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Göttin auf Zeit
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Göttin auf Zeit

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About this ebook

Am Tag vor ihrem dritten Geburtstag wird Amita von ihren Eltern in den Palast der Mädchengöttin Kumari in Kathmandu gebracht – der königliche Chefastrologe hat in ihr die Wiedergeburt Talejus, der Schutzgöttin Nepals, erkannt. Von ihrer Familie getrennt, beginnt für Amita ein Leben hinter Tempelmauern. Nur an hohen religiösen Feiertagen darf sie den Palast verlassen und wird auf prunkvollen Prozessionen durch die Stadt gefahren. Die Alltagserfahrungen normaler Kinder bleiben ihr verwehrt. Nach einem Massaker im Königspalast, dem im Juni 2001 die gesamte königliche Familie zum Opfer fällt, kommt für Amita – schneller als erwartet – das Ende ihrer göttlichen Existenz. Sie kehrt in ein Leben zurück, auf das sie niemand vorbereitet hat. Eine ehemalige Mädchengöttin gibt hier zum ersten Mal die Geschichte ihrer geheimnisvollen Kindheit preis.
Der Publizist Gerhard Haase-Hindenberg führte mit Amita Shakya und ihrer Familie wochenlang intensive Gespräche und befragte die Priesterschaft nach den geheimen Ritualen des Kumari-Kults. Fesselnd und einfühlsam schildert er die wahre Geschichte der einzigen lebenden Göttin der Welt. Amita Shakyas geheimnisvolle Kindheit ermöglicht den Lesern den Blick in einen exotischen Kosmos, zu dem der Westen bislang keinen Zugang hatte. Es ist der Einblick in eine faszinierend fremde Welt.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateJun 19, 2013
ISBN9783000426469
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    Göttin auf Zeit - Gerhard Haase-Hindenberg

    Göttin auf Zeit

    Amitas geheimnisvolle Kindheit als Kumari in Kathmandu

    Autor: Gerhard Haase-Hindenberg, Berlin

    Edition 2013

    1. EPUB/Kindle-Fassung, Juni 2013

    haasehindenberg@versanet.de

    ISBN: 978-3-00-042646-9

    Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Bildern oder der Vervielfältigung bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

    Einige Rechte vorbehalten:

    unter Verwendung von Fotos von © Gerhard Haase-Hindenberg, © Tom Van Cakenberghe, © Mukunda Shresta, © Privat-Archiv Shakya, © Privat-Archiv Bajracharya

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    Inhalt

    Prolog Recherche mit Überraschungen

    Rasmilas letztes Fest

    Die Auswahl

    Experten des Königs

    Vom Mädchen zur Göttin

    Traum und Wirklichkeit

    Eine Göttin in der Lehre

    Die stumme Tochter

    Kumari – Superstar

    Die kranke Mädchengöttin

    Kala Ratri – die „Schwarze Nacht"

    Das Schwert des Manju Shree

    Brief an den König

    Die Lehrerin

    Die fremde Frau

    Streit ums Geld

    Massaker im Königspalast

    Der ungeliebte Thronfolger

    Ein langer Abschied

    Erste Schritte in ein neues Leben

    Rückkehr in eine fremde Welt

    Die Braut des Surya Bhagawan

    Die Zeit danach ...

    Glossar

    Gerhard Haase-Hindenberg

    Göttin auf Zeit

    Amitas geheimnisvolle Kindheit als Kumari in Kathmandu

    Für Amita, Anita und Bina

    Making of der Recherchen:

    https://www.youtube.com/watch?v=3g_JQ78KXVc

    Prolog

    Recherche mit Überraschungen

    Die heiligen Verse der Mantras habe ich von meinem Vater gelernt, der mir auch die tantrische Kraft verliehen hat. Er hat mich in die Rituale eingeweiht, die eigentlich geheim sind. Aber ich will sie Ihnen erklären, damit Sie in Ihrem Buch die Wahrheit schreiben…

    Puspa Ratna Bajracharya

    Raj Guru – Oberhaupt der Pancha Buddha-Priester

    Ich hatte mich auf eine übliche Übersetzertätigkeit eingestellt und plötzlich fand ich mich in einer spannenden Recherche wieder, durch die ich viel Neues über die Kultur meines Volkes erfahren habe.

    Jaya Krishna Nhuchhe Pradhan

    Nepalesischer Übersetzer

    Würde dieses Mädchen mir seine Geschichte erzählen? Drei Jahre und neun Monate, nachdem ich Amita das letzte Mal als souverän agierende Kumari beobachtet hatte, saß ich einem Teenager in Bluejeans und gelbem T-Shirt gegenüber, der scheu meinem Blick auswich. Selbst auf die Frage nach ihrem Alter, wölbte sie den Mund zur Schnute und sprach kein einziges Wort. Dabei hatte sie am nächsten Tag Geburtstag – ihren sechzehnten. War dies wirklich das Mädchen, das ich zweimal in seinem Leben als Mädchengöttin Kumari gesehen hatte?

    Ich erinnerte mich an jenen kühlen Dezembertag 1991, als ich zum ersten Mal den Kumari Bahal, den Wohnsitz der „lebenden Göttin, am zentralen Durbar-Platz in der Altstadt von Kathmandu betreten hatte. In dem für jedermann zugänglichen Innenhof erläuterte mir ein Wächter, dass dort oben im mittleren der drei Fenster gelegentlich die Kumari leibhaftig zu sehen sei. Und er deutete an, dass gegen einen kleinen Obolus er der Mann sei, der das bewerkstelligen könne. Kurz darauf streckten mir zwei kräftige Frauenarme ein pausbäckiges, geschminktes Kleinkind entgegen, das gerade irgendetwas kaute. Wenige Sekunden nur gestattete man mir den Blick auf die „lebende Göttin. Damals war Amita drei Jahre alt und seit drei Monaten im „Amt". Und das war sie noch immer, als ich neun Jahre später in das Himalaja-Königreich zurückkehre, um mir bei ihrer Vorgängerin Rasmila die nötigen Informationen für eine Reportage über deren Leben nach der Kumari-Zeit zu beschaffen. Denn eine Mädchengöttin blieb man eben nur so lange, wie man ein Mädchen ist.

