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Die Umarmung des Boxers
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Die Umarmung des Boxers

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„Die Umarmung des Boxers“ ist das berührende Porträt einer Generation, die sich in den scheinbar unendlichen Möglichkeiten ihrer Zeit zu verlieren droht. Doch da ist mehr...

Dem Tod entgegen...

Hannah Michehlsen glaubt seit ihrem 27sten Geburtstag – augenscheinlich grundlos – bald zu sterben. Am ersten Tag ihres 33sten Lebensjahres beschließt sie, dass es nun endlich Zeit sei, sich einen guten Platz für diese letzte Sache zu suchen.
Dabei ist es nicht so, dass sie vorhätte sich umzubringen: „Der Tod ist in mir aufgestanden und hat dafür gesorgt, dass ich mich an ihn gewöhne. Und jetzt wird er mich holen. Ich gehe ihm nur ein bisschen entgegen.“

Hannahs düsteres Geheimnis.

Hannah nimmt den Leser mit durch diesen Tag ihrer Entscheidung, an dem sie die eine und andere Vorbereitung trifft, und sich mit zynischem Humor an ihr Leben erinnert. An all das, was sie an diesen Punkt gebracht hat. An einen "generationstypischen" Lebenslauf, und an die vielen ungeklärten Fragen ihres bisherigen Lebens.
Hannah taucht ab. Schon bald machen sich Freunde auf, ihr Geheimnis zu lüften - und finden dabei einiges über sich selbst heraus.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateDec 13, 2014
ISBN9783957036827
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    Die Umarmung des Boxers - Insa Popken

    Die Umarmung des Boxers

    Insa Popken

    Über das Buch

    Hannah Michehlsen glaubt seit ihrem 27sten Geburtstag – augenscheinlich grundlos – bald zu sterben. Am ersten Tag ihres 33sten Lebensjahres beschließt sie, dass es nun endlich Zeit sei, sich einen guten Platz für diese letzte Sache zu suchen.

    Sie blickt mit zynischem Humor auf die eigenen Befindlichkeiten. Dann beginnt ihre Wahrnehmung sich zu verschieben, und Hannah taucht ab. Hannahs Freunde machen sich auf, ihr Geheimnis zu lüften - und finden dabei einiges über sich selbst heraus…

    „Die Umarmung des Boxers" ist das berührende Porträt einer Generation, die sich in den scheinbar unendlichen Möglichkeiten ihrer Zeit zu verlieren droht.

    Über die Autorin

    Insa Popken wurde 1974 als Tochter eines Seelotsen und einer Dolmetscherin geboren. Sie wuchs in der ostfriesischen Seehafenstadt Emden auf, wo sie auch heute wieder lebt.

    Seit frühster Kindheit schien ihr das Erfinden und Erzählen von Geschichten als die wichtigste Beschäftigung überhaupt. So entschied sie sich nach dem Abitur für ein Studium der Angewandten Theaterwissenschaften und arbeitete danach in verschiedenen Funktionen am Theater.

    2006 wurde bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert. Sie vollzog einen radikalen Wechsel der Lebensumstände und widmete sich ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Schreiben.

    © 2013 Roman Verlag – www.romanverlag.com

    Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

    Verlag GD Publishing Ltd. & Co KG

    E-Book Distribution: XinXii

    http://www.xinxii.com

    Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Werkes, oder Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

    Trotz sorgfältigem Lektorat können sich Fehler einschleichen. Autor und Verlag sind deshalb dankbar für diesbezügliche Hinweise. Jegliche Haftung ist ausgeschlossen, alle Rechte bleiben vorbehalten.

    Inhaltsverzeichnis

    I

    II

    III

    IV

    V

    VI

    VII

    Für meinen Vater –

    die große Inspiration meiner Kindheit

    I

    Klebrige Dumpfheit schwappt mir mitten ins Hirn. Der Schleier will sich nicht lüften. Der Boden unter meinen Füßen trägt, aber er fühlt sich nicht fest an. Das Küchenfenster steht offen, stickige Luft bohrt sich in meine Augen und setzt den Schleier in Brand.

