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Zwischen dem Horizont
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Zwischen dem Horizont

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About this ebook

Dies ist der erste Teil der Romanreihe „Das Buch der Welten“.

Ein Bibliothekar findet ein Buch, das nicht in seine Bibliothek gehört.
Bei dem Versuch es zurück zu geben, zeigt man ihm eine alte Ruine.
Er trifft einen sprechenden Hund, der behauptet kein Hund zu sein.
Ein fiktiver Detektiv versucht ihm mit guten Ratschlägen zur Seite zu stehen.
Ehe er es sich versieht spielt er in einer riesigen Partylocation im Sandkasten.

Dieses Buch ist ein Buch im Buch,
das Türen aufstößt in neue Welten.
Der erste Teil ist ein Aufbruch zu einem Ort,
der den Weg eröffnet zu neuen Möglichkeiten.

Die Geschichte ist ein Spiegelbild unserer Zeit und des gesellschaftlichen Wandels den wir erleben. Es ist ein Sinnbild für die Auseinandersetzungen in uns selbst und eine Diskurs durch die kulturellen Schöpfungen der Menschheit.

Wer dieses Buch lesen will, braucht einen offenen Geist, der bereit ist einige verrückte Einfälle willkommen zu heißen und darf sich durch ungewöhnliche Erzählformen nicht sofort aus der Ruhe bringen lassen.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateAug 3, 2014
ISBN9783958301375
Zwischen dem Horizont

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    Zwischen dem Horizont - Mathias Küfner (kuef)

    es

    Die Flucht ins Glück

    Die Nachtluft war kühl und der Wald war finster. Von ferne drang das Geschrei der Verfolger. Jeremias und Magda liefen, so schnell sie konnten. Sie rangen nach Luft. Zu lange waren sie schon gelaufen. Zu weit hatte man sie gehetzt.

    »Wir … müssen … weiter ...«, keuchte Magda. Sie zog ihren kleineren Bruder mit sich. Es tat ihr in der Seele weh, ihn immer weiter zu hetzen, doch es gab keine Wahl. Sie wusste, dass er am Ende seiner Kraft war, doch sie durften nicht stehen bleiben.

    Er war so erschöpft, dass er nichts mehr sagen konnte. Mit seinen letzten Reserven sog er die Luft ein und versuchte seine Füße voreinander zu setzen.

    Es war ein Elend, ihn so sehr zu hetzen, doch wenn man sie fasste, drohten ihnen schlimmere Dinge. Sie war nur eine junge Frau, zierlich in ihrer Gestalt. Ihr Bruder war noch ein Kind. Doch die zwei Dutzend Männer hinter ihnen hatten panische Angst vor ihnen. Ihre Angst war so übermächtig und wütend, dass sie nicht wegliefen. Sie waren entschlossen, die zwei Geschwister umzubringen. Ganz zum Schluss zumindest. Erst dadurch konnte sich ihre Angst lösen. Erst dadurch konnten sie sicher sein, nie mehr von den Geschwistern verfolgt zu werden.

    Das Schreien der Männer hinter ihnen wurde nun lauter. Sie riefen sich kaum verständliche Befehle zu. In hektischen Kommandos versuchten sie sich abzusprechen. Der Schein ihrer Fackeln reichte nicht weit genug. Sie waren bei ihrer wilden Jagd in Gefahr. Die Geschwister hatten schon zahllose Männer getötet. So berichtete man. Gnade war hier nicht angebracht. Es galt, das Dorf und die Familien zu schützen vor dem Bösen, das hier durch den Wald flog. Jetzt konnte man sich rächen und endlich alles beenden.

    Jeremias stolperte. Magda konnte ihn kaum halten. Er begann zu husten und versuchte wieder auf die Beine zu kommen, aber seine Knie gaben nach. Er war am Ende. Die Verfolger würden sie einholen. Magda sah sich um. Der Vollmond warf ein silbriges Licht in den Wald. Er war hier licht genug, um die Umgebung zumindest erahnen zu können.