    Mein nepalesischer Journalisten-Kollege Prateek Pradhan von der Kathmandu Post hatte mir den Kontakt zu Rasmila und deren Familie vermittelt. Und er informierte mich über eine Puja, wie man in Nepal die Opfergottesdienste nennt, die am Abend nach meiner Ankunft im Tempelbezirk der einheimischen Gottheit Machhendranath stattfinden, und bei der auch die aktuelle Kumari erscheinen werde.

    Die Puja war schon in vollem Gange, als die mittlerweile zwölfjährige Mädchengöttin hereingetragen und auf einen kleinen roten Thron gesetzt wurde. Dem äußeren Anschein nach verfolgte sie, von der ich seinerzeit nicht wusste, dass sie Amita heißt, die Zeremonie nahezu teilnahmslos. Fast gelangweilt nahm sie zur Kenntnis, wie erwachsene Männer sich ihr zu Füßen warfen.

    In Vorbereitung meiner neuerlichen Begegnung mit diesem Mädchen, sah ich mir immer wieder die Filmaufnahmen an, die ich damals aus nächster Nähe gemacht hatte. Es schien, als ginge von diesem als lebende Göttin verehrten Mädchen tatsächlich eine geheimnisvolle Kraft aus. Aber steckte dahinter nicht nur das nachvollziehbare Selbstbewusstsein eines Kindes, dem von allen Seiten Verehrung entgegengebracht wird? Ein fragiles Selbstbewusstsein, wie man es von Kinderstars in Hollywood kennt, und das nur so lange von Dauer ist, so lange sie aus Stretch-Limousinen ins Blitzlichtgewitter der Fotografen steigen? Außerdem vernebelte das aufwändige Make-up der Kumari den Blick für die Realität. Neben dem „dritten Auge" auf der Stirn, jenem Insignium der göttlichen Macht, verwandelten grellrot geschminkte Lippen und ein bis zu den Schläfen gezogener Kajalstrich das Mädchen zu einer heiligen Femme fatale.

    War dieser scheu in die Gegend blickende, Schnute ziehende Teenager dort wirklich jene Kumari aus dem Machhendranath-Tempel? Ich machte mir klar, dass sie vor nicht allzu langer Zeit einen enormen Kulturschock verkraften musste. Den Wechsel von einer Kindheit, in der sie auf riesigen Manifestationen verehrt wurde (und selbst der König sich vor ihr verneigte), in eine kaum definierte Rolle innerhalb einer Gesellschaft, in der die Frauen vielfach noch immer nicht mit ihren Männern am gleichen Tisch speisen. Würde dieses Mädchen seine Geschichte ausgerechnet einem fremden Mann aus einer fernen Welt erzählen?

    Im Vorfeld der geplanten Begegnungen ging ich davon aus, dass es einige Zeit dauern würde, bis die Eltern der Ex-Kumari mit mir auch über ihre einstigen Gefühle sprechen würden. Und ich wurde damit überrascht, dass sie gerade diese Empfindungen von Anfang an in den Mittelpunkt ihrer Schilderungen stellten.

    Ich rechnete damit, dass ich während meiner Gespräche mit Priestern und religiösen Funktionären – die hier solche Titel wie Badaguruju, Mul Purohit oder Raj Guru tragen – erst einmal allgemeine Worthülsen und sakrale Chiffren über mich ergehen lassen muss. Das wäre bei Kurienkardinälen vermutlich ebenso. Dann aber kam es anders. Mein nepalesischer Reporterkollege Yuvraj Acharya richtete es so ein, dass ich jenen heiligen Männern in einer jeweils gelösten privaten Atmosphäre begegnen konnte. Und das führte dazu, dass sich einige von ihnen als geradezu eloquent erwiesen und mir gar die lange geheim gehaltenen tantrischen Riten des Kumari-Kults anvertrauten. Die größte Überraschung aber bescherte mir schließlich Amita selbst – jenes Mädchen, das fast zehn Jahre die „Schutzgöttin des nepalesischen Königs" war, und bis zu unserer Begegnung noch nie mit irgendeinem Menschen außerhalb des Kumari-Hauses (außer mit ihrer Schwester) über ihre außergewöhnliche Kindheit gesprochen hatte. Nicht einmal mit den Eltern – und es hat auch nicht den Anschein, als ob sie dies je tun würde.

    Zunächst vergingen zwei entsetzlich lange Tage, an denen ich Yuvraj Acharya meine Fragen in Englisch formulierte, er diese ins Nepali übersetzte und Amita Schnuten zog. Der Vater saß immer dabei und auch Kalpana Shakya, die aus der gleichen Kaste kommt wie die Kumaris. Sie war mir schon vor Jahren bei meinen Begegnungen mit Amitas Vorgängerin Rasmila als interkulturelle Mittlerin behilflich gewesen. Hatte ich diesmal das falsche Mädchen ausgewählt? Sollte ich nicht besser Rasmilas Eltern anrufen, deren Tochter mir seinerzeit Rede und Antwort stand? Dann aber erinnerte ich mich an die augenscheinlich standarisierten Antworten der Ex-Kumari Rasmila, die sie mir und vielen anderen Journalisten gegen dreistellige Dollar-Summen als Tageshonorar verkaufte. Und immer, wenn die Fragen privater wurden, nach Gefühlen und Sehnsüchten in jener Zeit im Kumari Bahal, sprang deren eloquente, intellektuellere Schwester Pramila ein.

