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ATLAN Marasin 3: Die zerschnittene Welt
ATLAN Marasin 3: Die zerschnittene Welt
ATLAN Marasin 3: Die zerschnittene Welt
Ebook359 pages4 hours

ATLAN Marasin 3: Die zerschnittene Welt

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Atlan, die Psi-Kämpferin Trilith Okt und die siganesische Besatzung des Paladin-Roboters haben ein klares Ziel: Sie wollen die Bewohner Marasins vor der drohenden Invasion der Illochim warnen.

Auf dem bizarren Planeten Kamsporn, dessen Äquator von einer mehr als fünfhundert Kilometer hohen und von zahlreichen Völkern bewohnten Plattform umgeben ist, glaubt ihnen jedoch niemand. Man betrachtet sie sogar als Feinde und macht Jagd auf sie.

Die Zeit wird knapp, denn derweil nimmt in der Milchstraße Parjasthina, der oberste Doviat der Illochim, die letzte Phase seines lange geplanten Rachefeldzugs in Angriff. Sein Ziel ist die zerschnittene Welt …

Folgende Romane sind Teil der Marasin-Trilogie:
1. "Im Schutz des Paladin" von Rüdiger Schäfer
2. "Tschirque, der Kreuzwächter" von Achim Mehnert
3. "Die zerschnittene Welt" von Rüdiger Schäfer
LanguageDeutsch
Release dateAug 3, 2015
ISBN9783845349534
ATLAN Marasin 3: Die zerschnittene Welt

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    ATLAN Marasin 3 - Rüdiger Schäfer

    cover.jpgimg1.jpg

    Dritter Band der Marasin-Trilogie

    Die zerschnittene Welt

    von Rüdiger Schäfer

    Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

    Kleines Who is Who

    Aerticos Gando – der Thakan von Lepso enthüllt ein uraltes Geheimnis

    Amos Rigeler, Cool Aracan, Dart Hulos, Drof Retekin und Mirus Tyn – das Thunderbolt-Team operiert souverän wie immer

    Atlan – der Lordadmiral der USO will eine ganze Galaxis retten

    Charas – der Springerpatriarch steht mit dem Rücken zur Wand

    Eliphol Mix – der Medienmogul erweist sich als Retter in der Not

    Gharrit – ein zorniger junger Mann lernt eine wichtige Lektion

    Githamainen, Thopoclarc, Methiklan und Dathakalaynen – Parjasthinas engste Vertraute wollen Marasin zurückerobern

    Harl Dephin – der Kommandant des Thunderbolt-Teams gerät in eine peinliche Situation

    Hethimakim Alti, Nolan Iki und Seraton Ük – drei Schemawesen an Bord der MISTANNEN XVI

    Ingopie Lok – der singende Bettelmönch wird mit Füßen getreten

    Innis – der Hohrugk-Züchter hat keine Wahl

    Klirrigisumos – der Profastor offenbart ein äußerst bizarres Rechtsverständnis

    Lemut Halet – der Ertruserjunge sucht das große Abenteuer

    Lenka Gocaltovska – die Eelve kennt in Chamenspall alles und jeden

    Malvet Siihk – der Kettenhegan der Heilsburg fährt schwere Geschütze auf

    Maudi-Haup Maon – Shapda-Shapda Maons Enkel will eine neue Geschichte hören

    Oberst Kalil Turu – der Kommandant der CRYPTO hat Bedenken

    Parjasthina – der Illochim sieht sich am Ziel seiner Träume

    Shapda-Shapda Maon – die Flößerin bangt um das Leben ihres Lieblingsenkels

    Trilith Okt – das Schemawesen muss seinen bislang schwersten Kampf bestehen

    Tschirque – der Kreuzwächter muss sich entscheiden

    Tyrill Azyk – der Blue-Händler wittert das Geschäft seines Lebens

    Prolog

    Parjasthina sang.

