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Agoniten
Agoniten
Agoniten
Ebook462 pages6 hours

Agoniten

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About this ebook

Aufgewachsen im Regenwald muss der junge Elyian gegen seinen Willen die Priesterschule in Pachacamo besuchen. Nach seiner Weihe zum Priester der Baukunst zieht er mit seinem Großvater, einem angesehenen Baumeister, nach Campopamac, um eine Arena für Wettkämpfe zu errichten. Immer wieder offenbaren sich ihm geheimnisvolle Visionen, die er als Quetzal, einem Paradiesvogel aus Guatemala, erlebt.
Wie durch ein Wunder überlebt er eine Katastrophe und wird fortan als Heiliger angesehen. Nach dem Tod seines Großvaters verbringt er viele Monde an der Stätte seines Wirkens, um das gemeinsam begonnene Werk zu vollenden. Eines Tages muss er gegen einen geheimnisvollen Fremden zu einem Wettkampf der besonderen Art antreten und landet auf dem berüchtigten Opferstuhl der Agoniten.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateFeb 1, 2018
ISBN9783958307742
Agoniten

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    Agoniten - Angela Planert

    Agoniten

    Fünfter selenorischer Roman

    von

    Angela Planert

    Schicksal des heiligen Priesters

    Impressum

    Angela Planert

    Agoniten

    Fünfter selenorischer Roman

    © Angela Planert 2014

    http://www.Angela-Planert.de

    Kontakt unter: Angela.Planert@googlemail.com

    E-Book-Version 2.0 Stand: Dezember 2014

    Umfang: 655.905 Zeichen

    Lektorat: Birgit Maria Hoepfner

    www.textewerkstatt.de

    Illustration Jujoweh

    www.facebook.com/jujoweh?ref=bookmarks

    Covergestaltung: © Florian Witkowski

    http://www.Ihr-MedienVerunstalter.de

    E-Book-ISBN: 978-3-95830-774-2

    Verlag GD Publishing Ltd. & Co KG, Berlin

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere sind inbegriffen: das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video (auch einzelner Text- und Bildteile) sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

    Inhaltsverzeichnis

    BEGEGNUNG

    INHIBIT

    AUFBRUCH

    VERÄNDERUNG

    SCHULE

    SCHWERE LAST

    AUSZEICHNUNG

    HOHE RAT

    ERKENNTNIS

    HAUS DES MONDES

    FATALE VISION

    ZURÜCK

    ERDBODEN

    NEUE WEGE

    NACHT DER MONDE

    DAS TRIBUNAL

    DER STACHEL

    SEEREISE

    CAMOPAMAC

    DER FREMDE

    DAS OPFER

    ERFÜLLUNG

    ROTE MONDSTEINE

    ENDLICH

    KRAFT DES MONDES

    DISZIPLIN

    UNGEWISSHEIT

    HOFFNUNG

    ENTSCHEIDUNG

    KAYROS

    KAIROYAN

    BEGEGNUNG

    Elyian wagte nicht, sich zu bewegen. Die grüne Mamba züngelte mit ihrer Zunge in seine Richtung. Sie hatte ihn bemerkt. Bewegungslos verharrte er in seiner unbequemen Position, seine Hände stemmten sich mit gestreckten Armen auf den dicken Ast, während seine Beine in schwindelnder Höhe in der Luft hingen. Sein leicht nach vorn gebeugter Oberkörper verschaffte ihm den Vorteil, das Gleichgewicht etwas zu verlagern. Doch seine Kraft ließ schon merklich nach. In diesem Atemzug schien ihm das Zirpen der Grillen wie ein Hohngelächter. Lange konnte er in dieser Stellung nicht mehr ausharren. Augenblicklich hielt Elyian den Atem an, als das Reptil sich über seine linke Hand schlängelte. Ihr Kopf, damit ihre gefährlichen Giftzähne, entfernte sich weiter über kleinere Äste auf einen benachbarten Baum. Noch einen Moment wartete er, bis seine Arme vor Anstrengung zu zerreißen drohten. Tief einatmend schwang er das rechte Bein über den Ast, rutschte ein Stück zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm. Das war knapp!

    Mit einem Gefühl des Stolzes strich er wohl zum hundertsten Mal über seine neue Hose. Herrlich geschmeidig fühlte sie sich an. Erst kürzlich hatte er eine Würgeschlange erlegt und ihr die Haut abgezogen. Seine Mutter hatte ihm daraus eine Hose genäht und sie am Abend zuvor fertiggestellt. Elyian schloss die Augen. Auch am Vortag hatte er zum wiederholten Male einen Versuch gestartet, sie über seinen Vater auszuhorchen. Elyian wusste weder seinen Namen noch wie er ausgesehen hatte. Warum sie wohl nie über ihn reden wollte? Womöglich war er ein schlechter Mann und Mutter sehnte sich danach, ihn zu vergessen, was er durch seine Fragen verhinderte. Vielleicht war er gestorben und Mutter schmerzte sein Verlust. Welche Möglichkeiten ihm in den Sinn kamen, er konnte nur vermuten, weshalb seine Mutter dieses Thema mied.

