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Hüter der verborgenen Bücher: Band 2
Hüter der verborgenen Bücher: Band 2
Hüter der verborgenen Bücher: Band 2
Ebook459 pages6 hours

Hüter der verborgenen Bücher: Band 2

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About this ebook

Der Kampf um die mächtigen Bücher Arcanastras geht weiter. Kurz vor ihrem dreizehnten Geburtstag wird Emily Rubinstern gewarnt: Ein mörderisches und erbarmungsloses Wesen soll sich auf dem Weg zu ihr befinden, ein Winterwolf. Zudem beschäftigen sie drängende Fragen. Wonach sucht die Gilde der Geister so fieberhaft? Und weshalb interessiert sie sich für ein verschollenes Mitglied der Familie Rubinstern? Als Emily mit Hilfe ihrer Freunde auf ein fast vergessenes Geheimnis stößt, findet sie endlich Antworten, doch sie gerät dabei in große Gefahr.
LanguageDeutsch
Publisher110th
Release dateNov 24, 2014
ISBN9783958652842
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    Hüter der verborgenen Bücher - Karin Richner

    werden.

    Prolog

    Niemals zuvor hatte der Junge einen solchen Sturm erlebt. Grelle Blitze rissen den Nachthimmel auf und beleuchteten düstere Wolkenberge. Donnerschläge krachten so heftig, dass sie das Luftschiff zum Erzittern brachten. Der rasende Wind ließ es taumeln, und Regentropfen knallten wie Geschosse gegen die Hülle.

    „Wir stürzen ab, murmelte der Junge vor sich hin. „Ganz bestimmt stürzen wir ab.

    Zitternd kauerte er in einer Ecke und schaute auf das Chaos, das um ihn herum ausgebrochen war. Gepäck, Glassplitter, Zeitungen, abgebrochene Holzstücke, Geschirr und Gaslampen bedeckten den Boden. Die Scheiben vor den runden Fenstern wiesen Sprünge auf. Durch die hölzerne Decke zog sich ein gezackter Riss, als würde das Luftschiff nächstens auseinanderbrechen. Verängstigt klammerten sich die Passagiere an ihre Sitze – alle bis auf einen. Der gut gekleidete blonde Mann saß seelenruhig auf seinem Platz.

    „Ein Luftschiff hält mehr aus als diesen kleinen Sturm", knurrte er in Richtung seines Sitznachbarn, dessen Haut eine grünliche Farbe angenommen hatte. Dann widmete er sich wieder dem Stapel von Papieren in seinen Händen.

    Von der Passagierliste wusste der Junge, dass der Mann ein Parlamentsmitglied war. Bevor ihm jedoch dessen Name einfiel, erfüllte ein weiterer Blitz den Raum mit hellem Licht. Gleichzeitig dröhnte der Donnerschlag. Der Junge presste sich die Hände auf die Ohren. Wie war er nur in diesen Alptraum geraten? Erst vor wenigen Minuten waren sie in Sieben-Drachen-Stadt gestartet, bei klarem Himmel und Windstille, und dann, wie aus dem Nichts, war dieser Sturm losgebrochen.

    In diesem Moment erschien ein Astronavigator vor dem Jungen.

    „Was glaubst du, was du hier tust? Wir brauchen dich unten!", schimpfte er, während er ihn auf die Füße zog. Er schleppte ihn hinter sich her aus dem Passagierraum und über einige schmale Treppen hinunter in den Bauch des Luftschiffes.

    „Ich kann nicht", jammerte der Junge. Vergeblich versuchte er, sich loszureißen.

    „Du gehörst zur Besatzung!, herrschte ihn der Astronavigator an. „Also mach gefälligst deine Arbeit!

    Widerstrebend suchte sich der Junge einen Weg durch die schmalen Durchgänge. Zwischen all den dampfenden Rohren, Hebeln, Rädchen, stampfenden Zylindern und Messgeräten eilten ein Dutzend Astronavigatoren herum und riefen einander Anweisungen zu.

    „Dieser Sturm ist einfach nicht normal!, schrie einer der Männer, die hastig an einer Zahnradkonstruktion drehten. „Viel zu heftig für diese Jahreszeit …

    Einige andere nickten mit grimmigen Gesichtern, während weitere Stöße das Luftschiff schüttelten.

    Als sich der Junge an ihnen vorbeigeschoben hatte, winkte ihm eine Astronavigatorin zu, die kaum älter war als er selbst.

    „Ach, da bist du ja. Du musst raus, ein Propeller ist ausgestiegen", sagte sie und zeigte auf eine Klappe im Boden.

    „Ich soll da raus? Jetzt?", stotterte der Junge.

    „Wie sollen wir den Propeller denn sonst austauschen?", erwiderte die Astronavigatorin ungeduldig. Sie schob den Riegel zurück, der die Klappe verschloss, und zog sie auf. Im nächsten Moment wurde sie ihr von einem heftigen Windstoss aus der Hand gerissen. Krachend knallte sie gegen den Boden. Ein eisiger Lufthauch fuhr ins Luftschiff und wirbelte Regen mit sich.

    „Los, mach schon!", schrie die Astronavigatorin gegen den Lärm.

