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Mädchen der Lüge
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Mädchen der Lüge

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About this ebook

Andrea Thompson ist schlau, selbstbewusst und hübsch. Sie ist außerdem schrecklich einsam. Sie wird in Europa von ihrer Oma großgezogen und hat schwer damit zu kämpfen, dass ihre Eltern sie nicht bei sich haben wollen. Und sie hat keine Ahnung, warum das so ist.
Als Andrea einen dringenden Anruf von ihrer älteren Schwester Carrie erhält, stimmt sie zu, in die Vereinigten Staaten zu fliegen und ihr zu helfen. Carries neugeborene Tochter Rachel benötigt eine Knochenmarkstransplantation.
Was Andrea nicht weiß, ist, dass ihre Rückkehr in die Vereinigten Staaten eine Kette von Ereignissen auslösen wird, die Geheimnisse aufdecken werden, die seit Jahrzehnten gewahrt wurden. Geheimnisse, die die Thompson Familie erschüttern und einen politischen Feuersturm auslösen werden.

Geheimnisse, für deren Wahrung Menschen bereit sind zu töten.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 23, 2015
ISBN9781632021175
Mädchen der Lüge
Author

Charles Sheehan-Miles

Charles Sheehan-Miles has been a soldier, computer programmer, short-order cook and non-profit executive. He is the author of several books, including the indie bestsellers Just Remember to Breathe and Republic: A Novel of America's Future.

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    Mädchen der Lüge - Charles Sheehan-Miles

    Mädchen der Lüge

    Charles Sheehan-Miles

    aus dem Amerikanischen von

    Dimitra Fleissner

    Für Andrea

    Die Thompson Familie

    Richard Thompson

    Adelina Thompson

    Julia Wilson (Thompson)

    - Crank Wilson

    Carrie Thompson-Sherman

    - Ray Sherman

    - Rachel Sherman

    Alexandra Paris (Thompson)

    - Dylan Paris

    Sarah Thompson

    Jessica Thompson

    Andrea Thompson

    Die Wakhan-Akte

    Roshan al Saud

    Leslie Collins

    Mitch Filner

    Vasily Karatygin

    George-Phillip Patrick Nicholas

    Chuck Rainsley

    Diplomatischer Sicherheitsdienst

    John Bear Wyden

    Leah Simpson

    The Washington Post

    Anthony Walker

    Andrea Thompson schauderte, als Javiers Hand ihr Shirt an ihrem Rücken nach oben schob, mit gekrümmten Fingern an ihrer Wirbelsäule entlang fuhr und damit eine Gänsehaut hervorrief. Sie keuchte ein wenig, als seine Lippen sie berührten, seine Bartstoppeln kratzten dabei leicht an ihrem Hals.

    Te quiero", sagte er, während sie ihren Rücken durchstreckte und ihre Brust an ihn drückte. Ich will dich.

    „Nein", sagte sie. „Abuelita erwartet mich zu Hause."

    Er seufzte und hob seinen Kopf. Seine Augen waren dunkel, zu dunkel, man konnte sich leicht darin verlieren. „Du weißt, dass du das einzige Mädchen bist, das ich jemals haben will."

    Sie legte ihre Lippen an sein Ohr, der sanfte, aquatische Duft seines Parfüms erfreute ihre Sinne. „Du sagst das, weil du einen Ständer hast und ich mit dir im Auto sitze. Du willst jedes Mädchen, das du siehst, Javier. Bring mich nach Hause."

    Er lächelte, seine vollen Lippen zogen sich auf der rechten Seite ein bisschen weiter nach oben, und er sagte: „Si, Andrea."

    Eine Sekunde später spürte sie, wie ihr Telefon in ihrer Tasche vibrierte, und dann hörte sie den Klingelton, der ihre Schwestern anzeigte.

    Er seufzte und trennte sich dann von ihr, sein Lächeln war sehnsüchtig. Sie lächelte zurück, als sie in ihre Tasche nach ihrem Telefon griff. Während Javier das Auto anließ, hatte sie das Telefon hervorgeholt. Mierda! Sie war zu spät.

    „Welche deiner Schwestern war es?"

    „Carrie, sagte sie, als sie das Telefon entsperrte. „Sie lebt in Washington DC.

    Als Andrea die Nummer wählte, rechnete sie die Stunden zurück. Es war fast 22 Uhr in Calella, also war es etwa 16 Uhr in Washington. Sie hatte nicht damit gerechnet, von Carrie zu hören. Um ehrlich zu sein, hatte sie überhaupt nicht erwartet, etwas von einer ihrer Schwestern zu hören. Julia, die mit ihren zweiunddreißig Jahren die älteste war, war die Einzige, die sie regelmäßig anrief.