    Ein süßlicher Duft stieg Elyian in die Nase. Fast ein wenig betörend roch es. Er öffnete die Augen und schaute sich um. Drei Bäume weiter entdeckte er die große, weiße Blüte einer Bromelie. Zwei Kolibris schienen darüber zu schweben. Elyian erkannte nicht die einzelnen flinken Flügelschläge der kleinen Vögel, die es ihnen ermöglichten, auf der Stelle zu fliegen. Während er sie beobachtete, fiel ihm die Erzählung des alten Mannes aus dem Dorf ein.

    »Dieser Krieger war so gewandt, dass seine Gegner seinen Bewegungen kaum folgen konnten. Wie ein Kolibri fliegt, so behände reagierte er und erledigte einen nach dem anderen. Sein Sieg im Agon brachte seiner Familie hohes Ansehen.«

    Zu gern hätte Elyian die Kriegsschule besucht, um auch ein angesehener Krieger zu werden, doch dafür müsste er seinem Zuhause den Rücken kehren. Als der Wind das Blätterdach hin und her wiegte, blendeten ihn vereinzelte Sonnenstrahlen; das holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Hier oben in den Baumkronen vergaß er oft die Zeit. Jetzt sollte er sich beeilen, nach Hause zu kommen. Mutter mochte es nicht, wenn sie auf ihn wartete. Zügig kletterte er den Baum hinunter und rannte den schmalen Pfad zurück. Gelegentlich sprang er über dicke Äste, die über seinem Weg hingen. Dabei fühlte er sich so lebendig, so glücklich. Auf der Lichtung blieb er kurz stehen. Der Anblick des heimischen Strandes, der am Fuß des dicht bewachsenen Berges vor ihm lag, überwältigte ihn wie jedes Mal. Nach seinem Empfinden zählte er zu den schönsten Orten zwischen dem weißem und rotem Mond. Niemals wollte er diesen Ort vergessen. Dieser Gedanke stimmte ihn nachdenklich. Solange er sich erinnern konnte, lebte er hier mit seiner Mutter. Es gab keinen Grund fortzugehen, zumal seine Mutter ihn ohnehin nicht zur Kriegsschule schicken würde.

    Plötzlich hielt er inne. Fußspuren führten durch den weißen Sand zur vertrauten Bambushütte, die nah am Ufer auf Pfählen gebaut war. Eindeutig handelte es sich um große, mit Ledersohlen bedeckte Füße. Gehörten die Spuren einem Krieger oder gar seinem unbekannten Vater? Elyian spürte sein Herz schneller schlagen. Langsam, mit einem heftigen Kribbeln im Bauch, ging er auf die Hütte zu und stieg die kleine Leiter nach oben. Er sah seine Mutter, wie sie sich mit einem Mann unterhielt. Sie bemerkte Elyian nicht.

    »Seit jeher habt Ihr Euch den heimischen Bräuchen entsagt ...«

    »Aber, Esra!« Energisch fuhr der Fremde ihr ins Wort. Er stand mit dem Rücken zum Eingang. Elyian sah nur sein braunes Gewand und seine struppigen, grauen Haare.

    »Ich würde heute nicht vor Euch stehen, wenn Ihr Euch allem gebeugt hättet.«

    Elyian war inzwischen hinter den Mann getreten, erst jetzt sah Esra auf. Sie riss ihre Augen auf, als habe sie mit seinem Erscheinen nicht gerechnet.

    »Mutter, wer ist das?« Dieser schlanke Fremde wirkte seiner Mutter gegenüber sehr vertraut, dabei hatte er sich seinen Vater wesentlich jünger vorgestellt. Der Unbekannte drehte sich um und musterte ihn von oben bis unten. Er war einen Kopf größer als Elyian.

    »Geh fischen, Elyian.« Ihre Stimme zitterte auffallend.

    »Aber, Mutter, ich …«

    »Geh, Elyian!«, zischte Esra energisch. Elyian gehorchte. Der ungewöhnlich barsche Ton seiner sonst so liebevollen Mutter verunsicherte ihn. Wer konnte dieser Fremde sein, wenn nicht sein Vater? Für Elyian war sein Vater wie ein geheimnisvoller Mythos. Das Erscheinen dieses Fremden und das Verhalten seiner Mutter warfen nicht nur viele Fragen auf, sondern machte ihm auch Angst. Deshalb versteckte sich Elyian im Buschwerk dicht bei der Hütte, um zu lauschen.

    »Warum schickst du ihn fort?«, hörte Elyian den Mann nach einem Moment der Stille.

    »Ihr befindet Euch im Irrtum. Eure Vermutung ist trügerisch.« Die letzten Worte flüsterte sie nur noch.

    »Wegen ihm bis du fortgegangen?« Seine Stimme klang, als habe er einen Verdacht. »Hast du etwa geglaubt, ich würde dich verstoßen?«

    »Vater, bitte!« Seine Mutter bezeichnete den Fremden als Vater? Dieser Unbekannte war also sein Großvater und nicht sein Vater, wie er anfangs vermutet hatte. Elyian schloss seinen Mund und schluckte.