    Der Junge wusste genau, was von ihm erwartet wurde. Schon Dutzende Male war er aus dieser Luke geklettert, über den schmalen metallenen Steg gekrochen und hatte den kleinen Propeller am Ende ausgetauscht. Es war keine große Sache… wenn nicht gerade ein unbeschreiblicher Sturm wie dieser tobte. Heftig schüttelte er den Kopf.

    „Willst du etwa, dass wir abstürzen?", fragte die Astronavigatorin.

    Eigentlich konnte sich der Junge kaum vorstellen, dass sie tatsächlich wegen diesem lächerlichen winzigen Propeller abstürzen könnten. Aber so genau wusste er über Luftschiffe nun doch nicht Bescheid.

    „Na gut, ich gehe", murmelte er widerstrebend.

    Aus einer Kiste holte er einen Ersatzpropeller heraus. Er steckte ihn in einen Beutel, den er sich umhängte, dann trat er vorsichtig zu der Luke. Schaudernd schaute er in den rasenden Sturm hinaus.

    „Na los, geh", drängte die Astronavigatorin.

    Kaum war der Junge aus der Luke gestiegen, umgab ihn das Unwetter von allen Seiten. Wind zerrte an ihm, und der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Schon nach Sekunden war er völlig durchnässt und zitterte vor Kälte. Mit aller Kraft umklammerte er den eiskalten, nassen Steg. Noch immer zuckten Blitze und erhellten die finsteren Wolken, Donner grollte, und das Luftschiff schlingerte gefährlich. Voller Angst schob sich der Junge vorwärts. Noch nie war ihm dieser Steg so lang vorgekommen, doch irgendwann erreichte er den kaputten Propeller. Gerade wollte er die Hand nach ihm ausstrecken…

    Ein greller Blitz zerriss die Nacht. Im selben Augenblick krachte der Donnerschlag, und ein Baum direkt unter dem Luftschiff explodierte in einem Feuermeer. Der Junge starrte durch die Streben nach unten. Zuckend warfen die Flammen Licht und Schatten auf den Boden, und für einen Moment erblickte der Junge einen Schatten, der unter ihm dahin jagte, den Schatten eines Raubtieres …

    Der Junge blinzelte. Er wusste, was er gesehen hatte, doch das konnte nicht sein … das durfte nicht sein …

    Das Luftschiff taumelte vorwärts. Schon lag der brennende Baum hinter ihm, und die Finsternis des Sturms hüllte es erneut ein.

    Der Junge aber starrte noch immer in die Dunkelheit.

    Viele Meilen entfernt, war von dem Sturm nichts zu spüren. Nur Regen fiel, stetig und schon seit Stunden.

    Das Zimmer war düster. Alle Fensterläden hatte man geschlossen, dennoch drang das spärliche Licht einer Straßenlampe durch die Ritzen. Es warf die wabernden Schatten des Wassers in den Raum, das die Scheiben hinunter rann. Das leise Trommeln des Regens vermischte sich mit dem Zischen und Spucken der einzigen kleinen Gaslampe, die im Zimmer brannte.

    Eine dunkel gestreifte Tapete bedeckte die hohen Wände. Es gab Bücherregale aus glatt poliertem Holz, einige grün gepolsterte Sessel und Tischchen aus Mahagoni. Auf dem Boden lagen mehrere rot gemusterte Teppiche. In einer Ecke führte eine Treppe nach oben und verlor sich in der Dunkelheit. Der Kamin daneben sah nicht so aus, als wäre er in letzter Zeit benutzt worden.

    In einem der Polstermöbel hockte Crispin. Er hatte sich tief in den Sessel vergraben, und seine Hände waren um die hölzernen Lehnen geklammert. Sein Herz pochte schnell. Ihm gegenüber saß der Grünäugige und musterte ihn. Crispin hatte gerade eben erfahren, dass der Mann zur Gilde der Geister gehörte.

    „Es ist wirklich wahr?", fragte er zögernd.

    „Das ist es", antwortete der Geist mit heiserer Stimme.

    Bis vor wenigen Monaten hatte Crispin noch nicht einmal von der Existenz der Gilde gewusst. Irgendwann aber waren immer mehr Gerüchte aufgekommen. Man munkelte, die Geister hätten die Irrlichter unter ihre Kontrolle gebracht und würden sie hinaus in die nächtlichen Städte schicken, um Menschen zu entführen, auch wenn keiner sagen konnte, wozu sie das taten. Mehr hatte Crispin über die Gilde nicht erfahren. Er hatte weder gewusst, woher sie gekommen war, noch was ihre Pläne sein mochten. Auch die Gauklerfamilie, mit der er herumgezogen war, hatte ihm nicht mehr darüber erzählen können.

    Dann war Crispin nach Arcanastra gekommen. Er hatte hier und dort etwas aufgeschnappt und dabei herausgefunden, dass die Hüter ebenso ratlos waren. Etwas allerdings wussten sie genau, und sie erzählten es sich hinter vorgehaltener Hand, wenn sie dachten, Crispin würde es nicht hören: Dass es einer der Geister gewesen war, der Crispins Namen im Buch der Auserwählten gegen den eines anderen Hüters ausgetauscht hatte.

    Diese Tatsache verwirrte Crispin noch immer. Warum interessierte sich die Gilde für ihn, ein Findelkind? Warum hatte sie ihn zu einem Hüter gemacht? Er hatte niemals etwas mit den Geistern zu tun gehabt.

