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Den Menschen verstehen - Wege aus Leid und Gewalt: Trauma - Individuum - Gesellschaft - Werte
Den Menschen verstehen - Wege aus Leid und Gewalt: Trauma - Individuum - Gesellschaft - Werte
Den Menschen verstehen - Wege aus Leid und Gewalt: Trauma - Individuum - Gesellschaft - Werte
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Den Menschen verstehen - Wege aus Leid und Gewalt: Trauma - Individuum - Gesellschaft - Werte

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About this ebook

Eine liebevolle Streitschrift - so lässt sich der Spagat beschreiben, den dieses Buch versucht, im Bemühen um Menschlichkeit, um Wege, die herausführen aus dem Labyrinth von Schmerz, Gewalt, Angst und Entfremdung.

Der Autor schlägt hier eine Brücke zwischen der Tiefe des Wesens jedes einzelnen Menschen - er/sie selbst zu sein - und übergeordneten Prinzipien von Schöpfung und Natur. In der Zerrissenheit dieser Pole spielen sich die gestörten Muster heutiger Gesellschaft und Wirtschaft ab, die in der Folge von Gewalt Unglück, Krankheit und Isolation fördern und weiterführen. Die Wiederverbindung von Mensch und Schöpfung führt zu individueller wie gesellschaftlicher Gesundung. Das Buch bietet ein tiefreichendes Verständnis der menschlichen Psyche wie auch der Bedeutung generationsübergreifender Gewalt und Traumata - Wegweiser zu einem besseren Leben inklusive.
LanguageDeutsch
Release dateJul 22, 2015
ISBN9783739273990
Den Menschen verstehen - Wege aus Leid und Gewalt: Trauma - Individuum - Gesellschaft - Werte
Author

Harald Eisenberg

Harald Eisenberg, 1961 im Ruhrgebiet geboren, entstammt einer Bergarbeiterfamilie. Zwischen Nachkriegs- und Wohlstandsära erinnert er familiär viel Isolation, Schweigen und stumme Spannung. Die Zeit als junger Erwachsener ist geprägt durch Depressionen und dissoziative Symptome, aber auch durch kunsthandwerkliche und musikalische Kreativität und Naturbezug, Liebe und persönliche Freiheit abseits der Konventionen. Als einziges Arbeiterkind seiner Gymnasialklasse macht er, wenn auch verspätet auf dem 2. Bildungsweg, Abitur und bricht das Psychologiestudium wegen unerträglicher Sinnlosigkeit ab, um aber doch über Erwachsenenbildung, Körperarbeit, Entspannungs- und Yogagruppen in die psychotherapeutische Tätigkeit hineinzuwachsen. Seit 25 Jahren arbeitet er als Heilpraktiker für Psychotherapie in eigener Praxis, inzwischen vorwiegend im Bereich Traumatherapie und der Schwerpunktmethode Somatic Experiencing, inzwischen in seiner neuen Heimat Aachen.

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    Book preview

    Den Menschen verstehen - Wege aus Leid und Gewalt - Harald Eisenberg

    Inhalt

    Vorwort

    Die Parzellierung des Geistes überwinden

    I Von den Schwächen der Menschen

    Arm im Geiste

    Das Gehirn kreist um sich selbst

    Konsistenz geht über Korrektheit

    Lebensbreite versus Fixierung

    Verwaltungswerkzeuge des Geistes

    Mit Ignoranz zum Erfolg

    Leben im Konjunktiv

    Denken anstatt…

    Mehr Wirklichkeit

    Modellbildung

    Selbstüberzeugtheit

    Blinder Vortrieb

    Beschleunigung

    Die Illusionsgesellschaft

    Die Wissenschaftsblase

    Folgen und Führen

    Ängstige und herrsche

    II Aspekte der menschlichen Natur

    Sein oder Tun

    Vom Einzeller zum Organismus

    Empfindung, Form und Inhalt

    Der denkende Körper: Felt Sense

    Orientierung

    Beziehung

    Ebenen der Beziehung

    Innen und Außen

    Sprache

    Welches „Ich"?

    Kreise der Sicherheit

    Modell und Gehirn

    Hardwired to connect

    Die Körper-Psyche-Verbindung

    Die grundlegenden 3,75 Jahre

    III Vom Trauma zur Gewalt

    Wie eines sich zum anderen gesellt

    Verschleiertes Leben

    Das gefangene Gehirn

    Zwänge

    Leben im Traumaland

    Trauma im Alltag

    Das Gute – das Böse – das Nichts

    Leiden und Heilung in der Spaltung

    Sitzungsbeispiel: Spaltung durch mangelnde Integration

    Wir sind uns selbst wichtigstes Gegenüber

    Gedicht: Der Schlüssel

    Das Fremde im Eigenen – Introjekte

    Fixierung auf das Innere

    „Die Wahrheit ist immer hart – aber immer wahr"

    Verleugnung und Illusion

    Es schreit heraus, aber es hört nicht zurück

    Die Sehnsucht nach dem verlorenen Heil-Sein

    Trauma und Persönlichkeit

    Durch Trauma zum Erfolg

    Sitzungsbeispiel: Die Angst vor Strafe

    Im Dilemma und daraus heraus

    Das Gehirn, das vor sich selber flieht

    Trauma und der Körper

    Gedicht: Automatikgetriebe

    Trauma und Gesundheit

    Über Verstehen zur Bearbeitung

    Ein Tag in der Praxis

    Echos

    Eine Do-It-Yourself-Psychotherapie namens Liebe

    Die Familie retten

    Sitzungsbeispiele: Lea

    Der rechte und der linke Mensch

    IV Kindliche Lebenswelten

    Tod oder Leben

    Vererbung geht anders

    Form gegenüber Inhalt

    Bindung

    Abhängigkeiten

    Reifung

    Metapher: Schwimmend im Ozean der Reifung

    Flüsse von Energie und Information

    Formen der Gewalt in der Kindheit: Selbstentfremdung

    Resilienz: Chance und Risiko

    Verdinglichung und Ausbeutung

    V Gewalt ist kein Unfall, sondern eine Gesellschaftsform

    Psychohygiene im Mittelalter des Seelenlebens

    Fixierung auf das Symptom

    Keiner zu Hause?

    Individualität als soziale Krankheit

    Aussch(l)uss der Gesellschaft

    Überleben oder leben

    Trauma als Mittel des Überlebens

    Wie Traumaerfahrung weitergegeben wird

    Verwickelt in gegenseitiger Nutzung

    Emotionaler Missbrauch

    Beziehungstraumata

    Sensibilitäten

    Drogen-Wirtschaft 2013

    Gib dem Affen Drogen

    Strukturelle Gewalt in der Psychiatrie

    Zum Egoismus therapeutischer Schulen

    Psychoanalyse

    Keiner ist allein betroffen

    Trauma ohne Lobby

    RABT 2006 6.2.4

    Ebenen des Irrtums in der Technikgläubigkeit

    Verbund schluckt Einzelwesen

    Wirtschaft

    Die Wirtschaft verschlingt ihre Gründer

    Der industrialisierte Mensch

    Soziales Gift

    Wes Brot ich ess…

    Vom Schlimmsten

    Krieg

    VI Zurück zur Ganzheit

    Das Leid der Welt tragen

    Miteinander sprechen

    Ist Trauma heilbar?

