Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

19:23
19:23
19:23
Ebook506 pages7 hours

19:23

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

"Hallo.
Ich bin Sarah und heute ist der Tag, an dem ich sterbe. Ich bin 17 Jahre alt und ich gehe. Meine Welt ist anders als eure, meine Welt ist kleiner und trüber, farbloser und blasser. Ich kenne Menschen, die ich nicht kenne, und die, die ich kenne, kenne ich nicht. Ich bin Sarah, aber ich bin nicht ich."

Sarah ist jung, klug, schön und entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu bereiten.

Eine Geschichte, die berührt, schockiert und eine unumgängliche Frage aufwirft: Wie viele Schicksalsschläge kann ein Mensch ertragen, ohne an der Qual seiner schreienden Seele zu ersticken?
LanguageDeutsch
Release dateJun 8, 2015
ISBN9783739289243
19:23
Author

Anna Zinke

Anna Zinke wurde 1996 in Kassel geboren und nähert sich derzeit dem Ende ihrer Schullaufbahn in Form des Abiturs. Da 19:23 ihr erster Ausflug in die Welt der Belletristik ist, gestaltet der Verweis auf bisherige Erfolge sich an dieser Stelle schwierig, wodurch die Vorfreude auf etwas vollkommen Neues allerdings umso gigantischer wird. Frischfleisch für den Markt!

Related to 19:23

Related ebooks

Related articles

Reviews for 19:23

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    19:23 - Anna Zinke

    73

    Kapitel 1

    Hallo.

    Ich bin Sarah und heute ist der Tag, an dem ich sterbe.

    Der Tag, an dem mich der Bruder des Lebens adoptiert, der Tag, an dem ich ins Haus des Todes einziehe. Ich bin 17 Jahre alt und ich gehe. Meine Welt ist anders als eure, meine Welt ist kleiner und trüber, farbloser und blasser. Ich kenne Menschen, die ich nicht kenne, und die, die ich kenne, kenne ich nicht. Man täuscht sich im Leben, man täuscht sich so sehr, dass man es nicht einmal merkt. Es macht einen blind, legt einem kalte Hände vor die Augen. Ich bin Sarah, aber ich bin nicht ich. Also bin ich nicht Sarah, mein Name ist Sarah. Und scheinbar bin ich die Einzige, die bemerkt, wie sehr das Leben uns, oder besser gesagt, euch und mich jeden Tag aufs Neue an der Nase herum führt. Es baut auf seine Lügen auf und errichtet eine verlogene Mauer, höher als die eines Hauses. Es zeigt uns Dinge, von denen wir nie sicher sein können, ob sie da sind oder ob wir sie uns nur vorstellen. Das Leben ist eine Folter, wenn man weiß, was es mit einem treibt. Doch das weiß, so scheint es mir, kaum einer. Also ist mein Name Sarah und mein Leben ist ein Dasein, wenn das denn überhaupt so zu beschreiben ist. Heute ist ein besonderer Tag, der, an dem der nächste Abschnitt eintritt, und das weiß ich seit Jahren. Zumindest kenne ich die Tatsache, dass es einmal so weit sein muss, seit Jahren. Ob ein Abschnitt folgen wird, ist selbst mir nicht bewusst. Aber darauf lasse ich mich ein. Ich habe mich so oft schon fallen gelassen, ohne gewusst zu haben, wo ich landen würde. Wenn auch nicht unbedingt freiwillig. Doch dieses Mal tu ich es freiwillig, dieses Mal lasse ich mich selbst fallen und ich sorge dafür, dass es nichts und niemanden gibt, der diesen Plan ins Wanken bringt. Denn leerer werden kann es nicht mehr. Es ist nun 08:37 Uhr, ich habe mein Bestes gegeben, lang zu schlafen, doch nun kann ich nicht mehr liegen bleiben.

    Mir bleiben noch zehn Stunden und sechsundvierzig Minuten. Denn auch, wenn es in dieser Welt nichts gibt, dem man vertrauen kann, wenn nichts funktioniert und nichts klar ist, weiß ich mit einer Sicherheit, die der Festigkeit eines riesigen Steines gleicht, dass um 19:23 Uhr der Zeitpunkt gekommen ist, für den ich seit 17 Jahren gelebt habe. Nein. Für den ich seit 17 Jahren da gewesen bin. Ich sterbe. In zehn Stunden und sechsundvierzig Minuten.

    In mir tanzt eine Unruhe umher, die es mir unmöglich macht, die Augen zu schließen. Oder habe ich meine Augen noch geschlossen? Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts, bloß, dass ich nichts weiß, weiß ich. Ich drehe mich auf die Seite und begutachte mein Zimmer, eines meiner Zimmer, um genau zu sein. Es sieht anders aus als sonst. Obwohl, eigentlich kann ich mich nur noch schleierhaft daran erinnern, wie es sonst aussah. Oder es wirkt nur anders auf mich, weil ich heute wieder anders bin. Das wird es sein. Ich bin anders und deshalb ist das Zimmer anders. Deshalb ist die weiße Wand heute gelb und die blassrosafarbene ist rot. Und deshalb habe ich auch dieses eigenartige Gefühl in meinem Bauch, wenn ein Gefühl sich so anfühlt. Weil ich heute anders bin, ganz anders. Ich glaube, das sind die letzten Zuckungen, in der Tierwelt ist das ähnlich, das habe ich gelesen. Tötet man eine Fliege, zucken ihre Flügel noch ein – zwei Mal hoch und runter, bevor sie sich dem restlichen schlaffen Körper anpassen und in die Todesstarre verfallen.