    „Hallo?" Carries Stimme. Sie war ein bisschen außer Atem.

    „Carrie? Ich bin’s, Andrea."

    „Andrea! Ganz herzlichen Dank, dass du so schnell zurückrufst! Mein Telefon hat deine Nummer nicht angezeigt."

    Andrea zuckte mit den Schultern. Internationale Anrufe waren manchmal komisch. „Wie geht es dir? Wie geht es dem Baby?"

    Stille. Gerade lange genug, damit Andrea sich in ihrem Sitz aufrichtete und ihre Augenbrauen zusammenzog. Und dann sagte sie: „Carrie? Was ist los? Wie geht es dem Baby?"

    Andrea spürte, wie es ihr kalt den Rücken herunterlief, als sie ein Schniefen von Carrie hörte. Carrie, die das Fundament ihrer Familie darstellte, die Tochter, die sich um alle gekümmert hatte. Carrie, die vor weniger als einem Jahr ihren Ehemann durch Mord und eine große Tragödie verloren hatte.

    „Andrea… Ich brauche Hilfe. Rachel braucht Hilfe."

    „Ich tue alles, was möglich ist", sagte Andrea, ohne nachzudenken.

    „Kannst du kommen? Nach Washington?"

    Andrea schluckte. „Ich muss in die Schule…"

    „Andrea. Rachel ist sehr krank… Sie braucht eine Knochenmarktransplantation. Und ich bin keine geeignete Spenderin. Ich brauche… Kommst du her und lässt dich testen? Bitte?"

    Andrea hatte die kleine Rachel auf Bildern auf Facebook gesehen. Ein hübsches, kleines, fünf Wochen altes Baby, das seinen Vater niemals kennenlernen würde.

    Carrie konnte nicht noch mehr Schmerz ertragen.

    „Natürlich komme ich."

    Andrea schauderte beim Klang eines Schluchzens am anderen Ende der Leitung. Sie sah auf und schaute Javier in die Augen. Er hob seine Augenbrauen und sie formte die Worte llévame a casa. Bring mich nach Hause.

    Javier nickte und legte einen Gang ein. Einen Augenblick später fuhr er auch schon durch die schmalen Straßen von Calella. „Ich fahre jetzt nach Hause, Carrie. Ich werde mit Abuelita reden und dann sofort einen Flug nach Hause buchen, okay? Ich verspreche es." Als sie die Worte aussprach, konnte sie nicht anders, als vor ihrem inneren Auge ihre Schwester zu sehen und wie am Boden zerstört sie vor acht Monaten gewesen war. Alles war eine einzige Katastrophe gewesen. Ihr Ehemann Ray war zusammen mit ihrer Schwester Sarah im Krankenhaus gewesen. Beide waren bei einem Autounfall, der sich als beabsichtigt herausgestellt hatte, schwer verletzt worden.

    Mord. Das war es gewesen. Ray, ihr Schwager, den sie kaum gekannt hatte, war brutal ermordet worden. Und jetzt war seine Tochter krank.

    Andrea seufzte. Sie würde sich wegen der Schule etwas einfallen lassen. Im Moment musste sie sich darum kümmern, zurück in die Vereinigten Staaten zu reisen.

    Javier bog in die Carrer Diputation ab, eine schmale Einbahnstraße, die zwei Blocks vom Strand entfernt lag. Abuelita, ihre Großmutter, besaß hier eine Wohnung im dritten Stock über der Don Panini Snack Bar. Die Snack Bar war noch geöffnet, als Javier das Auto davor anhielt, und die Stammkunden bevölkerten das Restaurant und auch den Gehweg davor. Nackte Taillen, kurze Röcke, Kleider, Schweiß und sexuelle Absichten. Aus dem Isard Restaurant und der Pizzeria auf der gegenüberliegenden Straßenseite tönte laute Musik. Ein Auto hielt hinter dem von Javier, und der Fahrer hupte sofort, als hinter ihm noch weitere Fahrzeuge zum Stehen kamen.

    „Fährst du weg?", fragte Javier und ignorierte das Hupen.

    Sie seufzte. Dann nickte sie. „Ich muss in die Vereinigten Staaten."

    „Wirst du vorsichtig sein?"