    Magda zog Jeremias hinter einige umgefallene Baumstämme. Vielleicht konnten sie sich hier eine Weile verstecken. Sie mussten eine Pause machen. Jeremias würde bald zusammenbrechen und Magda hatte nicht mehr dir Kraft, ihn zu tragen. Das Versteck war eine Chance. Zumindest eine Chance.

    Das Schreien kam näher. Jeremias keuchte heftig. Magda wollte ihn dazu bringen, ruhig zu sein, doch sie wusste, dass dies sinnlos war. Er musste atmen. Sie konnte schon froh sein, wenn er nicht wieder laut loshusten musste. Doch so konnten die Männer sie vielleicht hören. Wenn sie innehielten und lauschten, wären sie entdeckt. Magda blickte zum Himmel auf und sah einen Stern fallen. Sie hielt kurz den Atem an. Obwohl sie selbst kaum noch Luft hatte, hielt sie für eine Sekunde den Atem an. Vielleicht würden die Männer an ihnen vorbeilaufen.

    Ihre Stimmen wurden lauter. Jetzt waren sie deutlich zu verstehen. Sie vermuteten die Geschwister weiter hinten. Einer rief, dass er sie kurz gesehen habe, als Schatten, der durch die Bäume huscht. Dann wurden ihre Stimmen wieder leiser. Sie brachen knackend durch das Unterholz. Einer verletzte sich an einem Ast und schrie auf. Aber die wilde Jagd ging unaufhörlich weiter. Die wütende Angst war übermächtig.

    Langsam kam Jeremias wieder zu Atem. Er wurde etwas ruhiger. Rund um sie wurde es ruhiger. Sie lagen in einer warmen Kuhle aus Reisig. Auf gewisse Weise war es recht gemütlich hier. Nach der langen, erschöpfenden Flucht schien es verlockend, einfach hier liegen zu bleiben, um zu rasten und zu schlafen. Doch auch die Geschwister waren in Angst. Die Männer würden zurückkommen. Sie würden sie nicht in Ruhe lassen. Und wenn die Dämmerung anbrach, dann würde man sie entdecken. Sie konnten nicht hierbleiben. Sie konnten auch nicht zurück.

    »Wo sollen wir nur hin?«, flüsterte Jeremias.

    »Tiefer in den Wald. Dort sind wir in Sicherheit!«, raunte Magda zurück.

    »Aber die Hexe!«, entfuhr es Jeremias. Er musste sich zusammennehmen, nicht zu laut zu sprechen. Seine Angst vor der Hexe war fast so groß wie die vor den Männern.

    »Sie wohnt dort irgendwo im Wald. Sie ist die Witwe im Netz, die auf Reisende lauert. Sie verdreht die Wahrheit und trübt die Sinne. Wenn man ihr zu nahe kommt, wird man wahnsinnig. Sie wird uns finden und verschlingen.«

    »Wer sagt das?«, fragte Magda. Sie wusste natürlich, wer diese Geschichten erzählte. Doch sie musste ihren Bruder beruhigen und dazu war es wichtig, dass er sich die nächsten Antworten selbst gab.

    Zögernd antwortete Jeremias: »Die Männer. Die Männer sagen es.«

    »Die Männer, die uns verfolgen, sagen das!«, wiederholte Magda.

    Inzwischen konnte man die Männer kaum noch hören. Sie waren weit abgekommen und suchten an der völlig falschen Stelle. Offenbar verfolgten sie fremde Schatten und unbekannte Schritte durch das Unterholz, die nicht den Geschwistern gehörten.

    »Und was sagen diese Männer über mich?«, fragte Magda.

    Jeremias zögerte. Er wollte die Antwort nicht geben. Sie war nicht richtig.

    »Was sagen sie über mich?«, wiederholte Magda.

    »Sie sagen, dass du auch eine Hexe bist«, flüsterte Jeremias.