    Todesstarre – das klingt, als würde nach dem Leben doch kein Abschnitt mehr folgen, als wäre der Bruder des Lebens ein ruhiger, schwarz gekleideter Mann, der den ganzen Tag nichts tut und in dessen Haus sich kein Staubkorn regt. Aber mein Leben war ja kein richtiges Leben, so, wie man sich das vorstellt, und so, wie es die anderen Menschen immer erzählen, die anderen Menschen, die nicht sind wie ich. Denn Mensch ist nicht gleich Mensch. Also wenn das Leben, das da war, nicht so ein richtiges Leben war, dann ist die Todesstarre, die darauf folgt, vielleicht auch nur so eine täuschende Todesstarre, damit es so aussieht, als wären alle Menschen gleich. Aber nach dem Nicht-Leben kommt ja dann eigentlich auch die Nicht-Todesstarre. Na egal, was soll’s. Jedenfalls sind es jetzt nur noch zehn Stunden und siebenundzwanzig Minuten. Ich sollte den ganzen Tag nachdenken, das macht Spaß. Aber vielleicht bin ich dann traurig, wenn ich keine Antwort auf meine Fragen finde. Ich habe bisher schließlich so gut wie nie eine Antwort auf meine Fragen gefunden.

    Das ist traurig. Und auch ein wenig ungerecht. Aber immerhin weiß ich jetzt, dass ich heute anders bin, dass dieses Dingens da in meinem Bauch vielleicht ein Gefühl ist, etwas Schönes eigentlich. Und dass ich die Augen offen habe, denn die weiße Wand ist gelb und die blassrosafarbene Wand ist rot, oder vielleicht bin ich jetzt auch ich und war sonst immer anders. Okay, ich weiß es nicht. Aber ich sterbe heute Abend, das weiß ich. Mein Name ist Sarah, ich bin 17 Jahre alt und ich sterbe heute Abend. Und die, die heute Abend stirbt, bin ich. Heute Abend bin ich ich. Oder ich bin heute Abend einfach Sarah. Ja. Nein. Ich weiß es nicht.

    Kapitel 2

    Es war ein warmer Tag, an dem die Sonnenstrahlen das Gras weich und hell leuchten ließen. Die Wiesen waren grün und die Blumen blühten in verschiedensten Farben und Variationen auf. Es war erst Mai, doch das Wetter ließ nicht zu wünschen übrig. Hätte Paul den Monat nicht gekannt, wäre er davon ausgegangen, es sei Juli oder gar August. Doch es war Mai, der siebte um genau zu sein und dieser siebte Mai war ein Tag, den Paul nicht so schnell vergessen würde.

    Er trug seine neue schwarze Aktentasche unter dem Arm, die Stella ihm gekauft hatte. Seit fünf Jahren teilten sie sich nun nicht mehr nur ein Leben, sondern auch einen Nachnamen.

    Paul und Stella Meyers. Ja, heute waren es fünf Jahre und heute waren es drei Jahre. Denn am 07. Mai 1994 hatten die beiden geheiratet und exakt zwei Jahre später, am 7. Mai 1996 also, war ihre erste gemeinsame Tochter zur Welt gekommen.

    Die erste und, so sollte es sein, die letzte. Und das obwohl Stella sich immer schon eine Horde von Kindern gewünscht hatte, am liebsten zehn Jungen und zehn Mädchen.

    Paul musste grinsen. Er stellte sich vor, wie sie als altes Ehepaar mit ihren zwanzig Kindern im Garten saßen und ihren Enkeln beim Spielen zusahen. Bei zwanzig Kindern handelte es sich um noch mehr Enkelkinder. Er war glücklich, sie waren glücklich. Auch wenn sie erst einen kleinen Teil ihres Traumes erfüllt hatten. Er erinnerte sich daran, wie er seinem Chef die Schachtel mit der goldenen Kette gezeigt hatte und dieser ihn deswegen früher hatte nach Hause gehen lassen. Denn Paul wusste, dass seine Frau vermutlich gerade mit ausgestreckten Beinen auf der der Sonne zugewandten Terrasse saß und ein kühles Glas Zitronenwasser genoss, während sie skeptisch die noch immer zu bügelnde Wäsche ansah. Er malte sich schon ihr Gesicht aus, wenn er nach Hause kam, ihr die Kette anlegte und dann den langen Tisch für die Familie deckte, die mit ihnen den Geburtstag der Kleinen feiern würden. Doch zuerst würde er seine Tochter abholen, damit Stella sich ausruhen konnte.

    Er bog nach rechts in eine etwas kleinere Straße ab und machte beim dritten Haus auf der linken Seite Halt. Er klingelte und lauschte dem Kindergebrüll hinter den Türen.

    Seine kleine Tochter versteckte sich strahlend auf der Treppenstufe seitlich der Tür, er nahm sie in den Arm, hob sie hoch und schleuderte sie umher.

    „Alles Gute zum dritten Geburtstag, du kleiner Scheißer.", flüsterte er ihr lachend ins Ohr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn bevor er sie wieder absetzte. Dann begrüßte er die junge Frau, die ihm die Tür geöffnet hatte mit einer herzlichen Umarmung. Ihr Name war Lisa und sie trug ein sommerliches Blumenkleid, das ihren flachen Bauch betonte. Ihr Lächeln war breit und man konnte kein Makel an ihren geraden weißen Zähnen erkennen. Sie war wunderschön. Aber nichts im Vergleich zu Stella, dachte Paul und erkundigte sich derweil nach Lisas Wohl. Sie nickte und gab vorherzusehende Antworten, bat ihn herein und bekam eine dankende Ablehnung. Lisa war eine von Stellas engsten Freundinnen und das, obwohl oder gerade weil sie mal mit Stellas Bruder zusammengewesen war. Sie war ungefähr acht Jahre jünger als Paul, aber verhielt sich ziemlich erwachsen und vernünftig. Ihr kleiner Bruder tauchte auf und klammerte sich an ihrem Bein fest.

    „Wann kommst du nachher?", erkundigte Paul sich.

