Platten trieb. Und von dieser heißen kulturellen Phase muß ohne nachträgliche „Berichtigungen erzählt werden. Wenn tatsächlich „fortschrittliche kulturelle Werte geführt hätten, so wäre der „rückschrittliche" Adolf Hitler eben nicht an die Macht gekommen. Man möge diese logische Direktheit verzeihen; aber entweder die kulturellen Werte, die geführt haben, waren wie Adolf Hitler rückschrittlich, oder diese Werte und Adolf Hitler waren gemeinsam fortschrittlich. Daß die kulturellen Werte einer anderen Entwicklung Vorschub geleistet hätten als dem Machtantritt Adolf Hitlers, ist einfach unlogisch. Um diese unlogische Lebenslüge aufrechtzuerhalten, ist die kombinierte Betriebsunfall und Verschwörungstheorie entwickelt worden, die es ermöglicht, eine vermeintlich fortschrittliche Kultur mit einem rückschrittlichen Hitler zu versöhnen, kompatibel zu machen.

    Das Bildungsbürgertum ist das entscheidende Element bei jeder gesellschaftlichen Umwälzung und das weiß auch jeder Despot, behauptete Will Ferguson, und er hat damit recht. Die Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts war scheinbar eine Zeit der Hochkultur. Namen wie Hermann Hesse, Fidus, Max Beckmann, Walter Gropius, Harry Graf Kessler, Emil Nolde oder Henry van de Velde sind mit dem Gedanken der Lebensreform, des Neuen Weimar und des Bauhauses untrennbar verbunden. Aber auch das Schweben der Menschen in geistige Sphären, der Drang in kulturelle Höhen verhinderte nicht den Fall in gesellschaftliches Tiefland. Ein guter Teil der Reformbeflissenen und mehr noch der Reformmitläufer der Jahre zwischen 1890 und 1930 strandete in der NSDAP bzw. KPD oder wählte beim Finale der Weimarer Republik dreimal hintereinander NSDAP und KPD.

    Es gibt in der Geschichtswissenschaft die schädliche und schändliche Tendenz, die Geschichte rückwärts zu schreiben. Von der bedingungslosen Kapitulation über die Gaskammern von Auschwitz, die Wannseekonferenz, die Ausstellung „Entartete Kunst zur Machtergreifung als Betriebsunfall der Geschichte. Alle jene, die bei der Wannseekonferenz nicht dabei waren, die von Auschwitz nichts wussten und die einen Platz unter den Entarteten verpasst bekommen hatten, stellten sich mit Hilfe dieser rückwärtigen Perspektive auf den Nationalsozialismus den Persilschein aus. Thomas S. Kuhn schreibt über das Problem der rückwärtigen Geschichtsbetrachtung: „Die Wissenschaftler sind natürlich nicht die einzige Gruppe, die dazu neigt, die Vergangenheit ihrer Disziplin sich gradlinig auf den gegenwärtigen Stand entwickeln zu sehen. Die Versuchung die Geschichte rückwärts zu schreiben ist allgegenwärtig und dauerhaft.

    Bei der chronologischen Verfolgung der geschichtlichen Tatsachen, beim Vorwärtsschreiben der Geschichte fällt auf, dass es in Wirklichkeit einen gesellschaftlichen Minimalkonsens aller deutschen gesellschaftlichen Gruppen gegeben hat; gemeinsame convince ordains überzogen alle Parteien und Gruppierungen, die Wissenschaft, die Wirtschaft und den Weinberg der deutschen Kultur wie Mehltau. Thomas S. Kuhn hat solche ideologischen Plattformen als Paradigmata bezeichnet: Ihre Leistung sei neu genug, um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, andererseits offen genug, um den Anhängern die Lösung von ungelösten Problemen zu ermöglichen.