    Erste Grundlagen

    Stabilisierung

    Beiträge zum Menschen

    Sitzungsbeispiel: Auftauchen

    Hoffnungsmomente

    Sitzungsbeispiel: Aus der Enge in die Weite

    Jonglieren in der Kirche

    Der heile Teil

    Besserungen sind kritisch

    Aspekte gesellschaftlicher Trance

    Tod einer beschwerten Seele

    Ein dramatisches Erleuchtungserlebnis

    Achtsamkeit

    Sitzungsbeispiel: Durch Bindung in das Leben kommen

    Autonomie, Selbstverantwortung und Bedürfniserfüllung

    Liebe und Beziehung

    Die Seelenseite

    Zurück zum Selbst

    Sitzungsbeispiel: Das kindliche Selbst zurückgewinnen

    Die innere Seite des scheuen Rehs

    Zur Realität der Seele

    Das Wunder des Lebens

    Rhythmus fließt

    Kohärenz

    Teil der Natur

    Sitzungsbeispiel: Die Entdeckung der Kundalini-Kraft

    Das Werden aus der Tiefe

    Kleine Utopie

    Verantwortung

    Mit langem Atem, Respekt und Bedacht

    Do-In-Gebet

    Anhang

    »Ich glaube, die Menschen unterscheiden sich nicht wesentlich von den Mehlwürmern, die sich im Mehlsack entwickeln und an ihren eigenen Giften zugrunde gehen, noch bevor es ihnen an Nahrung und Platz mangelt. … Schließlich sind wir in unserer geistigen Tradition eine gewisse Art der Beziehung zwischen dem Menschen und der Erde gewohnt, die sich gerade radikal verändert. Ich bin keineswegs überzeugt, dass wir moralisch, psychologisch und sogar physisch gerüstet sind, dem zu widerstehen.«

    Claude Lévi-Strauss

    Claude Lévi-Strauss über sich, Fernsehdokumentation 2008

    Vorwort

    Dieses Buch zeigt, dass Gewalt und Trauma nicht vereinzelte Unglücksfälle darstellen, sondern in der Struktur der Gesellschaft angelegt sind und durch den Prozess der (Un-) Kultur erzeugt und weitergegeben werden. Sie sind Symptom und Überträger der Zerstörung der eigentlichen Natur des Menschen. Es wird deutlich, dass die menschliche Natur unter der Zerstörung schlummert und geborgen werden kann. Das ursprüngliche menschliche Potential findet sich in humanistischen Werten, diese wiederum wurzeln in und nähren sich aus letztlich Erfahrungen, die man im weiteren Sinne spirituell nennen kann. Spirituelles Erleben scheint dabei ebenso wie Denken, Fühlen und Handeln natürlich in uns angelegt zu sein. Es entfaltet sich von allein, wenn der Wesenskern eines Menschen erkannt und in seiner Entwicklung zu personaler Reife unterstützt wird. Dabei braucht es viel Liebe und demütige Annahme der mangelreichen Konstitution des Menschen, um klar und doch verständnisvoll auf ihn – und auf sich selber – zugehen zu können. Tief müssen wir in die Niederungen menschlicher Mittelmäßigkeit eintauchen, um zu Heilung und Reife zu gelangen.

    Die einzelne Person kann beginnen, aus dem Krankheitsprozess der modernen Kultur auszusteigen und sich in Denken, Fühlen und Handeln hin zu individueller Gesundheit und zurück zu ihrer inneren Natur zu bewegen. Die Menschlichkeit braucht Menschen, die sie vorbildhaft leben und vertreten, entgegen den Störungsmustern unserer Kultur. Ein bewusster Umgang mit dem wichtigsten gesellschaftspolitischen Mittel, dem Geld, kann den zerstörerischen Wirtschaftsprozess bremsen, der Verzicht auf überflüssigen Konsum kann die fortschreitende Zerstörung unserer Lebensgrundlage, des Planeten Erde als einer Art lebendigem Organismus, bremsen. Weitergehend braucht es aber ein gesellschaftspolitisches Umdenken, mit der Zielrichtung, das dem Menschen innewohnende Wertvolle ins Zentrum zu stellen und durch Kultivierung die Begrenzungen der menschlichen Natur abzuschwächen und in ein harmonisches Ganzes zu führen. So ließe sich eine Kultur und Gesellschaft entwickeln, die auf gänzlich anderen Strukturen und Werten beruhen würde, in der Geld und Wirtschaft zur Hilfskraft des Kulturprozesses würden.

    Dieses Buch nahm während des Schreibens eine Form an, welche die gewohnten Kategorien überschreitet. Das mag ein strategischer Nachteil sein, denn wer sich in den etablierten Kategorien oder Institutionen bewegt, hat bessere Chancen, wahrgenommen zu werden und erfolgreich zu sein. Jedoch hätte eine konventionelle Form an Gehalt und Botschaft in entscheidender Weise verloren und ich wäre mir untreu geworden. So hatte ich die Wahl zwischen Opportunismus und Selbsttreue, und diese Wahl fällt mir, ganz im Sinne der Zielrichtung des Buches, leicht. Selbsttreue ist eines der zentralen Grundmotive des Buches, zusammen mit einem demütig-kritischen Blick auf die menschliche Begrenztheit und einer Liebe für die Menschen, die das Persönliche überschreitet. So enthält dieses Buch, was ich zu geben habe, und findet hoffentlich jene Leser, die genau daran interessiert, dafür offen oder reif sind. Auch wenn es wenigere sind, werden diese Leser die wichtigeren sein. Das Richtige zu tun ist selten populär, aber es schafft ein Gefühl von Zufriedenheit, eine schöne Annäherung an Wahrhaftigkeit, die ich für wertvoller halte als möglichen materiellen und gesellschaftlichen Erfolg. Damit habe ich tief befriedigende Erfahrungen gemacht und kann eine solche Ausrichtung jedem Menschen anempfehlen.

    Im Text vereinnahme ich die Leserinnen und Leser, also Sie, häufig im verallgemeinernden „wir. Ich bitte diese in der therapeutischen Szene verpönte Vorgehensweise zu tolerieren, sie entspringt meiner Überzeugung, dass „wir zum einen alle in derselben Suppe schwimmen: Die beschriebenen Themen betreffen uns alle, wenn auch zu unterschiedlichen Graden und in sehr unterschiedlichen Formen. Zum anderen sind wir so eng untereinander verknüpft, dass nichts nur einem Einzelnen geschieht. Der Andere ist nie wirklich weit weg von mir selbst und meinem Leben.

    Dieses Buch hat die Schwäche jedes Buches, das einen Standpunkt einnimmt. Ich bin mir dessen bewusst, dass an vielen Stellen auch andere Sichtweisen, sogar Gegenteiliges vertretbar wäre. Es sind dies nicht die einzig möglichen Wahrheiten, aber solche, die aus meiner Sicht so noch nicht genannt wurden, oft oder meist nicht in dieser Tiefe verstanden werden, oder zu wenig benannt und in ihrer Bedeutung gesehen werden. Viele Schwächen sind die Kehrseite einer Stärke. Insofern beschäftigt sich dieses Buch mit vielen Kehrseiten und gibt einen tiefen Einblick in die dunklen Hinterhöfe der Menschen in der heutigen Zeit. In einer Entweder-Oder-Debatte ließe sich wohl jeder beliebige Standpunkt widerlegen. Jedoch ist die Schöpfung zu vielschichtig für solches Entweder-Oder – nur die geistige Breite des Sowohl-als-auch kann die Welt verständlicher werden lassen. Verschiedentlich bieten thematische Wiederholungen eines Gedankens zusätzliche oder vertiefende Aspekte an.

    Der angenehmste Teil des Buches ist Abschnitt VI: Zurück zur Ganzheit. Es spräche nichts dagegen, mit diesem zu beginnen, bevor man sich mit den Schwächen und Problemen der Menschen beschäftigt.

    In den Fallbeispielen sind die Namen in der Regel verändert, um die Anonymität der betreffenden Personen zu wahren, sofern es nicht anders gewünscht wurde.