    Der Illochim schwebte vor dem Panoramaschirm in der Zentrale der MISTANNEN XVI und ließ seine innere Stimme erklingen. Die einzelnen Töne oszillierten klar und rein durch seinen bis zum äußersten angespannten Geist, vereinten sich zu kraftvollen Akkorden, füllten jeden Winkel seines Denkens und woben einen virtuosen Klangteppich, der dem Doviat half, die Euphorie unter Kontrolle zu halten, die ihn angesichts des bevorstehenden Feldzugs ergriffen hatte. Wie so viele Male zuvor berauschte er sich an der Macht der Musik. Nur in ihr verbanden sich universelle Ordnung und Logik in derart unvergleichlicher Perfektion mit Anmut und Ästhetik. Nur in der ultimaten Harmonie der Ewigen Gesänge spiegelten sich die hehren Ideale seines Volkes in ihrer vollen Bedeutung wider, und die Melodien, die ihm in all den Jahrtausenden Trost gespendet hatten, schwangen sich nun zur hymnischen Untermalung seines finalen Triumphes empor.

    Der Doviat bedauerte es, dass er sein Lied einmal mehr nur im Stillen intonieren konnte. Während des endlos erscheinenden Exils in der Galaxis namens Milchstraße hatten er und seine Artgenossen nicht mehr als eine Handvoll Planeten entdeckt, von denen die Anforderungen für einen offenen Vortrag der Ewigen Gesänge erfüllt wurden. Zwar gab es Wasserwelten zur Genüge, doch selten waren die dort vorhandenen Ozeane tief genug, um die Kraft der unsterblichen Töne zur vollen Entfaltung bringen zu können, und die Verunreinigung des Wassers mit Plankton, Mikroorganismen, organischen Partikeln und zahllosen anderen Fremdkörpern wirkte sich negativ auf Schallfluss und Klangvolumen aus.

    All das würde schon bald anders werden. Parjasthina starrte auf den Panoramaschirm. Im Zentrum der Bilderfassung stand ein weniger als dreitausend Kilometer durchmessender Kleinplanet, ein nicht nur auf den ersten Blick bedeutungsloser Steinbrocken mit dünner Atmosphäre und spärlicher Vegetation. Er beschrieb seine Bahn als zweite von drei Welten um eine hellgelbe Sonne und seine einzigen Bewohner waren halbintelligente Wurmwesen, die ihren Lebenszweck darin sahen, ein unüberschaubares Labyrinth aus Stollen und Höhlen in die Planetenkruste zu treiben.

    Die Völker der Milchstraße hatten den Planeten inzwischen Charastinte getauft, ein Name so gut oder schlecht wie jeder andere. Parjasthina spürte, wie seine Erregung zunahm, sich sein Körper trotz der Rezitation der uralten Gesänge erhitzte. Als er selbst diese verfluchte Welt zum ersten Mal betreten hatte, auf das Schlimmste gedemütigt und ausgestoßen von jenen, denen er und die Seinen nur hatten helfen wollen, war Charastinte noch namenlos gewesen. Hier hatte alles begonnen. Hier hatte der Leidensweg der Illochim seinen Anfang genommen. Und hier würde alles enden.

    Manchmal hatte der Doviat nicht mehr daran geglaubt, dass der Tag der Rache noch kommen würde. Zeit war ebenso geduldig wie erbarmungslos, wenn es darum ging, Pläne zunichte zu machen, vor allem, wenn sich diese über ganze Epochen erstreckten. Doch das alles spielte nun keine Rolle mehr. Der Übergang war vorbereitet. In wenigen Tagen würden sich die Tore nach Marasin endgültig öffnen. Dann konnten endlich jene gerichtet werden, die das Wohlwollen und die Hilfsbereitschaft der Illochim einst so schändlich missbraucht hatten. Er, Parjasthina, würde die Heere der Vergeltung persönlich führen und dafür sorgen, dass die Völker Marasins den Preis für das bezahlten, was sie seinem Volk angetan hatten.

    Es würde ein hoher Preis sein.

    Ein sehr hoher Preis.

    Parjasthina sang – und zum ersten Mal seit Jahrtausenden fühlte er sich im Einklang mit sich selbst.

    Kapitel 1

    Charas

    »Leer deine Taschen!«

    Der zweieinhalb Meter große Hüne fuchtelte so ungeschickt mit seinem unterarmlangen Messer vor Charas’ Gesicht herum, dass er es beinahe fallen gelassen hätte. Dennoch hütete sich der Springer davor, sein Gegenüber nicht ernst zu nehmen. Gegen einen Ertruser – selbst wenn es sich dabei um ein derart nervöses Exemplar dieses Volkes handelte – besaß er trotz seiner eigenen nicht gerade zierlich zu nennenden Statur nicht den Hauch einer Chance.

