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Atlan 7: Söldner für Rom (Blauband): Die Zeitabenteuer
Atlan 7: Söldner für Rom (Blauband): Die Zeitabenteuer
Atlan 7: Söldner für Rom (Blauband): Die Zeitabenteuer
Ebook702 pages9 hours

Atlan 7: Söldner für Rom (Blauband): Die Zeitabenteuer

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About this ebook

Man nennt ihn den Einsamen der Zeit: Atlan, der unsterbliche Arkonide, der später zum besten Freund Perry Rhodans wird, lenkt über Jahrtausende hinweg die Entwicklung der Menschheit.

So auch in den Jahrhunderten um die Zeitenwende: Im Dschungel Mittelamerikas forscht Atlan nach einem gelandeten Raumschiff, er besucht das alte China, und in Rom arbeitet er unfreiwillig für den grausamen Kaiser Nero ...
LanguageDeutsch
Release dateSep 25, 2014
ISBN9783845333069
Atlan 7: Söldner für Rom (Blauband): Die Zeitabenteuer

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    Atlan 7 - Hans Kneifel

    cover.jpgimg1.jpg

    Nr. 7

    Söldner für Rom

    Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

    Vorwort

    Wie wir seit langem zuverlässig und unwidersprochen wissen, ist Lordadmiral Atlan potentiell unsterblich, und dies ist – bei aller Faszination, die dieser Umstand auf den Arkoniden (und auf uns, die Leser und nicht zuletzt den Chronisten seiner vielen Abenteuer auf unserem Planeten) ausübt –, einmaliger Vorteil und überaus schwierige Belastung gleichermaßen. Seit rund zehn Jahrtausenden verbirgt sich Kristallprinz Atlan auf Terra, hat Dutzende Zivilisationen und Kulturen entstehen und wachsen sehen sowie deren Vergehen mit angesehen und miterlebt. Wir wissen, dass Atlan einige Dutzendmal die ersten Fundamente neu entstehender Kulturen gelegt hat, in der verzweifelten Hoffnung, am Ende einer langen Entwicklung stünde die Möglichkeit, ein Raumschiff zur Heimkehr nach Arkon bauen zu können.

    Wir erinnern uns: Nach dem Einsatz auf Karthago II., der Mucywelt, brachte das Team der KHAMSIN Atlan in einem Wahnsinnsflug zurück nach Gäa; mehr tot als lebendig wurde der Statthalter des Neuen Einsteinschen Imperiums notoperiert, und nun liegt er, medizinisch perfekt versorgt, in der Nährflüssigkeit des Überlebenstanks und ringt, indem er chronologisch exakt seine Erlebnisse auf der Erde erzählt, um sein Leben. Mittlerweile scheint er gerettet zu sein, aber noch dauert die Katharsis an, und Atlan berichtet weiter … Cyr Aescunnar, der beste Geschichtswissenschaftler des NEI, und die gesamte Historische Fakultät arbeiten am großen Werk der ANNALEN DER MENSCHHEIT, und diese wären alles andere als vollständig – und weitaus weniger farbig – ohne Atlans höchst persönlich gefärbte Erlebnisschilderung!

    Der Zeitraum der Abenteuer dieses siebenten Hardcover-Bandes umfasst, nach dem Tod Alexanders des Großen, die Jahre zwischen etwa 315 vor der Zeitwende und 68 nach Christi Geburt. Atlans Abenteuer aus folgenden PERRY RHODAN-Taschenbüchern reihen sich aneinander: Festung der Dämonen, Atlan-Zeitabenteuer im Taschenbuch 83 von 1976; Berichte eines Unsterblichen, Tabu 254, geschrieben 1983; Der Stein der Weisen, geschrieben 1983, Nummer 259; dazu ein zeitlich wichtiger Auszug aus: Hüter des Planeten, Atlan-Zeitabenteuer im Taschenbuch 266 von 1984/85, und Söldner für Rom, Atlan-Zeitabenteuer im Band 116, von 1972/73. Spätestens diese Erlebnisse zeigen uns, warum Atlans Beziehung zum Großen Römischen Imperium reichlich gestört war – dachte er dabei an das Arkon-Imperium?

    Wie in fast jedem Hardcover-Band sollen Karten einen Teil der Wege des »Einsamen der Zeit« über unseren Globus, den dritten Planeten von Larsafs Sonne, erleichtern. Rainer Castor, mittlerweile Taschenbuchautor, hat Ricos kalendarische Versuche wie immer zuverlässig betreut und nachgerechnet, wofür sich der Chronist herzlich bedankt, ebenso wie für Lektor Klaus N. Fricks Betreuung und Geduld.

    Frühsommer 1995

    Hanns Kneifel

    Prolog

    Lordadmiral Atlan, Statthalter des Neuen Einsteinschen Imperiums auf Gäa, war während der letzten Stunden der großen Computerstörungen aus dem gläsernen Überlebenssarg und der Nährflüssigkeit herausgehoben und medikamentös in einen achtundvierzigstündigen Tiefschlaf versenkt worden. Sein Körper lag, in sterile Schutzfolie gehüllt, auf dem Antigravgatter; Atlan schlief ohne SERT-Haube über seinem Kopf, ohne Schläuche für intravenöse und flüssige Nahrung, ohne Elektroden und Binden, in einem abgedunkelten Raum, in dem durch die Anzeigenfelder und die Bildschirme der Monitoren geisterhaftes Halbdunkel herrschte. Nur Atlans Atemzüge, gleichmäßig tief, waren zu hören, und das sanfte Fächeln der Klima- und Befeuchtungsanlagen. Mindestens zweiundsiebzig Stunden würde es dauern, bis der Raum der Intensiv-Überlebensstation gereinigt und neu ausgestattet war; niemand rechnete damit, dass Atlan vor Ablauf dieser Zeitspanne zu sprechen und zu berichten begann.

    Rogier Chavasse beugte sich vor und drehte die weiße Asche seiner Zigarre im Aschenbecher ab, der aus einer pokalähnlichen vergossenen und versinterten Masse unbrauchbarer Mikrochips bestand.

    »Abgesehen davon, Professor, dass jenes famose ES-Computerchaos nicht nur besiegt ist, dass sich ES abwartend zurückgezogen hat – wohin auch immer? –, dass Atlan offensichtlich keinen Schaden genommen hat: Wie geht es Ihrem Augenlicht?«

    Cyr Aescunnar blinzelte überrascht. Er lehnte sich im monströsen Ledersessel zurück, ließ seine Blicke über die Einrichtung des großen Wohnraums gleiten und stellte fest, dass nicht der geringste Hinweis auf Chavasses Profession hindeutete: Hier schien es nicht einmal einen Bildschirm zu geben. Er hob das Glas und sagte zögernd:

    »Noch hat mich Androklastes, wie die posthomerischen Griechen den ›Männerbrecher‹ nannten, nicht mit seiner Keule getroffen. Es ist keine Krankheit der Augen, sondern meiner unentzifferbaren Phobie.«

    »Phobie? Angst – wovor?«

    »Angst zu erblinden, Rogier.«

    War es ein Zufall? Seit drittem März im Jahr 3460 war Atlan Prätendent und Statthalter des NEI, seit dem gleichen Tag des Jahres 3561 hatte Aescunnar Schwierigkeiten mit seinen Augen. Er hob die Schultern und sagte leise:

    »Selbst für einen Geschichtswissenschaftler, der über Vorgänge auf dem verschwundenen Heimatplaneten zu arbeiten versucht, der für seine Universität die vorläufig gültigste Variante der ANNALEN DER MENSCHHEIT zu schreiben beziehungsweise zusammenzufügen versucht, ist die Selbstanalyse schwierig – irgendwie hat es etwas mit Kristallprinz Atlan zu tun.«

    Aescunnar trug weder Brille noch Kontaktlinsen oder Feldlinienfokusse; er blickte den uralten Computerspezialisten ruhig an; erst vor Tagen hatte er erfahren, dass Chavasse nicht nur sämtliche Datennetze von Gäa, dem Fluchtplaneten in der Provcon-Faust, konzipiert, sondern auch gewaltige Sektionen des irdischen Mondgehirns NATHAN umstrukturiert und die Grundlagen einer technischen Selbst-Weiterentwicklung, eines biopositronischen Mega-Kloning, programmiert hatte. Aescunnars Bewunderung wuchs, als er sah, welche Kultur-Kostbarkeiten Chavasse in seiner Wohnung beherbergte.