    »Siehst du. Aber wenn ich eine Hexe bin und dort eine Hexe wohnt, vielleicht ist das dort dann ebenso keine Hexe und vielleicht hilft sie uns«, erklärte Magda. Es war eine gute Erklärung, aber sie konnte selbst kaum daran glauben. Zumindest beruhigte sich Jeremias etwas.

    Die Richtung, aus der die Geräusche der Männer kamen, änderte sich. Sie schienen eine Kurve zu gehen. Vielleicht kamen sie jetzt im weiten Bogen zurück. Magda zog Jeremias hoch.

    »Wir gehen weiter. Jetzt sind sie am weitesten weg. Wir gehen genau in die andere Richtung. Andersherum, als sie sich bewegen. Dadurch weichen wir ihnen aus und haben genügend Zeit«, erklärte sie.

    Sie war sich nicht sicher, ob ihnen wirklich viel Zeit bleiben würde, doch so blieb Jeremias ruhig. Die Geschwister mussten sich durch das Dunkel vorantasten. Die Männer hatten Fackeln. Das ungleiche Rennen konnten sie nicht gewinnen.

    Magda wechselte auf einen Weg, der von dichten Bäumen umgeben war. Der Weg war eben und frei. Hier würden sie nicht so oft stolpern und konnten sich besser orientieren. Doch man würde ihnen relativ leicht folgen können. Und vermutlich hinterließen sie Fußspuren in der weichen Erde. Die Jäger würden die Spuren lesen können und ihnen folgen. Doch wenigstens kamen sie so schneller voran.

    Die Männer hinter ihnen verteilten sich nun. Ihre Schreie kamen aus mehreren Richtungen. Sie hatten bemerkt, dass sie die zwei verloren hatten, und kreisten ihr altes Lager nun ein. Wenn sie es fanden, würden sie dort ihre Spur wieder aufnehmen und dann kämen sie rasch näher.

    Magda und Jeremias rannten jetzt wieder den Weg entlang. Sie kamen rasch voran. Als sie eine Kreuzung erreichten, schlug Magda intuitiv eine beliebige Richtung ein. Etwas schien sie zu ziehen. So wie sie Jeremias an der Hand hatte, nahm etwas anderes nun sie an der Hand.

    Hinter ihnen wurde es plötzlich lauter. Man hatte offenbar ihr Lager gefunden. Nun riefen sie die Gruppe zusammen, um gemeinsam die Fährte aufzunehmen und zu verfolgen. Nicht mehr lange. Bald schon wären sie heran. Magda zweifelte nicht, dass die Männer inzwischen einem wahren Blutrausch verfallen waren.

    Jeremias bekam erneut kaum Luft. Magda hatte stetig das Tempo erhöht, doch Jeremias konnte damit nicht Schritt halten. Hilfe suchend sah sie sich um. Da erblickte sie es plötzlich.

    Die Geschwister blieben erstarrt stehen.

    »Das Hexenhaus«, flüsterte Jeremias zwischen zwei Atemzügen.

    »Das Hexenhaus!«, antwortete Magda. Sie war sich nicht sicher, ob sie selbst an die Geschichten glauben konnte. Würde man ihnen hier wirklich helfen? Oder war das Unglück, in das sie hier rannten, nicht noch viel größer, als das, das sie jagte?

    Ein seltsames Gefühl ging von diesem Haus aus. Die Realität schien sich zu verschieben, wenn man es ansah. Wie ein dunkler Schatten, der eine Irritation der Existenz verursachte.

    Magda wurde von einem Schaudern ergriffen. Jeremias zitterte ohnehin schon. Sie wandten sich ab. Ein anderer Weg blieb ihnen noch. Weg von dem Haus, weg von den Männern. Ein kleiner, gerader Weg, der sich im Halbdunkel des Mondlichtes fahl abzeichnete.

    Magda und Jeremias wollten gerade loslaufen, als sie im Schatten des Weges eine Gestalt sahen. Sie hob sich in dem dunklen Wald kaum von der Umgebung ab. Doch es war eine menschliche Gestalt.