    Sie dachte, dass die Frage merkwürdig war. Natürlich würde sie vorsichtig sein. „Ich werde bald zurück sein. Meine Nichte braucht eine Knochenmarktransplantation. Ich bin vermutlich nicht mal eine geeignete Spenderin. Aber ich muss zu meiner Schwester."

    Der Fahrer hinter ihnen hupte erneut und rief Obszönitäten aus dem Fenster. Die Straße war zu schmal, um an ihnen vorbeizufahren, es sei denn, er fuhr über den Bürgersteig vor der Gaviota Bar, vor der auch zwanzig oder mehr Menschen standen.

    „Ich muss gehen", sagte sie.

    Te amo", sagte er sanft.

    Andrea schauderte, auch wenn sie wusste, dass er es nicht so gemeint hatte. Denn… was wenn er es doch so gemeint hatte? Sie beugte sich vor und küsste ihn zum Abschied.

    Despedida", sagte sie. Auf Wiedersehen. Dann schlüpfte sie aus dem Auto und schloss die Tür hinter sich.

    Der Fahrer hinter Javier, ein wütender, frustrierter Mann Mitte dreißig mit einem bemerkenswerten Bart, hatte sich auf ein Dauerhupen verlegt. Sie schaute den bärtigen Mann verächtlich an, schlug sich mit ihrer rechten Hand auf den linken Bizeps und hob ihre rechte Faust zu einer obszönen Geste. Dann betrat sie das Haus, in dem sich die Wohnung ihrer Großmutter befand.

    1. Andrea. 28. April, 11.30 Uhr Ostküstenzeit

    „Ist Washington Ihr Reiseziel?", fragte der Mann. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem weißen Hemd mit offenem Kragen. Er hatte mittelbraune Haut und eine haarige Brust, Andrea dachte, er sah arabisch aus, vielleicht kam er aus Ägypten oder Saudi Arabien. Seine Augen wanderten ein bisschen herum, von ihrem Gesicht zur Wölbung ihrer Brüste und er sprach zu laut, sogar trotz der Geräuschkulisse des Flugzeugs. Vielleicht war er ein Arschkriecher. Er trug Parfüm, zuviel davon, und Andrea war verstört, als sie bemerkte, dass es der gleiche Geruch war, den Javier auch hatte, aber nicht ganz gleich. Der Mann neben ihr roch erdiger, fast moschusartig. Verstörend.

    Sie bewegte sich in ihrem Sitz und hoffte, die Fragen wären freundlich, aber auch nicht zu freundlich. Ein Acht-Stunden-Flug neben jemandem zu verbringen, der sich Hoffungen machte, war nicht gerade einladend für sie.

    „Ja", sagte sie.

    „Geschäftsreise? Urlaub?"

    „Privat, antwortete Andrea und sah ihm dabei direkt in die Augen. „Ich habe keine Geschäfte, ich bin sechzehn. Mein Vater ist ein amerikanischer Diplomat und ich fliege nach Hause.

    Der Arschkriecher schluckte. „Ich bin auf Geschäftsreise", sagte er. Seine Augen schauten schnell zu ihren Beinen.

    Verdammt. Ihre Schwester Julia hatte sich um den Flug gekümmert und sie flog erster Klasse. Soweit sie erkennen konnte, waren in der ersten Klasse keine freien Plätze. So sehr es ihr missfiel, den ganzen Flug in die Vereinigten Staaten neben diesem Typen zu verbringen, der sie so ansah, wollte sie doch genauso wenig im hinteren Teil des Flugzeugs reisen, zusammengepfercht wie die Pendler in der Tokioer U-Bahn.

    Sie griff in ihre Tasche und holte einen Reiseführer über Backpacker-Reisen in Italien heraus. Das plante sie für den Sommer. Aber viel wichtiger war, dass das Buch als eine Art Schild fungieren würde, der hoffentlich den zu freundlichen Gesprächspartner abwehren würde. Sobald sie die Reiseflughöhe erreicht hatten, würde sie zu ihrem Laptop wechseln. Sie wollte vor allem β-Thalassämie major nachschlagen, eine rare genetisch bedingte Krankheit, die eine schwere Anämie auslösen konnte. Wachstumsstörungen. Knochenfehlbildungen. Früher Tod.

    Rachel hatte diese Krankheit.

    Wie war das überhaupt möglich?

    Sie kannte definitiv niemanden in der Familie, der eine Thalassämie hatte. Das bisschen, das sie darüber hatte lesen können, bevor das Taxi sie zum Flughafen gebracht hatte, hatte sie nicht beruhigt. Wenn man keinen passenden Knochenmarkspender fand, war die Lebenserwartung nicht sehr hoch.