    »Ich verstehe manches; das verstehe ich nicht.« Chavasse goss Champagner nach und sah auf den Uhrchip, der in seinem Handrücken implantiert war. »Haben Sie Grund, zu erblinden, wenn der alte Arkonide zu intensiv erzählt? Erzeugt Ungläubigkeit oder Verwunderung einen Ophtalmoslide? Hypermetropie ist gleich Weitsichtigkeit angesichts von Jahrtausenden durch Atlan korrigierter Kulturgeschichte?«

    »Wir können uns stundenlang gegenseitig mit Fachbegriffen bombardieren, Rogier, und dennoch kann ich es weder mir geschweige denn Ihnen erklären. Schlicht und einfach: Punktum; Ohne erkennbare Gründe fürchte ich bisweilen zu erblinden. Das kommt in Schüben, tritt unerwartet auf, meist dann, wenn ich dem Fortgang von Atlans Erzählungen entgegenfiebere. Und dann gibt’s Schwierigkeiten.«

    Chavasses Gesicht verschwand für Augenblicke hinter Kringeln, Schleiern und Spiralen aus graublauem Zigarrenrauch. Cyr Aescunnar hatte zuvor die einzelnen leidvollen Stationen seiner optischen Probleme geschildert; jetzt deutete Chavasse mit dem glimmenden Ende der halb gerauchten Zigarre auf einen dünnen Stapel pseudostereoskopischer Blätter zwischen den Gläsern, Flaschen und Kleingeräten auf dem Tisch.

    »Für Sie, Prof.«

    »Für mich? Was ist das?« Aescunnar genoss das Prickeln, mit dem die Champagnerbläschen über seinen Lippen platzten. »Sieht aus wie die Kopie eines alten Buches.«

    »Ist die Kopie einer alten Schwarte. Einer meiner Nachfolger hat’s irgendwo im Nachlass seiner Ureltern gefunden, kopiert und danach versteigern lassen: sensationeller Erlös. Hat mit Ihren ANNALEN zu tun. Inzwischen frage ich mich selbst: Wo, bei Kronos, dem Herrscher der Zeit nach dem Chaos, wo war Atlan nicht mitten im irdischen Geschehen?«

    »Soll ich das jetzt lesen?«

    »Klar. Oder leiden Sie schon wieder unter Presbyopie, der vorgezogenen klassischen Altersweitsichtigkeit?«

    »Heute zufällig nicht.« Aescunnar grinste. »Sie kennen die Zeit, in der Atlan zu berichten aufgehört hat – passt es in den historischen Rahmen?«

    »Es passt.« Chavasse stand auf und betrachtete traurig die fast leere Flasche. »Lesen Sie schnell – bald wird uns wieder Atlans Frust faszinieren: Doktor med. Ghoum-Ardebil, unser hochgeschätzter Kollege, wird Atlan in den Überlebenssarg senken, und dann müssen Sie wieder höllisch genau aufpassen.«

    Aescunnar hob den Stapel auf. Die Kunststoffflächen waren am linken oberen Ende zusammengeheftet. Er las:

    Aus: Cunnard Rezykladides: Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse – aus der Arbeit des USO-Historischen Korps. (Sonderdruck; Powder-City, Mars/Sol, XXI. Kapitel).

    Als die Historische Abteilung der USO, der United Stars Organisation, den Planeten Nicoja-Cuaualan entdeckte, wusste niemand, dass die Enthüllung eines der aufregendsten Geheimnisse der Welt Terra bevorstand. Seit mehr als einem Jahrtausend bestand unter Historikern und Wissenschaftlern große Unsicherheit darüber, wie die Legenden der frühen und späteren Kulturen Mexikos und Mittelamerikas mit den Fundstücken und der Evolution der Menschheit zu vereinbaren waren. Als die Luftaufnahmen und die Bilder der Spionsonden ausgewertet waren und sich aus dem schwarzgrünen Dunkel des Urwaldes die große Stufenpyramide hervorschob, wurde der Chef der USO verständigt. Auch er war zunächst nicht in der Lage, die gesamte Tragweite dieses Fundes zu erfassen.

    Nicoja-Cuaualan ist ein etwa erdgroßer Sauerstoff-Stickstoffplanet, 1,102 AE von seiner Sonne Miraflores entfernt: V in km/sec beträgt 32,78. U/sid = 402,09 Tage. Miraflores ist fast identisch mit Sol des irdischen Systems, das M.-System ist auf der Horizontalachse (von der aus die Winkelgrade in der Galaxis gemessen werden) – also 180 Grad – genau 5000 Lichtjahre von Sol entfernt, fast am Rand der Milchstraße. Diese Feststellung sollte in der darauffolgenden Zeit eine bestimmte Bedeutung erlangen.

    Ein nicht offizieller (private monakustische Aufzeichnung, genauer: deren Niederschrift) Bericht von Marrvlo d’Roum-Vinqle: der Sprecher ist Atlan:

    Wir konnten es im Licht, das der jähen Abenddämmerung vorausging, scharf genug beobachten: Ein Tier schwamm geräuschlos durch die Bucht, eine Kreatur aus Fisch und Reptil, dessen Kopf dicht unter der Oberfläche des reglosen Wassers dahintrieb; nur die großen Augen befanden sich über den schäumenden Wirbeln. Hornige Lider senkten sich bisweilen über die Augen, deren Pupillen sich stechend scharf auf die weiße Antilope am Rand des Baches richteten, der in die Bucht mündete; das kleine Tier trat zögernd aus dem dunkelgrünen Waldrand ins Abendlicht, dicht neben den hellen Steinstufen.

    Die Antilope stand einen Augenblick still und schaute zum weißen Boot, dann beugte sie sich in einer zarten Bewegung nieder, um zu trinken. Als sie den Kopf neigte, schoss ein dunkelbraunes Dreieck senkrecht aus dem Wasser. Krachend klappten die Kinnbacken und packten das trinkende Tier – alles geschah in weniger als einer Sekunde. Knochen brachen, und wild um sich schlagend verschwand die Gazelle im Wasser.

    Die Ringe auf der Oberfläche der Bucht vergingen langsam. Plötzlich zeigten sich pfeilspitzenförmige Spuren, die von allen Seiten auf die Stelle zurasten, an der sich im kristallklaren Wasser das Blut ausbreitete. Das Wasser schäumte; die gewundenen Flächen der giftgelben Wasserhyazinthen schaukelten lange. Wichita sagte leise:

    »Das scheint ein Zeichen dafür zu sein, was uns erwartet. Du denkst noch immer im Ernst an eine Verbindung zwischen den beiden Planeten?«

    Ich schnippte mit dem Zeigefinger eine gelbe Spinne von der Heckreling des Bootes; sah mein Bild im Wasser: Der Mann mit dem weißen, schulterlangen Haar lächelte grimmig.

    »Ja. Natürlich denke ich dies. Aber die Verbindung ist abgerissen. Schon lange.«

    Vor einer Stunde waren wir angekommen. Undurchdringlich verfilzter und nasser Urwald erstreckte sich zwischen der Küste und dem Hochland. Das Raumschiff war fünfzig Kilometer weiter nördlich gelandet und hatte uns ausgeschleust. Während die Besatzung versuchte, eine Gleiterpiste durch den Dschungel zu roden, waren Wichita und ich mit einem Boot vorausgefahren. Wir hatten eine andere Welt betreten; eine menschenleere, archaische Welt voller Wald und Dunkelheit, voll von Tierlauten und Schreien, eine Zone, in der jegliches menschliche Leben ausgestorben schien.

    »Atlan«, sagte Wichita zögernd, als fürchte sie, mich zu verletzen, »ich sehe es an deinem Gesichtsausdruck und an deinen Augen. Du erkennst diese Landschaft wieder, du identifizierst sie mit einer Landschaft, in der du vor vielen Jahren gelebt hast?«

    Ich winkte ab. »So wird es sein. Es gibt kaum etwas aus der Geschichte des Planeten Erde, an das ich mich nicht erinnere, wenn man mich zwingt. Ich hasse diese gewaltsamen Erinnerungen.«

    Wichita war siebenundzwanzig Jahre alt, sah bemerkenswert gut aus, selbst in der schmucklosen Expeditionskleidung. Ein schmales Gesicht mit dunklen Augen unter ausgeprägten Wangenknochen. Das Haar, kurz geschnitten und fast blauschwarz, bildete einen aparten Gegensatz zu der bronzefarbenen Haut. Die junge Frau mit dem ungewöhnlichen Vornamen saß im Heck des Bootes neben der Galley und sah zu, wie das Essen fertig wurde. Zwischen uns war die Tischplatte ausgeklappt; Gläser, Geschirr und Besteck lagen darauf. Zwischen Windschutzscheibe und Heck war die Persenning ausgespannt, auf die ein unaufhörlicher Regen von Blättern, kleinen Ästen und Insekten niederging.