    »Und gib mir den Beutel«, fügte der Riese heiser hinzu. Die Spitze der funkelnden Messerklinge zeigte kurz auf die Tragetasche aus billigem, grauen Plastik, die Charas an einem Riemen über der rechten Schulter hing.

    »Schon gut, schon gut«, versuchte der Springer zu beschwichtigen. »Nur keine Aufregung. Ich fürchte jedoch, dass du sehr enttäuscht sein wirst, mein Freund. Außer hundertzwanzig Solar in bar, ein paar Carsual-Münzen und einem Rabatt-Chip für das Mehandor Inn am Containerhafen kann ich dir nichts bieten.«

    Langsam, die Faust des Ertrusers mit dem Messer darin stets im Auge behaltend, zog Charas die schmale Brieftasche aus billigem Prospa-Lederimitat aus seiner Jacke und warf sie dem Mann zu. Der schnappte mit der Linken nach der abgewetzten Börse, griff daneben und stieß einen deftigen Fluch aus. Als er in die Hocke ging, um das auf dem Boden liegende Objekt der Begierde aufzuheben, knackten seine Kniegelenke so laut, dass das Echo in der röhrenartigen Seitengasse widerhallte. Es klang, als würde ein Bündel morscher Äste zerbrechen.

    »Bleib wo du bist, oder ich stech dich ab!«, warnte der Ertruser überflüssigerweise. Seine Wangenmuskeln zuckten hektisch. Charas hob beide Arme und streckte dem Straßenräuber die offenen Handflächen entgegen.

    »Ich rühre mich nicht von der Stelle«, versicherte er.

    Der Springer unterdrückte einen Seufzer und beobachtete, wie der Gigant mit den fast zwei Meter breiten Schultern die Lederbörse durchsuchte, ein paar 10- und 20-Solarnoten herausnahm und diese mit einem Wutschnauben zusammenknüllte. Der Überfall fügte sich perfekt in die Pechsträhne, die ihn nun schon seit Monaten begleitete. Alles hatte mit diesem verdammten Hypergramm der Raumregistratur auf Volat begonnen …

    »Den Beutel …!« Der Ertruser kam einen Schritt näher und Charas beeilte sich, den ausgefransten Trageriemen über die Schulter zu streifen. Erst jetzt bemerkte er, dass die blaugrüne Kombination des Giganten an vielen Stellen zerrissen und fleckig war. Hinzu kam der strenge Geruch, den der Mann verströmte. Es war nicht schwer zu erraten, dass er es hier mit einem der zahlreichen Gestrandeten zu tun hatte, die es auf jedem Planeten der Milchstraße und vor allem in der Nähe der Raumhäfen gab. Heruntergekommene und ihrer Illusionen beraubte Menschen, die irgendwann vom geraden Weg abgekommen waren und nicht mehr auf ihn zurückgefunden hatten.

    »Tut mir leid«, sagte er und reichte dem Ganoven die unscheinbare Plastiktasche. »Nur ein paar Dokumente und persönliche Papiere. Ich fürchte, ich bin nicht wesentlich wohlhabender als du, mein Freund. Allerdings bin ich noch nicht verzweifelt genug, als dass ich versuchen würde, diesen Zustand mit einem Messer in der Hand zu ändern.«

    Noch bevor der Springer seinen letzten Satz zu Ende gesprochen hatte, wusste er, dass er zu weit gegangen war. Er verfluchte sich und sein großes Mundwerk. Mit der letzten unbedachten Bemerkung hatte er den Bogen ganz offensichtlich überspannt. Der Ertruser starrte ihn aus geweiteten, blutunterlaufenen Augen an. Vermutlich hatte er irgendetwas geschluckt. Charas war zwar kein Experte, doch die Nervosität des Mannes und der erbärmliche Zustand, in dem er sich befand, ließen vermuten, dass dieser seiner Profession noch nicht allzu lange nachging. Insofern war es durchaus denkbar, dass er versucht hatte, sich vor dem geplanten Überfall den nötigen Mut mit ein paar geeigneten Pillen zu verschaffen. Die entsprechenden Substanzen, meistens in irgendwelchen Kellergewölben zusammengepanschte Cocktails aus Amphetamin-Substraten und synthetischen Alkaloiden, funktionierten zwar, führten allerdings je nach Dosierung auch schnell zu Abhängigkeit und dem Auftreten schwerer physischer und psychischer Nebenwirkungen.