    Die Überraschung passierte, als Amitas Vater am zweiten Tag kurz aus dem Zimmer gerufen wurde. Als habe das Mädchen nur auf einen solchen Moment gewartet, sprach es unaufgefordert einen ganzen Satz – in Newari. Auch Yuvraj versteht die Sprache der Newar nicht, jener Ureinwohner des Kathmandu-Tales. Kalpana übersetzte ihn ins Nepali und Yuvraj ins Englische: „Sometimes in Kumari Bahal I felt an awful loneliness!"

    Im ersten vollständigen Satz nach zwei Tagen gesteht sie, dass sie sich manchmal furchtbar einsam fühlte! Sofort hake ich nach. In knappen Sätzen erzählt sie leise von einem vergitterten Fenster hinter dem sie oft saß und auf die Welt hinausblickte. Und sie spricht von ihrer Sehnsucht nach Durga, die wie eine ältere Schwester mit ihr im Kumari-Haus zusammenlebte. Dann kommt der Vater ins Zimmer zurück und Amita verstummt wieder.

    Jetzt war mir klar, dass das Mädchen in Gegenwart des Vaters oder anderer Familienmitglieder nicht über ihre Zeit als Kumari sprechen würde. Offensichtlich aber hatte sie andererseits das Bedürfnis danach.

    Amitas Vater hat mir später erzählt, dass sie schon vier Wochen, nachdem sie Kumari geworden war, während seiner Besuche nicht mehr mit ihm sprach. Als ich Amita danach frage, erklärt sie knapp: „Ich wusste nicht, worüber wir reden sollten."

    Wie würde es mir gelingen, einen traditionsbewussten newarischen Vater davon zu überzeugen, dass er seine Tochter mit mir und meinen Mitarbeitern allein lassen soll? Ich musste mein Anliegen mit einem journalistischen Prinzip begründen, denn er durfte es nicht auf sich beziehen. Also erklärte ich, dass ich alle Gesprächspartner getrennt interviewen müsse, um möglichst authentische, unbeeinflusste Aussagen zu bekommen. Und ich verband diese Erklärung mit einem Angebot. Im Gegensatz zu Rasmilas Familie hatte er nicht nach einem Honorar gefragt. Nun aber bot ich ihm eine Summe, die es Amita ermöglichen würde, nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung zu machen. Fortan konnte ich mit dem Mädchen allein sprechen.

    Amita blieb bei den kurzen Sätzen und Kalpana wurde offenbar ungeduldig. Bald sprach sie mehr als mein Gegenüber, und ich hegte den Verdacht, dass sie Amita Alternativantworten anbot, aus denen sie nur noch auszuwählen brauchte. Ich beschloss daher zunächst, die Arbeit mit einem Übersetzer ins Deutsche fortzusetzen, der auch Newari spricht. Yuvraj hatte dafür sofort Verständnis. Umso mehr, als er neben seiner Tätigkeit für die Kathmandu Post ohnehin genug damit zu hatte, mir den Kontakt zu den anderen Gesprächspartnern herzustellen.

    Der Übersetzer, den mir das Goethe-Zentrum von Kathmandu vermittelte – ein Newar, der dort Deutsch unterrichtet –, hatte zwei Jahre in Saarbrücken gelebt. Auf der Dachterrasse meines Hotels erteilte ich dem sympathischen Jaya einen Crashkurs in Interviewtechnik, und beschwor ihn, meine Fragen möglichst kommentarlos zu übersetzen. Schon am nächsten Tag bestätigte er meinen Verdacht in Bezug auf Kalpanas „Hilfestellung", und ich beschloss, künftig auf sie zu verzichten. Ein gewagter Schritt, denn offenbar hatte sich Amita ein wenig an Kalpanas Art der Fragestellung gewöhnt. Außerdem musste die Familie des Mädchens nun akzeptieren, dass die sechzehnjährige Tochter oft stundenlang mit zwei fremden Männern allein ist.

    Amitas Zutrauen wuchs mit jedem unserer Gesprächstermine, was sicher auch damit zu tun hatte, dass wir uns auch über ganz andere Dinge unterhielten. Über indische TV-Soaps beispielsweise und über aktuelle Trends im Nepali-Pop. So erfuhr ich ganz nebenbei, dass die Cartoon-Serie Spiderman im indischen Fernsehen die Lieblingssendung der lebenden Göttin war.

    Die Ex-Kumari und ihr Biograph Gerhard Haase-Hindenberg

    Das Mädchen fand bald zunehmend Spaß an unseren Treffen, aber sie entwickelte ein gewisses Misstrauen gegenüber jeder Form von Methodik. Sobald sie aber das Gefühl bekam, dass wir uns nicht einfach nur unterhalten, sie vielmehr systematisch ausgefragt wird, runzelte sie die Stirn und der Mund war auf dem Sprung zur Schnute. Also erschien ich fortan ohne Manuskript, sprang in den Themen hin und her. Eines Tages machte ich ihr dann den Vorschlag, die Unterhaltung einfach mal umzukehren. Ich würde erzählen, was ich so aus unseren Gesprächen behalten hatte, und sie solle kontrollieren, ob ich auch alles richtig verstanden habe. Amita war einigermaßen überrascht, als ich ein Manuskript hervorholte und thematisch geordnet Punkt für Punkt vorlas, worüber wir in den vergangenen Wochen völlig ungeordnet gesprochen hatten. Dabei machte ihr die Rolle des „Zensors" offenbar großen Spaß. In der Folgezeit überraschte sie mich gelegentlich sogar mit eigenen schriftlichen Aufzeichnungen, die sie für mich angefertigt hatte. Wir waren ein richtig gutes Team geworden.