    Die Parzellierung des Geistes überwinden

    »Euer bloßes Wissen und euer theoretisches Verständnis genügen nicht… Was hier erforderlich ist, sind Erkenntnis und Gewissheit aufgrund direkter Erfahrung.«

    Karmapa Wangtschung Kordsche

    Mahamudra, Ozean des wahren Sinns aus Yongey Mingyur Rinpoche:

    Buddha und die Wissenschaft vom Glück

    Keine Frage, die persönliche Sichtweise ist anfällig für vielerlei Schwächen. Im Vergleich zur Wirklichkeit, von der ich annehmen möchte, dass es sie gibt, ähnelt unser Erfahrungsschatz einem Lochmuster. Breit und allgemein angelegt, ist das persönliche Wissen im Detail kaum tauglich. Wir fälschen, ergänzen, verzerren und – ganz schlicht – irren tagtäglich. In der Summe jedoch scheint eine Annäherung an die Welt insoweit zu gelingen, wie das Leben doch immer wieder funktioniert. Bei allen Schwächen ist die individuelle Kenntnis der Welt häufig dem Expertenwissen statistisch überlegen (zumindest dort, wo die Kenntnis Anhaltspunkte findet), das heißt, ein Bevölkerungsquerschnitt vermag oft besser zu schätzen, als der Experte zu wissen. Unsere innere Erfahrungswelt integriert eine Reihe ganz unterschiedlicher Informationsquellen und Herangehensweisen zu einem in etwa geschlossenen Ganzen. Das erlaubt uns Plausibilitätsprüfungen auf breiterer Basis, besonders, wenn wenig Neurose unser Denken verzerrt und die Betroffenheit von Trauma gering ist, unser Organismus also so arbeiten kann, wie er „gedacht ist. Organismus – und nicht Gehirn – deshalb, weil die vielen Vernetzungen von Nervensystem und anderen Körpersystemen so wesentlich für die Funktion des Gehirns sind, dass eine substantielle Trennung gar nicht vorgenommen werden kann. So werden intuitive Einschätzungen wie auch emotionale Bewertungen unter anderem vorgenommen aus dem „7. Sinn der Körperempfindungen. Herzrate, Spannung der Muskeln und so weiter wirken wieder zurück auf das Gehirn und werden als Kontext mit eingespeichert in Erinnerungsspuren, mit ausgewertet für Bewertungen und so weiter. Schließlich mehren sich die wissenschaftlichen Hinweise, dass auch höhere geistige Funktionen aus körperweltlichen Prozessen erwachsen. Sprache und damit die Basis für Denken etwa erwächst unter anderem aus Bewegungserfahrung.

    So gesehen ist die wissenschaftliche Herangehensweise selbst ein spezialisierter und isolierter Teil dessen, was im Organismus als Ganzem ohnehin vorhanden ist. Gerald Hüther stellt – durchaus genüsslich – dar, dass für geistige Effizienz nur sehr kleine Teile des Gehirns benötigt werden (1), eine Erkenntnis, die Eltern wie Bildungspolitikern nahegebracht werden sollte, die verstärkt auf eine Verschulung der Frühpädagogik und Abbau von kulturbezogenen Fächern drängen. In der Wissenschaftlichkeit, in jedem Ansatz, der nach Objektivität strebt, wird der logische Verstand aktiviert – den es aber in Reinkultur und unabhängig von Emotionen, Werten, Zielen und so weiter gar nicht gibt. Gedanken sind zunächst meist nur die Gischt der Emotionen. Als solche können sie als „Anzeigerpflanzen dienen, die einen bestimmten „Boden anzeigen, denn wenn auch viele Gedanken aus Augenblicksgefühlen heraus geboren sind, stellt die gewöhnliche Art unseres Denkens eher den Urgrund unserer emotionalen Überzeugungen dar. Zu wichtig genommen entwickelt die gedankliche Welt eine Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik, die uns von der Wirklichkeit abtrennen, in die Irre führen und zusätzliche Komplikationen erzeugen kann, verbleibt aber in der Abhängigkeit von den Gefühlen. Besonders wenn die Gefühlswogen hochschlagen, überschreiten sie das Haltevermögen des emotionalen Apparates und überfluten die umliegenden Überlaufbehälter, also den Körper und das denkende Bewusstsein. Die emotionalen Muster wieder, aus denen die Gedanken entspringen, wurzeln in Erfahrungen. So müssen wir, wollen wir zu wirklichen Veränderungen kommen, zu den Gefühlen hinter den Gedanken finden und in diesen zu den Erfahrungsmustern, die den Gefühlen zugrunde liegen, um dort neue und andersartige Erfahrungen anfügen und bestehende Muster transformieren zu können. Die Dominanz der wissenschaftlichen Denkweise, innerpsychisch wie im gesellschaftlichen Diskurs, ist ein vergeblicher Versuch, sich über die menschlichen Bedingungen zu erheben. Wird individuell oder institutionell ein stark materialistischer Ansatz vertreten, wie heute oft sogar in der Psychologie oder Medizin, zeugt diese Reduktion von einer fortgeschrittenen Abspaltung von der Tiefe der eigenen Psyche.

    Die künstliche Isolierung des Denkens vom Menschlichen führt zu einem Verlust der Menschlichkeit. Dafür gibt es vielfältige Beispiele. Wissenschaftler, die an unmenschlichen Projekten forschten (2) und forschen und die Nicht-Benutzung ihres Gewissens mit der Freiheit der Forschung begründen, Wissenschaftler, die zu geistigen Allzu-Kurz-Schlüssen und Verengungsbetrachtungen mit anschließenden unzulässigen Verallgemeinerungen neigen. Entsprechend der Eigenschaft des menschlichen Geistes, die eigene begrenzte Sichtweise auf das Ganze zu verallgemeinern, ist bei der Enge der Betrachtung manches Wissenschaftlers die Verallgemeinerung auf das Ganze auch besonders tragisch.

    Demgegenüber ist es wohl geistige Vielfalt, die Summe unserer Potentiale, welche die sinnvollste Annäherung an „die Wahrheit verspricht. Reflektierte Intuitionen, überprüfte Glaubenssätze, interpersonal abgestimmte Einschätzungen auf gleicher hierarchischer Ebene bieten eine Integration komplexer, spezialisierter Systeme auf höherem Niveau, was aus meiner Sicht das beste Ergebnis ermöglicht. So hat Daniel Siegel in „Das achtsame Gehirn (3) bewusst die Entscheidung getroffen, persönliche Erfahrung mit wissenschaftlicher Forschung zu kombinieren, er meinte, nur so dem Thema hinreichend gerecht werden zu können.

    Die Spaltung der Summe in ihre Einzelteile ließe sich auch als Pathologie beschreiben – als dissoziativer Prozess. Die Intoleranz der Beteiligten gegeneinander, fast schon die Angst voreinander, die Teilleistungsstörungen, die sich auf jeder Seite dadurch ergeben, dass die jeweils andere Seite fehlt, der Kampf um die Vormacht – all das finden wir auch in der Innenwelt von Menschen, die von Struktureller Dissoziation betroffen sind.

    Und wie auch Wissenschaft überfordert ist, Gesellschaftspolitik zu gestalten, ist im Individuum die Vernunft überfordert und überanstrengt, die „Funktionsweisen der anderen Teile vorzuspiegeln, um in der „normalen Welt die „normale Rolle spielen zu können. Denn häufig finden wir, dass der „anscheinend normale Persönlichkeitsteil, verkürzt gesagt der Vernunftsmensch, sich verzweifelt bemüht, sich selbst gegenüber und nach außen eine Fassade aufzubauen, die ihm wesensfremde Elemente enthält, wie soziale Intelligenz, Mitgefühl, Verbindlichkeit (die aus Verbundenheit erwachsend Gemeinschaft bedeutet, aus geistigen Funktionen erwachsend jedoch nur Pflichtbewusstsein), Fröhlichkeit und so weiter. Ein Leben „als-ob" zu leben ist ungeheuer aufwendig und anstrengend. Die scheinbare Normalität von Menschen bricht daher häufig zusammen, wenn diese Fassade durch äußere Bedingungen (Beziehungsprobleme, Tod wichtiger Bezugspersonen, Verlust des Arbeitsplatzes) oder durch innere Veränderungen (Krisen, Krankheit, Schwäche, Gebrechlichkeit, nachlassende geistige Fähigkeiten im Alter) nicht mehr aufrechterhalten werden kann.

    Die Überbetonung der Funktion des Denkens ist auch ein klassisches Symptom bei Traumafolgestörungen – die emotionalen Gehirnbereiche sind von traumatischen Ereignissen in besonderer Weise betroffen. So ist es wohl meist der rationalere Teil, der am ehesten in der Lage ist, „die Geschäfte weiterzuführen", wenn Trauma das emotionale Gehirn konfliktreich in sich selbst verknotet.