    „Gegen vier Uhr, denke ich. Ich gebe dir den Kuchen aber jetzt schon mit."

    Sie nickten beide und Lisa drückte Paul ein Blech Erdbeerkuchen in die Hand, er balancierte es die Treppe hinunter und wartete auf seine Tochter, die ihm mit hüpfenden Schritten folgte. Bevor sie ganz nach Hause gingen, machten sie noch einen Abstecher ins nahe gelegene Einkaufszentrum, um eine Packung einfarbiger Servietten zu besorgen, so wie Stella es Paul noch am Morgen aufgetragen hatte. An der Kasse malte er sich aus, wie ihr breites Lächeln noch breiter und von Liebe erfüllter werden würde, wenn sie die Kette zu Gesicht bekam, die er extra für sie hatte anfertigen lassen. Es war das erste Mal, dass sie am richtigen Tag ihr Geschenk bekam, denn fünf Jahre waren, zumindest in Pauls Augen, eine Zeitspanne, die man feiern sollte.

    Seine Tochter fing an zu quengeln, weshalb Paul beschloss, sie für den Rest des Weges auf dem Rücken zu tragen, statt an der Hand zu halten.

    „Papa", rief sie ihm zu und tippte mit ihrer winzig kleinen Hand auf die große Schulter ihres Vaters. Sie wollte keine Antwort, sie wollte ihm nur klar machen, dass er ihr Vater war und dass sie es wusste. Sie, dieses kleine Mädchen, seine Tochter und die Tochter seiner Frau. Ihr Name war Sarah.

    Sarah Meyers. Und an diesem Tag war ihr dritter Geburtstag.

    Kapitel 3

    Stella hatte sich dazu entschlossen, den Tag zu Hause zu verbringen. Es war ein Freitag, die Sonne stand lachend am Himmel und die Bügelwäsche lachte Stella voller Spott aus.

    Es gab noch viel zu tun, denn es war der 07. Mai, der wie jedes Jahr ein zwar wunderschöner, aber durchaus stressiger Tag war. Ihr Hochzeitstag und der Geburtstag ihres Kindes.

    Sie hatte schon ein schlechtes Gewissen, da sie keinen blassen Schimmer hatte, was sie ihrem Mann Paul schenken könnte, aber er hatte sie bisher auch immer erst ein paar Tage später überrascht, er war schließlich ein verplanter Geschäftsmann.

    Paul arbeitete in einer Anwaltskanzlei in der Nähe ihres Hauses, die beiden hatten nur ein Auto und deswegen war es von Vorteil, dass er zur Arbeit laufen beziehungsweise mit dem Fahrrad fahren konnte, denn das fiel ihr schwerer, vor allem jetzt in dieser Lebenslage. Aber wie sollte sie ihm das bloß erklären? Stella war sich sicher, dass Paul nicht unbedingt noch ein Kind wollte, aber sie hätte am liebsten unendlich viele gehabt und war nun auf dem besten Weg dort hin. Und das wollte sie ihm heute mitteilen. Ein Tag voller Schönheiten also. Und ein Tag, an dem es noch einiges zu tun gab. Es war nun schon beinahe 11 Uhr. Um 15:00 Uhr hatte sie die Gäste zur Kaffeetafel eingeladen. Es waren zwar nicht allzu viele, aber das Wohnzimmer musste sie trotzdem noch herrichten. Aber das konnte warten, denn es war seit Wochen der erste schöne Tag und wenn sie die Sonne nicht genoss, würde sie sich bestimmt ärgern, wenn sie schon bald nicht mehr auftauchen würde. Also goss sie sich ein Glas Zitronenwasser ein und legte sich mit einer Zeitschrift auf die Terrasse. Mit einem Schwangerschaftsratgeber, um genau zu sein. Obwohl sie ja eigentlich schon wusste, wie sie sich zu verhalten hatte, war es immer wieder ein aufregendes von Glück erfülltes Gefühl, wenn sie ihre Hand auf ihren Bauch legte und ihn streichelte. Wenn sie ihre Hand auf ihren Bauch legte und es streichelte – ihr zweites Kind. Sie hoffte, dass es ein Junge war, der dort in ihr heran wuchs, damit Paul auf der Wiese mit ihm Fußball spielen konnte und damit die blauen Strampelanzüge, die sie von den Leuten geschenkt bekommen hatten, die sich nicht sicher gewesen waren, ob das erste Kind ein Junge oder ein Mädchen werden sollte, Verwendung fanden. Aber insgeheim musste sie sich eingestehen, dass ein Mädchen auch zu Freude führen würde. Sie war glücklich und er war es auch, das wusste sie. Und sie würde ihm mit Sicherheit auch ohne materielles Geschenk eine tolle Überraschung bescheren, wenn sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte. Gegen 14:30 Uhr würde er von der Arbeit nach Hause kommen, dann hätte sie den Tisch und die Stühle bereitgestellt und gedeckt, vielleicht im Wohnzimmer, vielleicht aber sogar auf der Terrasse. Sarahs Geschenke waren bereits fertig eingepackt, sie sollte ein pinkfarbenes Schaukelpferd mit schwarzen Augen bekommen und ein sommerliches türkises Kleid, das hervorragend zum heutigen Wetter passte. Sie hatten wirklich Glück, dass die Sonne so schien. Und um dies auch wirklich auszunutzen, beschloss Stella nun ohne das Einverständnis ihres Mannes schon einmal im Voraus, dass sie den Tisch draußen aufbauen wollte.

    Stella schnappte sich das Telefon und rief ihre Mutter an.