    Steinchen für Steinchen wurden die Informationen wie bei einem Mosaik zusammengetragen, und es entstand das Bild einer außergewöhnlichen Kindheit eines nepalesischen Mädchens, das von der Welt weitgehend isoliert als „lebende Göttin" aufwächst. Dabei wird die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven geschildert – neben der des Mädchens und ihrer Familie, aus der ihrer jahrelangen Betreuerin im Kumari-Palast und aus dem Blickwinkel der religiösen und gesellschaftlichen Avantgarde Nepals. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Sichtweisen ist beträchtlich. Viele Hintergründe des Kumari-Kults waren Amita übrigens bis zu unsrer gemeinsamen Arbeit unbekannt. Denn natürlich hatte es niemand für nötig befunden, eine Göttin über die Hintergründe ihrer eigenen Existenz zu informieren.

    Amitas Aufzeichnungen für die gemeinsame Arbeit am Buch über ihre außergewöhnliche Kindheit

    Amita besiegelt mit ihrer Unterschrift den Verkauf der Exklusivrechte an ihrer Kindheitsgeschichte

    Rasmilas letztes Fest

    Das Kumari-Fest an den Indra Jatra-Feiertagen haben zwar erst die Malla-Könige vor etwa vierhundert Jahren eingeführt, und sie haben auch das Kumari-Haus gebaut. Den Kumari-Kult aber gibt es seit es die vielarmige Göttin Durga gibt – also seit mindestens tausend Jahren.

    Madhav Bhattarai

    Religiöser Ratgeber des derzeitigen nepalesischen Königs

    Das Indra Jatra-Fest ist für eine Kumari der Höhepunkt des Jahres. Ich bin sicher, dass das auch jede Kumari so empfindet, denn man wird in einem goldenen Wagen durch die Stadt gefahren und alle Leute sind auf den Straßen und jubeln einem zu. Und das passiert auch noch an dreien der vier Festtage…

    Rasmila Shakya

    Kumari von 1983 bis 1991, Amitas Vorgängerin

    Es ist das Fest, auf dem der König bei seiner Göttin erscheinen wird. Der Oberpriester des Palastes ist zum Tempelraum der Kumari hinaufgestiegen, um das Kommen des Mousuf Sarkar („Seine Majestät") für den letzten Tag der Indra Jatra-Feierlichkeiten anzukündigen.

    Sie kennt diesen Mann dort, solange sie zurückdenken kann. Man nennt ihn Mul Purohit, und die Menschen in ihrer Umgebung haben großen Respekt vor ihm. Die Hindu-Priester aus dem Taleju-Tempel ebenso wie die Pancha Buddha-Priester, die eben noch im Agam, jenem dunklen Raum im Erdgeschoss, mit ihr gemeinsam eine Puja zelebrierten, und natürlich Durga-didi, ihre schwesterliche Freundin, die jede Nacht mit ihr im gleichen Bett schläft. Auch der Mul Purohit ist ein Priester, der Oberpriester des Königs. Und wenn er am ersten Morgen des Indra Jatra-Festes zu ihr kommt, so kündigt er den Besuch des Königs an. Vier Tage wird sie jetzt mit den Bewohnern von Kathmandu das Ende der Regenzeit feiern, dreimal wird sie in dieser Zeit auf einem goldenen Wagen durch die Stadt gefahren, und am letzten Tag kommt dann der König hierher und lässt sich durch ihren Segen für ein weiteres Jahr seine Macht bestätigen. Das alles weiß sie, die als lebende Göttin über das Königreich Nepal wacht, aus jahrelangerErfahrung. Aber sonst weiß sie fast nichts über den Mul Purohit. Sie kennt nicht einmal seinen Namen.

    Der würdevolle ältere Herr ist vor der Mädchengöttin niedergekniet, hat seine Stirn auf ihre Füße gelegt und dann in gebotener Distanz Aufstellung genommen. Er blickt ihr tief in die Augen. Er liest darin, dass die Empfehlung des Badaguruju, des religiösen Ratgebers des Königs, richtig war, gleich nach dem Fest die Astrologen des Hofes zusammenzurufen.

    Schon oft hat sie der Mul Purohit in den letzten Jahren auf diese Weise angesehen. Immer hat sie dann die Augen niedergeschlagen oder woanders hingesehen. Heute aber hält sie dem Blick des alten Mannes stand.

    Der Mul Purohit vermisst in ihren Augen den Sanftmut der Göttin Parvati, der Begleiterin des großen Gottes Schiva. Es ist in diesen Augen aber auch nicht mehr die Furchtlosigkeit der Durga zu entdecken, der anderen Existenz jener Göttin Parvati. Vielmehr strahlt dieser Blick dort die ganz profane Empfindung eines pubertierenden Mädchens aus – nämlich Auflehnung.

    Plötzlich entdeckt sie, was diesen Blick so außergewöhnlich macht. Alle Menschen in ihrer Umgebung haben braune Augen. Manche sind dunkler, andere etwas heller. Die Augen des Mul Purohit aber sind grün – und das macht sie so unheimlich.

    Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die körperlichen Merkmale dafür einstellen, was er bereits in diesem Blick erkennen kann – das Mädchen hat seine göttliche Mission erfüllt. Ein letztes Mal wird ihr auf den Straßen Kathmandus die Verehrung des Volkes zuteil werden. Dann wird Mousuf Sarkar noch einmal vor ihr niederknien und den Segen erbitten – von der Kumari, die seit der längst vergangenen Ära der Malla-Dynastie auch als Taleju, die Privatgöttin der nepalesischen Herrscher, verehrt wird. Danach aber wird der Rat der Hofastrologen zusammentreten und aus den Horoskopen von Mädchen aus der Shakya-Kaste im Alter zwischen zwei und vier Jahren eine neue Kumari bestimmen.

    Vor vierhundert Jahren, so erklärt der Volksglaube die Existenz der Mädchengöttin, soll sich einer der Herrscher aus der längst untergegangenen Malla-Dynastie der Göttin Taleju beim Würfelspiel in eindeutiger Absicht genähert haben. Dieser Legende nach sei sie daraufhin erzürnt aufgesprungen und habe beim Verlassen des Palastes geschworen, künftig nur noch in Gestalt eines jungfräulichen Wesens aus der Shakya-Kaste zu erscheinen. Jener Kaste, der einst auch der historische Buddha entstammte. Fortan erscheint die Hausgöttin des jeweiligen Hindu-Königs immer in der Gestalt eines kleinen buddhistischen Mädchens. Da aber nach nepalesischer Definition mit dem Beginn der Pubertät ein Mädchen aufhört, ein jungfräuliches Wesen zu sein, ist dieses Indra Jatra-Fest das letzte Fest jener Kumari, die schon bald wieder ihren Geburtsnamen Rasmila tragen wird. Denn in der „Schwarzen Nacht" des Dashain-Festes in einem Monat wird die lebende Göttin auf jenem Thron dort eine andere sein.

    Vom kleinen Hof unten sind die schrillen Töne der Sanai-Flöten und die Trommeln der newarischen Musiker zu hören, die das Erscheinen von Ganesh und Bhairav, der beiden nur für das Indra Jatra-Fest ausgewählten Kindergötter, ankündigen. Ihnen allein ist es erlaubt, die Kumari zum Indra Jatra-Fest hinauszuführen, aus jenem Palast, den die Buddhisten Kumari Bahal nennen (nach jenem umbauten Hof, wie er bei Klöstern üblich ist) und die Hindus Kumari Ghar (Kumari-Haus). In der Verehrung der Kumari aber finden der offizielle Hinduismus und die spezielle, von den newarischen Ureinwohnern des Kathmandu-Tales praktizierte Form des Buddhismus, zu einer spirituellen Vereinigung.

    Als die beiden Jungen in den Masken der Kindergötter den Tempelraum betreten, senkt der Mul Purohit endlich den Blick und nennt die Kumari „Dyo Maiju" – Mädchengöttin.

    *

    In der Nacht hatte es noch einzelne Schauer gegeben. Dennoch beginnen die Bewohner des Kathmandu-Tales sich auf dem Durbar-Platz und den Straßen der Altstadt zu versammeln, um das Ende des Monsuns zu feiern. Sie werden dem Regengott Indra dafür danken, dass er die fruchtbaren Böden des Tales nicht hat austrocknen lassen. Sie werden ihm aber auch danken, dass er sie nicht weiter mit Regengüssen behelligt. Und sie werden ihrer Kumari huldigen und sie um eine reiche Ernte bitten.

    Viele genießen in farbiger und leichter Kleidung die ersten Sonnenstrahlen am fast wolkenlosen Himmel. Andere vertrauen offenbar nicht ganz der Güte des Gottes Indra und haben das Haus für alle Fälle mit einem Regenschirm verlassen.

    Amrit Man Shakya und seine junge Frau Mimita sind vom Nachbarbezirk Bagbazar herübergekommen. Sie haben sich mit den beiden kleinen Töchtern durch die an diesem Tag schon früh völlig überfüllte New Road gekämpft, um hier am Durbar-Platz beim Beginn der Jatra, der Prozession dabei zu sein. Und das hat einen ganz besonderen Grund. Der Sohn von Amrits Cousine wird in diesem Jahr den kleinen Gott Ganesh verkörpern, den Sohn des Götterpaares Parvati und Schiva, und die Jatra zu Ehren der Kumari mit einem eigenen Wagen anführen.

    Die fast dreijährige Amita und ihre fünfzehn Monate ältere Schwester Anita konnten in der letzten Nacht vor Aufregung kaum schlafen. Aber weniger wegen des mit ihnen verwandten Ganesh, als vielmehr wegen der Kumari, die für viele Mädchen Kathmandus so etwas wie ein Idol ist. Was für ein Kleid wird sie wohl tragen? Wie wird sie geschminkt sein? Dies sind Fragen, mit denen Anita auch ihre kleine Schwester in Erregung versetzte.

    Im Hof des Kumari Bahal drängen sich die Menschen, die der Kumari hier ihre Opfergaben niederlegen. Die Mutter hilft der kleinen Amita beim Tragen der mit Obst gefüllten Schale und der Vater achtet darauf, dass Anita die Öllampe gerade hält – beim Abstellen unter jenem Fenster, hinter dem sich im zweiten Stock der Thron der Mädchengöttin befindet.