    Durch den brennenden Schleier werfe ich einen Blick hinaus. Ab dem dritten Stockwerk abwärts scheint Nebel den Hinterhof zu erfüllen. Seltsame Wettererscheinung im Mai. Ganz rosa ist der Nebel und dick wie Zuckerwatte.

    Das muss der Restalkohol sein.

    Trotz Zuckerwatte erkenne ich die Kinder, die da unten Verstecken spielen. Wie jeden Sonntagvormittag. Das hilft immerhin, mich zeitlich zu orientieren. Ich weiß, dass ich getrunken habe. Dann ist alles weg. Ich klappe die Augendeckel zu, um in der brennenden Dunkelheit ein paar Erinnerungen aufzutreiben.

    Karl, der neue Praktikant, stolpert über ein Kabel auf der Hinterbühne, und ich denke: Hoffentlich reißt der jetzt nicht, kurz vor Schluss, das Tonkabel raus. Die Abschlussrede zur Preisverleihungsgala kommt zum Ende. Meine Anspannung beginnt langsam nachzulassen. Ich werfe einen Blick zu Jochen hinüber, meinem Chef, und bemerke, dass es ihm genauso geht.

    Diese Veranstaltung ist die größte, die unsere Event-Agentur je organisiert hat, und bisher ist alles optimal gelaufen. In Jochens Gesicht sehe ich aufkeimende Freude, während mir die ganze Sache im Grunde völlig egal ist. Darüber denke ich kurz nach.

    Dann die kurze Stille vor dem Schlussapplaus. Ich stelle mir vor, dass die Druckwelle vor der Detonation einer Bombe sich so anfühlt. Vorbote einer gewaltigen Energieausschüttung. Der Applaus rollt wie eine Welle über uns alle hinweg – und das ist der Moment. Der Moment der Entscheidung, auf den ich fünf Jahre lang gewartet habe:

    Es ist zu Ende.

    Ich öffne die Augen, der Brand hat nachgelassen, und die Dinge fallen an ihren Platz: Nachdem wir uns alle ausgiebig gratuliert hatten zu der grandiosen Arbeit, die jeder von uns geleistet hatte, waren alle zur After-Show-Party gegangen. Und ich hatte mir einen großen Gin-Tonic genehmigt. Ich trinke selten, weil ich vom Betrunkensein meistens traurig werde. Aber jetzt hatte ich Grund zu feiern. Nicht so sehr, weil ich an diesem Tag 32 Jahre alt geworden war, sondern weil ich endlich eine Entscheidung getroffen hatte. Und darauf trank ich.

    Der Gin-Tonic ging auf ex, dann bestellte ich noch einen, jemand gab die obligatorische Runde Tequila aus, die nächste ging auf mich, und das war’s, mehr weiß ich nicht. Da sind nur ein paar kreisende Bilder, Farben, Lachen und ein trockener Geschmack im Mund.

    Eine verschwommene Erinnerung an wachsende Übelkeit und Besorgnis in unerkannten Gesichtern. Ich tanzte. Und Black.

    Über alles, was danach kam, kann ich nur Vermutungen anstellen. Ich hatte seit dem Frühstücks-Croissant nichts gegessen, wie oft, wenn der Stress meinen Magen zu einem klitzekleinen Paket zusammenschnürt. Wir alle hatten jede Minute zu tun gehabt, aber nur ich hatte keine einzige Pause gemacht. Dabei ging es mir nicht mal darum, jemanden zu beeindrucken. Ich werde zu solchen Anlässen, in der Endphase eines Projektes, zu einer Maschine ohne Bedürfnisse. Manchmal vergesse ich sogar einen ganzen Tag lang, aufs Klo zu gehen.

    Ich habe mich gestern nicht das erste Mal betrunken. Aber noch nie hatte ich einen Filmriss. Ich wüsste gerne, wer mich nach Hause gebracht hat. Eigentlich kann es nur Jochen gewesen sein. Ausgezogen hat er mich offensichtlich nicht, denn ich trage dieselben Klamotten wie gestern. Aber warum stehe ich jetzt hier in der Küche, ohne mich an ein Aufwachen oder Aufstehen zu erinnern? Ich habe keine Kopfschmerzen. Dafür sehe ich rosafarbenen Nebel und mein Herz rast.