    „Hallo Mama", sagte sie, als diese den Hörer abnahm. Ein Knistern entstand in der Leitung, bevor ihre Mutter ihr mit einem warmen Hallo antwortete. Sie hatten sich schon seit fast einem Monat nicht gesehen, da Stellas Eltern etwa sechzig Kilometer weit von ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn und ihrem Enkelkind entfernt in einem ländlichen Dorf lebten. Aber in etwa zwei Stunden würden sie endlich ankommen, Sarah bei Stellas Freundin Lisa, die gelegentlich auf sie aufpasste, abholen und dann ihr Zimmer für die nächste Woche beziehen, die die Familie beieinander verbringen würde. Nach dem kurzen Hinweis darauf, dass sie das Geschenk und den Kuchen nicht zu Hause vergessen sollten, verabschiedete Stella sich wieder und ging ins Badezimmer, um sich unter der Dusche frisch zu machen und ihre Haare schon einmal zu föhnen. Doch kurz bevor sie über die Türschwelle auf die kühlen Badezimmerfliesen treten konnte, hörte sie, wie die Klingel ertönte.

    Wer kann denn das bloß sein?, fragte sie sich und dachte, nachdem ihr der Postbote und die Nachbarn im Kopf herum geschwirrt waren, an ihren Mann Paul und erhoffte sich, dass er sie vielleicht überraschen wollte. Sie warf einen Blick in den Spiegel, strich ihr seitliches blondes Pony hinters Ohr und drehte sich so schwungvoll herum, dass ihr Kleid hochflog.

    Sie war eine durchaus attraktive Frau, deren Körper selbst nach der ersten und während der zweiten Schwangerschaft noch fit, ausgewogen und gut in Form war. Sie ging gemütlich die Holztreppe hinunter, dachte voller Vorfreude an den Moment, in dem sie Pauls Hand haltend zum ersten Mal in die Augen ihres zweiten Kindes blicken konnte, stellte sich vor, dass sie blau waren und unterhalb der blonden kurzen Haare funkelten, und lächelte bei dem Gedanken daran, wie schön ihre Nachricht doch war, erleichtert. Jetzt konnte sie ihn in den Arm nehmen, ihn küssen, seine frisch rasierten Wangen streicheln und mit ihm gemeinsam einen weiteren Tag ihrer Ehe genießen, die auch nach fünf Jahren immer noch genauso frisch und feurig war wie am Anfang. Dachte sie. Sie ging die drei Stufen im Flur hinunter und blickte durch das gläserne Dreieck in der Tür auf schwarze große Lackschuhe. Solche Schuhe besaß Paul nicht. Und weshalb sollte er klingeln? Und war es wirklich realistisch, dass er sie überraschen wollte?

    Nein.

    Sie überlegte, die Tür nicht zu öffnen, doch derjenige, der davor stand hatte längst einen Blick auf ihre Beine erhaschen können. Und sie war allein in einem großen Haus, in dem sie sich auskannte. Der Mann, denn es war der Schuhgröße nach zu urteilen ein Mann, konnte das nicht. Oder es war Pauls Vater oder ein Freund der Familie. Oder vielleicht ein Nachbar oder doch der Postbote. Weshalb machte sie sich nur unnötig solche Sorgen?

    Stella drückte die Klinke herunter, legte aus Reflex schützend eine Hand um ihren Bauch und zog die Tür zögerlich einen Spalt weit auf, um einen Blick auf ihren Besucher erlangen zu können. Doch das konnte sie nicht. Sie konnte gar nichts. Es war 11:34 Uhr. Schwärze und ein Hauch von Nichts erfüllten Stellas Körper. Nichts.

    Kapitel 4

    Eigentlich war Paul gar nicht so der große Planer. Er hatte sich immer über unspontane Leute lustig gemacht, wenn diese sich aufgeregt hatten, dass ihr Tagesablauf sich um zehn Minuten verschoben hatte. Nun aber geriet er selbst ein wenig in Hektik. Er hatte damit gerechnet, dass er gegen 11:20 Uhr zu Hause sei, dann gemeinsam mit seiner Frau und Sarah die Geschenke der Kleinen hätte auspacken können und während seine Tochter mit ihrem neuen Schaukelpferd beschäftigt gewesen wäre, hätte er kurz mit Stella allein sein können, um ihr sein kleines Geschenk zu geben und ein wenig Zeit zu zweit mit ihr zu verbringen. Doch er hatte vergessen gehabt, den Einkauf mit in seinen Zeitplan einzurechnen, und deshalb war es bereits 11:54 Uhr, als Sarah und er in ihre Straße einbogen. Das Haus schien ganz normal zu sein. Die Vordertür war geschlossen, das Schlafzimmerfenster gekippt und das Rollo vor dem Küchenfenster war hinuntergelassen.

    Paul ließ Sarah von seinem Rücken hinab und kramte in seiner Hosentasche nach dem Haustürschlüssel. Das goldene Türschild glitzerte in der Sonne und reflektierte die darauf treffenden Strahlen.

    Paul, Stella & Sarah stand in einer verschnörkelten kitschigen Schreibschrift darauf geschrieben. Dazu war jedoch zu erwähnen, dass darunter noch etwa drei mal so viel Platz zur Verfügung stand, was darauf hinwies, dass Stella bei der Anfertigung dieses Türschildes nicht vergessen hatte, an all die anderen Kinder zu denken, die vielleicht noch kommen könnten. Es war nicht so, dass Paul sich über ein weiteres Familienglück nicht freuen würde, aber er würde sich fürs nächste Mal vielleicht eher einen Jungen wünschen. Das sollte nicht bedeuten, dass er seine Tochter nicht liebte, aber ein Junge wäre mal eine neue Herausforderung, dachte er sich.

    Das konnte allerdings noch ein – zwei Jahre warten, sie hatten schließlich beide einen Job und schon dieses kleine Familienleben brachte einige Hürden und Schwierigkeiten mit sich.