    Sie versuchte, ihre Gedanken vom Gesundheitszustand ihrer Nichte abzulenken und sich wieder ihrem Buch zu widmen. Der Arschkriecher hielt Abstand, während sie las. Oder zumindest tat er so. Ihre Gedanken konnten sich nicht wirklich auf die Feinheiten der Jugendherbergen in Italien konzentrieren; was sie wirklich wollte, war, sobald das Flugzeug die Reiseflughöhe erreicht hatte, den Sitz zurückzustellen, um ein bisschen zu schlafen. Sie hatte gerade so den letzten Non-Stop-Flug von Barcelona erwischt und würde am späten Abend in Baltimore landen. Aber wenn sie jetzt ein kurzes Nickerchen machen könnte, dann würde sie in der Lage sein, die meiste Zeit des Fluges wach zu bleiben. Oder… so was in der Art. Jetlag war die Hölle.

    Zumindest war das Flugzeug nach einer halben Stunde in der Luft, die Anschnallzeichen waren erloschen und sie hatte eine Tasse Tee vor sich stehen und den Laptop geöffnet, Kopfhörer im Ohr und hörte Musik.

    Ihre erste Anlaufstelle war Wikipedia, sie begann, über genetisch bedingte Erkrankungen des Blutes zu lesen. Sie fand es interessant, dass Queen Victoria von England anscheinend eine Überträgerin der Bluterkrankheit gewesen war, die sie an ihre Kinder und dadurch schließlich an etliche europäische Königshäuser, wie Russland, Spanien und Deutschland, vererbt hatte. Man hatte es die „Krankheit der Könige" genannt. Ein Resultat der vielen Eheschließungen untereinander. Aber Thalassämie kam hauptsächlich bei Menschen mit mediterranem oder asiatischem Hintergrund vor, und diesen hatten die Schwestern natürlich durch ihre Mutter Adelina. Und obwohl die Krankheit nicht wie die Bluterkrankheit direkt lebensbedrohlich war, waren die langfristigen Auswirkungen genauso schlimm.

    Sie bewegte sich auf ihrem Sitz und drückte auf Pause, um die Musik zu stoppen. Es war an der Zeit, die Toilette aufzusuchen.

    „Entschuldigung."

    Andrea zuckte auf ihrem Sitz zusammen und schaute von ihrem Computer hoch. Es war ihr Sitznachbar in der ersten Klasse, Mister Haarige Brust.

    „Ja?"

    „Ich konnte nicht anders, als zu bemerken, dass Sie sich über Krankheiten informieren. Sind Sie Medizinstudentin?"

    Das war einfach nur… merkwürdig. Warum fragte er das? Sie hatte ihm doch schon gesagt, dass sie erst sechzehn war. Sie wollte sich nicht wie eine große Zicke verhalten. Aber irgendwas an ihm versetzte sie in Alarmbereitschaft. „Nein, antwortete sie. „Ich bin in der Oberstufe. Ich lese… Genau genommen hat meine Nichte eine genetisch bedingte Blutkrankheit… Ich fliege nach Washington, um meiner Schwester zu helfen.

    „Ahhh, sagte er. „Verstehe. Ich frage nur deshalb, weil ich darüber nachgedacht habe, Medizin zu studieren.

    Andrea atmete aus. Irgendetwas an diesem Mann kam ihr sehr komisch vor. Aber Abuelita hatte sie nicht dazu erzogen, unhöflich zu anderen Menschen zu sein.

    „Sind Sie Student?", fragte sie.

    „Das bin ich… Universidad Autònome de Madrid."

    „Ah ja. Und Sie studieren…?" Eine der Universitäten, die sie sich angeschaut hatte, war UAM gewesen.

    Seine Zähne glänzten bei seinem breiten Grinsen. „Maschinenbau. Ich bin in meinem dritten Jahr."

    Sie schluckte und spürte, wie sich ihr Hals seltsam verengte. „Tja. Das ist schön. Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment."

    Sie schob ihr Laptop in die Sitztasche vor sich, klappte den Tisch hoch und schlüpfte aus ihrem Sitz. Mit leicht klopfendem Herzen machte sie sich auf den Weg zur Toilette im vorderen Teil der Kabine, ging hinein, schloss und verriegelte die Tür.

    Irgendetwas stimmte nicht. Sie hatte zwei Tage damit verbracht, sich die Universität anzuschauen und die Fakultäten für Wissenschaft und Ingenieurwesen besichtigt. Er war nicht mehr in den Zwanzigern. Und an der UAM konnte man keinen Master in Maschinenbau machen. Das bedeutete, dass Haarige Brust log.