    Es heißt so schön: „Wehret den Anfängen. Das ist ein wertloses und folgenloses Lippenbekenntnis, wenn man die Geschichte rückwärts betrachtet. Den Anfängen kann man nur wehren, wenn man die Geschichte des Nationalsozialismus von „vorn nach „hinten" erzählt, von 1890 nach 1933 und nicht rückwärts von 1945 nach 1933. Die Zahl der Mitwirkenden ist chronologisch vorwärts erzählt nämlich mehr als zehnmal so groß, als chronologisch rückwärts betrachtet. Viele Mitläufer und Wegbereiter des Führers zerstritten sich zwischen 1920 bis 1938 mit dem Hitler und der Bewegung. Andere Weggefährten und Brückenbauer des langen Marsches in den Nationalsozialismus hatten 1933 ihre Erdenbahn bereits abgeschlossen und brutzelten in der völkischelitaristischen Hölle. Sie tauchen alle sang und klanglos ab, wenn die Geschichte der NSDAP erst 1920 beginnt und die Genossen von Boden und Blut erst 1933 ihre wirklich große Fahrt aufnehmen. Rückwärts gesehen waren die HitlerGegner sehr zahlreich, historisch vorwärts hatte er zahlreiche Helfer, nämlich alle jene, die seine Grundüberzeugungen vom Neuen Menschen und vom Korporatismus teilten und diese als Leitbilder in die Öffentlichkeit transportierten.

    Wir leben jetzt 20 Jahre nach der großen osteuropäischen Revolution. Auch jetzt gibt es Rückerinnerung an das alte Deutschland. In der Berliner Republik haben sich Parallelen zu Weimar, wie zu jeder nachrevolutionären Situation entwickelt, so daß sich Vergleiche aufdrängen. Wie in der Weimarer Republik sind die demokratischen Parteien untereinander zerstritten. Anstelle des Kokettierens der Weimarer Konservativen mit der NSDAP sucht die SPD die Zusammenarbeit mit der Linkspartei. Die Berufsverbände haben nach wie vor große Macht, die Wirtschaft wird in Kammern gezwungen, eine selbstgerechte Reformbewegung frißt die Wahrheit mit Löffeln, und seit Möllemann, Müntefering, Lafontaine und Schröder lebten Antisemitismus, Antikapitalismus, Antiamerikanismus und der Deutsche Weg auf. Kulturell stehen dunkle Wolken am Horizont, die wirtschaftlichen Fundamente zerfallen langsam, das politische System ist im Umbruch und wird zunehmend in Frage gestellt. Aber es formiert sich im Gegensatz zum Spätkaiserreich und zur Weimarer Republik eine massive Verteidigungsfront der Bürgerrechte und der Marktwirtschaft.

    1 Hans Mommsen: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar, Propyläen 2001, S. 642f

    2 Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler, Knaur, S. 217 ff

    3 Joachim Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 31

    4 s.o. S. 34 ff.

    5 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, suhrkamp, ffm, 1967, S. 149

    Die Geburt des Elitarismus

    Der Kampf des Einzigen mit der Masse

    Der Übermensch wurde nicht plötzlich retortenhaft aus der Phantasie von Friedrich Nietzsche gezeugt, wenngleich Nietzsche mit seinem kraftvollen Ausdruck dem Übermenschen ein einzigartiges Gepräge gab. Dem Übermenschen ging der „Einzige" voraus.

    Ein erstes Aufflackern extremen Selbstbewusstseins von Ausnahmetalenten und solchen, die sich dafür hielten, hatte es um 1770 bei den Künstlern des Sturm und Drang gegeben. Sie waren von Rousseaus Naturrechtsromanen hingerissen und konstruierten ihr persönliches Naturrecht als künstlerische Aneignung absolutistischer Lebensweise der Fürsten als hedo-nistische Heroisierung des Ichs. In „Die Zwillinge" behandelte beispielsweise Friedrich Maximilian Klinger den Konflikt zwischen Naturordnung und Rechtsordnung, den Gegensatz des auf sein Naturrecht pochenden Menschen zu seiner Umwelt.