    Noch immer stehen entlang der Hauswand Wartende mehrerer Generationen, um ihrer Kumari Opfergaben zu bringen. Obgleich der Wächter am Eingang mehrfach darum gebeten hat, den Hof nicht mehr zu betreten, da bereits Ganesh und Bhairava eingetroffen seien, haben sich immer wieder Menschen durch das schmale Tor gedrängt. Darunter auch Angehörige der niederen Kasten, denen es nur an diesem Tag erlaubt ist, den Kumari Bahal zu betreten (auch wenn es dafür offiziell keine gesetzliche Regelung gibt). Draußen auf dem Durbar-Platz ist das Indra Jatra-Fest längst auch eine Touristenattraktion. Menschen aus vielen Teilen der Welt haben rechtzeitig auf den Stufen der drei großen Pagoden Platz genommen und halten ihre Kameras bereit.

    Die beiden Shakya-Schwestern haben die Opfergaben abgestellt und hüpfen voller Erwartung umher. Mahnend werden sie vom Vater darauf hingewiesen, dass dies ein heiliger Ort sei, während seine Frau den Blick hinauf zum Fenster der Kumari richtet. Sollte womöglich im nächsten Jahr eines ihrer beiden Mädchen dort sitzen und dem König als Zeichen ihres Segens die Tika auf die Stirn drücken?

    Vor einiger Zeit war die Cousine ihres Mannes, die Mutter des Jungen, der heute den Ganesh verkörpern wird, zu ihnen nach Hause gekommen. Es war aber kein üblicher Verwandtenbesuch. Sie war in offizieller Mission unterwegs gewesen und hatte um die Horoskope der beiden Töchter gebeten. Höheren Ortes gehe man davon aus, dass die Göttin Taleju schon bald den Körper der amtierenden Kumari verlassen und neu inkarnieren werde, hatte ihr die Cousine ihres Mannes mitgeteilt. Für diesen Fall wolle man im Kumari Bahal vorbereitet sein. Und da die Göttin Taleju traditionell ja nur im Körper eines kleinen Mädchens aus der Shakya-Kaste wiederkehre, der einstigen Kaste der Gold- und Silberschmiede, sei sie aufgefordert, den Hofastrologen die Horoskope von Anita und Amita zur Verfügung zu stellen.

    Die Mutter der beiden kleinen Mädchen war erschrocken. Als sie am Abend ihrem Mann davon berichtete, schien er hingegen hoch erfreut: „Stell dir nur vor, was für ein Glück dies für unsere Familie wäre! Und welche Ehre!" Seither sind drei Wochen vergangen und der königliche Palast hatte sich nicht mehr gemeldet.

    Natürlich muss man es als Ehre empfinden, eine Kumari in der Familie zu haben, hatte sich die Mutter wieder und wieder selbst zugeredet. Zeigte es doch, dass Taleju das eigene Haus wohlwollend zur Kenntnis genommen hat und es künftig unter ihren besonderen Schutz stellen wird. Dennoch lag sie seither an so manchem Tag apathisch auf dem Sofa in der Wohnstube und fürchtete, dass die Göttin tatsächlich die Herausgabe einer ihrer Töchter fordern würde. In der Familie aber behielt sie solche Gedanken, die ihr selbst nicht geheuer waren, für sich. Wie hätte man auch verstehen sollen, dass sie sich vor einer göttlichen Fügung fürchtete?

    In den letzten Tagen wurde sie ruhiger. Wahrscheinlich hatten die Hofastrologen längst in einem anderen Mädchen die neue Göttin erkannt. Schließlich werden in achtzehn Bahals – den nach Klöstern benannten Stadtbezirken Kathmandus – Shakya-Mädchen in dem entsprechenden Alter gesucht.

    Mimita Shakya weiß nicht, dass keineswegs alle Shakya-Familien der Stadt um die Horoskope ihrer Töchter gebeten werden. Vielmehr schlagen die Chitaidars, jenes Ehepaar, das gemeinsam mit seinen Kindern die Kumari betreut, den Hofastrologen ausschließlich Mädchen aus ihnen bekannten oder gar verwandten Familien vor. Die derzeit noch amtierende Kumari ist sogar eine Nichte der Chitaidar.

    Für diese Art der Selektion göttlicher Fügungen gibt es durchaus nachvollziehbare Gründe. Schließlich leben die Chitaidars jahrelang mit der jeweiligen Kumari zusammen. Deshalb sind sie naturgemäß an der Minimierung späterer Unwägbarkeiten interessiert – beispielsweise wenn die Eltern beginnen, sich um die Zukunft ihrer Tochter Sorgen zu machen. Dies geschieht erfahrungsgemäß wenige Jahre vor dem absehbaren Ende ihrer Kumari-Existenz, wenn also die Rückübertragung der Verantwortung auf das Elternhaus in greifbare Nähe rückt. Kritische Stimmen in Kathmandu sprechen davon, dass die Chitaidars vor allem nach Kandidatinnen suchen, deren Familien das System ihres Clans nicht hinterfragen. Längst nämlich würden sie den Kumari Bahal wie ein privates Familienunternehmen führen, gelegentlich ist gar von finanziellen Unregelmäßigkeiten die Rede – und dies offenbar mit Billigung des königlichen Palastes.

    Die eineinhalbjährige Amita mit ihrer älteren Schwester Anita

    Die knapp zweijährige Amita mit ihrer Mutter Mimita Shakya

    Die Familie von Amrit Man Shakya ist den Chitaidars und der Priesterschaft als traditionsbewusste, religiöse und insofern zuverlässige Familie bekannt. Schließlich entstammt ja auch der diesjährige Ganesh diesem Zweig. Andere Shakya-Familien, in denen beispielsweise der soziale Aufstieg in akademische Berufe geschafft wurde und man womöglich während Studienaufenthalten in Europa oder den Vereinigten Staaten mit westlichem Gedankengut „infiziert" worden ist, haben da kaum Chancen. Man stellt also gar nicht erst die Frage, ob sie überhaupt bereit wären, eine ihrer Töchter als lebende Göttin aus dem Haus zu geben.