    Warum?

    2. Georg-Phillip. 28. April

    „Sir? Haben Sie einen Augenblick Zeit?"

    George-Phillip sah von seinem Schreibtisch auf und hob seine dicken Augenbrauen. Es gab nur zwei Personen im Secret Intelligence Service… vier Personen im ganzen Land… die in sein exquisit eingerichtetes Büro hineinspazieren und ihn ohne einen Termin unterbrechen durften. Als Direktor des SIS kontrollierte er den britischen Auslandsgeheimdienst. Tausend und abertausend Menschen und Milliarden von Pfund, die dazu dienten, die Feinde der Queen zu verfolgen. Und die Freunde natürlich auch.

    George-Phillip – besser bekannt als Prinz George-Phillip, Duke of Kent – war seit 1986 im Dienst des SIS. Anders als sein Vater, der damit zufrieden gewesen war, das Vermögen seiner Familie für schnelle Autos, für Partys und unpassende Frauen auszugeben, hatte sich George-Phillip direkt nach dem Tod seines Vaters dafür entschieden, dass er sein Leben im Dienst für sein Land verbringen wollte. Und das hatte er getan, mehr als dreißig Jahre lang. Man konnte fast sagen, dass er seinen Posten trotz seiner Herkunft innehatte – Mitglieder der königlichen Familie, selbst solche, die so weit von der Thronfolge entfernt waren, dass es undenkbar war, dass sie den Thron jemals besteigen würden, erreichten einfach keine so hohen Positionen im Öffentlichen Dienst.

    George-Phillip jedoch hatte eine beispiellose Karriere hingelegt. Sie hatte mit einer kurzen Zeit als persönlicher Berater des Botschafters in Washington DC begonnen, er hatte Sandhurst, die Royal Military Academy, besucht und war dann in den Dienst des SIS getreten. Seine berufliche Laufbahn hatte ihn an so verschiedene Orte wie Afghanistan und China, Istanbul und Paris geführt. Und schließlich war er hier gelandet, im Nervenzentrum der Welt der Geheimdienste.

    George-Phillips Rolle beim Geheimdienst war wohl bekannt in der Öffentlichkeit – schließlich musste er oft als Zeuge vor dem Parlament oder in Meetings aussagen. Man erkannte ihn in der Öffentlichkeit vor allem durch seine ungewöhnliche Größe und seine buschigen, sehr ausdrucksstarken Augenbrauen. George-Phillip hatte Augenbrauen, die widerspenstig waren, oft außer Kontrolle, sie taten, was sie wollten, egal, vor wem er sprach oder was er wollte. Es waren seine Augenbrauen, die George-Phillip aufrichtig machten. Es waren seine Augenbrauen (oder, wie die Times immer schrieb, seine Monobraue), die die Medien mit einer Menge Unterhaltungsfutter versorgten.

    „SIS Direktor hebt seine Augenbraue wegen Ungehörigkeiten", hatte als Überschrift auf der Titelseite des The Mirror gestanden. Auch zwei Jahre später war er noch überzeugt, dass das Bild mit Photoshop bearbeitet worden war.

    George-Phillip kam mit solchen Dingen gut klar. In seiner Position war es nicht notwendig, dass er in der britischen Bevölkerung beliebt war, und man musste auch nicht den Ruf eines Filmstars haben. Man musste Glaubwürdigkeit besitzen, und die hatte George-Phillip. Seine Glaubwürdigkeit hatte ihn zielsicher zum Botschafter der Vereinten Nationen gemacht und danach auf seinen derzeitigen Posten als Direktor des Secret Intelligence Service befördert.

    In der Tür stand Oswald O’Leary. O’Leary war der ungewöhnlichste persönliche Referent, den man sich bei einem Geheimdienstchef vorstellen konnte. Schon weil er Ire und dann auch noch klein war; er hatte Knopfaugen und die flache Nase und hängenden Wangen eines Boxers. O’Leary sah immer so aus, als ob er nach der nächstbesten Person greifen und sie schütteln wollte.

    Er war aber auch brillant, unglaublich loyal und deshalb der Adressat der ungewöhnlichsten Aufgaben, die George-Phillip zu vergeben hatte.

    „Sir, ich habe ein paar Informationen zur Wakhan-Akte."

    George-Phillip zuckte innerlich zusammen. Dann winkte er O’Leary herbei.

    „Was ist es?"