    »Esra! Du musst nichts erklären. Es ist nicht zu übersehen, wer der Vater des Jungen ist.«

    Elyian hielt vor Spannung den Atem an. Endlich würde sich das Geheimnis um seinen Vater lüften. Es blieb still in der Hütte, bis seine Mutter erneut sprach: »Er ist nicht Euer Enkelsohn. Er ist nicht mal mein Fleisch und Blut, aber das darf er niemals erfahren, Vater. Niemals!«

    Elyian schnappte nach Luft. Was behauptete seine Mutter da? Sie verleugnete ihn!

    Esras Stimme hörte sich an, als sei sie sehr bewegt. »Er sollte, so wie ich damals, nach den heimischen Bräuchen mit seiner toten Mutter lebendig begraben werden. Um sein Leben zu retten, floh ich mit ihm. Das halbe Dorf war mir auf den Fersen. Schreiend rannten sie mir nach, man dürfte nur entwöhnte Kinder ihrer Mutter entreißen.« Esra senkte auffallend ihre Stimme. »Ich liebe Elyian wie meinen eigenen Sohn. Er ist so ... anders …«

    »Esra!« Ihr Vater klang erleichtert.

    Was genau sich in der Hütte abspielte, vermochte Elyian nicht zu bestimmen.

    »Zum weißen Mond betend, habe ich immer gehofft, dich zu finden.« Der Vater seiner Mutter fuhr nach einer kleinen Pause fort: »Warum bist du nicht zu mir gekommen? Beim weißen Mond, was habe ich mir all die Zeit für Sorgen um dich gemacht. Hast du eine Vorstellung …«

    »Bitte vergebt mir, Vater! Euch und Eurem Ansehen zuliebe musste ich mit Elyian fernbleiben. So versteht doch.«

    »Oh, Esra! In was für einem Land leben wir nur?« Er seufzte laut. »Aber jetzt wirst du mit mir zurückkehren, nicht wahr?«

    »Die große Stadt Pachacamo ist gewiss nichts für einen Jungen wie Elyian.«

    »Du bist nicht vor mir geflüchtet.« Sein Großvater flüsterte, Elyian konnte ihn in seinem Versteck dennoch verstehen. »Pachacamo hat dich vertrieben.«

    »Beim weißen Mond verzeiht mir, Vater.« Ein Hocker scharrte über den Bambusboden der Hütte. »Damals bin ich nur wegen deiner Mutter geblieben, weil sie ihre Heimat nicht verlassen wollte. Nach ihrem Tod versuchte ich, uns Ansehen und Ruhm zu verschaffen.«

    »Das ist Euch wohl geglückt«, hörte er seine Mutter mit ehrlicher Anerkennung sagen.

    Elyians Gedanken schweiften ab und überschatteten das weitere Gespräch. Diese niederschmetternden Erkenntnisse musste er verdauen. Er war ein fremdes, ein angenommenes Kind, das seiner leiblichen Mutter in den Tod hatte folgen sollen. Neugeborene, deren Mütter starben, waren dazu verurteilt zu verhungern, weshalb man die Säuglinge lebendig mit der toten Mutter begrub. Esra hatte es trotz allem geschafft, ihn davor zu bewahren, ihn sogar ohne Muttermilch aufzuziehen. Aber wie war ihr das gelungen?

    Jetzt war ihm natürlich auch klar, warum sie nie über seinen Vater sprach. Sie kannte ihn gar nicht, wusste wahrscheinlich nicht einmal, wie er ausgesehen und welchen Stand er im Dorf eingenommen hatte. Er könnte ein Krieger gewesen sein oder ein Jäger, der das Dorf mit Fleisch versorgte. Doch das würde er wohl nie erfahren.

    Tief in seinen Überlegungen versunken, ging Elyian zum Strand hinunter. ›Ich liebe Elyian, wie meinen eigenen Sohn. Er ist so anders …‹, hatte seine Mutter gesagt. Was meinte sie nur damit? In dem Dorf, das fünf Tagesreisen von hier entfernt lag, sahen die Bewohner weder anders aus als er noch war ihm eine Eigenart aufgefallen. Vermutlich lebten sie aus diesem Grunde so abgeschieden. Selbst vor ihrem Vater hatte sich seine Mutter zurückgezogen, und das nur seinetwegen.

    Ja, sie musste ihn wirklich sehr gern haben. Aber warum durfte er nicht wissen, dass er ein fremdes und nicht ihr eigenes Kind war? Diese Tatsache änderte nichts an ihrer Beziehung, an seiner Achtung und Liebe zu seiner Mutter.

    Elyian rannte ins Wasser. Das Schwimmen erleichterte ihm, seine Gedanken zu ordnen. Er kraulte weit aufs Meer hinaus, tauchte am Riff nach Muscheln und Krebsen. Wie er gehofft hatte, begannen sich seine Überlegungen zu klären. Welche Gründe seine Mutter auch immer hatte, ihm die Wahrheit vorzuenthalten, dieser Mann war sein Großvater. Ob er nun mit seiner Mutter blutsverwandt war oder nicht. Elyian vertraute ihr und ehrte sie, besonders, nachdem er jetzt wusste, was sie für ihn getan hatte. Mit diesem Bewusstsein kehrte er zum Strand zurück. Esra stand mit ihrem Vater vor der Hütte im Sand und beobachteten ihn.