    »Warum?«, fragte Wichita. Das Wasser der Bucht hatte sich beruhigt. Sonnenstrahlen fielen im flachen Winkel durch die Zweige und erzeugten trügerische Helligkeit. Der Wald, in dem sich das Geheimnis noch verbarg, hallte wider von Schreien und dem Knacken der Äste. Es war, als ob sich Jahrtausende in nichts aufgelöst hätten.

    Sprich nicht darüber!, warnte mein Extrasinn. Sonst werden die Erinnerungen stärker!

    »Der Grund ist einfach.« Ich beugte mich zur Seite, um die Ausrüstungsgegenstände zu betrachten. Sie lagen zwischen dem Steuersitz und der breiten Querbank. »Wenn mich die Situation zwingt, mich zu erinnern, falle ich in eine Art Trance. Mein Bewusstsein wird ausgeschaltet. Ich kann mich nicht wehren und erlebe minuziös mit, was mein Gedächtnis gespeichert hat und wiedergibt. Es ist erschöpfend; aus zwei Gründen: Erstens bin ich restlos erledigt, wenn diese Erinnerungen vorbei sind, und zweitens sehe ich wieder, wie viel ich getan habe und wie wenig es genützt hat.«

    »Das verstehe ich.« Wichita Lancaster nickte. »Was ich nicht verstehe, ist, dass du diese Erinnerungen nicht dazu benutzt, Dinge aus der Vergangenheit für die Zukunft anzuwenden. Zum Beispiel hier: Drüben, hinter einer Wand aus Dschungel, wartet eine Stufenpyramide darauf, von uns entdeckt zu werden. Vielleicht ergeben sich gewisse Parallelen.«

    Ich starrte sie über den Rand des Windlichtes an; in meinen Augen war etwas bitter Herausforderndes.

    »Zwischen hier und der Erde? Zwischen Terra und Nicoja-Cuaualan?«

    »Es kann nicht ausgeschlossen werden. Auch hier haben wir in einem Tal des Hochlandes Linien und Zeichen gefunden wie im Ingenio-Tal, dreihundert Kilometer südöstlich von Lima.«

    Ich knurrte: »Ich kenne diese Linien. Zu gut. Ich …« Ich brach ab und fühlte, wie meine Gedanken zum Ursprung der Erinnerung zurückgingen, zu den Schlüsselerlebnissen. Wieder warnte mich mein Extrasinn; er sah vor sich jene dreifache Linie, die ohne Rücksicht auf Geländestrukturen quer durch das Tal gebrannt war und einen Berghang hinaufkroch, ohne jede Abweichung von der Geraden, sah Vögel und Spinnen, Dreiecke und Linien, und sie bekamen für mich wieder die Bedeutung, die sie einst hatten. Ich sagte heiser:

    »Wir sollten aufhören, darüber zu reden. Ich werde sonst von meiner eigenen Erinnerung gezwungen, wie ein Tonband zu sprechen.«

    Das letzte Sonnenlicht verschwand. Schlagartig wurde es still. Die Stille schien Erinnerungen herbeizuwinken. Ich begann zu ahnen, dass ich mich schon zu weit vorgewagt hatte.

    Die Uhr läuft, flüsterte die Stimme des Extrasinnes. Du hast zugelassen, dass die Schlüsselerlebnisse deiner vielfältigen Erinnerungen angetastet, erwähnt wurden. Du kannst deinen Erinnerungen nicht mehr entgehen!

    Ich stand auf. Das Boot begann zu schaukeln. Ich ging zum Fahrersitz, klappte die Türen auf, entnahm den Schaumstoffhalterungen zwei Gläser und eine Flasche Alkohol. Dann warf ich drei oder vier Eiswürfel in die Gläser und goss reinen, goldfarbenen Saginaw darüber.

    Wichita sagte: »Das Essen dauert noch. Wir wollten heute nicht mehr versuchen, die Pyramide zu betreten, nicht wahr?«

    Ich reichte ihr eines der Gläser.

    »Nein«, antwortete ich. »Morgen, beim ersten Licht. Wir haben das Problem, die Treppe freizulegen. Und es dauert mindestens drei Tage, bis die Teams durch den Wald vorgedrungen sind.«

    »Gut«, sagte sie. »Zündest du das Windlicht an?«

    Ich setzte mich und schloss die Augen, roch Düfte und Gestank aus dem Wald, hörte das Plätschern der Wellen und das Zischen des Kochers. Ausrüstungsgegenstände klirrten gegeneinander; mit schwachem Geräusch fiel ein Ästchen auf die Persenning. Unirdische Ruhe überzog die Landschaft mit trügerischem Frieden, aber jederzeit konnte etwas aus dem Wald oder aus dem Wasser kommen, wie damals …

    Ich richtete mich auf. Meine Hand schob das dünne Moskitonetz zurück. Ich sah zum Waldrand, wo die weiß ausgewaschene Steinstufe lag, hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren, jedes Verständnis für greifbare Geschehnisse entglitt mir langsam, aber mit unbarmherziger Gewissheit. So musste sich ein Mensch fühlen, wenn er mit dem letzten Rest Verstand miterleben musste, wie er wahnsinnig wurde. Zu spät!, schrie der Extrasinn. Zu spät! Du wirst mit den Ereignissen jener Vergangenheit konfrontiert! Mehr als dreitausendneunhundertfünfunddreißig Jahre nach der Rechnung des dritten Planeten um Larsafs Stern!

    Meine Gedanken waren gelähmt. Ich fühlte mich nicht mehr als Bestandteil der schweigenden Umwelt, selbst Wichita, die unruhig neben mir lag, war völlig von der Wirklichkeit losgelöst. Dort … auf der Steinplatte?

    Ein Schatten mit seltsamer Musterung stand dort, zitternd, unwirklich. Das schwache Licht der reglosen Sterne fiel auf glitzernde Ringe an den Oberarmen. Etwas glänzte in der Hand des Schattens. Wie damals, als Ahuitzotla …, sagte die Erinnerung. Ein Stück Stahl oder geschliffenes Obsidian fing Sternenlicht auf. Wasser begann zu plätschern, als sich der Schatten bückte. Nichts geschah; der Schatten kauerte und spähte über das Wasser der Bucht; einen Augenblick lang glaubte ich das scharfe Profil zu sehen. Dann seufzte jemand, und der Schatten entfernte sich und verschmolz mit dem dunklen Hintergrund. Ich war einen Augenblick lang hellwach, lehnte mich an den Kunststoff des Bootes und atmete schwer. Die Erinnerung hatte mich eingeholt. Fast vier Jahrtausende waren vergangen, seit das schweigende Duell in der Nacht begonnen hatte zwischen mir und Ahuitzotla, dem Medizinmann, dessen Totemtier der Kondor war. Ich erinnerte mich; begann zu sprechen, während ich versuchte, mich festzuhalten. Wichita Lancaster erwachte und schaltete den Videorecorder ein, hörte und erlebte mit, was damals geschehen war. Worte wurden zu Ereignissen: das fotografisch genaue Gebiet in meinem Verstand reproduzierte ein identisches Bild. Jedes Wort beschwor Erinnerungen herauf. Dinge, die in der Dämmerung der Kultur des Menschengeschlechtes geschehen waren, kamen wieder zurück. Es waren keine steinzeitlichen Sammler und Jäger des Mittelmeerraumes, nicht das frühe Sumer, nicht das Reich am Hapi, weder Babylon noch Troja oder Odysseus, sondern ein fruchtbares Tal in Mexiko. Ich berichtete:

    1.

    Sie verließen das Ufer des kleinen Sees, drangen rücksichtslos durch mannshohe Binsen und durch Gräser vor. Der Rauch des Großen Feuers wies den Weg. Bald würden sie von der Morgendämmerung überholt werden.