    Die anderen Hüter waren jedoch überzeugt davon, dass Crispin ein Mitglied der Gilde war. Von Anfang an hatten sie es ihm zu spüren gegeben. Bei der Erinnerung daran ballte Crispin die Faust. Er hatte sich vielleicht mehr als je ein Junge zuvor auf Arcanastra gefreut. An diesem Ort würde er endlich ein Zuhause finden, hatte er gedacht, eine echte Aufgabe und eine Bestimmung.

    Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Crispin wurde voll Misstrauen beobachtet, und die Abneigung und Verachtung der Hüter schlugen ihm entgegen wie eine Welle. Crispin hatte die schlimmsten Tage seines jungen Lebens hinter sich.

    Tief in ihm hatte ein glühender Hass zu wachsen begonnen. Wie Gift war er in seine Blutbahn gedrungen, wurde von seinem Herzen mit jedem Schlag durch seinen Körper gepumpt und würde schon bald jede Faser seines Wesens durchdringen. Manchmal erschrak Crispin beinahe vor der Heftigkeit seiner Gefühle.

    Er war ein rechtmäßiger Hüter, sagte er zu sich selbst, während er den Gedanken daran zur Seite schob, wie sein Name ins Buch der Auserwählten gelangt war. Er hatte dasselbe Recht wie jeder andere Hüter, in Arcanastra zu sein. Sie durften ihn nicht so behandeln, sondern mussten ihn als einen der ihren akzeptieren. Das war alles, was Crispin sich wünschte.

    Und etwas, das niemals geschehen würde, das wusste er bereits.

    „Dann … gehöre ich auch zur Gilde?", fragte er mit einer Mischung aus Hoffnung und Schaudern.

    Die eisigen grünen Augen des Geistes ruhten einen Moment lang auf Crispin.

    Der Junge fröstelte. Die Nähe zu diesem Mann ließ ihn wie immer vor Kälte erzittern, doch da war auch noch etwas anderes – eine seltsame Faszination, die von dieser Aura der Macht und der Rücksichtslosigkeit ausging.

    „Würdest du dir das denn wünschen?", fragte der Geist zurück.

    Unruhig umschloss Crispin die Lehnen seines Sessels.

    „Die Hüter sagen, die Gilde sei gefährlich und böse", entgegnete er vorsichtig.

    Der Geist stieß ein heiseres Lachen aus. Seine Augen blitzten bedrohlich.

    „Dann denk darüber nach, wer dich besser behandelt hat, forderte er Crispin auf. „Die Hüter oder die Gilde?

    „Die Gilde", antwortete Crispin zögernd.

    Der Geist nickte zufrieden. „Also nochmals … willst du zur Gilde gehören?"

    Crispins Herz flatterte wie ein gefangener Vogel in seiner Brust, doch er gab sich Mühe, mit fester Stimme zu antworten.

    „Natürlich", sagte er.

    Der Geist musterte ihn schweigend.

    „Wir müssen vorsichtig sein, meinte er schließlich. „Die Hüter wissen, dass es die Gilde war, die dich nach Arcanastra gebracht hat. Vorläufig ist es deine hauptsächliche Aufgabe, dort zu leben und so viel wie möglich zu lernen. Doch etwas könntest du tun.

    Crispin blinzelte nervös.

    „Versuch, Freunde zu finden, fuhr der Geist mit seiner flüsternden, heiseren Stimme fort. „Es wird nicht leicht sein unter den gegebenen Umständen, doch für die Gilde könnte es irgendwann von entscheidender Bedeutung sein.

    „Ich werde es versuchen", nickte Crispin rasch.

    „Nun denn. Der Geist erhob sich aus dem Sessel. „Wir werden sehen, als wie nützlich du dich erweist.

    „Ich werde die Gilde nicht enttäuschen", versicherte Crispin.

    Als er in die kalten, grausamen Augen des Geistes blickte, wusste er, dass das auch nicht ratsam war.

    „Warte hier, befahl der Mann. „Ich habe noch etwas zu erledigen, bevor ich dich zurückbringe.

    Er durchquerte das Zimmer und verschwand über die Treppe ins obere Stockwerk.

    Crispin atmete auf. Er fühlte sich wie befreit, als der Geist den Raum verlassen hatte. Eine Weile blieb er einfach sitzen und hörte dem Regen zu, der inzwischen heftiger geworden war. In der Ferne grollte Donner. Es wäre schön gewesen, im Kamin ein prasselndes Feuer zu entzünden, dachte der Junge.

    In einer Ecke tickte eine Uhr. Als ein paar Minuten vergangen waren, stieß Crispin sich aus seinem Sessel hoch und schlenderte zur Treppe. Er lauschte. Gedämpft waren die Stimmen einiger Männer zu hören, darunter diejenige des Grünäugigen. Crispin zögerte kurz. Dann begann er damit, die Stufen so leise wie möglich emporzusteigen.