    »Komm her, Elyian.« Sie streckte ihm lächelnd die Arme entgegen. Ja, das war seine Mutter. Er folgte ihrer Aufforderung und ließ sich für einen Augenblick in den Arm nehmen, genoss dieses wunderbare Gefühl von Geborgenheit.

    »Das ist dein Großvater!«

    »Elyian. Es freut mich sehr, dich kennenzulernen.« Sein Großvater legte die rechte Hand auf Elyians Schulter und neigte sich lächelnd zu ihm.

    Elyian fühlte sich von den grünen Augen seines Großvaters magisch angezogen. Bisher war ihm kein Geschöpf mit einer derartig intensiven Augenfarbe begegnet. »Die Freude ist ebenso auf meiner Seite, Nestor.«

    Überrascht riss sein Großvater seine Augen auf und zog dabei die Augenbrauen hoch. »Nestor?«

    »Gewiss seid Ihr Nestor, der weise Ratgeber der großen Stadt Pachacamo.«

    »Nein, Elyian.« Er lachte kurz. »Ich bin Baumeister, kein Nestor.«

    Dieses Wort ließ Elyian aufhorchen. »Baumeister?« Sofort entstand in ihm eine Vermutung, die sein Herz schneller schlagen ließ. »Ihr seid der außergewöhnliche Carsian?«

    Sein Großvater schmunzelte. »Ich bin nicht außergewöhnlicher, als alle anderen es sind.«

    »Aber Eure Werke! Jeder rühmt Euch bis zu den Monden. Man erzählt sich, dass Ihr die Pläne Eurer Bauwerke vom Gott des weißen Mondes erhaltet.« Elyian konnte es kaum glauben. Vor ihm stand der große Carsian. Carsian, der begabte Baumeister, über den er schon so viel gehört hatte und den er insgeheim für seine Begabung verehrte.

    Carsians freundliche Miene verschwand. Ernst, fast grimmig wirkten nun seine Gesichtszüge. »Weißt du, Elyian«, er presste seine Lippen aufeinander. »Die Pläne meiner Werke entstehen in meinem Kopf, gewiss nicht von einem Gott.«

    Elyian bemerkte die abfällige Betonung der letzten Worte. »Aber die Bewohner im Dorf denken das. Sie verehren den Gott des weißen Mondes. Ihr denn nicht?«

    »Und du? Welche Meinung über diesen Mond und seinen Gott vertrittst du?«

    Elyian fühlte sich verunsichert. Die Gespräche aus dem Dorf über diesen Gott hatten ihn stets gefesselt, doch Carsian teilte diesen Glauben offensichtlich nicht. »Ich weiß nicht. Diese Frage hat mir noch niemand gestellt.«

    Seine Mutter legte ihre Hand auf seine Schulter. »Dein Großvater wird heute mit uns speisen. Es sollte etwas ganz Besonderes sein.«

    »Gewiss, Mutter.« Elyian war bewusst, dass er für ein außergewöhnliches Mahl zu sorgen hatte. Beglückt über diese ehrenvolle Aufgabe holte er seinen Speer und Bogen aus der Hütte und begab sich auf die Jagd.

    * * *

    »Er kennt nur die Bewohner des Dorfes. Sie haben mehr Einfluss auf ihn, als ich bisher bemerkt habe.« Esra schaute ihrem Sohn nach, wie er im Wald verschwand. Schneller, als ihr lieb war, wuchs Elyian zu einem jungen Mann heran.

    »Ich glaube - ich ahne, warum du dich mit ihm zurückgezogen hast«, flüsterte Carsian.

    Esra fragte sich, welche Gedanken ihren Vater wohl bewegten.

    Carsian blickte seiner Tochter in die Augen. »Ich werde versuchen, Euch auf einem Schiff unterzubringen. Auf den Kairos Inseln seid ihr besser aufgehoben.«

    »Kayros, Euer Geburtsort.«

    Carsian nickte und richtete seinen Blick aufs Meer.

    »Ihr werdet uns begleiten, nicht wahr?«

    Ihr Vater drehte seinen Kopf zur Seite. »Esra«, er seufzte tief. »Ich denke, mein Schicksal ist es, hier Baumeister zu sein. In der großen Stadt von Pachacamo ist die Seele deiner Mutter verankert mit ihren Ahnen.« Jetzt wandte er seinen Blick auf seine Tochter. »Dein alter Vater würde eine Rückkehr nach Kayros nicht verkraften. Zu lange bin ich schon fort.«

    Esra schaute auf das Meer. »Kayros«, flüsterte sie, dabei spürte sie auf ihren Lippen ein Schmunzeln, welches durch ihre Sehnsucht hervorgezaubert schien. »Die sichelförmige Burg aus sandsteinfarbenen Mauern wölbt sich mit dem Innenbogen schützend um die Stadt. Zu beiden Spitzen erheben sich runde Türme und in der Mitte des Außen- und Innenbogens ragt jeweils ein weiterer Turm empor. Der Außenbogen trotzt mit seinen mächtigen rauen Sandsteinen der Brandung des Meeres, und im Turm des Innenbogens befindet sich der Eingang. Ein herrlich angelegter Park mit einem Wasserbecken und drum herum ein duftendes Blumenmeer befindet sich im Innenhof. Gepflegte kleine Sträucher säumen die mit glatten hellbraunen Mosaiksteinen gepflasterten Wege. Ein paradiesischer Garten, der zum Träumen einlädt. «

    »Beim weißen Mond, Esra! Man könnte meinen, du wärest dort gewesen.«

    »Habt Ihr vergessen, wie oft Ihr mir von Kayros erzählt habt? Seit meiner Kindheit träumte ich davon, diese Stadt endlich zu sehen.«

    »Das hast du mir nie verraten.« Darüber schien ihr Vater sehr erstaunt zu sein.