    Um wieder im Hier und Jetzt anzukommen, wende ich mich erst mal dem Abwasch zu. Er hat Zuwendung bitter nötig. Die letzte Woche war hektisch und voller Arbeit, keine Zeit für schmutziges Geschirr.

    Ich arbeite langsam, denn ich muss all meine Bewegungen durch diese dicke Luft pressen und das dauert… Außerdem will ich gründlich sein. Sorgfältig stelle ich jedes einzelne Geschirrteil an seinen angestammten Platz. Als ich beim Tellerservice ankomme, das meine Stiefmutter Monika mir geschenkt hat, schießt der Ärger ein paar Gramm Adrenalin in meine Blutbahn und ich fühle mich ein bisschen klarer.

    Meine Stiefmutter Monika ist gestorben, kurz nachdem sie mir dieses Tellerservice geschenkt hatte. Ich konnte es nicht leiden, von Anfang an nicht – aber nach ihrem Tod brachte ich es nicht mehr fertig, diese kotfarbenen Teller wegzuwerfen. Weil mich plötzlich die Vergeblichkeit ihres Bemühens rührte, Ähnlichkeiten zwischen uns heraufzubeschwören. Ähnlichkeiten, die es mit meiner Stiefmutter nie, mit meinem Vater aber sehr wohl gegeben hatte. Nur dass ihm offenbar nichts daran lag.

    „Schau, dieses Service hat mir so gut gefallen – und wir haben doch einen so ähnlichen Geschmack!" Arme Monika.

    Mein Vater hielt nach ihrem Tod auch nicht mehr lange durch und nun sind beide tot und mir bleibt – zum zweifelhaften Trost – dieses Tellerservice, mit dem Monika total danebengelegen hatte. Wie so oft…

    Jetzt, da ich beschlossen habe mit dem Leben, in dem ich zu sterben glaube, aufzuhören, finde ich es hilfreich, dass sie beide schon unter der Erde liegen.

    Nebeneinander in einem Familiengrab, das ich, seit sie dort versenkt wurden, nicht ein einziges Mal besucht habe. Andere nähere Verwandte gibt es nicht, jedenfalls weiß ich nichts von ihnen. Und das bedeutet, ich muss niemandem mitteilen, was ich jetzt tun werde: Mir einen guten Platz zum Sterben suchen, an dem ich mich ungestört und ohne Ablenkung auf diese letzte Sache konzentrieren kann. Ich werde nicht nachhelfen müssen. Seit fünf Jahren spüre ich den Tod in mir wachsen, aber nie habe ich ihn als Aufforderung wahrgenommen, „Hand an mich zu legen", wie man so sagt. Nein. Der Tod ist in mir aufgestanden und hat dafür gesorgt, dass ich mich an ihn gewöhne. Und jetzt wird er mich holen.

    Ich gehe ihm nur ein bisschen entgegen.

    Die Farbe des Nebels hat eine Wendung ins Purpurne genommen. Ich habe großen Durst und stürze drei Gläser Leitungswasser in mich hinein. Das versickert wirkungslos irgendwo, der Durst bleibt. Immer noch toben die Kinder im Hof herum.

    Ich denke an Agathe, meine leibliche Mutter. Unter anderen Umständen hätte ich sicher das Bedürfnis verspürt, mich von ihr zu verabschieden. Mich ihr zu erklären. Aber meine Mutter Agathe verschwand, kurz bevor ich mein fünftes Lebensjahr erreichte. Die Sehnsucht nach ihr ist längst ein Teil von mir, wird es bis zum Ende sein. Das ist nicht schlimm, denn meine sehnsüchtige, lückenhafte Erinnerung an sie ist bunt und heiter.