    Der Raum, in den er blickte, war noch düsterer als der untere. Auf einem Tischchen brannte ein Kerzenstummel, und darum herum waren sieben Sessel verteilt. In jedem von ihnen saß ein Mann mit einem Umhang, schwarz wie die Nacht, und alle hatten sie die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Darunter trugen sie Masken – weiß wie Elfenbein, mit schnabelartigen Auswüchsen an Stelle der Nase und großen runden Löchern, hinter denen die Augen im Schatten verborgen lagen. Nur einer der Männer hatte sein Gesicht nicht verhüllt. Als er den Kopf hob und das Licht der Kerze über seine Haut flackerte, erkannte Crispin den Grünäugigen.

    Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass dies ein Treffen der Gilde sein musste.

    „Unser Plan war also erfolgreich", stellte einer der Männer in diesem Moment fest. Seine Stimme klang hohl hinter der Maske.

    Der Grünäugige nickte. „Crispin konnte Arcanastra betreten. Das Buch der Auserwählten hat seinen Namen akzeptiert."

    „Leider wissen die Hüter, dass wir das Buch dazu gebracht haben", entgegnete der andere. Der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören.

    „Es spielt keine Rolle, erwiderte der Grünäugige gelassen. „Ich gebe zu, das Leben in Arcanastra wird für den Jungen unter diesen Umständen etwas schwieriger, aber das sollte uns nicht kümmern.

    Crispin, der auf der drittobersten Stufe der Treppe in der Dunkelheit stand, fühlte bei diesen Worten einen schmerzhaften Stich.

    „Wie viel weiß der Junge?", fragte ein anderer der sieben Geister.

    „Nichts, flüsterte der Grünäugige. „Er weiß nichts.

    „Ein weiser Entschluss, nickte der Fragende. „So kann er auch nichts verraten.

    Crispin war allerdings ganz anderer Ansicht. Er hätte etwas über die Pläne der Gilde wissen wollen, um sie unterstützen zu können … er brannte darauf, den Geistern zu beweisen, wie nützlich er war.

    „Hast du schon mehr herausgefunden über …" Der Geist, der die Frage gestellt hatte, machte eine bedeutungsvolle Pause.

    „Das habe ich", bestätigte der Grünäugige.

    Und während er erzählte, was er wusste und was er erreichen wollte, hörte Crispin genau zu. Als er genug erfahren hatte, schlich er die Treppe so leise wieder hinunter, wie er sie zuvor hochgestiegen war. Dann sank er zurück in seinen Sessel.

    Darum ging es also, dachte er, während seine Finger auf die hölzerne Lehne trommelten und der Regen weiterhin gegen die Fenster prasselte. Wenn die Gilde erfolgreich wäre … wenn ihr Vorhaben gelingen würde … dann wäre sie so mächtig wie nie zuvor, mächtiger vielleicht sogar als die Hüter. Diese Vorstellung ließ Crispins Herz schneller schlagen, sowohl vor Erregung als auch vor plötzlicher Furcht.

    Er würde der Gilde dabei helfen, ihren Plan auszuführen, ohne den Geistern etwas davon zu erzählen. Wenn er Erfolg hatte, wäre der Grünäugige sehr zufrieden mit ihm, und die Geister würden ihm Hochachtung entgegenbringen. Dann müssten sie ihn in die Gilde aufnehmen, als einen der ihren.

    Crispin schloss die Augen, horchte auf das stetige Plätschern des Regens, das sich mit den leisen Stimmen aus dem oberen Stock vermischte, und dachte daran, dass sich seine Hoffnungen und Pläne für die Zukunft in den vergangenen Minuten radikal geändert hatten.

    Er wollte nun mehr werden als nur ein Hüter.

    Er würde einer der gefürchteten Geister sein.

    Der Traum des Winterwolfes

    Eine friedliche Stille lag über Keplers Kaffeehaus. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich durch die staubigen Fenster und lösten Mosaiktische, vertrocknete Blumensträuße und goldene Kronleuchter aus der Dämmerung. Eine leichte Brise verfing sich in den Vorhängen, und von irgendwo in der Ferne war das Zwitschern einer Amsel zu hören. Der Wirt döste hinter der Theke vor sich hin. Sogar Hilda, sein freches Huhn, saß gemütlich aufgeplustert neben ihm, gluckste zufrieden und hatte ausnahmsweise keinen Unsinn im Kopf.

    Auch im oberen Stock war es ruhig. Es gab dort zwei winzige Zimmer mit Bad, die man mieten konnte. Eines davon wurde von Emily Rubinstern bewohnt. In diesem Moment blinzelte sie, weil die aufgehende Sonne ihr direkt ins Gesicht schien. Bevor sie jedoch richtig aufwachen konnte, drehte sie sich auf die andere Seite und schloss die Augen wieder. Es war ein wunderbarer Morgen zum Ausschlafen.

    Allerdings nur noch für fünf Minuten. Dann brach das Chaos los.

    „Ich will hier nicht rein!"

    „Aber Cornelius, guck doch mal, da drin gibt es sogar ein Huhn, ist das nicht toll?"

    „Hühner mag ich nicht!"

    „Das legt dann vielleicht ein Ei, extra für dich zum Geburtstagsfrühstück …"

    „Eier mag ich auch nicht!"