    Schräg gegenüber vom Kumari Bahal steht schon der Festwagen der Mädchengöttin. Unter der Aufsicht des Mul Purohit haben Priester bereits am Morgen dessen dreigeschossigen goldenen Pagodenaufbau, in welchem später die Kumari sitzen wird, rituell gereinigt. Dann haben sie an die glockenförmige Spitze, wie sie sich üblicherweise auf buddhistischen Klöstern befindet, ein rot-weißes, nach unten führendes Band angebracht, welches wiederum an eine Dhwaja erinnert – jenes breite Metallband, das an hinduistischen Tempeln den Göttern als Weg dienen soll. Momentan wird das Gefährt der Mädchengöttin von einer Gruppe von Männern mit Blumengirlanden geschmückt. Es sind Männer vom Guthi Sanasthan, dem Kumari-Komitee, das offiziell „Amt für religiöse Güter" heißt. Man erkennt sie an der schwarzen Farbe ihres Topi, jener typisch nepalesischen Kopfbedeckung, und den großen rot-weißen Buttons am Revers.

    Offensichtlich ist die Vorbereitung der Kumari-Prozession ausschließlich Männersache. Hingegen sind ganze Heerscharen von Frauen damit beschäftigt, mit Reisigbündeln den Platz vor dem Kumari Bahal zu fegen. Dabei wirbeln sie so viel Staub auf, dass die beiden Mädchen zu husten beginnen, ehe sie die Mutter erschrocken zur Seite ziehen kann.

    Gleich neben dem Palast der Kumari, auf den Stufen zum dreigeschossigen Trailokya-Mohan-Narayan-Tempel, der dem Gott Vishnu geweiht ist, hat Amrit noch ein paar Lücken erspäht. Wenn die anderen Besucher etwas zusammenrücken, würde er mit seiner Frau und den beiden Töchtern Plätze mit guter Aussicht finden.

    Geduldig harren die Menschen aus. Nur die Touristen äugen in Sorge um ihre kostbaren Kameras gelegentlich zu den nun aufziehenden Wolken hinauf. Erneut ertönt der krächzende Ton der newarischen Musiker, die als Erste das Tor des Kumari Bahal durchschreiten. Im nächsten Moment springt ein Tänzer hinaus, der als Dämon Lakhi maskiert, einen furchterregenden Tanz aufführt. Mit seiner fratzenhaften Maske, die von langen dunkelroten Haaren eines Yak-Bockes eingerahmt ist, blickt er in alle Richtungen. Als er auf die Stufen der Vishnu-Pagode zuläuft, klammert sich Anita erschrocken an ihre Mutter, während ihre kleine Schwester zu lachen beginnt. Erstaunt nimmt der Vater zur Kenntnis, dass Amita offenbar ein furchtloses Wesen ist.

    Die Mädchen wollen alles erklärt bekommen. Ihre Eltern aber wissen auch nicht mehr, als dass Lakhi eben ein Dämon ist, die Tänzer unter dem weißen Umhang mit den kleinen Glocken darauf den mythischen Elefanten Tana Kishi darstellen und das schöne Lied, welches die Männer in den weißen Uniformen gerade spielen, die Nationalhymne ist. Als die große Mercedes-Pullman-Limousine vorfährt, klatschen die Menschen in die Hände, und als die beiden Mädchen hören, dass sich darin der König befindet, klatschen auch sie. Die Enttäuschung ist groß, als dem Wagen ein Mann entsteigt, den weder ein goldener Umhang ziert noch jene Krone mit dem langen weißen Schweif, wie auf dem Bild zu Hause im Wohnzimmer. Vielmehr trägt er einen dunklen Anzug und auf dem Kopf einen bunten Topi.

    *

    Auf dem Balkon an der Westseite des schneeweißen einstigen Palastes der Malla-Könige, schräg gegenüber des Kumari Bahal, haben sich neben Mitgliedern des Hofes und der nepalesischen Regierung auch ausländische Diplomaten versammelt. Auf dem davor liegenden Durbar-Platz beobachtet das Volk, wie ihr König Birendra in geschmeidiger Eleganz seiner Rolle als erster Mann des Staates gerecht wird. An seiner Seite Königin Aishwarya in einem orangegelben seidenen Sari und in gebotener Distanz schräg dahinter, ein eleganter älterer Herr, der religiöse Ratgeber des Königs. Jener Badaguruju ist auch derjenige, der den Hof gegebenenfalls über die Notwendigkeit informiert, eine Kumari abzulösen. Als Begründung wird er dafür den Verlust von Blut bei der Mädchengöttin anführen. Sei es, dass die Kumari sich verletzt oder deren erste Menstruation eingesetzt hat. In den letzten Jahrzehnten allerdings wollte man auf eine blutende Göttin lieber ganz verzichten, weshalb die Kumaris in jedem Fall mit Vollendung des zwölften Lebensjahres nach Hause geschickt wurden. Und so würde es auch in diesem Jahr sein. Bereits vor Wochen hat jener elegante Herr dort veranlasst, dass die Horoskope potenzieller Kandidatinnen eingeholt und zum Chefastrologen des Königs gebracht wurden. Gleich nach dem Indra Jatra-Fest erwartet er dessen Ergebnis.