    Esra wollte antworten, als ein Schwarm aufgescheuchter Hornschnabelvögel kreischend die Baumkronen verließ und über dem Strand einen Bogen flog. »Ich sollte Feuer machen. Elyian wird bald zurück sein.«

    »Ich finde, er hat beträchtliche Ähnlichkeit mit diesem jungen Kapitän, der dir damals den Kopf verdreht hat. Wie hieß er nur?« Carsian runzelte nachdenklich die Stirn.

    »Das ist lange her, Vater. Ich habe ihn längst vergessen.« Esra bemühte sich, gleichgültig zu klingen.

    »Ich weiß nicht. Warum kann ich dir nicht glauben?« Carsian sah zu seiner Tochter. »Wie alt ist Elyian?«

    »Der Tag seines Partus wiederholte sich bereits zum vierzehnten Mal.«

    Carsian kratze sich am Kinn. »Vierzehn Mal.«

    »Würdet Ihr mir beim Holzsammeln behilflich sein?«

    »Gewiss doch.« Ihr Vater begann nach Brennmaterial zu suchen, während sie dünnes Astwerk und Rindenstückchen auf einer alten Feuerstelle platzierte. Mit flinken Drehungen eines Zweiges zwischen ihren Händen brachte sie das Reisig zum Qualmen, bis die ersten Flammen züngelten.

    Carsian reichte ihr ein Bündel dickerer Äste, wobei er ihre Hand für einen Augenblick festhielt. »Dich endlich gefunden zu haben, ist ein unverhofftes Geschenk.« Er lächelte kurz und ging erneut in den Wald zurück. Esra schluckte. Ihr wurde deutlich, wie sehr sie ihren Vater mit ihrem Verschwinden damals gekränkt haben musste. Dennoch, ihr wohlbehütetes Geheimnis durfte niemand erfahren, zu groß war die Gefahr, das Wichtigste in ihrem Leben zu verlieren.

    * * *

    Lautlos erschien Elyian neben ihr. Über seiner linken Schulter hing ein lebloser Affe, eine Schlange und in seiner Rechten baumelten zwei hasenähnliche Tiere. »Ist das außergewöhnlich genug für meinen besonderen Großvater?« Ein eigenartiger Unterton lag in seiner Stimme.

    »Du klingst so zynisch? Was missfällt dir?«

    »Werden wir mit Großvater nach Pachacamo gehen?«

    Esra erhob sich. Ihre Finger fuhren zärtlich über Elyians Wange; erst jetzt wurde es ihr bewusst. »Fühlst du dich mit mir zu einsam?«

    »Das wollte ich damit nicht sagen, Mutter.« Elyian legte seine Jagdbeute neben die Feuerstelle. »Nur was kann ich hier noch lernen, was ich nicht schon weiß?«

    Esra hielt den Atem an. Ihr Sohn hatte recht, war er doch auffallend wissbegierig und begabt dazu.

    Er richtete seinen Blick aufs Meer und streckte seinen Arm zum Horizont. »Immer wenn ich aufs Meer sehe, spüre ich etwas in mir, was ich nicht mit Worten auszudrücken vermag.«

    »Elyian?« Seine Sehnsüchte durften auf keinen Fall Nahrung bekommen. »Solange du nicht zur Kriegsschule willst, wofür du ohnehin noch viel zu jung bist ...«

    »Aber, Mutter!« In seinem Blick funkelte Protest. »Auserwählte kommen bereits nach der siebenten Wiederholung ihres Partus‘ zur Kriegsschule. Ich würde fleißig lernen und könnte alles aufholen, um ...«

    »Elyian!« Der Wunsch ihres Sohnes schien sich im Laufe der Zeit zu einem konkreten Ziel zu formen, und diese Debatten mit ihm wurden zunehmend energischer. Der Gedanke, Elyian eines Tages nicht mehr bei sich zu wissen, ihn nicht beschützen und behüten zu können, zerriss ihr das Herz. Sie nahm ihn bei den Schultern. »Glaub mir, das ist nichts für dich!«

    Carsian hatte das Gespräch offenbar mit angehört, und er schien sich genötigt, sich einzumischen. »Strenge Regeln, harte Strafen und barbarischer Gehorsam sind die Grundzüge der Kriegsschule in Pachacamo. Du darfst weder deine eigene Meinung vertreten noch etwas Persönliches besitzen. Am Ende stehen sich die Besten im Agon gegenüber und der siegreiche Gewinner wird nach den heimischen Bräuchen ...«

    »... zu Ehren des Gottes des weißen Mondes geopfert.« Elyians Augen leuchteten, als er den Satz für seinen Großvater beendete.

    Esra warf sich die Hände auf den Mund.

    »Es ist demütigend, wie sie die jungen Geschöpfe dort behandeln« Carsian erhob seine Stimme.