    Siebenundneunzig Krieger; sie kamen aus vier verschiedenen Stämmen des sanft ansteigenden Landes zwischen dem Sandstreifen, vor dem Unendlichen Wasser. Ihr Ziel war das erste, kleinste Hochplateau, das sich aus dem Tal erhob. Hinter jenem Plateau kamen die Berge. Siebenundneunzig Krieger, gut genährt und ausgezeichnet bewaffnet, redeten in vier verschiedenen Dialekten einer gemeinsamen Sprache, aber sie hatten ein Ziel: es hieß Kampf. Danach kam der Sieg. Er bedeutete große Beute an Gefangenen und Frauen.

    Die Krieger zogen wie eine riesige Schlange durch das Gras. Alle hundert Schritte wechselte die Vegetation, und leise betraten sie das Gebüsch des Berghanges. Nach hundert Schritten sahen sie den Fluss rechts neben sich; er führte als schmales Rinnsal durch einen Streifen ausgetrockneten Schlammes. Die Männer mit den gebündelten Speeren und wuchtigen Speerschleudern, den chimalli, den runden Schilden gingen vorbei an grasbewachsenen Sandhügeln und freiliegenden Steinen. Zwei Stunden lang mussten sie noch aufwärts steigen, dann waren sie am Feuer. Dort wartete Ahuitzotla. Michoacan blieb stehen und hob den Arm. Er hielt das Speerbündel waagrecht.

    »Halt!«, rief er. »Kommt zu mir herauf!«

    Nacheinander drängten sich die Krieger den Hang hinauf. Von hier aus sahen sie die Flanke des Berges, auf dessen Plattform das Große Feuer brannte, sahen auch die Linie, die den Schatten der Nacht vom Licht des Tages trennte. Erste Sonnenstrahlen beleuchteten eine schräge Fläche, die aus dem weiter entfernten Berghang hervorstach. Darüber konnten die scharfen Augen der Krieger einen Damm erkennen. Michoacan, Anführer der größten Gruppe, deutete hinüber.

    »Seht ihr«, fragte er. »Sie legen schwere Steine aufeinander. Sie haben alles: Wasser, Pflanzen, Nahrung. Mehr als wir.«

    Coto schwang seine Holzkeule, mit dreieckigen Splittern aus Obsidian durchsetzt. »Wir werden sie heute Abend alle töten und die Frauen wegschleppen!«, sagte er laut. »Weiter … Ahuitzotla wartet nicht gern!«

    Mit Michoacan an der Spitze setzte der Zug seine schnelle Wanderung fort. Einige Krieger trugen Felle des hellgrauen Hochlandjaguars. Andere hatten den Kopf des Pumas erweitert und präpariert und als Helm aufgesetzt, gepolstert mit Binsen und verziert mit Lederbändern. Zwischen den Eckzähnen von Oberkiefer und Unterkiefer sahen die braunen, fast bartlosen Gesichter hervor. Die Männer rochen nach Rauch und stinkenden Fellen.

    Gegen Mittag waren sie auf der Hochfläche. Der Mann, der sie an der Asche des erkalteten Feuers erwartete, war ungewöhnlich groß und hager. Er trug auf dem Kopf, sorgfältig aus Knochen, Leder und Binsen zusammengesetzt, den oberen Teil des Kondorschädels. Ahuitzotla, der Medizinmann, alt und am ganzen Körper mit Narben bedeckt; sein Gesicht ähnelte einer runzligen Frucht; er sah den Kriegern entgegen, während seine Hände mit dem Binsenköcher spielten, in dem die Steinflöte steckte.

    »Ihr kommt rechtzeitig«, sagte er und sah sich um, als fürchte er, belauscht zu werden. »Und ihr seid vollzählig.«

    Sie verbeugten sich der Reihe nach und setzten sich in einem Kreis um das erloschene Feuer. Michoacan saß gegenüber und legte Schild und Lanzen vor sich ins dürre, vom Laub der Hochebene bedeckte Gras. Das Plateau der Krieger war ein kleiner runder Fleck im wuchernden Grün des Urwaldes an den Berghängen und in den Tälern. Von hier aus konnten sie die Rauchfahnen der Tlatilco sehen, jenes kleinen Stammes vom Berg.

    Ahuitzotla sprang auf. Alle, die ihn nicht kannten, waren erstaunt über seine Größe. Er überragte sie um einen Kopf, trug eine Art Hemd aus Fellen und einen breiten Gürtel aus geflochtenen Binsen. Darin steckten zwei lange Messer mit Holzgriff und Obsidianschneide.

    »Krieger!«, rief der Mann mit dunkler, heiserer Stimme. »Ihr seid hier, weil ihr meinen Ruf gehört habt. Ihr habt meinen Rat befolgt. Die dort drüben haben das Tal zwischen hier und dem Großen Wasser verlassen. Sie jagen nicht mehr, sie graben Löcher in den Boden und pflanzen Getreide und Süßkartoffeln, haben Zelte aus Steinen, sind anders als wir. Alle, die dort oben leben, haben ein Dach über sich!«

    Jetzt schrie der Medizinmann: »Sie sind von bösen Geistern besessen, von Dämonen! In ihren Köpfen herrschen böse Mächte! Sie bringen keine Opfer. Wir müssen sie töten!«

    Quepo, einer der Anführer, grunzte: »Aber nicht alle! Nicht die Kinder und nicht die Weiber!«

    Der Medizinmann hob die Hand, deutete auf seinen Schild.

    »Der Kondor, der mein Totem ist, hat mir alles berichtet. Nur wenn wir die Männer töten, die Weiber fortführen und die Kinder opfern, können wir die Dämonen vertreiben. Sie kommen sonst zu uns! Michoacan!«

    Drohend schwang Michoacan seine Obsidiankeule. »Wir greifen sie morgen früh an! Bis dahin müssen wir in der Nähe ihrer Häuser sein und der Treppe, die sie aus dem Berg gehauen haben!«

    »Das wird geschehen!«, rief einer der Krieger.

    Sie griffen in die Ledertaschen und holten ihr Essen heraus, tranken Wasser aus Flaschenkürbissen und berauschten sich an der Vorstellung des schnellen Sieges, denn jene von den Bergen waren eine leichte Beute.

    Ahuitzotla lehnte sich befriedigt zurück. Er hatte erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Seit dem Tag, an dem er hoch im Blau des Himmels den weißen Kondor gesehen hatte, wusste er, dass die fremden Götzen ihr Unwesen trieben und die Menschen in die Berge hinauftrieben, aus den Tälern, weg von den Flüssen und weit über sie alle hinaus. Seine Augen zogen sich wuterfüllt zu Schlitzen zusammen, als er gegen Mittag die dünnen Rauchsäulen hinter dem Wall aus Steinen aufsteigen sah.

    Am Rand der Ebene, die den Abschluss des kleinen Berges bildete, schoben sich langsam, lautlos drei Köpfe aus dem Gebüsch. Seit Anbruch der Nacht lagen die Männer hier; bewegungslos, halb erfroren und halb von der Sonne geröstet und von Insekten zerfressen.

    »Wir wissen alles«, flüsterte Nacha ins Ohr seines Nachbarn. »Zurück!«

    Ixtlan nickte kaum merklich. Sie richteten ihre Augen auf die Gruppe vor ihnen, während sie auf Knien und Ellenbogen rückwärts robbten, bis sie den schmalen Streifen Sand erreichten. Hier waren sie nicht mehr zu sehen. In der Glut des frühen Nachmittags rannten und rutschten sie den Hang hinunter. Keuchend blieb Nebay am Stamm des ersten Baumes stehen und lehnte sich dagegen.

    »Wir hätten, ehe wir ihn ausstießen, Ahuitzotla töten sollen«, sagte er erbittert. »Jetzt will er uns vernichten.«

    Nacha schaute auf, er warf Ixtlan einen schnellen Blick zu. Sie waren dreckig, verschwitzt und erschöpft.

    »Wir haben morgen Gelegenheit dazu«, sagte er. »Was war das mit dem weißen Kondor?«

    »Es stimmt. Ich habe ihn selbst gesehen.«

    Sie setzten ihren schnellen Abstieg fort. Niemand sah oder verfolgte sie. Am frühen Abend erreichten sie den Fluss, der zwischen dem Hügel und ihrem Wohnberg floss. Hier badeten sie und rieben sich gegenseitig mit nassem Sand ab, ehe sie Fische fingen und auf einem rauchlosen Feuer brieten. Als die Sterne erschienen waren, kletterten sie, am Ende ihrer Kräfte, die Treppe hinauf und erreichten ihre Siedlung. Coyola, der Sohn des Häuptlings, erwartete sie.