    Im Moment werden oben auf dem Balkon noch die Hände aneinander gelegt und nach allen Seiten zum Gruß vor das Gesicht geführt. Sobald der Monarch aber an die Brüstung treten und sich seinem Volk zuwenden wird, werden die Untertanen in ihm die Inkarnation des mächtigen Gottes Vishnu erkennen, den Bewahrer der hinduistischen Welt. Als solcher wird der nepalesische König jener Göttin Taleju nachher auf Augenhöhe begegnen, der sich einst einer seiner Vorgänger beim Würfelspiel in eindeutiger Absicht genähert haben soll. Die intellektuelle Elite um den Badaguruju findet den Kult um die jungfräuliche Kumari schon lange zuvor in den heiligen Schriften erwähnt. Demnach wurden, zumindest an den hohen Feiertagen, schon vor einem Jahrtausend Mädchen öffentlich als Manifestationen der Göttin Durga verehrt.

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    Die Musikanten haben neben den beiden steinernen Löwen links und rechts vom Eingang zum Kumari Bahal Aufstellung bezogen. Als sie die altertümlichen Instrumente schließlich absetzen, wird es still auf dem Durbar-Platz – die erwartungsvolle Stille vor dem Erscheinen der Mädchengöttin. Nur die Touristen führen ihre Gespräche in vielen Sprachen der Welt ungehindert in der üblichen Lautstärke fort, geben sich untereinander Tipps, mit welcher Belichtungszeit das bevorstehende Ereignis am wirkungsvollsten zu fotografieren sei.

    Der kleine Ganesh wird herausgeführt. Da er im leuchtenden Rot der Kumari gekleidet und wie diese geschminkt ist, halten ihn viele der ausländischen Besucher bereits für die Mädchengöttin. Hunderte Kameraverschlüsse klicken, Camcorder beginnen zu surren. Die Verwirrung unter den Touristen ist groß, als nun auch Baihrav in gleicher Aufmachung erscheint. Amrit Man Shakya aber weiß, dass die Kumari gar nicht durch das Haupttor ins Freie treten wird. Vielmehr ist dafür jenes unscheinbare Tor schräg unter ihnen vorgesehen. Früher als die meisten anderen hier, werden seine beiden Töchter also die Kumari gleich aus nächster Nähe sehen können. Doch sie wird nicht erscheinen, solange der König auf dem Balkon dort drüben noch Konversationen pflegt. Die Mädchengöttin erwartet die ungeteilte Aufmerksamkeit des Königs. Diese aber ist nur gegeben, wenn sich Mousuf Sarkar an die Brüstung seines Balkons begibt und hinüber zum Haus der lebenden Göttin blickt.

    Zunächst treten die fünf Pancha Buddha-Priester in Gewändern jener Farben auf, deren Elemente sie verkörpern: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Himmel. Wie aber sollen die Shakyas das alles ihren kleinen Töchtern erklären? Sie versuchen es gar nicht erst, sondern belassen es dabei, ihnen zu sagen, dass dies die fünf Männer seien, die die Kumari vor der Macht der Dämonen schützen.

    Plötzlich ertönt auf dem Durbar-Platz lauter Jubel. Nepals Herrscher hat sich an die Brüstung des Balkons begeben. Dieser Jubel aber gilt diesmal nicht dem König, sondern der Mädchengöttin Kumari, die in diesem Moment auf starken Mannesarmen durch die kleine Seitentür in die Öffentlichkeit getragen wird. Ihre rot gefärbten Füße, die keine Schuhe tragen, dürfen den unreinen Boden nicht betreten. Von der Begeisterung, die nun auch die Menschen auf dem benachbarten Basantapur-Platz erfasst, und dem Blitzlichtgewitter der Pressefotografen wird die Kumari begrüßt, wie anderswo Kinderstars aus der Welt des Films und des Showbusiness.

    Den beiden Töchtern der Shakyas aus Bagbazar stehen vor Bewunderung und Staunen die Münder offen, obgleich die Kumari doch kaum anders aussieht als zuvor Ganesh und Baihrava. Die Mädchengöttin wird zu ihrem Wagen neben dem alten Königspalast Hanuman-Dhoka hinübergetragen und dort an einen Mann vom Guthi Sanasthan weitergereicht, der oben vor dem Kumari-Thron schon auf sie wartet. Einige Minuten vergehen, in denen auf dem Wagen hektische Betriebsamkeit herrscht.

    Zuerst werden die beiden kleineren Wagen von Bhairava und Ganesh über den Durbar-Platz gezogen. Dann folgt der Wagen mit dem gewaltigen goldenen Aufbau, in dem die Kumari wie ein liegen gelassenes Püppchen wirkt. Doch schon nach wenigen Metern, direkt vor dem Balkon des Königs, stoppt die göttliche Kutsche schon wieder.

    Der König und seine Kumari befinden sich nun auf gleicher Höhe. Nepals Herrscher ist der Einzige, der ihr lange und tief in die Augen sehen darf, ohne den Zorn der Durga fürchten zu müssen. Von diesem Recht aber macht der Monarch keinen Gebrauch. Vielmehr lässt er sich einige Münzen reichen, die er in Richtung des Kumari-Thrones schleudert, ehe der goldene Wagen von Männern der niederen Kasten an langen Seilen in Richtung der südlichen Altstadt gezogen wird.

    Amrit drängt seine Familie zum Aufbruch. Seine beiden Töchter maulen zwar, aber er möchte den Durbar-Platz unbedingt verlassen haben, ehe sich einige tausend andere auch dazu entschließen. In den nächsten Tagen wird er immer wieder zu den verschiedenen Streckenabschnitten der Kumari-Prozessionen gehen. Stumm wird er die Göttin Taleju darum bitten, eine seiner Töchter zu erwählen. Die Mutter der beiden Mädchen aber wird zu Hause auf dem Sofa liegen und hilflos einem zwischen Hoffnung und Furcht schwankenden Gefühl ausgeliefert

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