    »Aber ein Opfer darzubringen«, Elyian straffte seine Schultern, »würde Mutter unglaubliches Ansehen verschaffen!«

    »Beim weißen Mond, Elyian! Ich will dich!« Sie strich ihm über die Wange. »Kein Ansehen unter den Monden kann dich ersetzen. Woher hast du nur diesen Unsinn?« Seine Ansichten konnten nur im Dorf entstanden sein, welches sie lediglich drei oder vier Mal im Jahr besuchten. Esra war entsetzt über seine Worte, mehr noch über den offensichtlich starken Einfluss der Dorfbewohner. Allein die Vorstellung, Elyian auf dem Opferstuhl zu sehen, raubte ihr den Atem. Es musste ihr gelingen, ihm dieses Lebensziel auszureden.

    Carsian wandte sich an seine Tochter. »Jungen in seinem Alter brauchen eine starke Führung, eine feste Hand.«

    In diesem Augenblick war Esra dankbar, dass ihr Vater jetzt hier war und sie unterstützte. Vielleicht war es ihm sogar möglich, Elyians Leidenschaft für die Baukunst zu fördern. Sie fragte sich jedoch, ob damit ihr Geheimnis in Gefahr war? »Lass uns bitte morgen darüber reden. Dieser Tag sollte deinem Großvater gewidmet sein.« Esra nahm Elyians Hand.

    Er nickte. Seine bebenden Nasenflügel verrieten seine Empörung. Beinah ein wenig trotzig zog er seine Hand zurück und begann, seine Beutetiere auszunehmen, um sie anschließend auf einen Spieß über dem Feuer zu garen.

    INHIBIT

    Elyian erwachte zu einer für ihn ungewöhnlichen Zeit. Es war dunkel, die Sonne war noch nicht einmal zu erahnen und doch spürte er eine ungewohnte Unruhe in sich wachsen. Eigenartige Gefühle hatte das Erscheinen seines Großvaters in ihm hervorgebracht. Ohne seine Mutter oder Carsian zu wecken, schlich er aus der Hütte. Der feine, kühle Sand schmiegte sich um seine nackten Füße. Wie sehr er diese Empfindung mochte, vor allem, wenn es so eine warme Nacht wie diese war. Eine gespenstische Windstille herrschte, die das Zirpen, Schnalzen und schrille Pfeifen der nachtaktiven Tiere im Wald besonders lautstark zum Strand heruntertrug. Wie ein glatter Spiegel lag das nächtliche Meer zu Elyians Füßen. Der weiße Vollmond warf seinen Lichtschein auf die Wasseroberfläche. Ein Stück weiter reflektierte die schmale Sichel des roten Mondes ihr Bild auf das Wasser. Eine unerklärliche Anziehung ging von diesem Anblick aus, sodass Elyian sich seinen Gedanken hingab.

    Der Wunsch, die Kriegsschule zu besuchen, zu lernen und ein Ziel vor Augen zu haben, wuchs zu einem heftigen Verlangen in ihm heran. Warum seine Mutter so dagegen war, konnte er nicht verstehen. Was gab es denn Sinnvolleres, Erstrebenswerteres als den Sieg im Agon? Aufgrund seines Alters würde er vermutlich ohnehin nicht mehr zu den besten Kriegern aufsteigen können. Dafür hätte er die Schule viel früher besuchen müssen. Wenigstens blieb ihm die Alternative, als Krieger zur See zu fahren. Das Meer übte eine starke Faszination auf ihn aus, als wäre er selbst ein Teil des riesigen Ozeans. War das vielleicht sogar der Grund, warum er sich manchmal unvollständig fühlte? In der großen Stadt Pachacamo gab es genügend Möglichkeiten, um seinem Leben eine Richtung zu geben.

    Elyian hockte sich in den Sand und beobachtete die Monde am Himmel. Der Horizont begann, sich zu verändern. Ein zarter, orangefarbener Lichtschein erschien über dem Meer, damit verblassten die Gestirne der Nacht. Während das rege Zirpen, Schnalzen und Pfeifen der Nachttiere langsam verstummten, begrüßten die Vögel den Tag mit einem immer lauter werdenden Gesang, mit ihrem lebhaften Geschnatter, Gurren und Trällern. Mitten in dem morgendlichen Konzert nahm er ein Geräusch von schwerem Atem wahr. Versuchte sich da jemand an ihn heranzuschleichen? Seine Mutter hatte es längst aufgegeben, sich ihm unbemerkt zu nähern.

    Elyian hielt seinen Blick auf das Meer gerichtet. »Euch einen gesegneten Morgen, Großvater.«

    »Oh! Du bist äußerst wachsam. Wodurch habe ich mich verraten?« Carsian setzte sich neben ihn in den Sand.

    Elyian sah keine Notwendigkeit, auf seine Frage einzugehen. »Würdet Ihr mich mit nach Pachacamo nehmen?« In Begleitung ihres Vaters ließ ihn Mutter vielleicht gehen.

    »Was glaubst du, wird dich dort erwarten?« Großvaters Stimme klang tief und wirkte auf Elyian beruhigend.