    „Aber Cornelius, guck doch mal …"

    Emily steckte den Kopf unter ihr Kissen. Mussten sich die beiden ausgerechnet vor dem Kaffeehaus streiten? Dann ertönte ein KNALL, und sie schreckte hoch. Benommen tappte sie zum Fenster und schob den Vorhang vorsichtig zur Seite. Auf dem Gehsteig unten standen eine Frau und ein kleiner Junge. Dieser war etwa vier Jahre alt und trampelte gerade auf den Überresten eines zerplatzten Luftballons herum.

    „Der schöne Ballon", klagte die Frau.

    „Luftballons mag er wohl auch nicht", murmelte Emily.

    Schließlich gelang es der Frau, den Kleinen zum Eingang des Kaffeehauses zu ziehen. Als die beiden verschwunden waren, seufzte Emily erleichtert auf und kroch zurück ins Bett. Wenn sie die Augen schnell wieder zumachte und sich unter die Decke kuschelte, war sie bestimmt gleich wieder eingeschlafen.

    Sie hatte allerdings nicht mit Cornelius gerechnet. Aus dem unteren Stock drangen furchterregende Geräusche herauf. Es schepperte und klirrte, jemand schrie markerschütternd, und Hilda erlitt wohl gerade einen Herzinfarkt, so aufgeregt gackerte sie. Emily riss die Augen auf und starrte an die Zimmerdecke. Jetzt war sie endgültig wach.

    Glücklicherweise schlug bald darauf eine Tür zu. Cornelius` Geschrei war noch eine Weile von der Straße herauf zu hören, dann kehrte wieder Ruhe ein im Kaffeehaus.

    Ächzend stemmte Emily sich aus ihrem behaglichen Bett. Angezogen war sie schnell – jetzt im Juli reichten ein Rock und ein T-Shirt. Sie band sich die langen Haare zusammen, dann warf sie einen Blick ins Zimmer nebenan. Ihre Eltern schienen von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen zu haben, sie schliefen immer noch seelenruhig. Also zog Emily die Zimmertür leise zu und stieg allein die Treppe hinunter.

    „Guten Morgen", sagte sie und schaute sich verblüfft um.

    Das Kaffeehaus sah fürchterlich aus. Stühle waren umgekippt, die Spitzendeckchen auf den Tischen verrutscht, Porzellanscherben lagen herum, und offensichtlich hatte Hilda vor lauter Schreck ein Ei gelegt. Jemand hatte es gegen das Fenster geworfen, wo es jetzt klebte und langsam nach unten tropfte.

    „Morgen", murmelte Erasmus, der Wirt. Entgeistert stand er mitten im Raum und starrte er auf das Durcheinander, das der kleine Junge angerichtet hatte. Im Arm hielt er die aufgebracht gackernde Hilda. Nur langsam fasste er sich wieder.

    „Setz dich, sagte er zu Emily und rückte einen Stuhl für sie zurecht. „Du kannst trotzdem Frühstück bekommen.

    Er brachte ihr eine Tasse dampfenden Kakao und einen Korb mit frischen Sesambrötchen. Das war Emilys Lieblingsfrühstück, seit sie hier wohnte, denn alles andere war ungenießbar. Dann machte Erasmus sich daran, das Kaffeehaus wieder aufzuräumen.

    „Dieser Junge …", murmelte er dabei kopfschüttelnd vor sich hin. Hilda gackerte in zustimmender Empörung.

    Während Emily ihren Kakao schlürfte, schaute sie durch das eiverschmierte Fenster. Keplers Kaffeehaus lag in einer sehr ruhigen Gegend. Nur wenige Leute kamen hier durch, und der Oldtimer ihrer Eltern parkte halb auf dem Gehsteig, ohne dass sich jemand daran störte. Emily hatte sich mehr als einmal gefragt, wie Erasmus sein Kaffeehaus behalten konnte, denn seit Tagen hatte sich kaum ein Gast dorthin verirrt. Cornelius und seine Mutter waren eine Ausnahme gewesen. Emily hatte das Kaffeehaus nur ein einziges Mal mit Leuten gefüllt gesehen: An dem Nachmittag nämlich, als sie dort angekommen war. Wahrscheinlich hatte sich die Gruppe bloß verirrt und war zufällig in Keplers Kaffeehaus gelandet.

    So hatten Emily und ihre Eltern eine ziemlich ruhige Zeit verbracht. Sie hatten jeden Morgen ausgeschlafen, zusammen gefrühstückt und dann den Rest des Tages im nahen Park und im Schwimmbad verbracht. Sie hatten Tonnen von Eis gegessen und sich von der Sonne bräunen lassen. Emily hatte Zeit gehabt, ihren Eltern alles zu erzählen, was sie in Arcanastra tagtäglich erlebte. Staunend und gleichzeitig besorgt hatten sie zugehört.

    „Ein gefährlicher Ort", hatte ihre Mutter schließlich bemerkt.

    „In Arcanastra ist es überhaupt nicht gefährlicher als hier", hatte Emily sich verteidigt. „Dein Beruf ist auch riskant. Weißt du nicht mehr, als du bei dieser Ausgrabung beinahe verschüttet worden wärst? Und damals, als du das Grab dieses römischen Soldaten entdeckt hast, da hat dich eine giftige Schlange gebissen, und du wärst fast gestorben!"

    „Na ja", hatte ihre Mutter darauf nur gesagt.