    »Die Hexe!«, keuchte Jeremias und zog Magda von ihr weg.

    Sie saßen in der Falle. Auf der einen Seite das Hexenhaus, auf der anderen Seite die Männer und direkt vor ihnen die Hexe. Sie konnten ihr Unglück wählen, sie konnten einfach stehen bleiben oder sie konnten durch den dichten Wald klettern und es den Verfolgern überlassen, wer von ihnen sie holen würde. Es war mit einem Mal einerlei. Von hier aus gab es keinen Ausweg mehr.

    Magda kauerte sich hin und nahm ihren kleinen Bruder in die Arme, um ihn zu trösten. Die Flucht war zu Ende. Hinter ihnen kamen die Männer näher. Man konnte schon deutlich den Fackelschein sehen, wie er goldenes, flackerndes Licht und dunkle, verzerrte Schatten durch die Bäume fallen ließ.

    Die Hexe und das Haus waren kaum noch zu sehen. Sie schwanden in der Dunkelheit. Der Fackelschein wurde übermächtig.

    Plötzlich stand die Hexe neben ihnen. Magda hatte nicht gesehen, wie sie näher gekommen war. Dennoch stand sie nun ruhig neben ihnen und blickte auf die beiden herab, mit ruhigen, funkelnden Augen. In ihnen wurde das Tanzen des Feuers reflektiert. Es mochte der Schein der Fackeln sein oder etwas eigenes.

    Die Hexe sagte nichts und sah sie einfach nur an.

    »Das alles ist lange her, doch ich erinnere mich noch gut an diese Nacht«, sagte Gabriela.

    Vor ihr saß ein Hund und hörte ihr zu.

    »Schreckliche Dinge sind damals gesehen. Vieles ist passiert, an das ich lieber nicht mehr denken möchte. Ich habe all das hinter mir gelassen. Und doch vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht daran denke. Ich habe dieses Leben zurückgelassen. Eine andere Existenz, die sich sehr fern anfühlt. Wie das Leben von jemand anderem. Und doch sehne ich mich danach, zurückzukehren. Doch ich habe Angst vor dem, was passieren wird. Werden sich die schrecklichen Dinge wiederholen oder leben wir in einer neuen Zeit? Hat sich diese Welt und die Menschheit verändert? Habe ich mich wirklich verändert?«

    »Vielleicht ist es an der Zeit, das herauszufinden. Jemand wird dich bei der Hand nehmen wie damals Magda.«

    Die Spinne im Netz

    Schnelle, flinke Bewegungen. Zu schnell für das menschliche Auge, um sie in ihrer Ganzheit zu erfassen. Zu schnell, um sich damit arrangieren zu können. Beängstigend. Raubtierhaft. Auf Beutefang. Und doch von seltsamer Schönheit. Feinheit. Lange, hauchdünne Fäden. Brücken zwischen weit entfernten Punkten. Konstruktionen von großer Sorgfalt und technischer Finesse. Schwer zu zerreißen. Und schwer zu erschaffen. Der Anfang ist das Schwierigste dabei. Ein akrobatischer Akt. Ein waghalsiger Sprung. Gekonnte Klettermanöver. Eine Orientierung im großen Raum. Den Winden ausgesetzt.