    Nach ihrem Verschwinden existierte meine Mutter nur noch als ein zerknittertes Foto, das mein Vater heimlich in seiner Pilotentasche herumtrug und als ein Flüstern hinter vorgehaltener Hand. Als ich älter wurde und nachzufragen begann, verstummte dieses Flüstern. Auch das Foto verschwand. Nur sehr selten tauchte der Gedanke an sie noch auf, wie ein Phantomschmerz. So, als die alte Hexe im kleinen Lebensmittelladen unseres Viertels keifte:

    „Du bist eine Hure, genau wie deine Mutter! Ein Mädchen ohne Moral! Dich werden sie auch einsperren!"

    Das, als sie mich mit ihrem Sohn beim Knutschen erwischte – ich war zehn, er siebzehn. Moralisch oder nicht, es hatte uns beiden Spaß gemacht. War meine Mutter für einen ähnlichen Spaß eingesperrt worden? Wo?

    Als ich diese Frage am Esstisch stellte, wo wir in fester Ordnung saßen, mein Vater, Monika und ich, wurde meine Mutter Agathe endgültig zum Tabu. Meine Frage verklang in einer bleischweren Stille. Gesenkte Köpfe und erstarrte Kaumuskeln. Monika stand auf, zischte mit schmerzverzerrtem Gesicht:

    „Das ist der Dank!", und verließ den Raum. Ein langer Blick von meinem Vater, der schließlich hart schluckte.

    „Deine Mutter hat uns verlassen und das ist alles, was du wissen musst. Ich will nicht darüber sprechen."

    Tränenglanz in seinen Augen, und zurück zur Suppe.

    Wenig später erzählte mir Raffael von meiner Mutter. Raffael, von dem ich gern gerettet worden wäre. Aber er verschwand, bevor ich ihn darum hätte bitten können. Wie auch immer, ich werde meiner Mutter nicht fehlen, wo sie auch ist. Nicht mehr, als wenn ich lebte. Ich bin überzeugt in allen anderen Menschen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin, nur oberflächliche Spuren hinterlassen zu haben. Leichte, federleichte Abdrücke. Sie werden kein halbes Leben lang nachwirken und so mache ich mir über die emotionalen Konsequenzen meines Verschwindens keine ernsthaften Sorgen.

    In allen Beziehungen bin ich verschwindend gewesen, ungreifbar. Niemand wird einen echten Mangel empfinden, höchstens eine Art kurzen Erstaunens. Als ob ein Duft, den man jeden Morgen im Hausflur wahrgenommen hat, plötzlich fehlt und man sich das erste Mal fragt, woher er einst gerührt haben mag.

    Ich schenke mir eine Tasse Frühstückskaffee ein und frage mich, wann ich ihn aufgegossen habe. Auch daran erinnere ich mich nicht. Nach dem ersten Schluck schütte ich ihn aus. In mir ist zu viel Unruhe für Kaffee. Ich setze mich aufs Fensterbrett. Was ist zu tun, bevor ich aufbreche? Immer noch spielen die Kinder unten im Nebel Versteck.

    Ich habe diese Hinterhöfe zwischen alten abgeschabten Häuserwänden, in denen Kinder Versteck spielen, gern. Und ich mag es, im vierten Stock auf dem Fensterbrett dieser Küche zu sitzen und ihnen zuzusehen. Viele Sonntage habe ich das in den vier Jahren getan, die ich hier lebe.

    Ich kann das Treiben der Kinder von hier aus so vollständig überblicken, dass ich dem dicklichen Jungen mit dem blassen Städtergesicht von hier oben jetzt leicht zurufen könnte, wo seine Spielkameraden sich vor ihm verstecken. Ich habe Lust, ihn auf mich aufmerksam zu machen und ihm per Zeichensprache zu helfen. Er könnte einen Triumph so gut brauchen. Immer ist es dieser bleiche, teigige 9-jährige Junge, der die anderen suchen muss. Das ist seine Eintrittskarte zum Spiel, seine Daseinsberechtigung inmitten der Anderen, seine einzige Chance.