    Handelt es sich also bei strenger Wissenschaft unter Ablehnung der subjektiven Erlebnis- und Sichtweisen, einschließlich von Traditionen, die seit Jahrtausenden wichtige Phänomene wie Achtsamkeit und Meditation erforschen, um Dissoziation? Um aktiv betriebene Spaltungsprozesse und damit Verminderung eines ursprünglich gemeinten Ganzen zu miteinander ringenden Bruchstücken? Diese Überlegung macht Sinn und ruft nach Heilung, nach Rückführung in den Zustand der Integration, in der die einzelnen Schwerpunkte erhalten bleiben, aber im Rahmen eines größeren Ganzen eingeschätzt, gegeneinander abgewogen, eingebunden, differenziert und bewertet werden.

    I Von den Schwächen der Menschen

    »Der Übergang vom Affen zum Menschen sind wir.« Konrad Lorenz

    Arm im Geiste

    Im Konstruktivismus wird beschrieben, dass wir uns des Wahrheitsgehaltes der Wahrnehmung nie gewiss sein können, weil es keinen Weg gibt zu wissen, ob „es ist, wie wir glauben, „es wahrzunehmen. Die Wahrnehmungen kommen zu uns als ungeordnete elektrochemische Signale, und es bedarf mehrerer Bearbeitungsebenen, in denen neurobiologisch Ordnung und Sinn teils erkannt und teils erzeugt werden. Sich dieses Problems bewusst zu sein ist zwar grundlegend, aber ich behaupte, man muss es sich erst verdienen – den meisten Menschen wird dieses abstrahierte Verständnis nie gelingen. Denn unser Wahrnehmen scheitert gewöhnlich schon an viel geringeren Hürden.

    Was machen Sie zum Beispiel, während Sie frühstücken? Vermutlich werden Sie kauen und schlucken, das ergibt sich aus der Sache. Womit aber sind Sie beschäftigt? Ist da jemand, mit dem Sie sprechen, sich gar unterhalten? Oder eilen die Gedanken voraus, planen den Tag, erwägen Eventualitäten, pflegen den Missmut und die Sorge? Oder ist die Lustlosigkeit prominent, ein Mangel an Antrieb und Initiative, der Schlaf noch in den Gliedern und der Geist noch nicht dabei? Ist es im Gegenteil ein Gehetztsein, ein gar nicht erst auf dem Stuhl landen – wenn Sie denn sitzen beim Frühstücken. Ein Bissen hier, dann die Kinder in Bewegung bringen, oder noch eine Notiz machen, oder schon mal die Schuhe bereitstellen? Während der Hintergrund der Psyche, in ungelösten Konflikten gefangen, für Erleben keine Kapazitäten frei hat? Wie auch immer, es ist fraglich, ob die Details des Essensvorganges, die Bewegungen, Gerüche und Geschmäcker, die Konsistenz und Temperatur der verschiedenen Bestandteile Ihr Bewusstsein nennenswert belegen. Der normale Mensch im normalen Leben ist nun einmal nicht bei dem, was er tut. Zerstreut in viele Hochzeiten, tanzend auf allen Winden findet sein Geist den normalsten Punkt des Seins nicht mehr, das Jetzt, den einzig wirklich existierenden Augenblick. Gerade dies ist der Ort, wo er sich nicht aufhält. Sollte mensch aber doch etwas merken, so wird er es vielleicht in einem semantischen Sinne bemerken, über ein Wort, eine Klasse von Gegenständen, die im Gehirn aktiviert wird. Viele Menschen beschreiben sich ihre Welt – soweit sie sie bemerken – ständig über Worte und Bezeichnungen, womit sie die Wahrnehmung durch die Bezeichnung ersetzen. Mit diesen Objekten handeln und manipulieren sie dann innerlich. Sie denken in verkürzten Gedankenfolgen wie, „Kind, präziser „mein Kind und „muss zur Schule, nicht aber: „Mein geliebter Markus sieht heute morgen etwas schlaff und lustlos aus, ich habe Lust, ihn ein wenig wachzukitzeln.

    Bei der Parallelität konkurrierender Geistesinhalte, und da Menschen, meist ungeübt in der aktiven Steuerung, Vereinfachung und Ordnung geistiger Inhalte, eher passiv schon bestehenden Gewohnheiten folgen, entsteht schwer gedanklicher Leerraum für Wahr-Nehmung. Vielleicht wird am Rande ein isoliertes Detail zur Kenntnis genommen. Dafür genügt ein Augenblick, und schon wird die Wirklichkeit wieder beiseite gelegt oder ihre Wahrnehmung ist schon vergangen durch sich weiterbewegende innere Kräfte. Weiter geht es im Gedankenkarussell, oder die Aufmerksamkeit ist wieder in trüber Dumpfheit abgeschlafft. Vielleicht gibt es ein Hinterherhinken, für einen Augenblick habe ich hingeschaut und etwas gesehen, und dann habe ich es bedacht, und schau, schon hat sich die Welt weiterbewegt, und von 10 Bildern habe ich 8 schon wieder verpasst, weil ich nicht in der Lage war, dabeizubleiben. Immerhin: von Automatismen über Kategorien bin ich jetzt schon bei Wahrnehmungen angelangt. Bei diesen ergibt sich die nächste Frage: Ist es ein bloßes Sehen, ein blankes Hören, ein passives Rezipieren, eben eine Frage der Kenntnis, des Wissens? Dann ist nur eine Oberflächenschicht meines Seins am Wahrnehmen beteiligt. Die Dinge sind durch ihre Dinglichkeit beschrieben, alles geht um Fakten, bar der Bedeutung und Tiefe. Ich muss mir die Wahrnehmung aber nahe kommen lassen, so dass ich sie fühle. Fühlen hat den Dialogcharakter des Berührens. Aus Wissen wird Erleben, das berührt, was um mich herum geschieht, und im Inneren berührt es schon Erlebtes aus früheren Zeiten, ohne da hinein abzugleiten, verbunden bleibend mit dem lebendigen Augenblick und seinem wachen, feinen, ohne Mühe differenzierten, begegnenden Erfahren. Fluss, Vielfalt, Beziehung und Dialog geben der erlebten Zeit Fülle und durch die Lebendigkeit Sinn. Damit könnte ein geistiger Nachfahre Goethes beschrieben sein, aber ein für die heutige Zeit typisches Nervensystem wäre überfordert. Die Einheitserfahrung, die „Veraugenblicklichung" des Seins, die Verbundenheit mit der Realität, das wird uns systematisch ab-erzogen. Wie nennt man das Gegenteil von Gegenwärtigkeit? – Schule. Was auch immer unsere Bildungskultur bieten mag, sie umfasst keine Aufmerksamkeitskultur. In einem verschulten System ist das auch kaum möglich, denn Aufmerksamkeit kommt von Innen, nicht von Außen, Erleben ist ein Gestaltungsprozess aus Lust am Sein. Wenn uns die Lust an diesem Sein vergeht, zerfällt die Aufmerksamkeit und das Erleben lässt es lieber sein, das mit dem Sein. Wenig lädt in unserer Welt ein, in lustvollen Dialog zu treten. Schon der Weg zum Kindergarten ist einer mit Ziel, und das liegt nicht im Weg. Der Weg wäre demgegenüber ein organischer Ausdruck des erlebenden Unterwegsseins, mit einem nachgeordneten Ziel. Ohne dieses Unterwegssein verlieren wir eine Vielfalt von unterschiedlichen Mikro-Wirklichkeiten, Welten, in denen wir uns und diese Welt gern erlebend zusammengebracht hätten. Wir werden wortwörtlich weggezerrt von diesen Welten, auf die wir Lust gehabt hätten. Die unser Leben gewesen wären. Was uns Fülle gewesen wäre, erleben wir als Bremse.