    Der Ertruser stürzte nach vorn; der Plastikbeutel fiel auf den blaugrauen Belag der Straße und die Folien und Aktenmappen rutschten heraus und verteilten sich über den schmutzigen Boden. Charas entging der Attacke nur deshalb, weil er instinktiv mit ihr gerechnet hatte. Die Klinge des Gegners fuhr haarscharf an seinem Gesicht vorbei. Dann traf ihn der massige Körper des Angreifers und trieb ihm sämtliche Luft aus den Lungen.

    Es gelang dem Springer nur annährend, seinen Fall zu bremsen. Er schlug mit dem breiten Hinterteil zuerst auf den Untergrund, rutschte ein paar Meter über den rauen Stahlbeton und schürfte sich Ellbogen und Unterarme auf. Fürs Lamentieren blieb jedoch keine Zeit, denn bei dem Ertruser waren jetzt offenbar alle Dämme gebrochen. Wie ein beim Liebesspiel gestörter Archetz-Keiler hetzte er heran, die Faust mit dem Messer vorgestreckt und zum tödlichen Stoß bereit. Charas glaubte in den Mundwinkeln weißen Schaum zu erkennen. Die ansonsten rotbraune Haut des Hünen glänzte in hellem Ocker. Dicke Schweißperlen standen auf Stirn und Schädel, der bis auf einen schmalen schwarzen Sichelkamm völlig blankrasiert war.

    Im letzten Moment drehte sich der Springer zur Seite und sein Widersacher lief erneut ins Leere. Keuchend stemmte Charas seine rund 180 Kilogramm Lebendgewicht wieder auf die Beine und sah sich gehetzt um. Ihm war klar, dass es keinen Zweck hatte wegzulaufen. Aufgrund seines über die Jahre zu einer beachtlichen Kugel angeschwollenen Bauches und seiner seit Jahrzehnten leidenschaftlich gepflegten Antipathie gegen alles, was auch nur entfernt mit körperlicher Anstrengung zu tun hatte, war jeder Fluchtversuch von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

    »Warte …«, keuchte Charas. »Warte … einen … Augenblick. Ich … ich … kann dir Geld besorgen.«

    Der Ertruser schien ihn gar nicht zu hören. Mit einem tief aus der Kehle kommenden Grunzen leitete er die nächste Offensive ein. In seinem verzerrten Gesicht spiegelte sich die blanke Mordlust. Was immer der Kerl auch eingeworfen hatte, es nahm ihm offenbar sämtliche Hemmungen und wahrscheinlich hätte er auch ohne die achtlos dahingesagten Worte des Springers früher oder später durchgedreht.

    In seiner Verzweiflung warf sich Charas dem Gegner mit einem Aufschrei entgegen. Es war, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Zum zweiten Mal blieb ihm die Luft weg, und er japste wie ein Mandalay in der Wüste von Shand’ong. Sein Herz pochte wie rasend, und ihm brach am ganzen Körper der Schweiß aus. Ein stechender Schmerz zuckte durch den Brustkorb und das Gefühl, ersticken zu müssen, ließ die Panik in ihm wie einen Steppenbrand auflodern. Bei Levtan, dem Verräter – er hatte doch gerade erst seinen 83. Geburtstag gefeiert. Er war noch lange nicht bereit zum Sterben.

    Der Ertruser wuchs vor ihm wie ein schwarzer Schatten in die Höhe. Er hielt das Messer jetzt mit beiden Händen, stellte sich breitbeinig über sein Opfer und riss die Arme in die Luft, um Schwung zu holen. Charas wollte die Augen schließen, wollte die auf ihn zu sausende Klinge nicht auch noch sehen müssen, doch er schaffte es nicht. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Als hätte ihn das Schicksal nicht schon genug gestraft, zwang es ihn nun auch noch dazu, dem Unvermeidbaren mit klarem Blick zu begegnen.

    Nun mach schon, zuckte es durch seinen dröhnenden Kopf. Bring es endlich zu Ende. Vielleicht tust du mir damit sogar einen Gefallen.