    »Sie wollen morgen bei Sonnenaufgang angreifen«, sagte Nebay laut. »Es sind zehnmal so viele Krieger. Nicht ganz, einige weniger.«

    Er hob beide Hände mit abgespreizten Fingern hoch. Durch die Reihe der Siedler ging ein Murmeln; einige Krieger schlugen mit den Obsidiankeulen gegen die Schilde.

    »Ahuitzotla hat sie aufgehetzt. Er sagt, wir sind von bösen Dämonen beherrscht. Er sagt, der weiße Kondor hat die Dämonen gebracht.«

    Ixtlan setzte sich und massierte seine Waden.

    »Wir sind sehr müde«, sagte Nacha. »Besetzt heute Nacht den Stollen, den wir gegraben haben.«

    Coyola und sein Vater wechselten einen schnellen Blick.

    »Wir werden uns um alles kümmern!«, versprach Coyola. »Geht jetzt und ruht euch aus!«

    Müde und mit schmerzenden Füßen und juckender Haut schlichen die drei Kundschafter ins Dunkel zurück.

    Die Siedlung der Tlatilco war sehr geschickt angelegt worden: Wenn man die Länge von zweihundert Männern aufeinanderlegte, erhielt man die Höhe, in der sich waagrecht die Mauer hinzog. Sie war auf einem Felsenband am Rand des Tafelberges errichtet und bestand aus großen Steinen. Die Zwischenräume waren mit Lehm und Schlamm ausgefugt. Hinter der Mauer und der Siedlung erstreckte sich eine in mehreren Stufen abfallende Landschaft, die man nur von den Bergen aus sehen konnte – von den dunkelbraunen, grüngeflankten Bergen gegen Sonnenuntergang. Hier befanden sich die Felder. Zwischen den Terrassen mit Maispflanzen und Kürbissen hatten die dreihundert Menschen, die hier lebten, eine Mauer gezogen. Da sie zuletzt erbaut worden war, machte sie einen stabilen Eindruck.

    Eine lange Treppe, die im Zickzack entlang des Berghanges verlief, führte zum Wasser des Flusses. An besonders klaren Tagen, wenn kein Nebel über dem Taldschungel lag, konnten sie von der Mauer aus den Streifen hellen Strandes sehen, viele Tagesmärsche entfernt.

    Ein zweiter Gang torkelte durch Felsspalten und über Geröllhalden, durch Höhlen und entlang gemauerter Wände. Ein unsichtbarer Weg, der sich zwischen den Pflanzen des Abhanges verlor und unter einem spitzen Felsen endete. Dieser Felsen ragte in die Bucht hinein, die der Fluss geschaffen hatte. Von der Bucht aus konnte man in drei oder vier Sonnenwechseln den weißen Sand erreichen und das Große Wasser, das so anders schmeckte als das des Flusses.

    Coyola wusste genau: Wenn die hundert Krieger siegten, würde der Versuch der dreihundert missglücken. Dieser Versuch stellte die erste Stufe zu einem zufriedenen Leben dar, in dem sie ohne Krankheiten und Verletzungen leben konnten, satt und warm im Winter. Es würde Kampf geben – Coyola und seine Krieger mussten siegen! Er hob den Kopf und sah nach oben.

    Dort kreiste in großer Höhe der weiße Kondor und schien alles zu sehen. Auch den Zug, der sich wie eine dunkle Linie wütender Ameisen unter Führung von Ahuitzotla und Michoacan dem Fuß der Treppe näherte.

    Coyola legte seine Streitaxt neben den Haufen scharfkantiger Steine und hielt die Hand über die Augen. Er spähte nach unten. Dunkle Gestalten zeichneten sich auf dem Stein der Treppe ab, tief unter der Siedlung.

    »Es ist nur die Hälfte«, sagte Coyola. »Wo sind die anderen?«

    Tuxpan, sein Vater, hob die Schultern. Die Männer trugen Lendenschurze aus dünnem Leder. In den breiten Ledergurten steckten Dolche mit Griffen aus Hirschgeweihen und Obsidianschneiden. Die Helme bestanden aus Binsen und Lederflecken; die dunkelbraunen Körper der Männer waren mit den weißen Streifen des Krieges bemalt. Sie fröstelten in der morgendlichen Kühle. Hinter ihnen rasselten ein paar Speere.

    »Ich weiß es nicht«, sagte Tuxpan. »Haben sie den geheimen Tunnel gefunden?«

    Coyola fuhr herum und sah über die Köpfe der wartenden Krieger hinweg.

    »Vielleicht! Nimm soviel Männer«, sagte er zu Tayin und hob beide Hände. »Sie sollen lautlos den Tunnel hinuntereilen und die anderen aufhalten, wenn sie angreifen.«

    Tayin nahm die Speere, schulterte sie und hob seine Streitaxt. Sie reichte ihm bis zum Nabel und bestand aus zwei Holzteilen, zwischen die dreieckige Obsidiansplitter eingeklemmt waren. Das Holz wurde durch Lianen zusammengehalten. Mit Tayin gingen zehn Männer durch die Siedlung, öffneten das Tor und verschwanden in dem gewundenen Tunnel. Die anderen warteten weiter und beobachteten die Angreifer.

    Der gelbe Vollmond stand groß über den Zacken der Berge. In breiten Streifen fiel das Licht auf den Hang und auf Teile der Treppe. Die polierten Flächen von Steinwaffen blitzten auf, als sich die fünfzig Krieger näherten. Noch einhundert Mannslängen waren zu ersteigen.

    Im selben Augenblick wurde alles dunstig. Der Mond verschwand, das Licht verlor sich hinter den Bergen, wo die Dämonen des Feuers wohnten. Das Tal schwitzte eine Flutwelle von Nebel aus, der in die Höhe stieg und den Hang berührte. Die Männer um Coyola erblassten. In diesem Augenblick regte sich etwas leise unter ihnen. Sie alle hörten es gleichzeitig; die Männer erstarrten vor Angst.

    Ein sichelförmiger Schatten raste quer vor dem steilen Berghang dahin; die Luft strich rauschend durch lange Federn.

    »Der Kondor!«, flüsterte Tuxpan. »Er sieht alles!«

    Noch einhundert Stufen trennten die ersten Angreifer von dem Durchgang der wuchtigen Mauer. Dicht an den kalten, feuchten Stein gepresst, vor sich die Wurfsteine, lagen rechts und links dieses Einschnittes je zwei Verteidiger. Auch die warteten fröstelnd, atemlos und schweigend. Eine heisere Stimme erklang von der fünfundsiebzigsten Stufe.

    »Tötet sie! Tötet die Dämonen in ihnen!«

    Es war die Stimme Ahuitzotlas. Coyola erkannte sie, obwohl der Medizinmann undeutlich sprach. Das war darauf zurückzuführen, dass seine Krieger den Samen der Pflanze Coatl-Xoxouhqui gegessen hatten, den Samen der »Grünen Schlange«, der Ololiuqui hieß. Sie waren berauscht und würden kämpfen, bis sie den Speer nicht mehr heben konnten. Coyola legte beide Hände an den Mund, drehte sich herum und schrie gellend: »Kämpft, Krieger der Tlatilco! Wenn die Sonne erscheint, müssen wir gesiegt haben. Los!«

    Er griff nach einem Stein und zielte sorgfältig. Dann schleuderte er den scharfkantigen Stein schräg abwärts und traf den Medizinmann zwischen die Schulterblätter. Im gleichen Moment pfiff ein Wurfspeer an ihm vorbei und bohrte sich in den Magen des Mannes, der hinter dem Medizinmann die Stufen heraufhetzte. Der Kampf begann.

    Ein Hagel von Steinen prasselte von der Mauer hinunter. Zwei Krieger am Ende des Zuges, der sich zusammendrängte, wurden von der Felstreppe geschleudert. Andere duckten sich und pressten sich eng an den Felsen. Als der erste Krieger den Einschnitt in der Mauer erreichte, warf sich einer der Verteidiger nach vorn und spaltete ihm mit einer Obsidiankeule den Schädel. Als der Angreifer nach hinten stürzte, riss er zwei Männer um, und von oben schossen Speere herunter und bohrten sich in die Brustkörbe der Männer. Auf den letzten zwanzig Stufen der Felstreppe drängten sich dreißig Angreifer zusammen, schützten sich mit über den Kopf erhobenen Schilden gegen den Steinhagel und trieben mit ausgestreckten Speeren die Verteidiger von dem Mauerdurchbruch weg. Steinkeulen sausten auf die Speere und zerbrachen sie; mit aller Wucht geschleuderte Steine rissen einen Angreifer nach dem anderen zu Boden.