    Apropos Leben: Wenn es nicht in uns und aus uns heraus stattfindet, wo finden wir es dann? Viele Menschen haben ihr Leben in den Fernseher verlegt, jetzt, da Lesen außer Mode kommt, weil die Aufmerksamkeitszyklen auf Minuten schrumpfen. Oder es wird in die Kinder gelegt, deren Lebendigkeit zum Füllstoff für die eigene Leere wird; junge Menschen suchen Partner, die so sind, wie sie selbst es nicht zu bieten haben und worum sie sich auch nicht bemühen, in einem Habenwollen das nichts zu geben hat. Allgemein wird die Aufregung gesucht, der Aufreger, das Incentive, der Anmacher, es braucht gezielte Reize, um noch etwas zu erregen, kein Busen kann groß genug sein, kein Dinner perfekt genug, es könnte immer noch mehr kommen. So wird Lebenszeit verwartet, vollgefüllt, bekrittelt, benörgelt, auch totgesoffen, alles, um der Realisierung dessen zu entfliehen, wie leer es ist.

    Es braucht nicht mehr dessen, was schon Zuviel ist, sondern anderes, um diese Leere gut zu füllen. Da Erleben von innen kommt, braucht es genügend Gestaltungsraum, Bestimmungskraft und Wirkraum, mehr Selbst- als Fremdbestimmung. Im Erleben braucht es ein erlebendes Ich, und wird dieses Ich nicht selbst Teil des Erlebens, wird es schwach und durchscheinend. Vielleicht wird ein gedachtes Ich errichtet, eine Fassade, eine Form, die den Ansprüchen genügt, aber es ist nicht mehr das Ich des Erkundens, der Freude, des Dialogs und der Verbindung. Für den Alltag und die Gesellschaft reicht ein gedachtes und gemachtes Ich allemal aus, weil es dabei nicht um den Menschen geht, sonst würde sein Fehlen doch sofort auffallen. So aber fehlt der Gesellschaft nichts. Die Menschen aber sind um ihr Leben betrogen. Menschen können jahrzehntelang niemand sein, im Sinne des Fehlens dieses inneren Lebensfeuers, und es wird nicht weiter beachtet.

    Was für ein Erschrecken kann es dagegen sein, wenn in der Liebe oder sonstwo im Leben Dich jemand sieht, so, dass Du nicht anders kannst, als auch selber Dich zu spüren, die Person, der man zu fliehen sucht? Ein freudiges Entdecken kann es sein oder ein großer Schrecken, denn erkannt zu werden ist verbunden mit einem unmittelbaren Gefühl der Nähe. Je nach Lesart oder Bindungsmuster wird das als Erfüllung, Ausgeliefertsein oder Verletzlichkeit empfunden, ewiger Anlass für Hollywood-Filmbräute zu fliehen und sich dann doch einfangen zu lassen oder in Woody-Allen-Begegnungen voller Vergeblichkeit aufeinander zu stoßen und wieder auseinander zu treiben.

    Beziehung mit Menschen ist ohnehin der schwierigere Fall. Es ist schon Abenteuer genug, die Welt in einer Weise zu erleben, die zulässt, wie die Seelensphäre sich ausdehnen und mit der Welt in Verbindung kommen möchte, und wenn nun ein Mensch das Gegenüber ist? Da sind wir inmitten der Lebenswirklichkeit von Kleinkindern, die kaum Grenzen haben. Sie haben eine sich verbindende Seelenwelt, sie liegen offen da, welchen Erwachsenen auch immer sie anvertraut oder ausgeliefert sind. Wenn diese Erwachsenen hinreichend heil und „da" sind und inneren Raum für das Sein des Kindes haben, entsteht ein Fluss, der intensiver ist als vielleicht jedes andere Erleben: eine geglückte Bindung. Der Säugling muss aber fast ohne Schutz und Schale durch alle Schwankungen, Gefährdungen und Verletzungen in diesem gemeinsamen Raum hindurch, ohne Abwehr und Entkommen. Sie können sich, zumindest zeitweilig, Wegwenden, aber wird das geduldet? Schnell kann die dünne Seelenhaut wund werden, inneres Abschalten zum Schutz vor Überwältigung chronisch werden. Deshalb ist dieser geteilte Erlebnisraum so hochsensibel, auch später in der Liebe zwischen Partnern, die Emotionen so unmittelbar, quälend oder glücklich machend, und es ist die Frage, ob bis zum Erwachsenwerden aus dünnen Häuten dicke Mauern geworden sind, die schützen, aber abstumpfen und einsam machen, oder ob die Grenzen flexibel sind und sich für empfindsamen Kontakt, Nähe und Intimität ohne Selbstauflösung öffnen können.

    Ist es nicht die Abstumpfung und Fühllosigkeit der Erwachsenen, die viele von uns abgeschreckt hat, jemals selbst ein Erwachsener werden zu wollen? Aber es hilft nichts, wenn man ein Autoscooter ist, tut man gut daran, sich zum Schutz einen Gummireifen anzuschaffen, in der Seele oder um den Bauch oder in der Nicht-Wahrnehmung oder wie auch immer; und will man nicht herausgedrängt werden, tut man gut daran, zu lernen, sich kräftig zu gebärden, ohne Rücksicht auf Sensibilitäten.

    Da wir also in der Regel wenig mitbekommen und selten etwas merken, haben wir ganz andere Probleme als die Frage, ob das Nicht-Wahrgenommene real ist oder nicht. Wir müssen uns die Wahrnehmung überhaupt erst wieder erarbeiten, zurückfinden zu einer sinnlichen Kultur, in der uns nicht die Farben, Bilder und Fernsehserien anschreien, in der Gerüche wieder zum Riechen einladen, in der wir Menschen vorfinden, denen zu begegnen eine Bereicherung ist, einschließlich uns selber.

    Das Gehirn kreist um sich selbst

    Ein neuer Tag beginnt – aber nicht für das Gehirn, das lediglich seine alten Routinen neu aufnimmt. Es wäre wohl zu aufwendig, all die Strukturen und Bedingungen des Lebens täglich neu entdecken zu müssen. Nein, beim Aufwachen wissen die meisten von uns in der Regel sehr viel: wo sie sich befinden; ob sie Männlein oder Weiblein sind; wo die Toilette ist; wer die Person neben ihnen ist (wenn da jemand ist); welcher Wochentag ist oder zumindest welcher Monat und welche Jahreszahl; in welcher Stadt sich das Haus befindet, in dem sie sind; den Beruf und welches Getränk der Gaumen als erstes erwartet. Diese und weitere Dinge erscheinen selbstverständlich und stellen die Kontinuität unseres Lebens her. So errichtet sich der gewöhnliche Zustand der Selbsthypnose, denn all das wird als gegeben dem Tag zugrunde gelegt, ohne geprüft und hinterfragt zu werden. Die faktische Wahrnehmung kann dementsprechend minimiert werden. Sie wird zumindest momentan wieder angeschaltet, wenn man etwa gegen einen Stuhl läuft, den man sich nicht erinnerte, dort abgestellt zu haben. Das Gehirn „weiß" die Welt schon und spart sich deshalb die Mühe, nach ihr zu schauen. Dasselbe gilt für die Lösung der Weltwirtschaftskrise, die richtigen moralischen Regeln, den richtigen Stil Auto zu fahren, den ja die meisten (anderen) bekanntlich nicht beherrschen und so weiter und so fort.

    Hirnorganisch passt dazu, dass die Aktivitäten des Gehirns weitgehend autonom von der Umwelt stattfinden. Das Gehirn beschäftigt sich zu 90% mit sich selbst. 10 magere Prozent bleiben also theoretisch übrig, um etwas von der Welt, dem „Hier und Jetzt mitzubekommen. Fakt ist: häufig genug schlafen diese 10% auch noch. Wege zur Arbeit und wieder nach Hause – die meisten wissen nichts mehr davon. Die Automatismen haben uns sicher dorthin befördert – wozu Bewusstsein? Dementsprechend „normal ist der altbekannte Fehler, Landschaft und Landkarte miteinander zu verwechseln. Wir „wissen" uns auch ohne Vergewisserung mit unseren Überzeugungen im Recht. Also haben die anderen Unrecht und wir können gar nicht verstehen, warum sie das nicht einsehen.