    Mein Beruf ist jedenfalls völlig ungefährlich", hatte Levin Rubinstern gemeint und dabei seine Brille zurechtgerückt. „Das Abenteuerlichste, was jemals passiert ist, war diese winzige Explosion, als ich den Chemielehrer vertreten habe. Seither lassen sie mich sowieso nur noch Latein unterrichten."

    An diesem friedlichen Ort kamen Emily ihre Abenteuer manchmal fast unwirklich vor. War sie tatsächlich mit ihrer Katze Amethyst zusammen in eine andere Welt gegangen? Hatte sie dort wirklich als Buchbinder gearbeitet und die Gabe bekommen, sich mit Amy über Gedanken zu unterhalten? Und die ganze Geschichte um die Gilde der Geister, die Entführung von Linus und Finn, die Irrlichter … war das alles tatsächlich geschehen?

    Wenn sie nicht mehr sicher war, ging Emily zum Hinterausgang des Kaffeehauses. Sie öffnete die Tür – und schaute direkt auf eine belebte Straße mitten in der Ringstadt, in die Welt von Arcanastra. Dann schloss sie die Tür erleichtert wieder. Alles war noch da, genau so, wie sie es kannte. Sie versuchte aber kein einziges Mal, über die Schwelle zu treten und tatsächlich nach drüben zu gehen. Obwohl sie wusste, dass es funktionieren würde, hatte etwas sie bisher immer zurückgehalten.

    Emily hatte sich oft gefragt, ob sie wirklich nach Arcanastra zurückkehren wollte. Es hatte ihr gefallen dort. Sie hatte Freunde gefunden, ihre Großtante Sophia war nett, und ihr Leben war sehr viel aufregender gewesen als zuvor. Emily hatte jedoch nicht vergessen, wie sehr sie ihre Eltern vermisst hatte und was mit ihrem Gedächtnis geschehen war … dass die Erinnerung an ihre Eltern auf einmal immer blasser geworden war. Diese Entdeckung hatte Emily sehr beunruhigt. Sie hatte Angst davor, sich irgendwann gar nicht mehr an ihre Eltern zu erinnern, wenn sie erneut nach Arcanastra ging. Dass sie überhaupt vergessen würde, aus welcher Welt sie eigentlich stammte.

    Entschlossen schob Emily den Stuhl zurück. Es war ein zu schöner Tag, um sich Sorgen zu machen. Die Sonne schien jetzt mit voller Kraft durch das Fenster und tauchte das Kaffeehaus in freundliches Licht. Erasmus hatte einigermaßen Ordnung geschaffen. Nur das Ei tropfte noch von der Scheibe.

    „Irgendwelche großen Pläne für heute?", fragte der Wirt.

    Emily zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich sehe mal nach, ob meine Eltern schon wach sind."

    Hinter der Zimmertür war es aber noch immer still. Eine Weile blieb Emily unschlüssig im Flur stehen. Was sollte sie unternehmen? Allein ins Schwimmbad oder in den Park gehen, oder durch das Viertel bummeln?

    Oder …

    Emily wurde klar, dass sie eigentlich schon seit einer ganzen Weile daran gedacht hatte. Zögernd ging sie zur Hintertür des Kaffeehauses.

    Diese befand sich am Ende eines schmalen Korridors und sah aus wie eine ganz normale Tür. Sie war aus Eichenholz gefertigt und wies zahlreiche Wurmlöcher auf. Die Klinke bestand aus angelaufenem Messing. In der Nische auf der rechten Seite war die Garderobe, die von keinem benutzt wurde. Nur ein fadenscheiniges Jackett hing dort und setzte immer mehr Staub an. Auf der linken Seite gab es eine enge Kammer mit einem uralten Telefon, das noch eine Wählscheibe besaß. Einmal hatte es sogar geklingelt. Als Emily den Hörer abgehoben hatte, war allerdings niemand am anderen Ende gewesen.

    Emily streckte die Hand aus, drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür einen Spalt weit. Sofort drangen verschiedenste Geräusche an ihr Ohr: Das Rumpeln einer Straßenbahn, Gespräche, das Gekläff wütender Hunde. Helles Sonnenlicht flutete in den düsteren Korridor, in dem Emily stand.

    Dann öffnete sie die Tür ganz, trat über die Schwelle und zog die Tür hinter sich zu.

    Sie befand sich in einer Seitenstraße der Ringstadt. Wie Emily es von den Orten dieser Welt gewohnt war, wirkte alles etwas altmodisch: Die imposanten Fassaden der Häuser, die Zäune aus Schmiedeisen, das Pflaster, die kunstvoll gedrehten Laternenpfähle, die Schriften der Plakate, die an einer Litfaßsäule hingen, die Kleidung der Leute. Die Frauen trugen meist bodenlange Röcke und dazu Blusen, die sie in den Bund gesteckt hatten, zudem kleine Hütchen. Die Männer waren in Anzüge gekleidet, trugen Gehstöcke, und auf ihren Köpfen saßen Zylinder.

    In diesem Moment bog eine Bahn um die Ecke. Sie hatte einen ungewöhnlichen Antrieb, der sich am Ende des hintersten Wagens befand. Über einer Eisenschale kreisten kleine Kugeln rasend schnell um einen silbernen Kern. Emily war noch immer fasziniert davon, auch wenn sie diese Art von Antrieb unterdessen schon oft gesehen hatte.