    »In der großen Stadt gibt es gewiss einen Platz für mich, um etwas zu lernen.« In seiner Vorstellung sah er sich auf einem Schiff und fühlte wie der Wind ihm ins Gesicht blies. »Ich könnte die Kriegsschule besuchen und danach das Meer bereisen. Es zieht mich auf eine ganz besondere Weise an.«

    »Und deine Mutter?«

    Elyian blickte Carsian in die Augen. Dieses intensive Grün fesselte ihn zu sehr. »Ich denke, es wird Zeit, dass ich auf eigenen Füßen stehe.«

    »So? Glaubst du das wirklich?« Carsian rieb seine Lippen aufeinander. »In Pachacamo leben zahlreiche Geschöpfe eng beieinander. Sieh dich um! Du bist hier frei aufgewachsen. Dich in Pachacamo einzugewöhnen, wird dir schwerfallen.« Carsian legte eine kurze Pause ein, die Elyian nutzte, um über die Worte nachzudenken. »Weißt du, Elyian, die Gesetze der großen Stadt werden von den ›Kindern des weißen Mondes‹ bestimmt.«

    »Kinder des weißen Mondes?« Diesen Begriff hatte Elyian in Büchern gelesen, nur hinter den Sinn war er bisher nicht gekommen. »Was bedeutet das?«

    »Viele der Einwohner besitzen die Fähigkeit, mithilfe der Mondkräfte zu heilen. Allerdings gibt es unter ihnen leider viel zu viele, die ihre Begabung missbrauchen und anderen damit Schaden zufügen.«

    »Wenn sie heilen können, wie können sie jemand schaden?« Das war töricht. Wollte sein Großvater ihn einschüchtern, ihm sein Ziel ausreden?

    »Beim weißen Mond, Elyian! Du solltest diesen Gestalten wirklich aus dem Weg gehen.« Carsian klang ernst. Er räusperte sich. »Ich habe deiner Mutter den Vorschlag gemacht, dass sie mit dir nach Kayros segelt. Ich bin mir sicher, dass du dich dort wohlfühlen wirst. Zum einen lernst du das Meer kennen und zum anderen kehren zumindest meine Nachkommen in meine Heimat zurück.«

    »Ihr stammt aus Kayros?« Elyian hatte im Dorf viel über diese Stadt und seine Bewohner gehört, was ihn immer sehr interessiert hatte.

    Carsian nickte. »Was denkst du über meine Pläne? Möchtest du eine Seereise unternehmen?«

    Was für eine Frage! »Natürlich möchte ich das!«

    »Dann kann ich mich auf dich verlassen, dass du auf deine Mutter achtgibst?«

    »Auf Mutter achtgeben? Ihr macht Euch lustig über mich.«

    Carsian lachte herzhaft. Seine Falten an den Augenwinkeln machten ihn sympathisch. »Ich weiß, das ist schwierig.«

    »Ich würde Eure Anwesenheit begrüßen. Gewiss könntet Ihr mich in die Baukunst einweisen. Ich würde auch fleißig lernen.« Elyian bemerkte, wie gut ihm die voreilig ausgesprochene Idee gefiel, zumal ihm schon so manche Idee im Kopf herumspukte.

    »Gegen deinen Wissensdurst müssen wir tatsächlich etwas unternehmen.« Carsian lächelte. Dazu fiel Elyian der Mann mit den Büchern ein, der behauptete, er könne seinen Wissensdurst nicht stillen. »Im Dorf gibt es einen Mann. Er ist im Besitz einiger Bücher, die er mir ausgeliehen hat.« Viel Interessantes hatte er aus den Schriften erfahren, doch nun lechzte er nach mehr. »Ich habe sie alle mehrmals gelesen. Es würde mir viel bedeuten, eines Tages ein unbekanntes Buch zu lesen.«

    * * *

    Carsian sah seinen Enkel von der Seite ins Gesicht. Elyians Verlangen nach Wissen wollte er gerne unterstützen. Er musste ihn aus dieser Einsamkeit befreien. »Wovon erzählten diese Bücher?«

    »Fünf von ihnen beschrieben den weißen Mond und seinen Gott. Drei befassten sich mit der Herrscherfamilie der Kairos Inseln.«

    Carsian konnte es kaum glauben, dass sich hier jemand dafür interessierte. »Von der Kairoyan Familie?«

    »Richtig, aber die besten Bücher waren in einer Geheimschrift geschrieben.«

    »Geheimschrift?« Vermutlich handelte es sich um ein Buch aus einer anderen Sprache.

    »Es war unglaublich. Ich habe einige Mal vergeblich versucht herauszubekommen, wie man diese Schrift lesen muss. Eines Tages schien es mir wie eine Eingebung. Ich begriff plötzlich das System dahinter und verstand, diese Zeichen zu deuten. Anfangs schrieb ich die entschlüsselten Runen in den Sand, um mir einen Überblick zu verschaffen.«

    »Kannst du mir die Schrift beschreiben?« Nach einer anderen Sprache hörte sich das für Carsian dann doch nicht an.

    »Sie besteht aus einem kleinen Kreis, einer Sichel sowie einem Halbmond. Durch Drehung und verschiedene Zusammensetzungen der drei Symbole gibt es jede Menge Möglichkeiten, diese Rune zu verwenden.«

    Das war unmöglich!