    So ist es auch bei belastenden und hinderlichen Strukturen und bei Trauma: Täglich neu werden diese Muster ins Leben gerufen und wurden vielleicht schon vorgeträumt. Es gelingt uns nicht, die Landkarte zu aktualisieren, weil sie schon fertig ist. Sie ist. Für ein Organ, das die Wirklichkeit nicht direkt zu erleben vermag, sondern nur über Sinne vermittelt, und dem die Einbildung auch nichts anderes ist als Wahrnehmung ohne äußere Ursache, bleibt es sich gleich, ob es sich um eine gedachte oder eine wahrgenommene Wirklichkeit handelt. Was dann „an der Oberfläche" des Bewusstseins wahrgenommen wird, dringt noch längst nicht in die tieferen Muster des Gehirns ein, die es für die Wirklichkeit hält – geschweige denn, dass die Muster verändert werden. Wenn das Fundament einmal steht, wird es ungern verändert, was auch verständlich ist, schließlich bewohnen wir bereits das Haus darauf.

    Unser System ist in die verschiedensten Richtungen voller Lücken. Es sind nicht nur die Absenzen, in denen wir tagtäglich und mit dem Alter zunehmend die Zeit, die von der Automatik gesteuert wird, in Unbewusstheit verbringen, was uns unter anderem die Lebenszeit schneller vergehen lässt, und die Vor-Urteile, die uns immer schon alles wissen lassen. Notwendigerweise hat unserer „Datenverarbeitung auch ihre Struktur und Funktionsweisen und somit ihre Eigenheiten. Die meisten Europäer sind etwa kulturell so geprägt, dass sie aus sich heraussehen. Das, was „draußen ist, nimmt in der Wahrnehmung einen wesentlich größeren Teil ein als das, was „drinnen" ist. So entsteht ein Wahrnehmungsloch, in dem wesentliche Teile des eigenen Seins scheinbar spurlos verschwinden, das Bermuda-Loch des Seelenlebens. In der Konsequenz bekommen wir die vielfältigen Signale des Körpers, die uns etwas über uns selbst und unsere Beziehungen zur Umwelt sagen könnten, auch über die Umwelt selbst, gar nicht mit. Wir bemerken auch unser eigenes Handeln meist nicht als verursachend für Reaktionen der anderen. Mit größter Selbstverständlichkeit beschweren wir uns über die ablehnende Haltung anderer, ohne Bewusstsein, wie wir selbst auf sie zugegangen sind. Das ist irgendwie praktisch: das, was wir gar nicht erst wahrnehmen, brauchen wir nicht einmal zu verdrängen. Mit diesem Wahrnehmungsloch lassen sich ganze Kriege rechtfertigen. Der Dauerkrieg zwischen Israel und Palästina, verharmlosend Nahostkonflikt genannt, wäre ohne diese Blindheit für das eigene Tun gar nicht denkbar. Würde jede Seite mit Schrecken feststellen, was sie selbst dazu beiträgt, um die Schraube weiterzudrehen, wäre noch lange kein Frieden – aber der Krieg beendet. Jedoch reagiert jede Seite aus dem eigenen Gefühl der Ohnmacht, des verletzten Gerechtigkeitssinnes, der Selbstbehauptung, die hier auch wirklich die Möglichkeit zu überleben bedeutet. Jeder re-agiert. Die Israelis haben dabei die bei weitem besseren Voraussetzungen: sie leiden nicht an materieller Not, haben, ihre Selbstverteidigung rechtfertigendend, Gräuel jahrhunderterlanger Verfolgungen im Gepäck, was sie vor internationaler Kritik wirkungsvoll schützt, und besitzen bei weitem die besseren Waffen, Ressourcen und Beziehungen. Sie haben auch wesentlich weniger Opfer zu beklagen als die Gegenseite. Im Grunde stecken aber beide Seiten in derselben Falle: aus sich heraus zu sehen auf die anderen, deren Handeln zu sehen, und blind zu sein für die Folgen des eigenen Handelns, die eigene Eingeknüpftheit in das sich fortwebende Lebensgeschehen.

    In der „Basisversion menschlicher Existenz – in die wir, geistig gesehen, alle gelegentlich zurückfallen – gehen wir auch immer davon aus, dass die anderen so funktionieren wie wir, ihr Handeln so gemeint ist, wie es bei uns wäre und ihre Motive den unsrigen entsprechen. Es ist Teil der „Faulheit des Gehirns, sich die Mühe zu sparen, diese Vor-Vorstellung zu prüfen, sondern einfach davon auszugehen. In Blindheit für Abweichungen und Umdeutungen bekommen wir so subjektiv Bestätigungen des schon „Gewussten", die Rille, in der unsere Schallplatte hängt, vertieft sich.

    Weiterhin denken wir, dass nicht Wahrgenommenes auch nicht vorhanden ist. So lässt es sich hervorragend aufräumen mit den Wahrnehmungen und Wahrheiten anderer. Gern wird also die Qualifizierung „Quatsch oder „Unsinn gebraucht, um die Wahrheiten anderer Menschen ohne Not eigener Überlegung wie einen Tennisball abzuschmettern. Wenn der Ball dann aus dem Blickfeld ist, gibt es ihn auch nicht mehr. Ebenso, wie nicht Gesagtes auf magische Weise nicht existiert. Um sich als Teil der Wirklichkeit zu qualifizieren, gehört wesentlich mehr dazu, als einfach zu existieren. Das Existente muss sich hinreichend aufdrängen und Fürsprecher finden, welche durch Titel, Rang oder Macht eine Reputation, eine Qualifikation, ein Recht besitzen, das Existierende als solches zu benennen, es auszusprechen und somit zum Kanon dessen hinzuzufügen, was als Wirklichkeit gilt. Unausgesprochenes mag für den Einzelnen in seiner Subjektivität eine gewisse Existenz besitzen, aber selbst dort ist sie gewöhnlich fragil und wird bezweifelt, wenn nicht auch genügend andere dieselbe Wirklichkeit erleben und aussprechen.

    Misstrauen wir also der Überzeugtheit jener, die wissen, wo es langgeht; die die Wirklichkeit kennen; die zu „wissen glauben. Nicht dass ihre Ideen falsch sein müssten, aber es fehlt ihnen das Bewusstsein der unvermeidlichen Begrenztheit ihres eigenen Konstrukts, von dem ein großer Teil nicht einmal ihr eigenes Konstrukt ist, sondern eine Schnittmenge, ein kontextbezogenes Nebeneinander von Konstrukten, die Gesellschaft, Schule, wichtige Bezugspersonen, Familienstrukturen und sonstige „Wirklichkeits-Geber vorgefertigt haben. Glaubwürdiger sind jene, die sich der vorläufigen und begrenzten Natur ihrer Wirklichkeit bewusst sind, des grundsätzlich Hypothesenhaften ihrer Wahrheiten, und von da aus auch ihr Leben führen. Diese Menschen können neugierig sein, können zuhören, sind zum Dialog in der Lage und zur Annäherung an ihr Gegenüber in seiner Welt. Sie müssen nicht angstvoll an ihrem Konstrukt festhalten und schon gar nicht darum kämpfen. Diese Art und Weise, miteinander umzugehen, ist einfach, erholsam und auch fruchtbar, da es möglich wird, Neues zu erschaffen und voneinander zu lernen. Begegnungen finden statt im Geiste fruchtbaren Austauschs, nicht des Wettbewerbs.

    Wahrheiten sind von vorübergehendem Wert und müssen immer neu gefunden werden. Sie beruhen im besseren Falle auf eigener Erfahrung und sind nachbildende Konzepte für gefühlte Augenblicke der Erkenntnis, plastische Hinweisschilder zu dem eigenen Ort innerer Erkenntnisfähigkeit, um dort das eigene Begreifen dessen zu finden, wovon die Wahrheit zu berichten versucht.