    Doch es geschah nichts. Charas wartete, und die Sekunden verstrichen eine nach der anderen in zittriger Ereignislosigkeit. Es war, als sei die Zeit selbst stehen geblieben, als hätte sich das Universum entschlossen, für eine Weile innezuhalten und eine Pause einzulegen, um ihn die Furcht und die Hoffnungslosigkeit bis zur Neige auskosten zu lassen. Der Springer konnte sich das einfach nicht erklären. Hatte der Ertruser sein Werk etwa schon vollbracht? Hatte er ihm das Messer in die Brust gestoßen und Charas erlebte nichts weiter, als seine ganz private Hölle, in der er dazu verdammt war, auf immer und ewig im Moment des eigenen Todes zu verharren? Zugegeben, er war in seinem bisherigen Leben beileibe kein Muster an Tugendhaftigkeit gewesen, doch das hatte er ganz bestimmt nicht verdient.

    Nach einer vermeintlichen Ewigkeit tat sich doch noch etwas. Der riesige Ertruser neigte sich plötzlich zur Seite wie ein frisch geschlagener terranischer Mammutbaum. Das Messer entglitt seinen Händen und schlug mit explosionsartigem Klirren nur Zentimeter neben dem linken Ohr des Springers auf. Charas glaubte das Bewusstsein verlieren zu müssen, doch auch diese Gnade wurde ihm verwehrt. Gierig sog er Sauerstoff in seine Lungen, musste husten, bekam erneut keine Luft mehr. Irgendjemand packte ihn an den Schultern und half ihm, sich aufzusetzen. Der Springer wollte instinktiv um sich schlagen, doch mehr als ein paar matte Bewegungen mit den feisten Armen brachte er nicht zustande.

    »Beruhige dich«, hörte er eine vertraute Stimme. Sie klang seltsam atonal, so als hätte ihr Besitzer Mühe, die einzelnen Worte zu modulieren.

    »Tyrill …«, stieß Charas hervor. »Bist du das?«

    »Wer sonst?«, antwortete die Stimme. »Dich kann man aber auch nicht fünf Minuten allein lassen, alter Mann.«

    Die Erleichterung brach mit solcher Macht über den Springer herein, dass er beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Erst jetzt, da die unglaubliche Anspannung von ihm wich, begriff er, dass er zum ersten Mal in seinem Leben echte Todesangst empfunden hatte. Minutenlang hockte er wie ein Häufchen Elend auf der Straße, und Tyrill ließ ihm die Zeit, die er brauchte. Der Blue hatte damit begonnen, die überall auf der Straße verteilten Folien einzusammeln und wieder in die Plastiktasche zu stopfen. Charas beobachtete ihn dabei.

    Tyrill Azyk war für Charas vermutlich das, was einem Freund am nächsten kam. Er kannte den Jülziish bereits seit einer halben Ewigkeit, und gemeinsam hatten sie schon so manches mehr oder weniger ehrenhafte Geschäft abgewickelt. In der Welt, in der sich der Springer üblicherweise bewegte, waren Werte wie Vertrauen und Redlichkeit nicht unbedingt weit verbreitet, doch wenn es jemanden gab, dem Charas bereit war, diese seltenen Eigenschaften zu attestieren, dann war es Tyrill Azyk.

    Der Blue hatte in seiner Arbeit innegehalten und blätterte jetzt in einem schmalen Ordner, der nur wenige Folien enthielt. Fasziniert musterte der Springer den langen, schlauchartigen Hals des von Gatas stammenden Händlers. Tyrill verdiente seinen Lebensunterhalt als Vermittler, was nichts anderes hieß, als dass er Angebot und Nachfrage zusammenführte und für jeden so zustande kommenden Abschluss eine kleine Gebühr kassierte. Dabei hatte er sich vor allem auf Nahrungsmittel und andere schnell verderbliche Güter spezialisiert.