    O’Leary legte eine Akte auf seinen Schreibtisch und George-Phillip öffnete sie. Seine Augen wurden groß.

    „Andrea Thompson, sagte O’Leary. „Das ist die jüngste Tochter von Botschafter Thompson.

    Es war unverkennbar, wer sie war, auch wenn sie inzwischen viel älter war. Ein viel jüngerer Zwilling von Carrie Thompson, ihrer älteren Schwester; dunkle Haare, blasse blaugrüne Augen, helle Haut, ungewöhnliche Größe.

    „Was ist mit den Thompson Kindern?"

    O’Leary bewegte sich. „Anscheinend lebt sie in Spanien bei der Schwiegermutter von Botschafter Thompson und hat sehr wenig Kontakt zur Familie. Sie war letzten Sommer kurz während der Dega Payan Kriegsgerichtsverhandlung in den Vereinigten Staaten und ist dann nach Hause zurückgekehrt."

    „Was bringt sie jetzt dazu, nach Hause zu fliegen?"

    „Wie es aussieht, soll sie sich als Knochenmarkspenderin testen lassen."

    George-Phillip hob seine Hand an seinen Mund und bedeckte ihn. Er schloss seine Augen und saß für ein paar Sekunden bewegungslos da. Schließlich öffneten sich seine Augen und wanderten zu O’Leary, „Es ist unerlässlich, dass Sie mich auf dem Laufenden halten, O’Leary. Das ist eine Angelegenheit von höchster nationaler Sicherheit. Haben Sie mich verstanden?"

    O’Leary sah George-Phillip mit grimmigen Augen an. „Ich verstehe, Sir."

    3. Andrea. 28. April, 16.35 Uhr

    Wie immer war der Baltimore-Washington International Airport ein einziges Menschenchaos. Andrea bewegte sich durch die Menge und war dankbar, dass sie Haarige Brust am Zoll abhängen konnte. Ihr US-Pass ermöglichte es ihr, sich in einer anderen Reihe anzustellen und das war alles, was dazu nötig gewesen war. Während sie nun in Richtung des Ausgangs ging, um nach ihrem Abholservice zu schauen, schaute sie immer mal wieder, ob er zurückkehrte. Sie hatte ihren Rucksack über die Schulter geschlungen.

    Das Terminal roch nach Maschinenöl und Körpern und alle paar Minuten kam aus den Lautsprechern eine mechanische Stimme, die Ansagen in einem halben Dutzend Sprachen machte. Schließlich fand sie den Weg zur Gepäckausgabe. Ihre letzten zwei Flüge nach Washington DC waren am Dulles Airport gelandet, und dass sie sich hier nicht auskannte, machte alles ein bisschen schwerer.

    Und zu allem Überfluss ging ihr Handy nicht an. Das schwarze Display verspottete sie bei ihren wiederholten Versuchen, es anzuschalten. Sie vermutete, dass der Akku leer war, aber für den Augenblick würde sie, nachdem sie ihr Gepäck gefunden hatte, ein Münztelefon finden müssen. Falls es so was überhaupt noch gab.

    Endlich. Vor ihr, in der Nähe des Eingangs am Taxistand, stand ein Mann, der ein iPad mit dem Namen „Andrea Thompson" in leuchtend weißen Buchstaben auf dem Display hochhielt.

    „Hallo!", rief sie und winkte dem Mann. Er war groß, etwa Mitte dreißig, hatte einen blonden Bürstenhaarschnitt und blaue Augen. Er sah nicht aus wie ein Limousinen-Chauffeur… Er sah aus wie ein Bodyguard.

    Natürlich, falls Julia ihn geschickt hatte, war er vermutlich wirklich ein Bodyguard.

    „Ich bin Andrea", sagte sie.

    Seine glänzenden weißen Zähne strahlten ihr entgegen. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Thompson. Ich bin Dan. Hier entlang geht es zum Auto… Haben Sie Gepäck? Ist das alles?"

    Er streckte seinen Arm aus und nahm ihren Koffer. Sie drehte sich um, um ihm zu folgen, dann sagte sie: „Warten Sie…", und ging dann langsam zu dem Zeitungsstand neben dem Ausgang. Die Washington Post lag dort auf einem exponierten Platz aus und stach ihr ins Auge, denn auf der Titelseite war ein großes Bild ihres Vaters zu sehen. Die Schlagzeile war ein Schock. Botschafter Thompson als Verteidigungsminister nominiert.