    Konsistenz geht über Korrektheit

    Wir kennen den blinden Fleck im Sehfeld, eine kleine Fläche ohne Sinneszellen im Augenhintergrund, dort, wo der Sehnerv zum Gehirn geht. Das stört das Gehirn wenig, es ergänzt einfach von den Rändern das gesehene Bild zu einem Ganzen – schließlich würde ein Loch nur irritieren. Was im Auge kein Problem ist, wächst sich für unsere Weltsicht insgesamt zur wohl größten Schwachstelle und Fehlerquelle überhaupt aus, denn das Gehirn arbeitet überall nach demselben Prinzip: Wo es nichts weiß, da ist auch nichts. Lücken werden vom Bekannten her gefüllt, genauer gesagt, Lücken sind in der Repräsentation der Welt nicht vorgesehen. Sie werden mit innerer Nicht-Repräsentation gestraft. Mag die Lücke auch hausgroß sein oder einen ganzen Kulturkreis umfassen oder die gesamte Geschichte der Menschheit – wo nichts ist, da fehlt auch nichts.

    Im Selbstbild und Selbstgefühl verhält es ähnlich: Geistige Zustände umfassen (meist) nur sich selbst. In speziellen Zuständen, zum Beispiel im Drogenrausch oder Morgentran („Der frühe Vogel kann mich mal-Zustand), unter seelischer Belastung, im Trauma-Land oder nach einem Schlaganfall steht die sonst „normale Bandbreite des Alltagszustandes (die ohnehin ständig schwankt) nicht zur Verfügung. Sie wird auch oft nicht vermisst, denn um etwas zu vermissen, müsste man es in sich repräsentieren können. Dazu würden eben jene Netzwerke aktiv sein, welche den „normalen" geistigen Horizont auch zur Verfügung stellen. Manchmal steht nicht einmal das Wissen zur Verfügung, dass es einmal anders war – also auch wieder anders werden könnte. So kann die betroffene Seite nach einem Schlaganfall in der Wahrnehmung des Patienten vollkommen verschwinden – sie existiert dann quasi nicht mehr.

    Trotzdem erscheint die Welt subjektiv vollständig – obwohl das Laufen nicht mehr funktionieren will. Das Leben ist ein gigantischer Lückentext. So entsteht häufig Irritation, wenn die Welt sich nicht verhält, wie wir es erwartet hatten oder wenn wir über etwas stolpern, dass es in unserem Weltbild nicht gibt. Menschen wenden dann zunächst meist Ignoranz und Penetranz an. Funktioniert beides nicht, wird im Rahmen des innerlich Bekannten eine – egal wie unplausible – Erklärung gefunden, die einen aus der Verantwortung herausnimmt, Denken und Handeln neu auszurichten. Ursachenzuschreibungen kann man großlöchrig stricken, Hauptsache, sie scheinen einem selbst plausibel. „Ich kenne mich aus mit Maschinen. Menschen sind auch nur Maschinen. Und in der Konkurrenz der Meinungen ist die eigene immer noch die glaubwürdigste – schon aus dem Bedürfnis nach dem Halt, den ein zusammenhängendes, sicheres Weltbild gibt. Also wird beharrt, nicht bedacht. Selbst wenn die Frage auftaucht, „Was begreife ich da nicht, was habe ich übersehen? Was ist denn da? heißt das noch nicht, dass man auch etwas vom Neuen zu fassen bekommt, denn das geht nur an den Überschneidungen und Rändern mit Bekanntem. Dort, wo in unserer Wahrnehmung ein Loch ist, gibt es eben nur dieses Loch, und Löcher werden nicht wahrgenommen. Geistige Kurzschlüsse sind nicht die Ausnahme, sondern das Prinzip!

    Unserem Welterleben fehlt das Gefühl für „Lücke", für den Leerraum zwischen den Nervenbahnen. Wir haben dafür keinen Schmerz, keine Rezeptoren, keinen Alarm. Das wäre auch nicht ratsam: In Bezug auf die Schöpfung um uns herum – und in uns drin – ist unser Wissen und Erleben dermaßen begrenzt, dass wir so viel über die Welt wissen, wie ein Fisch im Wasser vom Leben an Land. Selbst das, was wir schon wissen, überfordert uns heillos. Bereits auf der Ebene der Sinneszellen wird stark selektiert, um die Flut des Erlebens auf ein handhabbares Maß für unseren Geist zu reduzieren. Dieser fokussiert mittels weniger Informationen pro Sekunde auf das für den Augenblick Wesentliche. Auch Frauen können kein Multitasking: Sie sind nur geschickter darin, zwischen verschiedenen Aufträgen hin- und herzuschalten.

    Aus einer erstaunlichen Reduktion des Weltwissens heraus erlauben wir uns natürlich dennoch, überall eine Meinung zu haben und eine Messlatte anzulegen, Überzeugungen zu vertreten und Gewissheiten zu spüren. Infolge dessen ist die Fehlbeurteilung außerhalb der begrenzten Bahnen, in denen wir uns alltäglich bewegen, das Typische. Das ist natürlich und entspringt unserer „Konstruktion". Um also die Unzuverlässigkeit und Fehleranfälligkeit unserer Urteile zu erkennen, bedarf es der Bewusstmachung. Diese ist ein zu erwerbendes Kulturgut, wichtig, um hinreichende Demut und Zurückhaltung zu entwickeln in dem, wovon wir normalerweise überzeugt sind, dass es auch für die Menschen um uns herum, überhaupt für alle gilt.

    Allerdings geben wir damit auch Macht auf, denn im normalen Alltag schmieden wir aus der Schwäche des Geistes eine Waffe. Indem wir uns auf die eigene Überzeugtheit vereinzeln erhöhen wir unsere Entschiedenheit und setzen uns häufiger gegen andere durch. Wir müssen uns für eine Grundrichtung entscheiden: Wollen wir uns durch Abschottung und Gewalt durchsetzen oder im Miteinander lernen und unser Weltbild weiterentwickeln? Wollen wir gewinnen oder verstehen? Soll unser Leben ein Schlachtfeld oder eine Begegnungsstätte sein? Letzteres, so versuche ich darzustellen, entspricht unserer Natur, ersteres ist ein Krisenmodus, Antwort auf erlittene Gewalt.

    Lebensbreite versus Fixierung

    Die spielerische Breite und Vielfalt des kindlichen Gehirns braucht Sicherheit und ein gutes Maß an Zweckfreiheit. Zum Erwachsenen hin schränkt sich diese Bandbreite durch Bedingungen ein, in denen eine Funktionalisierung nötig wird, eine Ausrichtung auf äußere Notwendigkeiten. Dann erfolgt eine Bewertung: die Breite wird als nicht zielführend markiert, die Einschränkung als hilfreiche oder auch notwendige Spezialisierung, und durch diese Bewertung werden die eingeschränkten – auf einen bestimmten Zweck hin optimierten – Funktionskreise betont und ausgebaut. Beschränktheit wird also als erfolgreich erlebt, als Fortschritt. Je prägender die Verhältnisse und Bedingungen waren, auf die hin diese Spezialisierung erfolgte, desto stärker ist die Identifikation mit der Beschränkung. Dem erwachsenen Menschen scheinen seine Anpassungsmuster häufig eine zwingende Notwendigkeit zu sein und werden den Kindern, die sich ohne eigenen lebensgeschichtlichen Bezug naturgemäß dagegen wehren, als einzig richtige Möglichkeit aufgezwungen. Die Begrenztheit des Erwachsenen beruht auch auf der schon benannten Eigenart des Geistes, dass ein Zustand sich selbst nicht überschreiten kann – dem Erleben scheint es oft gar keine Alternative zu geben. Was nicht zur Verfügung steht, ist auch nicht denkbar. Wenn die prägenden Bedingungen eine traumatische Stärke erreichen, also eine Situation auf Leben oder Tod beziehungsweise auf Sein oder Untergang erlebt wird, entsteht in der traumatischen Aktivierung eine Art unverbrüchliches „Siegel, welches keine andere Lösung mehr zulässt als diese eine. Das Gefühl dazu bleibt rechtshemisphärisch nonverbal und somit nicht hinterfragbar. Könnte es zum Ausdruck gebracht werden, so würde ein Gesetz benannt werden: „Man muss das unbedingt genau so machen (sonst ist das Ergebnis schrecklich). Sünde, Sakrileg oder Verrat sind Worte, mit denen eine Abweichung von diesen Zwängen belegt wird, oder auch wortloses Entsetzen oder brutale Bestrafung, Ausschluss, Verbannung und Ächtung sind ebenfalls denkbar. Was aber im zweiten Weltkrieg auf der Flucht aus Ostpreußen über die gefrorene Ostsee lebensrettend war, passt in die Lebenswirklichkeit eines Menschen von heute überhaupt nicht mehr hinein. Um wieder mehr Breite entfalten und neue Lösungen entwickeln zu können, müssen also alte Fixierungen gelockert und aufgelöst werden, ungeschriebene, aber ständig in uns wirkende Lebensgesetze geöffnet werden für die Breite der Wirklichkeit im Heute. Das ist auch eine grundsätzliche Frage, denn subjektiv öffnet sich Lebensbreite auch wieder der Breite an Risiken. Der innere Konservationist begreift den, egal wie begrenzten, Lebenserfolg, ja das bloße Überleben als der Befolgung einer langen Liste von Lebensgesetzen geschuldet, ähnlich der Gesetzgebung des Staatswesens. Eine Überschreitung dieses Lebensraumes kann enorme Ängste auslösen.