    Charas versuchte gar nicht erst, in den Zügen des Blue zu lesen. Der tellerförmige Schädel eines Jülziish mit seinen beiden Augenpaaren, der grobporigen, rötlich schimmernden Haut und dem praktisch nicht vorhandenen Gesicht, ließ keine Rückschlüsse auf die jeweilige Gemütslage seines Besitzers zu. Nicht umsonst galten Blues bei den meisten anderen humanoiden Völkern der Galaxis als gefühlskalt und unnahbar, doch der Springer wusste, dass das nicht stimmte. Er hatte Tyrill Azyk als einen warmherzigen, zuvorkommenden und empfindsamen Zeitgenossen kennengelernt, und nicht zuletzt das war der Grund gewesen, warum er überhaupt nach Ertrus gekommen war und um ein Gespräch mit dem Jülziish gebeten hatte.

    Der Blue kam mit langsamen Schritten auf ihn zu. Sein vorderes Augenpaar war noch immer auf die Handvoll Folien gerichtet. Er schien den Blick gar nicht mehr abwenden zu können. Wenn sich Charas nicht täuschte, dann war das ausgerechnet der Ordner mit den Volat-Unterlagen; gewissermaßen die Wurzel all des Übels, das sich in den vergangenen Wochen über ihn ergossen hatte.

    »Was willst du mit …?«, setzte der Springer an, kam jedoch nicht dazu, seine Frage zu beenden.

    »Ist das echt?«

    Charas hatte Mühe, seinen langjährigen Geschäftspartner zu verstehen, weil dessen Stimme vor Aufregung immer wieder in den Ultraschallbereich abglitt. Jülziish verständigten sich normalerweise in einem Abschnitt des Frequenzbands, den die Hörorgane der meisten Bewohner der Milchstraße nicht erfassen konnten. Der mittlere Hörbereich von Springern, Arkoniden, Terranern und zahlreichen anderen Völkern lag zwischen 16 Hertz und 19 Kilohertz, war also relativ eng begrenzt. Blues waren dagegen in der Lage, auch Ultraschall, also Frequenzen zwischen 16 Kilohertz und 1,6 Gigahertz wahrzunehmen. Das Hören und Sprechen in tieferen Frequenzlagen verlangte ihnen dagegen einiges an Anstrengung und Konzentration ab.

    »Ist das echt?«, wiederholte Tyrill so schrill, dass Charas das Gesicht verzog. Der Blue hielt ihm ein dreidimensionales Foto direkt vor die Nase. Der Springer kannte es, hatte er es doch vor knapp zwei Wochen selbst auf Volat aufgenommen.

    »Natürlich ist das echt.« Er schüttelte den Kopf so heftig, dass die beiden sorgfältig gefochtenen Zöpfe seines langen Bartes wie Glockenklöppel hin und her flogen. »Was soll die blöde Frage?«

    Tyrill Azyks kleiner Halsmund vibrierte, als er seinen Tellerschädel so weit nach vorn neigte, dass Charas befürchtete, der Hals würde brechen.

    »Wir sollten reden«, sagte er und seine Stimme klang nun wieder ruhig und kontrolliert.

    »Klar doch.« Der Springer zuckte mit den Schultern. »Deswegen bin ich schließlich hier.«

    Kapitel 2

    Charas

    Die Grauzone war eine Kneipe, in der überwiegend Ertruser verkehrten. Sie lag nicht weit vom Containerhafen entfernt in einem Viertel der Hauptstadt, das sich Baretus-Lennik nannte und an pompöser Trostlosigkeit kaum zu überbieten war. Allerdings hatte Charas die plumpe und protzig wirkende Architektur der ertrusischen Metropole noch nie ausstehen können.

    Nach kurzer Beratung hatten er und der Blue darauf verzichtet, die Ordnungskräfte zu informieren, und den von Tyrill paralysierten Ertruser einfach an Ort und Stelle liegen lassen. Das Einschalten der lokalen Behörden hätte nur endlose Befragungen nach sich gezogen und diesen wollte sich keiner von ihnen aussetzen. Der Springer hatte daraufhin vorgeschlagen, per Gleitertaxi ins Mehandor Inn zurückzukehren, wo er ein Zimmer … nein, eher eine Abstellkammer gemietet hatte, aber Tyrill lehnte das ab. Die Grauzone befand sich in unmittelbarer Nähe jener Seitenstraße, in der der Überfall stattgefunden hatte, und der Blue schien es aus Gründen, die sich Charas nicht erschließen wollten, mit einem Mal eilig zu haben.