    Lange schon hatte die Spinne alles ausgelotet. Lange schon war sie entlanggeklettert an den nördlich und südlich aufragenden Konstrukten und hatte die hinteren Bereiche erkundet. Lange vorher war sie noch viel weiter umhergewandert und hatte eine um die andere Konstruktion untersucht. Doch hier schien ihr ein guter Ort. Ein heller Ort. Ständig. Vor allem dann, wenn die Beute flog. Große Schwärme konnte sie in der Ferne vorbeischweben sehen. Riesige Wolken dieser eleganten und beeindruckenden Tiere. Nun war die Spinne erneut emporgeklettert. Ein langer, mühevoller Aufstieg. Viele Hundert Längen hoch. Atemberaubend und schwindelerregend. Weit entfernt, durch das bodenlose Nichts hindurch konnte sie den südlichen Turm erkennen. Ebenso schwindelerregend hoch und so unglaublich weit entfernt. Dazwischen tanzte die Beute hindurch. Furchtlos durchflog sie die gähnenden Abgründe und Schluchten. Die Spinne konnte nicht fliegen. Sie konnte nur Klettern und mit Seilen verankern. Aber sie hatte das Know-how, um mit der Situation fertigzuwerden. Es war ihr in die Wiege gelegt worden. Niemand hatte es ihr jemals gezeigt. Sie konnte die Abgründe überwinden, ohne zu fliegen. Und sie konnte große Brücken schlagen. Brücken, in denen sie die schwebenden Gestalten fangen konnte. Brücken, die durch das Reich der Schweber und Flieger führten. Dennoch. Der Anfang dazu war schwer. Der Anfang war ein Wagnis und ein Sprung ins Nichts. Der Wind war ihr Helfer und der Sturm ihr Freund. Er blies hier so weit oben erbarmungslos und in südliche Richtung. Genau auf den südlichen Turm zu, der im Dunst nur schemenhaft zu erkennen war. Sie durfte ihn nicht verfehlen. Kurz hielt sie noch inne, dann sprang sie und flog im Wind. So wie die Schweber und Flieger. Kurz nur – und doch so lang. Sie trieb auf den südlichen Turm zu. Langsam nur. Ganz langsam, in der Geschwindigkeit des Windes. Der südliche Turm kam näher und dann landete sie darauf. Nur knapp, aber dennoch sicher. Sie hatte es geschafft. Schnell das Seil verankern. Schnell noch absichern. Eine weite Distanz. Der Blick zurück zeigt den nördlichen Turm. So unerreichbar weit weg erscheint er. Aber der Anfang ist gemacht. Jetzt gibt es eine Verbindung. Das, was zuvor noch unüberwindlich schien und kaum zu erahnen war, ist jetzt erreichbar. Zwar mit Mühen, aber dennoch. Ab jetzt ist alles Handwerk und Fleiß. Und so beginnt sie Schritt für Schritt ihr Werk. So baut sie eine Brücke und verbindet zwei Welten, die zuvor unerreichbar weit voneinander getrennt schienen. Aber die Spinne hatte das Wunder vollbracht und die zwei Welten miteinander verknüpft. Mit einem gewagten Kraftakt und einem Können, das man ihr als Geschenk mit dem Leben zusammen überreicht hatte. Sie konnte zwar nicht fliegen, aber sie konnte Brücken bauen zwischen Welten.

    Das Neonlicht flackerte unruhig und unspektakulär. Es beleuchtete die alten, zerbrochenen Fliesen am Boden des kleinen Wartehäuschens auf eine kalte und ernüchternde Weise. Spinnweben hingen an den dreckigen Fenstern. Einige alte und viele neue. Einige Spinnen waren eifrig am Werk, zwischen Ecken sowie zwischen verschiedenen Verstrebungen und Säulen neue Netze zu knüpfen und bestehende zu verbessern. Es war ein vielversprechendes Fanggebiet. Das Neonlicht zog viele Mücken und Fliegen an, die unermüdlich im Bereich der Spinnweben herumschwirrten, unbeeindruckt von der drohenden Gefahr. Alles in allem war es eine sehr triste Atmosphäre. Besonders das Licht ließ alles in einer nüchternen Sachlichkeit erscheinen. Zusammen mit dem Schmutz und den Spinnweben mischte sich dies zu einem Stück Realität, das man nur schwerlich als gastfreundlich empfinden konnte. Es hatte etwas von der Kälte, die man nach einer langen durchfeierten Nacht empfand, wenn man mit tauben Ohren nass geschwitzt aus dem Club kam. Aber gleichzeitig hatte es auch etwas von Aufbruch. Wie der Anfang oder das Ende einer langen Reise. Alles beginnt in einem kleinen Wartehäuschen unter einem flackernden Neonlicht, allein in der Dunkelheit. Man beginnt und man endet wieder am selben Ort. Dazwischen liegt die große Reise, die große lange Nacht einer Feier. Alles dreht sich in Kreisen, nur just in dem Moment unter dem flackernden Neonlicht befindet man sich irgendwie dazwischen. Eines ist vorbei, etwas anderes mag kommen.