    Verwaltungswerkzeuge des Geistes

    Wir pflegen unseren „Ich-Stand. Egal was sich um uns herum befindet, die Hauptsache ist, dass das „Ich steht. Steht es auch auf Sand, steht es auch im Widerspruch zur Wahrnehmung – kein Problem, nicht wir verrutschen, die Welt verrutscht. Nicht wir sind falsch, die Welt ist falsch. Sie kann sich ja auch nicht groß wehren, sie kann nur Recht behalten, aber wen interessiert das. Bedürfnisse ignorieren Fakten. Neben der Retusche der Wahrnehmung übergehen wir auch das Gewusste. Regelmäßig. Wie oft ist uns, schon während wir ansetzen, das Falsche zu tun, bewusst, dass wir es besser wissen, aber dieses Wissen übergehen? Das geben wir ungern zu, denn Infragestellung mögen wir nicht. Wir bevorzugen, die Wahrnehmung zu verzerren und das Denken umzulenken. Das ist einfacher, somit bequemer, also angenehmer, und angenehmer mögen wir gerne. Schließlich hat die Natur den Menschen auf Sparsamkeit angelegt. Wird ein Gehirnteil eine Weile nicht gebraucht, gehen die Lichter aus, denn das spart Kalorien. Beim größten Energieverbraucher des Körpers hat sich Sparsamkeit in der Vorzeit gelohnt und somit etabliert. Warum selbst bewusst dabei sein, wenn auch der Autopilot die Aufgaben schafft? Schließlich gilt das Gehirn als Energiesparwunder, mit mehr Neuronen als der Amazonas Blätter hat, aber dem Energiebedarf der gerade verbotenen 60-Watt-Glühbirne. Wenn mal etwas schief geht, ist es ja auch kein Problem, dann wird die Verantwortung eben auf jemand anderes verschoben. Hier folgen einige Zitate aus einem Standardhirn: „Die sind schuld. Ich nur armes Opfer. Konnte ich wissen, dass das Gesetz der Schwerkraft auch im Straßenverkehr gilt!? Und überhaupt, die Autobauer heute. Warum machen die auch so gute Antiblockiersysteme, dadurch fühlt man sich dermaßen sicher, das führt eben in die Irre, darüber habe ich neulich einen wissenschaftlichen Artikel gelesen... Und wenn der andere nicht gebremst hätte. Also, ich kann ja im Grunde und irgendwie und nicht so richtig was dafür. Ach ja, und wenn nichts hilft: „Vielleicht bin ich auch das Opfer meiner Erziehung und der Kindheit. Hauptsache, ich komme durch damit. Stimmen muss es nicht, das interessiert doch keinen.

    Wir können also den Fakten mitten ins Gesicht sehen und sie nicht wahrnehmen; die Wahrheit wissen und sie ignorieren; oder sie wissen und uns gegen sie und stattdessen für unsere Bedürfnisse und Überzeugungen entscheiden. Wir können die Wahrheit leugnen und beliebig fadenscheinige Argumente gegen die Wahrheit aufbauen, unsere erklärte Sichtweise gut verkaufen oder anderen ihre Wahrheiten absprechen. Wir können fast perfekte Kulissen aufbauen, mit denen wir sowohl uns als auch andere überzeugen. Wir können Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge verdrehen, den Ablauf von Ereignisfolgen kreativ interpunktieren und künstliche Zusammenhänge herstellen, welche die Schuld von uns abwenden und auf andere wälzen. Schlussendlich schaffen wir sogar, auf all das stolz zu sein – denn der Erfolg gibt uns ja recht.

    Merke: Sieger ist nicht, wer die Wahrheit erkennt oder das Richtige tut. Sieger ist, wer die Wahl gewinnt. Wer die Wahl gewinnt, der hat meist nicht die Wahrheit gesagt, und der Zusammenhang zum richtigem Handeln ist ein eher zufälliger.

    Mit Ignoranz zum Erfolg

    „Es war ganz offensichtlich. Erst hatten die Kinder meiner Schwester Durchfall und Erbrechen, und dann waren sie auf der Familienfeier, und am nächsten Tag lagen fünf andere im Bett. Meine Schwester will aber immer nichts davon hören. Sie sagt dann, das hätte am Gehacktes gelegen, das die Kinder am Vortag gegessen hätten. Ich sagte noch, ja ja, dann waren am Tag danach noch fünf andere krank von dem Gehacktes, das sie gar nicht gegessen hatten. Aber meine Schwester schimpft dann und sagt, wer ist hier die Krankenschwester, du oder ich? Und damit ist das dann für sie erledigt."

    Unser Gehirn entscheidet selbst, welche Verknüpfungen es erstellt, auch dort wo in der Welt keine sind, und welche es verweigert, egal, was die Wahrnehmung mitteilt. Wenn es einmal entschieden hat, was es nicht sehen und wissen will, dann wird es auch andere darin bekämpfen, ihm das zu sagen. Die Binnenhoheit der Informationsverknüpfung entspricht der Macht von Kriegsgewinnern, die Geschichtsbücher neu zu schreiben. Die Sache an sich ist dabei meist nebensächlich, es geht um viel wichtigere Lebensgüter, insbesondere um Verleugnung von Schuld, Abwehr von Verantwortung, Bestätigung der eigenen Richtigkeit und Manipulation anderer. Diese Beziehungswelten sind für uns viel zentraler als eine theoretische Größe wie Wahrheit oder Fakten. Das wird kaum jemand zugeben, weil es auch den wenigsten oder nur im Einzelfall bewusst wird. Wenn es unsere Überzeugung ist, dass wir nicht lügen sollen, und im Besitz der Wahrheit sind, dann werden wir uns doch nicht selbst Lügen strafen? Wir werden das gewöhnlich nicht tun, weil das Zurechtrücken der Einzelaspekte zu dem Bild, das wir haben wollen oder zu brauchen glauben, selbstverständlich in Fleisch und Blut übergegangen ist. Keine Frage, es funktioniert: sichere Selbstüberzeugtheit, den richtigen Schuss Empörung über Zweifel, mit einem Hauch Enttäuschung abgeschmeckt, gefolgt von brüsker Abwendung, all das gewinnt sehr häufig die Schlacht des Augenblicks. Später kommen andere Augenblicke, also bleibt es bei dem Sieg. Sogar gegenüber Fakten hilft diese Strategie: Wer hinreichend verbohrt und ignorant seinen Kurs verfolgt, kann noch dort weitermachen, wo andere schon längst verzweifelt und zusammengebrochen wären. Beispiele – auch für den Erfolg dieser Strategie – finden sich häufig dort, wo die

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