    Irgendwie macht mich das wütend. Ganz sicher bin ich mir da allerdings nicht, denn solche Gefühle erscheinen mir meistens ausgeliehen, zweideutig. Nicht, dass es so immer gewesen ist. Ich bin mir sogar sicher, dass es einmal anders gewesen sein muss, dass ich irgendwann eindeutige und eigene Gefühle gehabt habe. In den letzten Jahren sind sie wohl langsam aus mir herausgewaschen worden.

    Wenn mich diese Hinterhofsituation wütend macht, dann weil sie mich an Jens-Uwe erinnert, einen Nachbarsjungen aus meiner Kindheit, ebenso dick und blass. Jens-Uwe durfte auch nur mitspielen, wenn er das tat, worauf sonst keiner Lust hatte.

    Auch ihm hatte das diesen resigniert-traurigen Blick gegeben, der mir ins Herz schnitt. Obwohl ich ihn am Ende am allerschlechtesten behandelte. Vielleicht behandelte ich ihn aber auch schlecht, weil mir seine Traurigkeit ins Herz schnitt. Und weil ich bei dem Versuch, ihn besser zu behandeln als alle anderen, feststellen musste, dass ich ihn einfach nicht mochte. Die Ungerechtigkeit, die in all dem lag, tat mir weh. Wenn ich sie bis zur Schmerzgrenze steigern würde, so dachte ich, dann würde sie sich vielleicht auflösen.

    Aber so funktionierte es nicht. Vielleicht habe ich deshalb jetzt Lust, dem Jens-Uwe da unten ein Erfolgserlebnis zu verschaffen. Als könnte ich damit eines meiner Kindheitsverbrechen sühnen.

    Eine neue Runde beginnt. Mit gebeugtem Rücken, wie von jahrelangen Demütigungen niedergedrückt, stellt sich der Dicke vor die gelb verwaschene Hauswand. Er hält beide Hände fest auf die Augen gepresst, um zu zeigen, wie genau er die Sache nimmt. Ich finde es erstaunlich, dass in einer so unbewegten, banalen Haltung so viel Anbiederung liegen kann – so viel Bereitschaft, das eigene Selbst für ein bisschen Zugehörigkeit auszulöschen, ganz tief nach innen zu pressen.

    Die Chancen stehen ziemlich gut, dass er im Umdrehen genau in meine Richtung blicken wird. Dann kann ich mein rotes Küchenhandtuch schwenken, um ihn auf mich aufmerksam zu machen und mit geschickten Kopfbewegungen auf die Verstecke hindeuten, die ich von hier aus erkenne.

    Ich lenke mein Augenmerk auf die Bewegungen der anderen Kinder. Ich beobachte, wie sie zu einem kleinen Häufchen zusammenkommen, tuscheln und gehässige Blicke werfen, um dann geschlossen, ihr Lachen unterdrückend, den Hinterhof zu verlassen. Man kann ihnen ansehen, was für eine machtvolle Genugtuung es ihnen verschafft, den Dicken dort an der Hauswand, die Hände auf den Augen, zurückzulassen. Wie sie sich die nächste halbe Stunde an der Vorstellung ergötzen würden, dass der Verratene sie erst eifrig, schließlich verzweifelt suchen wird, irgendeinen Test argwöhnend, den zu bestehen lebenswichtig wäre.

    Bis ihn dann in einem Augenblick die Erkenntnis trifft, dass er einfach nur verlassen worden ist, verschmäht, abserviert. Ein Mädchen ist dabei, ein Mädchen in einem lustigen roten Rock mit weißen Tupfen, das unglücklich aussieht. Es würde lieber dableiben, es wäre lieber nicht dabei.

    Aber die anderen wollen, dass es mitkommt, zu ihnen gehört und das Mädchen will auch, dass es zu ihnen gehört und es entscheidet sich, mitzugehen. Gerade ist das Grüppchen durch die runde Toreinfahrt verschwunden, als der dicke Junge sich umdreht und mir direkt in die Augen sieht.

    In seinem Blick glänzt die Entschlossenheit, seine Sache möglichst gut zu machen. Seine Kameraden geduldig, ausdauernd aufzuspüren – nicht zu schnell, nicht zu langsam. Hoffnung liegt in diesem Blick. Denn wird er nicht einmal belohnt

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