    Der jüngere Ausnahmemensch ermordet seinen älteren Bruder, welchem nach der Rechtsordnung der Vorrang gebührte. „Laß uns die Menschen anfallen, wenn das Eltern tun. Laß sie sie uns zerreißen! Leg deinen Degen weg, und schärfe deine Zähne! Ha, ich werde wahnsinnig mit dir über das Geschick! Hier sind bereits alle Elemente des späteren deutschen Elitarismus vorgezeichnet. Goethes Prometheus, der 1774 begonnen wurde, hatte ähnliche Anwandlungen des Sichmessens an der göttlichen Ordnung. „Mußt mir meine Erde doch lassen stehn, und meine Hütte, die du nicht gebaut, und meinen Herd, um dessen Glut Du mich beneidest. Allerdings dauerte der Sturm und Drang nur ein Jahrzehnt und die hergebrachte Rechtsordnung konnte nach 1780 faktisch und ideologisch noch einmal gefestigt werden. Goethe schrieb 1792 rückblickend in „Campagne in Frankreich":

    „Was mir aber noch mehr auffiel, war, dass ein gewisser Freiheitssinn, ein Streben nach Demokratie sich in den höheren Ständen verbreitet hatte; man schien nicht zu fühlen, was alles zu verlieren sei, um irgendeiner Art zweideutigen Gewinnes zu erlangen."

    Der elitaristische Impuls war nach der Französischen Revolution erst einmal eingeschlafen, mit ihm jedoch, typisch für das alte Deutschland, auch der demokratische. Einige Jahrzehnte des Biedermeier vergingen, ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts bildeten sich neue revolutionäre Herde.

    Friedrich Engels bezeichnete die Zeit um 1840 als den „Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", und zu dieser Zeit, als Marx und Engels auf der einen Seite, Stirner und Bauer auf der anderen um das Erbe der Hegelschen Philosophie rauften, entstand die Spaltung der Junghegelianer in Egalitaristen und Elitaristen. Beide dieser Richtungen waren auf ihre Art dem Zeitgeist entsprechend antiautoritär.

    Die Elitaristen thematisierten das „Selbstbewußtsein und den „Einzigen. Marx und Engels setzten dagegen ihre Hoffnungen in die „revolutionäre Masse", ohne sich über die innere Struktur dieser Masse nähere Gedanken zu machen. Bereits 1845 stand für Marx fest:

    „… wenn diese materiellen Elemente einer totalen Umwälzung, nämlich einerseits die vorhandenen Produktivkräfte, andrerseits die Bildung einer revolutionären Masse, die nicht nur gegen einzelne Bedingungen der bisherigen Gesellschaft, sondern gegen die bisherige „Lebensproduktion selbst, die „Gesamttätigkeit, worauf sie basierte, revolutionierte, - nicht vorhanden sind, so ist es ganz gleichgültig für die praktische Entwicklung, ob diese Ideen dieser Umwälzung schon hundertmal ausgesprochen sind - wie die Geschichte des Kommunismus dies beweist."¹

    Der Glaube in die Naturgesetzlichkeit der Triebkräfte der ökonomischen Basis verbot den Gedanken an Führerschaft, denn der Gedanke der Führung hätte den konkurrierenden Gedanken der geschichtlichen Gesetzlichkeit der Revolution konterkariert. Wozu benötigte es Führer, wenn die Massen durch die Entwicklung der Produktivkräfte zu ihrer welthistorischen Mission bestimmt wurden?

    In der dritten These über Feuerbach hatte Marx dieses antihierarchische Motiv in der Auseinandersetzung mit dem Materialismus Feuerbachs bereits entwickelt:

    „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie (die materialistische Anschauung Feuerbachs) muß daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über die andere erhaben ist - sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden."

    Die Feuerbachthesen wurden von Friedrich Engels als Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Sozialismus gepriesen, und diese Urkunde enthielt bereits die Festlegung auf die Masse und die Polemik gegen eine wie immer auch geartete Erziehungsdiktatur. Wenn die revolutionäre Masse quasi naturgesetzlich erzeugt würde, so wäre sie führerlos stark genug, die Verhältnisse zu revolutionieren.