    Der Junge wollte sich wichtigmachen. »Und das willst du verstanden haben?« Carsian bemerkte Elyians empörtes Gesicht.

    Er erhob sich protestierend. »Ihr glaubt mir wohl nicht?«

    »Diese Zeichen nennt man selenorische Schriftzeichen. Es braucht sehr viel Zeit, um sie zu lernen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du sie zu lesen vermagst.«

    Die zweifelnden Worte seines Großvaters verletzten Elyian! Stolz warf er seinen Kopf in den Nacken. »Gewiss habt Ihr Hunger. Ich werde Euch ein würdiges Mahl besorgen.« Seine Stimme klang rau und unpersönlich.

    Carsian stand eiligst auf. »Verzeih, Elyian. Es liegt mir fern, dich zu kränken.« Tat er dem Jungen vielleicht unrecht?

    Abweisend kehrte Elyian ihm den Rücken zu, verschwand in der Hütte, um kurz darauf mit seinem Bogen in das dichte Buschwerk einzutauchen. Carsian blieb nachdenklich zurück. Ihm fehlte die Vorstellung, dass man selenorische Schriftzeichen ohne jegliche Anleitung verstehen konnte. Versuchte Elyian bei ihm Eindruck zu machen? Dieser Junge war wie ein ausgetrocknetes Flussbett. Sehnsüchtig wartete er auf den Regen, der ihm das segensreiche Wissen vermitteln würde. Hier lebte er isoliert, kannte nur diese paar Bücher aus dem Dorf.

    »Euch einen gesegneten Morgen, Vater«, rief ihm seine Tochter entgegen.

    »Esra!« Er drehte sich zu ihr um. »Du bist so wunderschön wie einst deine Mutter.«

    Suchend blickte sie sich um. »Habt Ihr heute Morgen Elyian gesehen?«

    »Er wollte zur Jagd.« Esra konnte das Missverständnis bestimmt aufklären. »Ich glaube, ich habe ihn verletzt.« Mit dem fragenden Gesicht seiner Tochter sah sich Carsian in der Pflicht weiterzusprechen. »Er behauptet, selenorische Schriftzeichen lesen zu können. Ist das wahr?«

    Esra nickte. »Ich weiß nicht, wie er das angestellt hat. Aber es stimmt. Er kann diese Schrift lesen. Erst kürzlich hatte er sich bemüht, es mir zu erklären. Um ehrlich zu sein, war mir das zu kompliziert.«

    »Unglaublich!« Carsian packte ihre Hände. »Elyian scheint mir äußerst begabt zu sein. Hier kann er seinen Wissensdurst nicht stillen. Ihr müsst nach Kayros segeln. Dort kann er es mit seinen Fähigkeiten zu hohem Ansehen bringen. Die Kairoyan Familie steht solchen Geschöpfen aufgeschlossen gegenüber. Esra! Bitte geh mit ihm fort, diese Zurückgezogenheit tut ihm nicht gut.«

    Sie versuchte zu lächeln. »Ja, Vater. Das ist mir inzwischen bewusst geworden. Ich wollte ihn nur aus der großen Stadt fernhalten.«

    »Das weiß ich, und das war für seine Entwicklung auch gut. Jedoch werde ich ab heute alles Weitere in die Hand nehmen. Elyian wird vorerst als mein Enkel in Pachacamo seinen Platz erhalten, bis ich einen vertrauenswürdigen Kapitän gefunden habe, der euch nach Kayros bringt.« Er rieb sich die Stirn. » Wir müssen uns lediglich einen Namen sowie eine Herkunft für deinen erfundenen Ehemann ausdenken. Dein Mann könnte bei einem Sturm auf See ums Leben gekommen sein.«

    * * *

    Elyian hatte einen jungen Rehbock aufgespürt. Das wäre ein Festmahl für seinen Großvater. Damit würde er ihn beeindrucken können und ihm beweisen, wozu er fähig war. Lautlos pirschte er sich an das Tier heran, hob langsam seinen Bogen und legte ruhig einen Pfeil auf die Sehne. Während er den Bogen spannte, zielte er mit der Pfeilspitze auf die Brust des Tieres dicht hinter den Vorderläufen, um direkt ins Herz zu treffen. Doch noch bevor er die Sehne lösen konnte, stob der Bock davon, gleichzeitig flogen die Vögel kreischend aus den Baumwipfeln empor. Enttäuscht entspannte Elyian seinen Bogen und ließ ihn samt Pfeil sinken. Plötzlich knackte ein Stück hinter ihm ein Ast. Hastig fuhr er herum. Zwischen dem Buschwerk entdeckte er fremde Männer. Das sirrende Geräusch von mehreren losgelassenen Sehnen trieb ihn in die Flucht. Ohne nachzudenken, rannte Elyian nun in dieselbe Richtung wie kurz zuvor der Rehbock. Nur einen Augenblick später durchfuhr ein mächtiger Schmerz seine rechte Schulter. Jede Erschütterung seiner eiligen Schritte verstärkten seine Beschwerden. Er spürte, wie ihm etwas Warmes über die Brust herunterlief. Sein Blickfeld begann zu schrumpfen, der Wald schien sich um ihn herum zu drehen. Sein Atmen klang

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