    Er zog den Schlüssel hervor und führte ihn zum Türschloss, drehte ihn langsam herum und schaute verwundert drein, als die Tür beim Öffnen nach wenigen Zentimetern stoppte. Paul dachte sich nichts dabei, drückte gewaltvoll dagegen, musste jedoch feststellen, dass sie sich aus irgendeinem Grund nicht weiter öffnen ließ. Er schob Sarah mit einem bestimmten Handdruck hinter sich und befahl ihr, auf dem Bürgersteig zu warten. Dann setzte er einen Fuß in den etwa zwei- Fußbreiten Spalt und presste sich auf Zehenspitzen bemüht durch die Türöffnung hindurch.

    Er hielt die Luft an, drohte, nach hinten umzufallen und ineinander zusammenzusacken. Ihm wurde schlecht, schwindelig und ihm blieb die Luft weg. Er schlug sich mit der einen Hand vor den Mund, stütze die andere gegen die Milchglasscheibe neben der Haustür. Er konnte nicht glauben, was er da sah, es war wie in einem schlechten Film. Er zwang sich, den Blick abzuwenden, doch aus Angst, dann in einer Dunkelheit gefangen zu sein, spielten seine Augen das Spiel nicht mit. Sie hafteten auf den am Boden liegenden Körper.

    Die blonden Haare klebten am Hinterkopf und die Arme waren vom Körper weggestreckt und es machte den Eindruck, als sei die Frau vornüber die Treppe hinunter gefallen.

    Sie ist nicht gefallen., dachte Paul voller Überzeugung, nein, er wusste es. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Frau wirklich die Frau war. Seine Frau. Stella. Aber er konnte es nicht glauben, er konnte nicht mal einen einzigen Gedanken daran verschwenden. Er ging auf die Knie, eher unfreiwillig als gewollt, beugte sich zu ihr nach vorn und strich ihr die blonden Haare hinters Ohr. Ihr Gesicht lag auf der Seite, sodass er ihr direkt auf die geschlossenen Augenlider schauen musste, ihm blieb förmlich nichts anderes übrig. Er zog sie an sich heran, tätschelte ihr Handgelenk zwischen seinen Fingern, fand aber nichts, was dem glich, wonach er suchte.

    Kein Puls., dachte er, bevor er es laut ausschrie. Er sah sich um, in der Hoffnung, irgendeine Spur zu sehen, gar in der Hoffnung, die wahre Stella hinter sich zu erblicken und laut loszulachen vor Erleichterung, aber er war allein.

    Von draußen drang ein Kinderlachen bis zu ihm hinein.

    „Da", rief Sarahs glückliche Stimme. Glücklich, weil sie nicht wusste, was geschehen war.

    Gut, im Grunde genommen wusste Paul genau so wenig wie sie, er hatte nur mehr gesehen, mehr von dem, was er nie hatte sehen wollen. Wäre er bloß nicht einkaufen gegangen. Wäre er direkt nach Hause gekommen. Aber so war es nicht. In seiner Magengrube tat sich ein Gefühl auf, das schlimmer war als alle bisherigen gemeinsam. Ihm blieb der Atem weg. Es war, als hätte ihm jemand einen Tritt und einen Schlag auf einmal verpasst. Er wimmerte auf, spürte das erste Mal seit Jahren eine Träne über seine Wange laufen, die rein gar nichts mit Freude zu tun hatte. Das musste ein schlechter Scherz sein. Er wollte aufspringen und die Treppen hoch rennen, brüllen, das Haus absuchen, zugleich nichts berühren und die Polizei rufen, aber er konnte nicht mal seinen kleinen Zeh hoch und runter bewegen. Er war in sich zusammengesackt und hing wie ein Tropfen Wasser über Stellas blonden Haaren, wog ihre Leichtigkeit in seiner Hand hin und her, beugte sich vor und inhalierte ihren Duft.

    Welcher Mensch auf dieser Welt konnte so gefühlskalt sein und einem Mann seine Frau nehmen, einem Kind seine Mutter, Eltern ihre Tochter und einer Frau ihr Leben? Oder war sie gar nicht tot?

    Paul schlug seinen Kopf von der linken auf die rechte Schulter und wieder zurück, wollte sich verletzen, wollte sich töten. Aber das wäre nichts gewesen. Alles war plötzlich nichts. Das Glück war vom Erdboden verschluckt, der Bruchteil einer Sekunde hatte sein Leben verändert und zwar nicht nur seins, nein, noch zu viele andere. Er ließ seinen Kopf fallen, kein Muskel in seinem Körper war mehr angespannt, doch das war ihm vollkommen egal. Wie durch einen Schutzwall abgedämmt, drangen leise widerhallende Rufe zu ihm ins Haus hinein, es war Sarah. Sarah. Sarah.

    Sarah.

    Er hörte Schritte, zu groß für die eines Kindes und zu euphorisch erst recht. Er wollte den Kopf drehen, um etwas sehen zu können, aber er war zu schwach, er hatte die Kontrolle vollkommen verloren, nichts tat mehr das, was es tun sollte. Er spürte einen Blick, der auf ihm ruhte, nur für eine Sekunde, dann verschwand der Blick wieder, das Augenpaar ging fort und die Schritte erklangen wieder laut und wurden leiser. Sie entfernten sich und trugen die Kinderstimme mit sich fort.

    Paul machte sich keine Gedanken, das mochte scheinbar jemand gewesen sein, der ihm eine Last von der Schulter nehmen wollte, an diesem seltsamen Tag. Auch, wenn seltsam wohl eines der am wenigsten passenden Wörter war, um diese Situation, diesen Vorfall, dieses Unglück zu beschreiben.

    Nichts konnte es beschreiben. Und niemand, der es nicht erlebt hatte, konnte es nachvollziehen.

    Paul war von einer Dunkelheit erfüllt, von der gleichen, die Stella ereilt hatte, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, bloß hatte ihn kein unerwünschter Besucher überrascht, ihn hatte eher ein unerwünschter Schock überrascht.