    Das Gefährt hielt beim kleinen Bahnhof auf der Straßenseite gegenüber. Mit seinen Säulen und Bögen aus Backsteinen wirkte er ebenfalls so, als stamme er aus einem längst vergangenen Zeitalter.

    Auf dem Bahnsteig stand ein Junge mit einem dicken Bündel Zeitungen über dem Arm. Sobald die Leute ausgestiegen waren, rief er:

    „Morgenausgabe! Hauptartikel: Winterwolf angeblich in Distrikt I von Sieben-Drachen-Stadt gesichtet! Parlamentarier zu keiner Stellungnahme bereit! Morgenausgabe!"

    Man konnte nicht behaupten, dass er ein gutes Geschäft machte. Die meisten Leute drängten sich achtlos an ihm vorbei, andere zogen spöttisch die Augenbrauen hoch. Kaum jemand nahm überhaupt eine der Zeitungen in die Hand.

    „Unglaublich", murmelte ein älterer Herr, als er an Emily vorüberschritt.

    „Aus dem absurdesten Gerücht machen sie einen Hauptartikel."

    Emily trat neugierig näher. Der Junge hielt die Zeitungen so, dass sie die ersten Abschnitte des Artikels lesen konnte:

    Winterwolf in Sieben-Drachen-Stadt?

    Wie diese Zeitung erfahren hat, schlich am gestrigen Abend angeblich ein Winterwolf durch Distrikt I von Sieben-Drachen-Stadt. Eine Bewohnerin lief ihm über den Weg, nachdem sie gerade ein Wirtshaus verlassen hatte.

    „In der Gasse war es ziemlich düster, denn die Gaslampe funktionierte nicht richtig, erzählt sie. „Und da stand auf einmal dieses riesige Ungeheuer vor mir, mit eisblauen Augen und rabenschwarzem Fell. Ich wusste gleich, dass es ein Winterwolf sein musste. Dann bin ich ihn Ohnmacht gefallen. Als ich wieder zu mir kam, war das Tier verschwunden. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch am Leben bin.

    Tatsächlich hat noch kein Mensch den Angriff eines Winterwolfes überlebt, denn diese Tiere sind größer, schneller, intelligenter und tödlicher als normale Wölfe – und unheimlicher. Sie sind Geschöpfe der Nacht, der Dunkelheit. Außerdem leben sie in der Nähe von Gräbern. Bisher dachte man, dass sie sich nicht sehr weit davon entfernen können, dass man also vor Winterwölfen sicher ist, wenn man nicht gerade nachts über einen Friedhof spaziert.

    Die Begräbnisstätte von Sieben-Drachen-Stadt liegt allerdings in Distrikt VII … hat sich diese Frau also getäuscht? Sie hatte zuvor im Wirtshaus „ein oder zwei Bier" getrunken … vielleicht ist sie nur einem ganz gewöhnlichen Wolf begegnet, den der Hunger in die Stadt getrieben hat. Aber was, wenn sie doch Recht hat? Wenn Winterwölfe gar nicht an Gräber gebunden sind, sondern sich frei bewegen können? Dann würden sich nicht nur die Einwohner von Sieben-Drachen-Stadt in größter Gefahr befinden. Es ist…

    Der Rest des Artikels war verdeckt.

    Emily wollte näher herangehen, um den Bericht zu Ende lesen zu können. In diesem Moment aber flüsterte jemand:

    „Weißt du, wovon er träumt, der Winterwolf, wenn er sich zum Schlafen niederlegt?"

    Emily schaute sich um. Die Stimme war aus der Mauernische gekommen, vor der sie stand. Darin war es aber so finster, dass sie nichts erkennen konnte.

    Weißt du es?", wisperte es direkt in ihr Ohr.

    Erschrocken stolperte Emily zurück.

    „Wer bist du?", fragte sie und starrte in die Finsternis.

    „Er träumt, flüsterte die Stimme weiter, „von einem schneebedeckten Feld. Da ist nichts, nur eine endlose weiße Fläche und kalte Flocken, die dicht vom verdeckten Himmel segeln.

    Etwas Seltsames geschah. Emily hörte die gewisperten Sätze, und auf einmal sah sie tatsächlich, wovon die Stimme sprach, als wäre die Geschichte Wirklichkeit geworden. Emily stand dort, auf diesem weißen Feld voll kaltem Schnee, und schaute hoch in den Himmel, aus dem immer weitere Flocken fielen. Weit konnte sie nicht sehen, der Horizont verschwamm hinter dem dichten Vorhang aus fallendem Schnee, und doch fühlte Emily die Gegenwart eines Wesens, bedrohlich und lauernd in der Dämmerung …

    Vor ihr lagen drei Gräber.

    Über zwei von ihnen wölbten sich sanfte Schneehügel. Das dritte befand sich einige Meter weiter entfernt, und Emily konnte es nicht genau erkennen. Hinter den Gräbern standen Marmorsteine, die mit einer feinen Schicht Schnee bedeckt waren, so dass Emily die Inschriften darauf nicht lesen konnte – wenn es überhaupt welche gab.