    Sie hatte nicht gewusst, dass ihr Vater geplant hatte, aus seiner Pensionierung zurückzukommen. Und Verteidigungsminister?

    Der Fahrer – Dan – hielt an und war nicht in der Lage, seine Verärgerung zu verbergen. Andrea zuckte mit den Schultern. Es war ihr egal. Und warum hatte man ihr überhaupt einen Fahrer geschickt? Sie stand ihrer Familie nicht sehr nahe, aber es fühlte sich sehr unpersönlich an, dass man einen Fahrer geschickt hatte.

    Andrea zog die oberste Zeitung vom Stapel, gab dem Verkäufer ihre Kreditkarte und hoffte, dass sie in den Vereinigten Staaten funktionierte. Sie hielt kurz den Atem an. Sie funktionierte. Dann drehte sie sich um und folgte Dan zu einer schwarzen Lincoln Limousine. Er öffnete die Tür zum Rücksitz und sie stieg ein. Die Rückbank war geräumig und mit Leder bezogen. Kühl und komfortabel. Einen Augenblick später wackelte das Auto, als er ihr Gepäck in den Kofferraum lud und ihn schloss.

    Während er einstieg, fragte sie: „Haben Sie ein USB-Handy-Ladegerät? Mein Akku ist leer."

    Dan grunzte, lehnte sich dann herüber und griff ins Handschuhfach. „Ich habe eins, aber der einzige Anschluss ist hier vorne."

    „Würden Sie dies hier bitte einstecken?", fragte sie und gab ihr Telefon nach vorne.

    „Klar."

    Hinter ihnen hupte jemand. Dan schaute in den Rückspiegel. Eine Sekunde lang sah sie ein kurzes Aufblitzen von Sorge in seinen Augen, aber es war so schnell verschwunden, wie es erschienen war. Dann sah er weg und legte einen Gang ein.

    Das Auto war nun an einer dunklen Stelle, über ihnen waren eine oder auch mehrere Fahrbahnen und Parkdecks. Taxis und Shuttle-Busse umgaben sie; das Geräusch der Hupen und Motoren übertönte alles, außer dem der Flugzeugjets, die hin und wieder zu hören waren. Der Geruch der Dieselabgase lag schwer in der Luft. Sie war froh, dass die Fenster geschlossen waren, als sie sich hinten anlehnte und sagte: „Wie lange wird die Fahrt von hier nach Bethesda dauern?"

    Der Fahrer zuckte mit den Schultern. „Das kommt auf den Verkehr an." Er drehte sich von ihr weg und begann loszufahren. Er schaltete das Radio an und erfüllte das Auto mit der Musik zu lauter und zu gereizter Disc-Jockeys.

    Andrea spürte, wie sich Anspannung in ihren Nacken- und Schultermuskeln breitmachte. Ganz am Ende des Abholbereichs stand Haarige Brust. Seine Augen beobachteten den Verkehr, er schaute nach seinem Abholservice. Er hatte keinerlei Gepäck, sondern nur seinen Rucksack bei sich. Merkwürdig für einen Überseeflug. Zumindest war sie ihn los. Sie lehnte sich ein wenig vor, um nach ihrem Telefon zu schauen, das auf dem Armaturenbrett lag. Es hatte noch nicht genug Ladung, um anzugehen.

    Dan murmelte: „Können Sie sich bitte wieder zurücklehnen?" Dann zuckte sie auf ihrem Sitz zusammen, als er plötzlich das Auto auf den Bürgersteig lenkte, direkt vor Haarige Brust.

    Bevor sie auch nur irgendetwas sagen konnte, hatte Haarige Brust die Beifahrertür geöffnet und war eingestiegen. „Was zur Hölle?", schrie sie und griff nach dem Türöffner.

    Er bewegte sich, aber die Tür ging nicht auf. Sie zog erneut daran, während Haarige Brust rief: „Los! Los!"

    Dan, der Fahrer, trat aufs Gaspedal und das Auto entfernte sich schnell vom Flughafen.

    1. Sarah. 28. April, 16.50 Uhr

    Sarah Thompson lehnte sich gegen das Lenkrad und versuchte, ihre Frustration im Zaum zu halten. Um sie herum waren die Geräusche der Autos und Shuttle-Busse zu hören und sie konnte Benzin und Diesel in der Luft riechen. Die SMS ihrer kleinen Schwester war eindeutig gewesen. Sie wartete am Terminal C in der Nähe des Abholbereichs am ersten Ausgang des Terminals.

    Genau dort war Sarah. In dem Moment winkte sie ein Cop heran. Aber Andrea war nirgendwo zu sehen.