    Sie war tot. Tot wie ein kalter schwarzer Stein, von der einen auf die andere Sekunde. Sie hatte die Welt des Lebens bereits verlassen, ihr makelloses Gesicht lag mit geschlossenen Augen zur Seite gedreht und ihr Mund war geöffnet, als müsse sie noch atmen. Ihre Arme waren vom Körper weggestreckt, als würden sie darum kämpfen, nicht dazu zu gehören, ihre Beine waren gespreizt und ihre nackten kalten Füße lagen auf der untersten der drei Treppenstufen. Ihr Bauch war an den Boden gepresst und wenn man genau hinschaute, konnte man eine leichte Wölbung nach außen erkennen, die auf das Lebewesen in ihr schließen ließ. Das Lebewesen, das nun in einem leblosen Körper hauste, das Lebewesen, von dem sie ihrem Mann in dieser Minute hatte berichten wollen, das Lebewesen, das nun vermutlich selbst kaum noch ein lebendiges Lebewesen war. Denn das Baby in ihrem Bauch war zu jung, um im toten Leib seiner Mutter auch nur einige Minuten weiterleben zu können, und zudem gab es niemanden, der von ihm wusste, der es hätte retten können.

    Es gelang Paul erst, sich aufzurappeln, als ein Polizist Stellas schlaffen Körper packte und ihn an den Beinen zur Seite zog, sodass die anderen Ermittler in den Flur eintreten konnten.

    Die Sonne des schönen Tages fiel durch die Milchglasscheibe hinein und ließ winzige Staubkörnchen auf dem Parkettboden aufblitzen. Die stämmigen Männer zerstörten die beinahe friedliche Ruhe, die eingekehrt war, als Paul mit seiner Frau hatte allein sein können. Mehr und mehr Autos machten mit Blaulicht und Sirene in der Straße der Meyers Halt und statt mit den Geburtstagsgästen, füllte sich das Haus mit in weißen Overalls steckenden Beauftragten der Spurensicherung und mit Kaffee schlürfenden Beamten der Kriminalpolizei, die ihr Bestes gaben, einen großen Bogen um Paul zu machen. Doch allen Anwesenden war bewusst, dass ihnen dies früher oder später nicht mehr gelingen würde.

    Paul hob den Kopf nach oben und sah dem wirren Treiben in seinem idyllischen Heim zu, beobachtete, wie die Menschen ein und aus gingen und wie ihre von weißen Stoffüberziehern umbundenen Füße über das Parkett tapsten, das Stella ausgesucht hatte. Sie hatte lang gebraucht, bis sie Paul, dem sie damals frisch das Jawort gegeben hatte, hatte überreden können, diesen Fußboden zu kaufen und ausschließlich im Badezimmer und in der Küche auf Fliesen zurückzugreifen.

    Die Wand im Flur war in einem hellen Beige gestrichen und mit lilafarbenen Accessoires verziert. Selbst die Treppenstufen hatten sie der Farbe des Holzes angepasst, damit der Vorraum, so hatte Stella es gern genannt, eine Wohlfühloase für alle Neuankömmlinge war. Scheinbar hatte sich auch ihr Mörder hier wohl gefühlt. Der Mann mit den schwarzen Lackschuhen.

    Als Paul seine von Tränen verklebten Augen öffnete und an sich hinab sah, fiel ihm auf, dass man auch seine Füße in diese weißen Fetzen gesteckt hatte, damit er ja keine Spuren und Abdrücke verwischte. Auf seinem Weg zur Haustür, der nur knapp einen Meter lang war, wurde er von mindestens drei verschiedenen sich ähnlich sehenden Polizisten angesprochen, die ihn nach irgendwelchen belanglosen Dingen wie dem Verhältnis zwischen ihm und der Toten fragten.

    Als sei das nicht offensichtlich, ihr Arschlöcher., fluchte er innerlich, schlug die fremden Hände von seinen Schultern fort und ließ das Haus und den schmalen Vorhof hinter sich. Er hatte genug von all dem Getue. Am Ende würde sowieso niemand auf den wahren Täter kommen. Niemand würde das Arschloch fassen und der Mord an Pauls geliebter Frau, wenn geliebt überhaupt beschreiben konnte, was er für sie empfand und immer empfinden würde, würde ungeklärt bleiben. Aber er würde sich darum kümmern, koste es, was es wolle.

    Er schoss die Schuhüberzieher in Richtung Himmel und rannte auf der anderen Seite der Straße auf das Haus zu, in dem einer seiner besten Freunde aus Studienzeiten wohnte.

    Seine gleichaltrige Freundin stand bereits auf der Straße und hielt sich die Hände vor ihr von Tränen überflutetes Gesicht, Paul ging an ihr vorbei, ohne ihr jegliche Beachtung zu schenken, stürmte durch das Treppenhaus hoch in den Wohnungsbereich und knallte die offenstehende Tür hinter sich zu. Er blieb kurz stehen, ging dann aber ins Wohnzimmer, wo er Marc, seinen Freund, antraf. Beide schwiegen. Pauls überstrapazierte Lunge rang nach Luft, Marc stieß den Qualm seiner aufgebrauchten Zigarette aus und schaute ihm hinterher, wie er zur Decke des Zimmers zog.

    „Paul, ich.. es.. ich weiß nicht, also es", begann er stotternd und schien fast froh zu sein, als Paul ihm das Wort abschnitt.

    „Hast du irgendwas gesehen? Irgendetwas, das sonst anders ist? Oder hast du irgendwas nicht gesehen, was du sonst siehst? Ich meine irgendeine Kleinigkeit? Ich meine, ich… du.." Er unterbrach sich selbst, denn dies schien einer der wenigen Momente im Leben zu sein, in denen er kein Wort fand, um sich auszudrücken.