    Es gab nur eine Person in diesem Wartehäuschen. Und sie tat das, was man in Wartehäuschen für gewöhnlich tat: warten. Auf was genau, wusste sie selbst nicht. Eigentlich meinte sie es genau zu wissen. Derjenige, auf den sie wartete, war ein Freund und er verspätete sich gerade über einen Punkt hinaus, den Diana, so hieß die wartende Gestalt, noch irgendwie amüsant finden konnte. Es war keineswegs das erste Mal, dass er sich verspätete, sonst hätte sie es vielleicht mit mehr Haltung aufnehmen können. Zumindest fror sie hier drinnen nicht so erbärmlich. Das Wartehäuschen war verglast und besaß eine Tür. Die kleine Welt hier drinnen war dem umgebenden Winter entrissen und über die Scheiben doch mit ihm verbunden. Es war wie eine eigene Jahreszeit. Draußen die weiße Pracht einer dunklen Winternacht zum Höhepunkt der kalten Jahreszeit. Hier drinnen jedoch kam der Winter niemals ganz herein. Wirkliche Kälte herrschte nur dort draußen. Im Inneren war es allenfalls ein leichter Anflug von psychischer Kälte, der einen zu streifen vermochte. Genauer betrachtet war es recht absonderlich, dass sich hier drinnen Spinnen und Mücken tummelten, mitten im Winter. Es war wie eine andere Welt, die sich von den Jahreszeiten draußen losgelöst hatte.

    Diana zog eine Zigarette heraus. Dieser Ort schien so vergessen zu sein, dass sie keine Sekunde gezögert hatte, hier zu rauchen. Das Schild, das unter einer dicken Staubschicht an der Wand hing, hatte sie sogar noch bestärkt. Eine absurde Idee, dem einzigen Gast, der hier seit Wochen saß, zu untersagen, eine Zigarette zu rauchen. Es waren diese prinzipiellen Verbote, die in ihr den Widerstand weckten. Es waren diese sinnlosen Beschränkungen und Normierungen, die ihren Protest herausforderten. Sie betrachtete die Zigarette verträumt. Was tat sie hier? Wer war sie eigentlich? Wohin würde sie gehen? Viele Fragen, die man sich beim Anblick einer einfachen Zigarette stellen konnte. Sie zündete sie an, sog das Feuer in den Tabak hinein und lauschte nach dem feinen verführerischen Knistern wie in einer der Zigarettenwerbungen mit den Cowboys. War sie wirklich so gefangen in ihrem ständig wiederkehrenden Verlangen nach diesem bitteren Rauch? Sollte sie die Zigarette nicht einfach zur Seite legen? Sollte sie nicht einfach nach Hause gehen in ihre kleine, warme Wohnung? Sollte sie nicht einfach ein braves Leben führen? Sie zog an der Zigarette. Wer wollte ihr das alles vorschreiben? Die Gesellschaft? Ein altes, verstaubtes Schild an einer Wand, vor dem sich die Spinnen tummelten?

    Sie blickte dem Rauch nach, wie er sich emporwand und feine Muster bildete, die in der Luft schwebten und vom Neonlicht durchdrungen wurden.