    Sie schaute nochmal auf ihr Telefon und dann schickte sie eine Antwort.

    Ich bin hier… wo bist du?

    Dieses Mal bekam sie überhaupt keine Antwort. Was nun?

    Sarah war erst vor ein paar Wochen achtzehn geworden und sie war ein Bündel aus Widersprüchlichkeiten. Sie trug Grau- und Schwarztöne, ihr Haar war auf Schulterhöhe in grobe Fransen geschnitten und schwarz gefärbt mit weißen Strähnchen, die hin und her wippten, wenn sie ihren Kopf bewegte. Dunkler Eyeliner und Mascara betonten blasse, blaue Augen, die das Terminal nach ihrer Schwester absuchten.

    Der Cop winkte sie erneut heran. Sein Gesicht wurde langsam angespannt.

    Sie schaute erneut auf ihr Handy. Immer noch keine Antwort. War Andreas Akku leer? Was zur Hölle?

    Es klopfte laut gegen das Fenster. Sie zuckte auf ihrem Sitz zusammen.

    „Sie können hier nicht stehen bleiben." Der Cop… eigentlich ein Mitarbeiter der TSA, der amerikanischen Transportsicherheitsbehörde… sah ein wenig schrullig aus. Sein Gesicht war rund mit leicht geröteten Wangen. Er war Ende vierzig, wurde kahl und hatte einen gut geformten Bauch. Aber die Pistole an seiner Hüfte und das Abzeichen, das er trug, waren echt genug.

    Sie ließ das Fenster herunter. „Ich hole meine kleine Schwester ab."

    „Fahren Sie nochmal herum und warten Sie dann am Anrufparkplatz, bis sie sich telefonisch meldet." Das Auftreten des Cops war erregt.

    Sie spürte, wie ihr Gesicht rot wurde. „Sie hat mich angerufen. Ich bin verwirrt, sie sagte, sie wäre am ersten Ausgang des Terminal C."

    Der Cop runzelte die Stirn. „Tja, und ist sie das?"

    Sarah zuckte mit den Schultern. „Nein! Ich verstehe es nicht, schauen Sie, hier ist ihre SMS." Sie zeigte ihm das Telefon mit Andreas SMS. Ich bin Termanl C, neben ersten Ausgang.

    Der Cop schüttelte seinen Kopf. „Sie muss verwirrt sein. Wie alt ist Ihre Schwester?"

    „Sechzehn", antwortete Sarah.

    Der Cop runzelte erneut die Stirn und sah auf die SMS. „Und wann hat sie Ihnen diese SMS geschickt?"

    „Vor fünf Minuten? Ich habe versucht, sie zurückzurufen, aber jetzt antwortet sie nicht."

    Er stand für einen Moment da, so als ob er unentschlossen war, ob er das ernst nehmen sollte oder nicht. Dann sah er zurück zu Sarah. „In Ordnung, ich möchte, dass Sie vorfahren, bis dort ans Ende des Terminals, damit Sie den Verkehr nicht blockieren. Ich erwarte Sie dort in zwei Minuten."

    Sarah nickte, an ihrem Hals pulsierten ihre Adern. Sie wusste, es war nichts. Andrea war in einem der anderen Terminals und ihr Akku war leer oder es war sonst irgendetwas. Andrea ging es gut.

    Aber selbst wenn man denkt, alles wäre okay, ist es das manchmal nicht. Sie hatte das auf die harte Tour gelernt. Es kam ihr wie gestern vor. Sie hatte auf dem Rücksitz von Carries Mercedes gesessen und sich mit Jessica gestritten, als ein Jeep plötzlich aus dem Nichts angeschossen gekommen war und frontal auf das Auto aufgefahren war. Von einem Augenblick auf den nächsten hatte sich ihr Leben total geändert. Alles hatte sich geändert. Als sie aufgewacht war, war ihr Schwager Ray tot gewesen, er war bei dem Unfall getötet worden.

    Kein Unfall. Es war Mord gewesen. Er hatte das Leben des Mannes ihrer Schwester gekostet. Sarah wäre selbst fast gestorben und hatte schwere Operationen über sich ergehen lassen müssen. Ihr Bein hatte nun an der Außenseite ihrer Wade bis hinauf zum Oberschenkel Narben, die aussahen wie Schnürsenkel. Sie hatte Wochen im Krankenhaus verbracht, monatelang im Rollstuhl gesessen und ging immer noch zweimal in der Woche zur Krankengymnastik.

    Aber

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