    Die Angreifer rutschten aus und stolperten gegeneinander. Das Rauschgift in ihren Köpfen verwandelte ihre Angst vor Dämonen und vor dem Tod in besinnungslose Wut. Sie schienen keinen Schmerz zu spüren; Männer mit Wunden, die andere längst bewusstlos gemacht hätten, kämpften mit geradezu tierischer Wildheit. Nebelfäden aus dem Tal schlängelten sich an der Bergwand hoch und erreichten die Kampfstätte. Der Nebel dämpfte Schreie und Gurgeln, das Krachen des Holzes und Brechen der Knochen, das Poltern der Steine, die über die Felsstufen hinunterkollerten. Der süßliche Geruch des Blutes mischte sich mit dem feuchten Moder des Nebels und dem Schweiß der Kämpfenden.

    Coyola riss einen Stein, der so groß wie sein Brustkorb war, aus der Mauer und warf ihn zehn Meter nach unten. Vier Männer, verwundet und zu einem Knäuel verschlungen, torkelten von der Treppe.

    Zwanzig Angreifer waren noch übrig. Als Coyola neben der schützenden Mauer auf das Tor zurannte, Schild und Schädelbrecher in den Händen, kamen die ersten Strahlen der Sonne über den Horizont. Wie eine weiße Wolke fegte der Kondor über die Siedlung, faltete die Schwingen zusammen und schlug seine Krallen mit einem weithin gellenden Schrei in den Nacken eines Angreifers. Dann stieg er auf, schwang sich von der Bergwand weg und ließ den schreienden Mann fallen.

    »Der Kondor!«, kreischte jemand.

    Coyola stieß die Männer vor ihm zur Seite und schoss durch den Mauerspalt. Er sprang vorwärts und schlug nach rechts und links, kämpfte mit schweigender Verbissenheit und drängte die ersten Angreifer Stufe um Stufe weiter nach unten.

    Hinter ihm drängten andere Männer aus der Siedlung hinaus. Der Kondor kam schreiend aus dem Nebel, schleppte einen zweiten Mann mit sich. Das schwere Kampfbeil des Häuptlingssohnes traf die ungeschützte Stelle zwischen Hals und Schulter eines Angreifers, der zwischen zwei Männern hinter runden chimalli hervorgedrungen war.

    »Die Götter kämpfen mit uns!«, schrie Coyola.

    Von oben kam die fragende Antwort: »Wir hören Lärm aus dem Tunnel!«

    Coyola sprang zurück und rammte die Schulter, gedeckt durch den Schild, gegen einen Angreifer, der um sich schlagend von der Treppe stürzte. Die harten Lichtstrahlen der Sonne, die über der fernen Linie des Horizontes auftauchte, trafen auf die Spitzen der Berge und auf die Siedlung. Der Kondor geriet ins Licht, als er mit krachenden Schlägen seiner riesigen Schwingen den Angreifer von der Treppe riss und in den Abgrund schleuderte.

    »Coyola … Die Männer im Tunnel!«

    Der Sohn des Häuptlings sah, dass sich zwanzig seiner Männer hinter ihm befanden und fünfzehn Angreifer vor ihm. Er schrie: »Ich gehe in den Tunnel!«

    Er rannte, hinter sich eine Schar Männer, aus der Siedlung heraus, lief im Zickzack über den taufeuchten Weg zwischen Hütten, sprang über einen Steinhaufen und rutschte über ein Stück Grashang. Dann liefen seine Männer über loses Geröll, entlang einem Felsgrat und in den Spalt hinein. Sie rannten und stolperten keuchend durch eine Buschzone, wurden schneller auf dem Sandstreifen und hielten an, als sie vor sich den Lärm des Kampfes hörten.

    Sie sahen einen Felsenkessel, der in seiner Mitte geteilt war. Ein schmaler Zickzackpfad führte hinunter. Es ging um diesen Pfad – die Verteidiger standen in einem Halbkreis um den oberen Rand des Kessels, warfen Steine und Speere gegen die Angreifer, die um jeden Fußbreit des Bodens kämpften.

    Tayins Augen funkelten vor Wut, als er nach rechts deutete.

    »Sie umgehen uns!«, sagte er zum Sohn des Häuptlings. »Sie kommen von dort und bald auch von dort drüben!«

    Coyola schrie seinen Männern Befehle zu. Die Gruppen teilten sich und hoben schwere Steine auf. Hier herrschte noch das halbe Dunkel der Morgendämmerung. Die Kämpfer waren nicht viel mehr als Schemen. Coyola wollte seinen Speer werfen, da sah er einen seiner Männer. Wie ein Tier kroch er auf allen vieren heran, strauchelte und fiel vor dem Häuptlingssohn zu Boden, drehte sein Gesicht nach oben und versuchte zu sprechen; ein Blutstrom schoss aus seinem Mund. Er murmelte. Coyola beugte sich über ihn und entging dadurch einem Steinwurf.

    »Was ist geschehen?«, fragte er leise. Er konnte den Tod riechen.

    »Sie sind alle wahnsinnig! Dieser … Medizinmann …«

    Als der Körper zuckend auf den Rücken rollte, sah Coyola den abgebrochenen Speer, der im Gürtel des Mannes steckte.

    »Coyola!«

    In dem Schrei lag die Furcht des Mannes. Der Krieger richtete sich auf. Unter ihm, zehn Handbreit tiefer, brach ein Angreifer zusammen. Ein Speer steckte in seiner Brust. Dann war wieder ein schwirrendes, heulendes Geräusch zu hören; in der Schulter eines Angreifers schlug ein blitzender Speer ein. Coyola sah sich verstört um.

    »Dort drüben – auf dem Felsen!«

    Es war unheimlich. Plötzlich, beim ersten Eindruck dieses Bildes, schien sich für Coyola die Umwelt zu verändern. Er ahnte, ohne zu denken, dass für sie eine neue Zeit kommen würde oder schon gekommen war. Er blieb unfähig, sich zu rühren; er registrierte unbewusst, dass alle anderen Männer in diesem Felsenkessel aufgehört hatten zu kämpfen. Eine neue Welt, eine andere Zeit, verkörpert durch das Wesen, das oben auf dem Felsen stand.

    Ein riesiger Mann. Er trug einen anliegenden Helm mit Federschmuck, einen schweren Brustschmuck aus Gold und einen breiten Gürtel, in dem drei Dolche steckten. Vor seinen Füßen stand ein Schild, kreisrund, mit einer leuchtenden, federverzierten Schlange geschmückt. Die Arme waren durch breite Lederbänder geschützt. Unter dem Helm sahen lange weiße Haare hervor; die Augen schienen zu leuchten. Der Mann hielt in der linken Hand ein gebogenes Stück Holz, auf dem wieder einer der kleinen Speere ruhte. Das Holz streckte sich mit einem harten Schlag, dann heulte der Speer durch die Luft und schlug in den Schenkel eines Angreifers. Der Schmerzensschrei schreckte alle Krieger auf, im gleichen Augenblick fielen die Sonnenstrahlen auf den fremden Gott und ließen ihn aufleuchten wie die Oberfläche eines Wassers.

    Ein hässlicher, unvergesslicher Schrei! Der weiße Kondor flog dreimal um den Felsenkessel und blieb dann flügelschlagend über dem Gott. Dann senkte er sich und kauerte sich neben den chimalli nieder.

    Schreiend flohen die Angreifer, ließen ihre Toten und Verwundeten zurück, warfen die Waffen weg und stoben davon. Binnen kurzer Zeit verhallte ihr Geschrei zwischen den Uferfelsen. Der Gott rückte den Behälter voller kleiner Speere zurecht und hob den Arm. Dann deutete er auf Coyola und fragte mit hallender Stimme:

    »Du bist der Sohn des Häuptlings der Tlatilco?«

    Coyola erschrak, seine Knie zitterten und gaben unter ihm nach. Er fiel auf das Gesicht und streckte die Arme aus.

    »Steh auf!«

    Er richtete sich auf, so dass seine Handflächen auf dem Boden ruhten.