    Max Stirner dagegen sang das Lied des „Einzigen und schrieb die Worte „ich, „mir, „meinestheils und „mich" groß.

    „Und nun nehme Ich Mir die Welt als das, was sie Mir ist, als das Meinige, als Mein Eigenthum."

    Marx bemängelte in seiner Kritik Stirners, daß die Welt in Ungebildete (Neger, Kinder, Katholiken, Realisten...) und Gebildete (Mongolen, Jünglinge, Protestanten, Idealisten...) geteilt würde, wobei die Gebildeten über die Ungebildeten zu herrschen hätten.

    Zu vermerken ist an dieser Stelle, dass Stirners Charakteristik der Ungebildeten und der Gebildeten die späteren Überzeugungen der Jugendbewegung weitgehend vorwegnahm. Die Unterscheidung in Ungebildete, Neger, Kinder, Katholiken, Realisten einerseits und Gebildete, Mongolen, Jünglinge, Protestanten, Idealisten andererseits wurde von der Jugendbewegung übernommen, wobei das Kind ab 1900 aus dem Kanon des Negativen herausgenommen wurde und der Jude als Platzhalter des Kapitalismus herein. Der Jugendwahn und der Idealismus als Leitbild der Führungsschicht reichen in ihrer Entstehung bis tief ins 19. Jahrhundert zurück.

    Zur Religion vermerkte Stirner:

    „Ich demüthige Mich vor keiner Macht mehr und erkenne, daß alle Mächte nur Meine Macht sind, die Ich sogleich zu unterwerfen habe, wenn sie eine Macht gegen oder über Mich zu werden drohen; jede derselben darf nur eins Meiner Mittel sein, Mich durchzusetzen."

    Das ist blanker Hedonismus. Nicht ohne Grund, wegen wirklicher Eignung für antietatistische Experimente buk Michail Bakunin aus Stirner und Proudhon den Anarchismus. Unter dem Einfluß von Bakunin schrieb Richard Wagner 1849 in den Dresdner Volksblättern:

    „Der eigne Wille sei der Herr des Menschen, die eigne Lust sein einzig Gesetz, die eigene Kraft sein ganzes Eigenthum, denn das Heilige ist allein der freie Mensch, und nichts höheres ist, denn Er."

    Das war anarchistische Nachbeterei, denn Wagner wollte zumindestens in der Revolution „jegliche Herrschaft des Einen über den Anderen" zerstört wissen. Das Interessante ist: Der anarchistische Einzige wandelte sich im Laufe der Jahre zum Übermenschen, der als starker Führer begriffen, seinen starken Willen anderen Individuen zum Kompass machte.

    Am Ausgang der klassischen deutschen Philosophie wurde der Neue Mensch geboren, jenes gefährliche Gespenst, das 40 Jahre später ein ausgewachsener Flegel geworden war und 100 Jahre später ein monströser Godzilla, der durch die Welt trampelte. 1843 schrieb Feuerbach an Ruge:

    „Wir kommen in Deutschland sobald auf keinen grünen Zweig. Es ist alles in Grund und Boden hinein verdorben, das eine auf diese, das andere auf jene Weise. Neue Menschen brauchen wir. Aber sie kommen diesmal nicht wie bei der Völkerwanderung aus den Sümpfen und Wäldern, aus unseren Lenden müssen wir sie erzeugen. Und dem neuen Geschlecht muß die neue Welt zugeführt werden in Gedanken und Gedicht. Alles ist von Grund auf zu erschöpfen."

    Da war er bereits, der neue Mensch.

    Bei der akademischen Rauferei um den Nachlass Hegels, bei dem die revolutionäre Methode gegen das konservative System Hegels und das System gegen die Methode gewendet wurde, hatte sich der Unterschied zwischen dem marxistischen Egalitarismus und dem Stirnerschen Elitarismus angedeutet und ausgeprägt. Bis zur Krise der Jahrhundertwende marschierte die egalitär-sozialistische und die elitaristisch-ständisch-kleinbürgerliche Theorie getrennt. Um die Jahrhundertwende wurde die Schwäche des Marxismus deutlich: Marx hatte die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte mit dem festen Glauben an einen gesellschaftlichen Mechanismus (Märchen vom „Rad der Geschichte") in den theoretischen Hintergrund abgedrängt.