    „Ich weiß es nicht., enttäuschte Marc ihn und bewegte seine Hand in Richtung Mund, um festzustellen, dass er die Zigarette bereits ausgedrückt und in den Aschenbecher geworfen hatte. Er schüttelte missverständlich den Kopf. „Ich hab die Bullen gerufen, nahm er wieder auf und vermied es, seinem Freund und Nachbarn in die Augen zu sehen. „Aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Marie hat die Kleine geholt und hoch zu ihren Eltern gebracht, ich denke, da ist sie besser aufgehoben als bei ihr, dir oder mir. Ich, ich" Wieder geriet er ins Stocken, suchte nach Worten. Vergebens.

    „Was soll ich denn machen, Marc?" Verzweiflung.

    Hilflosigkeit. „Ich hab nie ein Buch gelesen, in dem so etwas passiert ist, auf dramatische Filme stehe ich sowieso nicht. Ich hab keinen blassen Schimmer, wie ein Mann, der seine Frau tot findet, sich verhält. Ich weiß nicht, was ich machen muss.

    Und wenn ich es schon mal irgendwo gesehen habe, dann bin ich dabei eingeschlafen, hab Stella diese leichte Kost überlassen. Stella. Ich will das nicht. Und vor allem weiß ich es nicht, ich weiß gar nichts gerade." Seine Stimme wurde durchsichtig, er war wie eine Hülle aus Glas. Man konnte in ihn hinein schauen. Marc sah, was gerade in Paul vorging, aber er konnte es nicht definieren, da alle Pfeile, alle Wörter und alle Verbindungen durcheinander geraten waren. Es war wie ein Text, der von rechts nach links und von unten nach oben geschrieben war, dazu noch auf Chinesisch oder Hebräisch, jedenfalls auf einer Sprache, der auf unserem Kontinent nicht einmal jeder zweite gewachsen war. Und das Schlimme daran war, dass nicht einmal Paul selbst die Zeichen entziffern konnte, die sein Körper ihm sendete.

    Marc schüttelte enttäuscht den Kopf. „Ich hab keine Ahnung, man., gestand er. „Ich hab einfach keine Ahnung. Nicht mal ein bisschen. Wieder schüttelte er den Kopf, als könne er die Zeit damit zurückdrehen und alles ungeschehen machen. „Da war kein Auto, ich hab auch niemanden gesehen, den ich nicht kannte. Marie nicht und ihre Eltern auch nicht. Marie hat gearbeitet bis ich sie eben angerufen habe. Ich hatte meine Mittagspause zwanzig Minuten vorverlegt, weil ich noch das Geschenk für Sarah im Spielzeugladen abholen wollte.

    Deswegen war ich hier, so gegen zwölf bin ich hier angekommen und wollte es hier zu Hause abstellen und dann gleich wieder an die Arbeit fahren. Und dann hab ich Sarah draußen gesehen und hab gemerkt, dass die Tür ein bisschen offen war. Hab reingeguckt und dann. Ja, den Rest weißt du ja. Leider. Er nickte, gab sich selbst recht und stütze den Kopf in seine Hände. Es war aussichtslos. „Meinst du, Sarah soll ihre Geschenke trotzdem bekommen?

    „Frag mich so was nicht. Ich meine, spätestens in einer halben Stunde will sie eh wissen, wo ihre Mutter steckt. Und dann geht das ganze Theater noch heftiger los. Was soll ich ihr sagen? Sie würde mich nicht verstehen. Und wenn doch, dann könnte ich das erst recht nicht. Ich bin so, ich weiß nicht, ich bin gar nichts irgendwie." Er seufzte und zwinkerte mehrmals schnell aufeinander folgend mit den Augen, fast als hätte er ernsthafte Zuckungen. In Wirklichkeit jedoch, tat er es, um die Tränen wegzuzwinkern.

    „Ich hole Marie hoch. Da unten versauert sie. Und außerdem kennt sie sich mit Kindern aus. Warte.", sagte Marc, eilte die Treppe hinunter und rief seine Freundin. Sie kam mit ihm die Treppe hoch, mit einem zerkneteten Taschentuch in der Hand und einem rot gefleckten Gesicht. Sie schnappte sich eine Fernbedienung vom Tisch und knipste das Radio an, drehte die Lautstärke ein wenig herunter und setzte sich mit nach unten geneigtem Kopf neben Marc. Eine Weile lang sagte niemand etwas, außer der Stimme des Moderators, der gerade das nächste Lied ansagte, von dem keiner der drei jemals etwas gehört hatte. Eine dicke Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und man konnte durch das große Glasfenster beobachten, wie sie sich mit einer für Wolken enormen Geschwindigkeit fortbewegte.

    Oder ist das nur die Welt, die sich dreht?, überlegte Marie und schämte sich dafür, dass sie das als Grundschullehrerin nicht wusste.

    Das Zimmer schien von der darin herrschenden Atmosphäre entsetzt zu sein, es war still gelegt und wirkte hässlich und falsch. Stella hatte es nie wirklich leiden können, hatte aber auch nie etwas dergleichen erwähnt. Das Haus der Meyers war jedenfalls gemütlicher. Der Geruch von abgenutzten Zigarettenstummeln lag in der Luft und die Sonne, die den ganzen Tag über geschienen hatte, hatte den Raum mit Wärme gefüllt. Im Moment war allen Anwesenden eher kalt ums Herz. Nichts in dieser Welt passte zusammen, alles und jeder schien fehl am Platz zu sein, niemand wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte, niemand wusste, was er sagen sollte, und vor allem wusste niemand, was Stella zugestoßen war.

    Marie hatte das dringende Bedürfnis, Marc etwas mitzuteilen.