    »Bist du Coyola?«

    Er konnte nur stammeln. »Ja.«

    Der Gott sagte: »Höre gut zu. Ich und mein Kondor sind zu euch gekommen, um zu helfen. Wir kommen aus einem Land, das dort liegt, wo die Sonne aufgeht. Unser Zeichen ist die Schlange. Nach uns werden andere kommen, in einem Floß, das größer ist als eure Flöße. Wir haben euch geholfen, die Angreifer der unteren Stämme zu besiegen. Wir werden euch helfen, satt und klug zu werden.«

    Dann schwebte der Gott langsam auf Coyola zu. Das nie gehörte Geräusch hörte auf, als der Gott vor dem Häuptlingssohn auf den Felsen stand. Der Kondor schwang sich in die Luft und entfernte sich in kleinen und immer größer werdenden Kreisen. Mit hilfloser Stimme fragte der junge Krieger: »Du wirst uns nicht töten, Gott der federgeschmückten Schlange?«

    »Nein!«

    Der Gott sprach ihre Sprache, aber er sprach sie in einer feineren Art, das merkte Coyola unbewusst.

    »Was sollen wir tun?«, fragte er heiser.

    »Sammelt eure Toten und Verletzten. Ich werde mit dir vorausfliegen.«

    Er streckte einen Arm aus und ergriff den Krieger beim Gürtel. Dann hörte Coyola wieder dieses merkwürdige Geräusch, wie von einem Schwirrholz, und war unfähig, sich zu rühren. Er zitterte an allen Gliedern vor Angst, ließ aber die Obsidiankeule nicht fallen. Als er, vom fremden Gott getragen, über dem kleinen Platz inmitten der Siedlung schwebte, rannten alle Menschen schreiend davon. Der Gott sagte leise: »Ich werde euch lehren, mich nicht zu fürchten.«

    Coyola konnte nur stottern: »Damit musst du bei mir anfangen.«

    Sie standen sich gegenüber; Coyola musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um den Gott anzusehen. Was er sah, erfüllte ihn mit Staunen. Alles an diesem Fremden, der wie ein Vogel fliegen konnte, war unglaublich schön, glänzend, wertvoll und neuartig. Als er das gekrümmte Holz von den Schultern nahm, schwang ein dünnes Seil wie eine Liane und gab einen brummenden Ton von sich. Coyola flüsterte:

    »Wir werden dir eine prächtige Hütte bauen, oben auf den Felsen!«

    »Ich werde euch zeigen, wie man gute Hütten baut, die viele Jahre stehen, im Winter warm und im Sommer kühl sind«, sagte der Gott.

    Coyola nickte langsam. »Wirst du lange bei uns bleiben?«

    »Lange genug; so lange, bis ich euch gelehrt habe, was ihr wissen müsst.«

    »O Gott der gefiederten Schlange!« Coyola fürchtete sich davor, weiterzufragen, aber er schaffte es trotz seiner Scheu. »Warum willst du uns helfen?«

    »Die Götter sind dazu geschaffen worden, den Menschen zu helfen.« Der Gott hob die Hand. »Niemand darf sie fragen, warum sie etwas tun oder nicht; sie sind da und handeln nach ihrem Gesetz.«

    Wieder nickte Coyola. Er spürte plötzlich das Gewicht seiner Keule. Sie schien schwerer und schwerer zu werden.

    »Es ist gut«, sagte er. »Was können wir dir geben?«

    »Ich fürchte, ihr könnt mir nicht viel geben.« Der Gott lachte! Er lachte wirklich, als wäre er einer von ihnen. Immer noch leise lachend schloss er: »Darüber sprechen wir später – wenn es an der Zeit ist.«

    Cyr Aescunnar ließ die Folie sinken und sagte: »Stichwort ›federgeschmückte Schlange‹, also Quetzalcoatl. Dieses Erlebnis Atlans hat also im frühen Südamerika stattgefunden, oder auf der Landbrücke der Halbkontinente. Nach dem Tod Alexanders des Großen?«

    »Keine Ahnung«, sagte Chavasse. »Aber Sie werden’s selbst am schnellsten herausfinden, in Ihrer hochtechnisierten Klause. Ich habe diese Niederschrift für Ihre Chmorl-Universität besorgt. Nehmen Sie sie mit, Kollege Historiker.«

    »Verbindlichen Dank im Namen der Historischen Fakultät.« Cyr stand auf und trank den Pokal leer. »Wie beurteilen Sie die Zukunft unsere Projekts? Wird ES noch einmal eingreifen – womöglich auf so dramatische Weise?«

    Der Computerspezialist hob die Schultern.

    »Das ist durchaus denkbar. Aber ES wird auf jeden Fall vermeiden, Atlan zu schaden. ES weiß, dass Atlan stirbt, wenn er nicht weitersprechen kann.«

    »Und um die Worte seiner unbewussten Katharsis nicht zu versäumen, fahre ich zurück in mein Forschungsbüro.« Aescunnar schüttelte Rogiers Hand. »Ich werde recherchieren, über die Olmeken und Mayas, bis Atlan wieder zu berichten beginnt. Nochmals Dank für das antike Schriftstück.«

    »Schon gut.« Chavasse brachte den Historiker zum Taxigleiter. »Ich bleibe in Kontakt mit Ihnen; inzwischen interessiert mich die Fertigstellung der ANNALEN selbst.«

    Cyr Aescunnar ließ sich zu seinem Apartment bringen, der Außenstelle der Historischen Fakultät. Oemchèn Orb, zusammen mit einem Säuberungsservice, hatte den großen Arbeitsraum und die Zimmer der Wohnung aufräumen und putzen lassen; auf der riesigen weißen Arbeitsplatte herrschte unkreative Ordnung. Aescunnar ließ sich in seinen Lehnsessel fallen und schaltete bedächtig die Kommunikationsgeräte ein. Zuerst tippte er eine Reihe Suchworte, vervollständigte die Anfrage an die Chmorl-Datenbank und rief die Informationen ab.

    Ein mehrfach gesicherter Kommunikationskanal verband das Studio mit jenem Raum der Überlebensstation, in der am 25. August dieses Jahres 3561 Atlan eingeliefert und einer Reihe Notoperationen unterzogen worden war: Jetzt war der desinfizierte Raum menschenleer, der sterile Glastank abgedeckt und ohne Nährflüssigkeit, die meisten Monitoren desaktiviert.

    »Alle, die um sein Leben zittern«, murmelte Aescunnar, »haben guten Grund, ruhig zu schlafen. Wenn Atlan – von sämtlichen Überlebensmaschinen abgekoppelt – überlebt, ist er wohl wirklich außer Gefahr.«

    Im Jahr 323 vor der Zeitwende, wenige Tage nach dem Tod des zweiten Zellaktivatorträgers auf Larsaf III, dem makedonischen Weltherrscher Alexander, war Atlan freiwillig in den Kältetiefschlaf zurückgekehrt. Wie lange hatte die nächste Schlafperiode gedauert? Welcher Anlass hatte den Roboter Rico dazu gebracht, Atlan wieder zu wecken und – wann? Cyr Aescunnar kopierte den Bericht, den er von Chavasse erhalten hatte, schaltete einige Lampen an und begann über die Vorgängerkultur der Mayas zu lesen; seltsamerweise begann der ungenannte Wissenschaftler seinen Bericht mit der Feststellung, dass, ausgehend von etwa hundert Erstbesiedlern in Nordamerika, die Mammute jagten, nach Jahrtausenden zwölf Millionen Individuen genügt hatten, um die Mammute binnen weniger Jahrzehnte vollständig auszurotten.

    In den Jahren 600 bis 400 vor Christus, so lauteten die letzten verfügbaren Informationen, hatten sich die Mayas zu einer Hochkultur entwickelt; an der mexikanisch-guate Malischen Grenze, etwa in Nakbe nahe der Stadt Mirador. Bis zu 40.000 Bewohner hatte Nakbe; die rund 700 Wort- beziehungsweise Silbenzeichen ihrer Schrift waren zur Hälfte entzifferbar. Aescunnar speicherte die Daten, die von beobachteten Supernovae handelten. Kurz nach dem Jahr 900 – nach der Zeitwende – löste sich das machtvolle Maya-Reich auf; die Maya, deren Kriege dem Erbeuten von Opfersklaven dienten, verschwanden aus diesem Gebiet.