    Und er hatte die Reife der Marktkräfte und der sogenannten „Produktivkräfte" überschätzt. Ein gestandener Sensualist hätte ahnen können, daß die wirklichen Menschen auf die vorgefundenen und sich verändernden Produktivkräfte und Verkehrsverhältnisse mannigfaltiger reagieren, als von den sozialistischen Patriarchen vermutet. Ein gestandener Historiker hätte dagegen befürchtet, daß die neuen Verkehrsformen nicht alle alten verdrängen und die althergebrachten sich mit großer Zähigkeit an die neuen Produktionsmittel anheften könnten. Mit den unzutreffenden Prophezeiungen von Marx wuchs mit jedem Jahr die Schwäche des Marxismus und mit dieser Schwäche wuchs reziprok die Stärke elitaristischer Gesellschaftskonzepte. Um die Jahrhundertwende verbanden sich die bis dahin getrennt marschierenden Säulen des kleinbürgerlich-ständischen Elitarismus und der Arbeiterbewegung zum Leninismus. Stirner hatte über Marx gesiegt.

    Mehr Konterrevolution als Revolution

    Einerseits hatte die 1848er-Revolution in Deutschland einen bürgerlich-demokratischen Impuls. Einige Revolutionäre der ersten Stunde forderten einen Nationalstaat ohne Binnenzölle, demokratische Rechte und die Volksbewaffnung, teilweise auch die Beseitigung feudaler Lasten und die Republik. Diese liberalen Forderungen kollidierten relativ schnell mit restaurativen Stimmungen.

    Das Handwerk war durch die Auflösung lokaler und regionaler Märkte, eine Art von Globalisierung, unter den Konkurrenzdruck der nichtzünftigen Industrie und der nichtzünftigen Händler geraten und der Vertrieb funktionierte im beginnenden Eisenbahnzeitalter überregionaler als mit der altdeutschen Eselskarawane. Gleichzeitig stieg die Produktivität der Landwirtschaft. Menschen wurden für die neuen Industrien freigesetzt, aber diese wirklichen Proletarier gab es im Überfluß, und folglich waren ihre Lebensbedingungen schlecht. Die politisch kritische Situation wurde durch zwei Missernten 1846 und 1847 verstärkt. Es entstand eine revolutionäre Situation.

    Kaum hatte die Revolution begonnen, verwüsteten an einigen Orten schon wieder Handwerker und Krämer den Juden die Häuser.

    „Lieber Eduard! (...) hier geht es wieder drüber und drunter, schlimmer als je; (...) den Juden wurden die Häuser zerschlagen und gänzlich ausgeräumt. (...) Ein unaufhörliches Einschlagen mit Äxten die ganze Nacht. Wahrscheinlich kommt Militär hierher, denn ohne dies gibt es Mord."

    So beschrieb der Rotenburger Pfarrer Wilhelm Vilmar am 9. Juni 1848 in einem Brief an seinen Sohn Eduard, der in Hersfeld lebte, die Zustände während der Revolution 1848 im kurhessischen Städtchen Rotenburg an der Fulda.²

    Während sich das zahlenmäßig schwache liberale Bürgertum um die Einreißung der Marktbeschränkungen und Förderung des Verkehrs bemühte, wollten die zahlreichen Handwerker, Studenten, Fuhrleute, Krämer und Gastwirte genau das Gegenteil und taten alles für die Wiederaufrichtung traditioneller Wirtschaftsformen und gegen den Bau von Eisenbahnen. Tatsächlich tagten gleichzeitig mit der Frankfurter Nationalversammlung unsägliche Handwerkerparlamente in Frankfurt und Berlin,

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