    »Ich will alles über dieses Foto wissen«, sagte Tyrill Azyk kaum, dass sie sich gesetzt und zwei Krüge ertrusisches Starkbier geordert hatten. »Wo wurde es aufgenommen? Was weißt du über dieses Wesen? Ist es intelligent? Kann ich es sehen?«

    »Bei allen Halsabschneidern der Eastside«, rief der Springer gegen den Lärm der selbst zu dieser späten Stunde noch zahlreichen Zecher an. »Was ist denn plötzlich in dich gefahren? Warum bringt dich dieser vertrocknete Wurm derart außer Fassung?«

    Der Jülziish wartete, bis die Bedienung, ein Ertruserjunge mit einer fleckigen Schürze und glänzenden Pausbacken, die beiden Zweiliterkrüge auf den wuchtigen Tisch gestellt hatte und wieder verschwunden war. Charas packte das Trinkgefäß und nahm einen kräftigen Schluck. Dann wischte er sich den Schaum aus dem Bart und grinste sein Gegenüber auffordernd an.

    »Was ist?«, wollte er wissen. »Hast du keinen Durst?«

    Tyrill schob seinen Krug so heftig zur Seite, dass ein Teil des Inhalts über den Rand hinaus schwappte und sich auf die Tischplatte ergoss. Sein vorderes Augenpaar suchte den Blick des Springers und dieser fühlte sich von einer Sekunde auf die andere nicht mehr besonders wohl in seiner Haut. So hatte er seinen Geschäftspartner noch nie zuvor erlebt.

    »Darf ich dich daran erinnern«, stieß der Blue hervor, »dass du es warst, der mich um eine Unterredung gebeten hat? Darf ich dir weiterhin ins Gedächtnis rufen, dass dir ohne mich ein schäbiger Teilzeitganove vor nicht einmal einer halben Stunde sein Messer in den fetten Wanst gerammt hätte? Und lass mich bei dieser Gelegenheit auch gleich noch erwähnen, dass ich nicht einmal halb so dämlich bin, wie du offenbar denkst. Ich habe die Unterlagen gesehen, die du da in deinem Täschchen mit dir herumschleppst, Charas! Du steckst bis über beide Zöpfe in Gulmendreck – und ich soll dich wieder rausziehen! Glaubst du also, dass es angesichts der herrschenden Sachlage zuviel verlangt wäre, wenn ich dich bitte, dein Saufgelage für einen Moment zu unterbrechen und mir zu sagen, was ich wissen will? Glaubst du das?«

    Mit den letzten Worten war die Stimme des Blue wieder ins Unhörbare enteilt. Charas schluckte und leckte sich die wulstigen Lippen. Trotz des gerade halb geleerten Kruges fühlte sich seine Kehle auf einmal trocken an, doch er wagte es nicht, erneut nach seinem Bier zu greifen.

    »Schon gut, schon gut«, brachte er schließlich heraus. »Reg dich bitte nicht auf. Die Geschichte ist schnell erzählt. Vor knapp zwei Wochen bekam ich ein Hypergramm von der Raumregistratur auf Volat. Ist dir dieser Name ein Begriff?«

    »Selbstverständlich. Der sechste Planet des Heperés-Systems gehört seit dem Jahr 2051 terranischer Zeitrechnung zu den Freihandelswelten. Imperator Gonozal VIII. hat dieses Status damals höchstpersönlich verfügt.«

    »Genau«, bestätigte Charas. »Dann weißt du sicher ebenfalls, dass Volat noch bis ins Jahr 2106 formell zum arkonidischen Imperium gehört hat und vorher einer der geheimen Werftplaneten der Arkoniden war. Schon kurz nach Erhalt des exterritorialen Status und dem Beginn umfangreicher Bauarbeiten wurden die Reste ausgedehnter subplanetarer Reparatureinrichtungen und Hangaranlagen entdeckt. Auch in den folgenden Jahrhunderten stieß man bei Ausgrabungen immer wieder auf Überbleibsel dieser Zeit. Vor ungefähr einem halben Jahr begann man in einem abgelegenen Vorort der Hauptstadt Kuklón mit den Vorbereitungen für die Installation einer neuen Robotfabrik. Dabei fand man in zehn Kilometern Tiefe eine fast vollständig erhaltene Lagerzeile mit insgesamt vierzehn eingemotteten Raumschiffen aus der Ära von Imperator Barkam III.«