    Cyrs nächster Datenabruf galt der Übersetzung aus der Sowjetskaja Etnografia von 1952, dem 20seitigen Aufsatz Jurij Knorosows, der die mit Logogrammen durchsetzte Bilderschrift gedeutet und erstmals den Zugang zur Schriftsprache des untergegangenen Volkes ermöglicht hatte. Ein kurzer Abriss über die Lebensumstände der Mayas folgte: Zwei Millionen Menschen, auf einige Dutzend Königreiche verteilt, bevölkerten zum Höhepunkt den Dschungel von Yucatán; man aß Schnitzel aus Hundefleisch, schrieb von rechts nach links wie im klassischen Ägypten, glaubte sich von bösartigen Göttern aus der Unterwelt Xibalba bedroht, baute bis zu 70 Meter hohe Pyramiden, kämpfte mit Waffen aus Granit und Obsidian und schmückte sich mit Jade, führte ein Leben, das aus einer endlosen Folge seltsamer Rituale bestand – bis im Jahr 1519 der Eroberer Hernando Cortés landete.

    Vor dem russischen Dechiffrierer entzifferte der französische Orientalist de Rosny 1876 die Glyphen der Himmelsrichtungen Nord, Süd, Ost und West: xaman, nohol, lakin und chikin. Ernst Förstemann gelang es etwas später, das Zählsystem, das (»Vigesimale«) auf der 20 beruhte und die Große Runde, die Zeitrechnung, zu enträtseln; sie beginnt mit dem 11. August 3114 vor der Zeitwende. Heinrich Berlin fand die Zeichen von sieben Mayastädten, schließlich grub man den »Herrscher Zwei« aus, einen kriegslüsternen Mayaherrscher, der sein Königreich Petexbatun durch Eroberungskriege so drastisch vergrößerte, dass alle Bauern in die Städte flüchteten, den Landbau vernachlässigten und eine ökologische Katastrophe auslösten – rund 80.000 Quadratkilometer Land wurden verwüstet; die Mayas verließen die Städte, wanderten fort und verschwanden.

    »Das also war das Ende«, murmelte Aescunnar. »Wie war der Anfang? Die sogenannten Epi-Olmeken gelten als Vorläufer der Mayas. Hat sie etwa unser Held der Vergangenheit besucht und gefördert?«

    Auf der Stele von La Mojarra, deren Text etwa 150 Jahre nach der Zeitwende eingehämmert wurde, berichtete der Olmekenfürst »Bergernte« aus seinem Leben. 500 vor Christus – achthundert oder weniger Jahre vor der Blüte der Maya – ging die Olmekenkultur zugrunde; weit verstreute Epi-Olmeken überlebten. Die Maya entwickelten ihre Schrift aus den olmekischen Symbolen heraus wie Terrence Kaufmann und John Justeson feststellten. Auch die Mayas verherrlichten den Jaguar, der halb menschlich, halb als Tier dargestellt wurde – die Olmeken glaubten wie sie, dass sich Menschen in Wer-Jaguare verwandelten.

    »Nichts ist unmöglich«, murmelte Cyr und bereitete Landkarten Terras und Ausschnittvergrößerungen vor. »Wenn wir heute annehmen müssen, dass Rico den Pyramidenbau mit ausrechnete und womöglich die Irrfahrten Odysseus’ dokumentierte, ist es wahrscheinlich, dass Atlan sich auf dem Planeten Nicoja Cuaualan an Olmeken oder frühe Mayas erinnert.«

    Cyr sammelte seine Informationen und fing an, eine Auflistung sämtlicher Zeiten und Namen zu gliedern, die mit Atlans Besuchen auf der Planetenoberfläche zu tun hatte; Oemchèn Orb kam herein und zog ihn zum Abendessen an die Küchenbar. Seit langer Zeit schlief Cyr Aescunnar ohne jede Furcht vor Blindheitsanfällen und ohne medizinische Unterstützung.

    Die Illusion des Bildes meines Sohnes, das sich immer wieder mit dem Bild des jungen, fast weißhaarigen Alexander von Makedonien mischte und überlagerte, verblich; vom großen Holografieprojektor wich das Bild des alten Sehers Kolchis. Seine brüchige Stimme schwieg. Wie lange war ich medizinisch so gut wie tot gewesen? Warum war ich geweckt worden? Neben meinem Ohr sagte eine wohlmodulierte Stimme:

    »Ich habe dich zweier Gründe wegen geweckt, Atlan.«

    Mühsam bewegte ich meine Lippen; mein Kehlkopf schmerzte, ich lallte: »Wer … spricht?«

    »Der einzige, der außer dir im Tiefseeversteck lebt: hier spricht Rico, der Robot. Ich musste dich wecken, weil alle Geräte und Sensoren übereinstimmend aussagen, dass Fremde auf deiner Welt gelandet sind. Der zweite Grund: Vor einiger Zeit trieb der Sturm ein großes Schiff von irgendwoher direkt über unsere Schutzkuppel. Es liegt am Strand der Insel.«

    Die Stimme Kolchis’ murmelte im Hintergrund: »… die Menschen werden dir von allen Seiten hilfesuchend die Hände entgegenstrecken, denn in dir werden sie die Hoffnung sehen und eine besondere Art von Liebe. Sie werden dich anflehen, du mögest ihnen aus dieser Wirrnis heraushelfen, du mögest den umherirrenden Geistern das klare Licht der Weisheit zeigen … und das wirst du tun, viele Geschlechter lang.«

    Kolchis’ Stimme schwieg. Auch er war Bestandteil meiner letzten Gedanken vor dem Einschlafen gewesen, neben Charis und unserem ungeborenen Kind, mit Freund Odysseus und Daganya zusammen und mit Ptah-Sokar, ehe ich vor … wie langer Zeit? … eingeschlafen war. Ich konnte nicht richtig aufwachen, ohne dass mein Verstand mit Klängen, Worten, Farben, Stimmungen und Bildern überflutet wurde und auf diese Weise entscheidende Impulse bekam; meine gesamte Physis musste behutsam auf den gefahrvollen Pfad des Erwachens gesetzt werden. Der Schlaf heilt die Wunden des Geistes, hatte Kolchis gesagt.

    Rico hatte mich geweckt, er war ein wesentlicher Bestandteil meines einsamen Lebens auf Larsafs drittem Planeten; er kontrollierte sämtliche Reanimationsgeräte und steuerte in den folgenden Stunden und Tagen die Aktivierungsduschen, den Schwingungsgenerator, die vielfältigen Massageeinheiten und die Versorgung mit flüssiger Nahrung, die »Farborgel« – also sämtliche Bildschirme, Aufzeichnungen, Weltkarten, geschichtlichen Analysen der Geräte auf dem Kommunikationsdeck – und den Vibratorensessel. Systematisch lief jede Einzelheit ab, die der einsame Arkonide brauchte, um aus der Todesstarre eines Biotiefschlafs ohne Schädigungen aufzuwachen, der Einsame der Zeit, der seit rund 77 Jahrhunderten nach Untergang von Atlantis auf diesem Planeten wartete, Angriffe aus den Tiefen des Universums abwehrte und noch immer verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, den Heimatplaneten Arkon wieder zu erreichen. Als ich mühsam gehen und meine schmerzenden Muskeln bewegen konnte, fragte ich:

    »Wie lange habe ich geschlafen?«

    »Es sind – ein Zufall? – genau sieben Jahre, Gebie… Atlan.«

    »Wie sieht die planetare Welt aus, Rico?«

    Noch immer sah er absolut verwechselbar menschlich aus: wie ein hochgewachsener Rômet in griechischer Kleidung und dezentem Schmuck, mit kurzem schwarzem Haar. Er deutete vage auf die Holoprojektionen, Bildschirme und Monitoren und sagte:

    »Kaum anders als zu der Zeit, in der du eingeschlafen bist, Kapitän vieler zeitlicher Stürme. Die Kulturen, auch jene, denen du geholfen hast, schreiten ihrer Höhe entgegen, haben sie überschritten oder befinden sich auf dem kulturellen und zivilisatorischen Niedergang – du wirst bald meine Analysen und die der Zentralpositronik verstehen können. Und immer wieder gründen sich neue Zellen vielversprechender junger Kulturen. Ein ständiges Werden und Vergehen, wie im Jahr der Pflanzen.«

    »Noch kein Versuch eines Vorstoßes zu den Planeten des Systems?«

    »Nein. Bis dahin wird es noch tausend Kriege geben, und viele Jahrhunderte werden vergehen.«

    Stunden summierten sich zu Tagen, ich verstand und begriff mehr und mehr, und schließlich, nach vielen Stunden der Bestrahlung durch Solarlampen und Ultraviolett-Filter-Bräunung, unter der mein bleicher Körper annähernd »menschenähnlich« wurde, verfügte ich, wie ich meinte, wieder über alle fragwürdigen Segnungen meines Verstandes. Ich

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