    Emilys Atemwolken blieben in der eisigen Luft hängen. Sie blinzelte Schneeflocken weg, die sich in ihren Wimpern verfangen hatten, und trat zögernd zum ersten Grab. Sie konnte nicht widerstehen, sie musste einfach wissen, ob da eine Inschrift war, auch wenn ihr Herz schneller schlug. Emily streckte die Hand aus. Langsam wischte sie über den Marmor, und ein Name erschien, eingraviert und mit Gold ausgefüllt …

    Rubinstern

    Emily starrte auf die Inschrift.

    Die flüsternde Stimme verstummte. Im selben Moment verschwanden die Gräber, der Schnee und das verborgenen Wesen, lösten sich in Nichts auf, und Emily sah wieder die Wirklichkeit, nämlich die belebte Straße in der Ringstadt. Benommen blinzelte sie in die dunkle Mauernische.

    „Er sucht nach dir, der Winterwolf. Aber erzähl keinem davon, hörst du, das ist sehr wichtig …", wisperte die Stimme, schon von weit weg. Dann verlor sie sich in der Ferne.

    Zitternd lehnte sich Emily gegen die Mauer. Wirre Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Gräber … fallender Schnee … etwas Lauerndes … die Inschrift Rubinstern … am erschreckendsten jedoch war der Gedanke, dass dieses furchterregende Wesen nach ihr suchte.

    Emily biss sich auf die Lippe. Warum wollte es sie finden? Was gab es für eine Verbindung zwischen ihr und dem Winterwolf? Und aus welchem Grund sollte sie niemandem davon erzählen?

    Obwohl Emily zum ersten Mal von einem Winterwolf hörte, fand sie tief in ihrem Innern die Gewissheit, dass die Stimme die Wahrheit gesagt hatte, ohne dass sie hätte erklären können, woher diese Überzeugung kam. Etwas so Seltsames hatte sie selbst in dieser Welt noch nie erlebt.

    Emily hoffte inständig, dass der Winterwolf tatsächlich an einen Friedhof gebunden war. Sieben-Drachen-Stadt lag meilenweit entfernt, und sie würde bestimmt nicht dorthin gehen … aber was, wenn das ein Irrtum war? Wenn der Winterwolf sich doch frei bewegen konnte … wenn es ihm vielleicht sogar möglich war, die Stadt zu verlassen …

    Emily stieß sich von der Mauer ab. Sie war tief in Gedanken versunken, während sie durch die Ringstadt lief. Mehrmals prallte sie mit jemandem zusammen, und einmal geriet sie beinahe vor eine Bahn. Im letzten Moment stolperte sie zur Seite.

    Bald gelangte Emily in ein Viertel, das sie gut kannte, und wurde etwas abgelenkt. Dort befanden sich das Parlamentsgebäude, ein Opernhaus und viele kleine Geschäfte. In einem davon konnte man Zylinderhüte und Gehstöcke erwerben, in einem anderen, verschiedene Sehhilfen wie Monokel und Zwicker. Emilys Lieblingsladen verkaufte alle möglichen Arten an Spieluhren. Neugierig guckte sie durchs Schaufenster. Eine Spieluhr hatte die Form einer flachen Dose, auf der sich ein winziges mechanisches Pferd befand. Es galoppierte auf der Stelle. Durch die offene Ladentür konnte Emily die Melodie hören, die dazu erklang. Eine andere Spieluhr hatte die Form einer kleinen Holzkiste. Der Deckel war geöffnet, und man sah ein Gebäude, um dessen Kamine Fledermäuse kreisten. Ein versteckter Mechanismus ließ die Tiere immer wieder mit den Flügeln schlagen. Wenn man die Augen etwas zusammenkniff, sah es fast so aus, als wären sie echt.

    Emily blieb noch eine Weile vor dem Geschäft stehen, dann bog sie in eine andere Straße ein. Dort gab es ein heruntergekommenes Gebäude. Sie hatte sich noch nie getraut, es zu betreten. Kuriositätenkabinett stand über dem Eingang. Emily fand es schon gruslig genug, durch die schmutzigen Scheiben zu schauen und die merkwürdigen Dinge zu betrachten, die man im Halbdunkel sehen konnte: Ein seltsam verdrehtes Skelett, eine furchterregende Maske, eine Art Riesentintenfisch mit unzähligen Armen, einen Stein, der grünlich schimmerte, und einen bronzenen Totenkopf.

    Ein Schatten fiel auf Emily. Als sie den Kopf hob, sah sie ein riesiges Luftschiff, das über den Dächern auftauchte. Majestätisch schwebte es vorüber. An den Fenstern der Kabine waren die Gesichter der Passagiere zu sehen. Sehnsüchtig schaute Emily dem Luftschiff nach. Seit sie in Arcanastra lebte, hatte sie mit einem solchen Gefährt reisen wollen, doch bisher hatte sich ihr Wunsch noch nicht erfüllt.

    Sie überlegte, ob sie das Viertel der Gaukler besuchen sollte. Vielleicht würde sie dort Serafino antreffen. Vor einigen Monaten war er mit seiner Familie aufgebrochen, um durch die Städte zu reisen und mit seinen Kunststücken Geld zu verdienen. Zwar hatte er Emily geschrieben, dass er erst im Herbst zurück sein würde, doch man wusste ja nie.

    Sie warf einen letzten

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