    »Barkam III.?« Der Blue wiegte seinen fachen Tellerkopf nachdenklich hin und her. »Das muss mindestens eineinhalb Jahrtausende her sein …«

    »1514 Jahre, um genau zu sein. Die entdeckten Schiffe waren jedoch nicht einfach nur alt, sondern regelrecht verwahrlost. Dem amtierenden Handelsrat wurde schnell klar, dass die Entsorgung der Wracks und die Entgiftung der näheren Umgebung viele Millionen Solar verschlingen würden, Geld, das man aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Flaute in weiten Teilen der Milchstraße nicht besaß. Also suchte man nach Alternativen.«

    »Was hat das alles mit dem Wurm zu tun?«, erkundigte sich der Blue ungeduldig. Charas schnappte sich seinen Krug, leerte ihn mit zwei hastigen Zügen und winkte dem Ertruserjungen.

    »Das wirst du gleich erfahren«, setzte er seinen Bericht fort. »Die Ermittler des Rats fanden heraus, dass es sich bei den Raumschiffen um abgebrochene Reparaturaufträge handelte. Die ehemaligen Besitzer hatten ihre defekten Fahrzeuge den Robotwerften zur Wartung und Instandsetzung übergeben, konnten dann jedoch die Rechnung nicht begleichen. Die Arkoniden waren in dieser Hinsicht stur und behielten die Schiffe einfach als Pfand ein. Einer dieser Raumer war eine Mehandor-Walze mit dem Namen CHAR III.«

    »Interessant. Offenbar war ein entfernter Verwandter von dir damals knapp bei Kasse, ein Zustand, an dem sich über die Generationen hinweg anscheinend nichts geändert hat …«

    »Du bist wie immer zum Brüllen komisch, Flachbirne«, gab Charas säuerlich zurück. »Wie schon gesagt, erreichte mich vor zwei Wochen dieses Hypergramm.« Er wühlte in seiner Tragetasche und förderte einen dreiseitigen Folienausdruck zutage, den er dem Blue reichte. Tyrill studierte das Schriftstück und stieß ein durchdringendes Pfeifen aus. Einige der umsitzenden Gäste warfen dem ungleichen Pärchen böse Blicke zu.

    »129 Millionen Solar?« Der Halsmund des Gatasers vibrierte wieder – wie Charas wusste, ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Blue Ultraschalllaute produzierte. Wahrscheinlich lachte er sich gerade seinen ovalen Schädel rund.

    »Und 63 Soli«, fügte der Springer resignierend hinzu. Ihm war alles andere als zum Lachen zumute. Mürrisch schnappte er sich den Ausdruck des Hypergramms und zitierte aus dessen Text: »Zahlbar innerhalb des laufenden Kalenderjahres 3114 oder spätestens mit drei Monaten Verzug und unter Berücksichtigung eines dann zu erhebenden Aufgelds von zehn Prozent der Fälligkeitssumme.«

    »Wofür, bei der eitrigen Kreatur des Wuchers, stellt dir die Raumregistratur auf Volat sagenhafte 129 Millionen Solar in Rechnung?« Tyrill Azyk packte seinen Krug, von dem er nicht einmal genippt hatte, mit beiden Händen und schob ihn dem Springer hin. Offensichtlich war er der Meinung, dass der Händler einen weiteren Schluck gut gebrauchen konnte, und Charas stimmte dem Blue vorbehaltlos zu.

    »Liegegebühren, Steuern, Verwaltungsabgaben, anteilige Beiträge zur Schuldnerermittlung, Säumniszuschläge, Jahresgelder, Versicherungsprämien, Kompensation für entgangenen Nutzen – oh ja, und natürlich die Übernahme sämtlicher Kosten für die umweltgerechte Beseitigung einer erwiesenermaßen gesundheitsschädlichen festen, flüssigen oder gasförmigen Sache im Gebiet des Verwaltungsträgers oder seiner Rechtsnachfolger.«

    »Da sammelt sich in 1500 Jahren wohl so einiges an.«

    »Auch wenn ich es nicht hören kann:«, zischte der Springer wütend. »Ich weiß, dass du dich über mich lustig machst!«

    »Warum ignorierst du den albernen Schrieb nicht einfach?«, fragte Tyrill. »Es kann doch unmöglich sein, dass du

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