    Fast wie in einer vergessenen Welt, in der sich, abgeschieden und unbemerkt von der Zivilisation, seltsame Dinge vermehrten und lebten, war dieses einsame Wartehäuschen belebt und vermutlich nie benutzt. Es war wie ein verwunschener Ort, der sein Geheimnis nur auf den zweiten oder dritten Blick preisgab. Für den Moment war es für Diana nicht von Belang. Es war ein Platz für begrenzte Zeit. Das zumindest hoffte sie. Sie hatte diesen Ort selbst gewählt. Aber nun begann er eine geheime Symbolik zu entfalten, die sie innerlich frösteln ließ. Es war ein kalter Ort, durchsetzt von emsig und fleißig arbeitenden Wesen, die nicht viel wussten. Sie alle waren gebunden an Gesetzmäßigkeiten, die sie nicht verstanden und die sie dennoch prägten. Und während Diana den Spinnen zusah und dem Rauch, der hinaufstieg, um sich in ihren Netzen zu verfangen, bekam sie das Gefühl, als würde sich ihre Seele dort im kalten Neonlicht hinaufwinden und in den Netzen der Spinnen kleben bleiben. Als würden die Spinnen sie allmählich immer mehr einweben. Sie fühlte sich wie ein modernes Dornröschen in Lederjacke, das in ihrem trostlosen Schloss von Spinnen eingewebt wird, während es darauf hofft, von seinem Prinzen gerettet zu werden.

    Doch der Prinz verspätete sich. Und er ritt keinen weißen Hengst, sondern ein altes Auto, das er stets aufs Neue mit eigenen Händen zusammenflickte. Und es fehlte ihm etwas. Auch wenn ihr nicht ganz klar war, was das war. Und doch wusste sie nicht, wie sie ihn sonst hätte nennen können, ihren Jakob. Beim Gedanken an ihn zog sie erneut an der Zigarette. Und es schwang ein wenig Frust, ein wenig Wut, ein wenig Ungeduld, ein wenig Enttäuschung und ein wenig Sehnsucht mit. Wo war er nur?

    Sie hatte keine Uhr, aber sie war sich sicher, dass er sich wieder einmal verspätete. Das fand sie inzwischen fast schon lustig, weil es so sehr seine Natur war, dass er ihr einfach nicht entgehen konnte und dennoch niemals müde wurde zu beteuern, dass er sich bessern wolle. Vermutlich wollte er das auch. Und damit war Jakob wie der edle Ritter von der traurigen Gestalt, der nicht müde wurde, gegen Windmühlen in den Kampf zu ziehen. Und deshalb mochte sie ihn wohl so sehr und war gleichzeitig doch enttäuscht von ihm, weil er genauso wie sie eingewoben war in die Gebote und Verbote der Welt, die ihn auch entgegen aller guten Absichten nicht loslassen wollten. Und dennoch würde sie sich wünschen, dass er es einmal schaffte, über die Grenzen der Realität hinauszuspringen, und sie dabei an der Hand nähme.

    Und im Moment wünschte sie sich sehnlichst, er käme endlich an. Sie schnippte die Reste ihrer Zigarette auf die Fliesen und ließ sie dort langsam verglimmen. So wie die Glut immer schwächer wurde, fühlte sie ihre innere Wärme schwächer werden. Es war einfach nicht warm genug für lange lustige Verspätungen. Eng eingepackt in ihren Mantel blickte sie hinaus in den kalten Winter und ließ die Spinnen ihr Werk verrichten.

    Dort draußen kämpfte Jakob einmal mehr gegen sein eigenes Schicksal an. Ein Schicksal des Zu-spät-Kommens und des Nicht-rechtzeitig-Überlegens. Dabei konnte er nichts für seine Unpünktlichkeit. Nicht heute. Davon war er fest überzeugt. Und dennoch war ihm bewusst, dass es keinen Sinn hatte, Diana das zu sagen. Sein Auto war nicht angesprungen und das war kaum minder peinlich als jetzt zu spät zu sein. Als Kfz-Mechaniker machte man sich auch bei guten Freunden nur zum Gespött, wenn das eigene Auto noch unzuverlässiger war als man selbst.

    Während Jakob in das rote Licht einer Ampel starrte, tätschelte er sein Auto leicht. Irgendwie passte es schon zu ihm. Es war ungefähr genauso alt wie er selbst und hatte ebenso seine Macken.

    Das rote Licht wollte und wollte nicht

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