    Irgendetwas. Sie überlegte, ob sie von ihrem Gespräch mit der Polizei sprechen sollte. Sie hatte den Beamten gesagt, ihr sei aufgefallen, dass Stellas Armband fehlte. So war es wirklich, Stella hatte ihr Armband niemals ausgezogen aber an ihrem leblosen Körper hatte sie es nicht entdeckt. Einer der Ärzte hatte Marie gefragt, ob sie etwas von einer Schwangerschaft wisse, aber sie hatte ein künstliches Lachen von sich gegeben.

    Schwangerschaft, was sollte das denn nun? Die Frau war tot und sie hatte ein Kind, sie war nicht schwanger. Sonst hätte sie doch jemandem davon erzählt. Oder?

    Marie dachte darüber nach, Paul darauf anzusprechen, aber sie hielt doch lieber Inne. Das war nicht das richtige Thema.

    Der Arzt hatte ihr versichert, dass Stella schwanger gewesen war und hatte irgendetwas von Wölbungen gesprochen. Marie hatte zu diesem Zeitpunkt schon längst aufgehört, seinen Worten Aufmerksamkeit zu spenden.

    Stella war schwanger., dachte sie nun, griff erneut zu ihrem Taschentuch und hielt die Tränen auf, die ihr wieder und wieder über die Wangen krochen. Zwei Menschen waren gestorben, nicht nur einer.

    „Ich, also, ich kann auch wieder gehen, wenn ihr euch wohler fühlt, wenn ich nicht dabei bin. Kein Problem, dann, ich", fing sie in ihrer Verzweiflung an, da sie einfach nicht leben konnte, wenn niemand etwas sagte, machte schon Anstalten, aufzustehen und zu gehen, als Paul ihr mit einer Handbewegung bedeutete, sitzen zu bleiben.

    „Okay", stammelte sie vor sich hin und nickte. Sie war kein Mensch, der auch nur ein paar Sekunden still sitzen konnte.

    Immer musste sie irgendetwas mit ihren Händen oder Füßen anstellen, um sich überhaupt konzentrieren zu können. Eine eher ungewöhnliche Charaktereigenschaft für eine Lehrerin, die ihre Schüler als Autoritätsperson ja eher beruhigen als aufregen sollte. In einer weniger ernsten Situation hätte Paul jetzt vielleicht lachen müssen, da Marie so verlegen war und absolut nicht wusste, was sie mit sich anfangen sollte. Aber ihm war schlichtweg nicht nach lachen zu Mute. Verständlich und durchaus nachvollziehbar. Das musste man dazu erwähnen.

    „Wir haben uns gefragt, was wir Sarah erzählen sollen.", nahm Marc das Gespräch wieder auf und kaute auf seiner Unterlippe herum.

    „Sie versteht ja sowieso noch nicht alles, was man ihr sagt.

    Ihre Entwicklung ist zwar schon weit fortgeschritten, aber nicht so weit, dass man sie als übernatürlich für ihr Alter bezeichnen müsste. Also können wir, oder kannst du, Paul, ihr vielleicht sagen, dass ihre Mama nicht da ist. Aber nur, falls sie nach ihr fragt, womit wir rechnen sollten. Und weil sie heute Geburtstag hat, müssten wir ihr trotzdem ihre Geschenke geben. Zumindest die Gäste. Ob du ihr euer Geschenk momentan geben möchtest, das sei dir überlassen.

    Niemand von uns weiß, wie weit du in deinem Kopf schon bist." Sie nickte, um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen.

    Vielleicht war sie sogar ein wenig stolz auf sich selbst, so vernünftig geklungen zu haben. Aber man konnte Marie nicht nehmen, dass sie sich mit Kindern und auch mit der Art und Weise, auf die man mit ihnen umgehen sollte, auskannte.

    Dabei schien sie selbst noch fast ein Kind zu sein.

    „Wir feiern den Geburtstag natürlich hier, also was heißt feiern… Sarahs Gäste können erst einmal hier her kommen und dann werden wir sehen, wie es weiter geht.", fügte Marc dem Gespräch hinzu und wagte es sogar, seinem Freund in die Augen zu blicken.

    Paul sah blass und ausgelaugt aus. Er griff in die Aktentasche, die noch immer an seinem Sessel lehnte und holte eine Schachtel heraus. Maries und Marcs Blicke durchbohrten ihn.

    Er wusste selbst nicht, was er da tat. Seine Finger umschlossen die goldene Kette, zogen sie aus der Schachtel heraus und schliffen über die feinen aneinandergereihten Ovale. Die Kette wirkte unter seiner rauen Haut besonders glatt. Er stellte sich vor, wie Stella ausgeschaut hätte, wie sich die Kette an ihr Dekolleté geschmiegt hätte. Er beschloss, sie ihr anzuziehen, bevor sie beigesetzt wurde. Dann würde sie sein Geschenk also doch wieder verspätet bekommen, wie in jedem Jahr zuvor. Der Gedanke an Alltag ließ ihn zusammenfahren.

    Es war nun schon nach halb zwei, das heißt, es waren schon mehr als eineinhalb Stunden vergangen seit er und Sarah nach Hause gekommen waren. Paul wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte. Am liebsten hätte er sich unter eine kalte Dusche gestellt und das Wasser einfach über sein Gesicht laufen lassen oder wäre weggerannt, so weit er rennen konnte oder einfach eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Aber er war ein Familienvater, ein Mann mit Arbeit und Verantwortung, ein Mann mit Kind. Und – mit dem Gedanken konnte er sich bloß noch nicht anfreunden und wusste bereits voller Überzeugung, dass es dazu auch nie kommen würde – ein Mann, der seine Frau verloren hatte und nie wieder die Gelegenheit haben würde, sie lebendig anzutreffen oder mit ihr zu sprechen.

    Er versuchte, sich an seine letzte Unterhaltung

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1