Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Zeichen der Zerstörung: Roman
Zeichen der Zerstörung: Roman
Zeichen der Zerstörung: Roman
Ebook498 pages10 hours

Zeichen der Zerstörung: Roman

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Im Lauf der Jahrhunderte an den Nordrand Europas gedrängt leben die Samen. Nie führten sie Krieg. Ihre Mythologie ist reich, ihre Literatur jung. Kirsti Paltto beschreibt das Leben der Samen im zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit am Beispiel der Familie von Sofe und Antaras. Der Alltag zwischen samischer Tradition und technischer Zivilisation ist spannungsreich, aber auch voll Zauber. Der Geflügelte Ren ist unterwegs, wir hören seine Kupfergocke.
Da sich niemand fand, der das umfangreiche Werk aus dem samischen Original hätte ins Deutsche bringen können und die Autorin zweisprachig ist, liegt unserer Ausgabe die von Kirsti Paltto autorisierte finnische zugrunde. So kam der erste moderne samische Roman nach Deutschland.
LanguageDeutsch
Release dateMay 28, 2015
ISBN9783924652722
Zeichen der Zerstörung: Roman

Related to Zeichen der Zerstörung

Related ebooks

Literary Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Zeichen der Zerstörung

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Zeichen der Zerstörung - Kirsti Paltto

    Über dieses Buch

    Im Lauf der Jahrhunderte an den Nordrand Europas gedrängt leben die Samen. Nie führten sie Krieg. Ihre Mythologie ist reich, ihre Literatur jung. Kirsti Paltto beschreibt das Leben der Samen im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit am Beispiel der Familie von Sofe und Antaras.

    Da sich niemand fand, der das umfangreiche Werk aus dem samischen Original hätte ins Deutsche bringen können und die Autorin zweisprachig ist, liegt unserer Ausgabe die von Kirsti Paltto autorisierte finnische zugrunde. So kam der erste moderne samische Roman nach Deutschland.

    »Zeichen der Zerstörung ist ein Heilmittel gegen die Schwindsucht des Traums. Ein Buch, nach dessen Lektüre man fast wieder Mensch werden kann.« (K. H. Kramberg, Süddeutsche Zeitung)

    Die Autorin

    Kirsti Paltto wurde 1947 im nordfinnischen Ohcejohka/Utsjoki in eine samische Familie geboren. Nach einer Ausbildung zur Grundschullehrerin trat sie 1971 als erste samische Autorin an die Öffentlichkeit. Für ihre Romane, Erzählungen, Hörspiele, Theaterstücke und Gedichte erhielt sie Literaturpreise. Kirsti Paltto setzt sich aktiv für die Rechte ihres Volkes ein.

    Die Übersetzerin

    Regine Pirschel übersetzte u. a. Werke von Veijo Meri, Daniel Katz und Arto Paasilinna.

    Kirsti Paltto

    Zeichen der Zerstörung

    Roman

    Aus dem Finnischen von Regine Pirschel

    persona verlag

    Inhalt

    I

    II

    III

    Kleines Glossar samischer Begriffe

    Impressum

    Über Berge gingen wir,

    folgten fremden Pfaden.

    I

    1

    Antaras schlich in die Nähe der Bootsanlegestelle und versteckte sich in den Sträuchern. Sofe kam an ihm vorbei. Antaras hätte am liebsten gerufen, doch er biss die Zähne zusammen und beherrschte sich. Kutnel-Mihkus Einar kurvte mit dem Motorboot ans Ufer. Sofe stieg mit den kleineren Kindern hinein und setzte sich neben die Kicher-Inka. Einar startete den Motor. Die größeren Kinder machten sich zu Fuß auf den Weg, sie gingen am See entlang in Richtung Majavafluss.

    »Geht nicht fort«, flüsterte Antaras. »Johanas, komm mit mir …«

    Doch niemand hörte seine Worte, und es war auch nicht beabsichtigt. Das Ufer war menschenleer, die Gruppe um Johanas verschwand eben hinter der Landzunge. Antaras war als Einziger zurückgeblieben.

    Er kam aus seinem Versteck und ging langsam ans Wasser hinunter. Dort war vorhin ein Evakuierungsboot, war seine Familie gewesen. Doch jetzt waren alle fort, er war ganz allein.

    Eine kalte Faust drückte auf seine Brust, stärker und stärker. Er musste sich setzen und sich schließlich lang auf die Erde legen. Ihm wurde schwarz vor Augen, doch er wehrte sich dagegen. Regentropfen rannen ihm in den Hemdkragen.

    Die Zeit verging, doch Antaras wagte nicht aufzustehen. Er schalt sich unnötiger Schwäche und fragte sich zugleich, ob dies das Ende seines Weges sei. Endete hier der Pfad von Antaras, Sohn des Njalla-Piera, hier am heimatlichen Ufer? Allmählich schaffte er es, sich aufzurichten und schließlich auch aufzustehen. Der Schmerz hatte nachgelassen, er konnte die Böschung hochsteigen. Er ging über die Wiese und kam zur Treppe. Der Besen stand vor der Tür. Antaras stellte ihn zur Seite, hob den Riegel und trat ein. Die Stube atmete noch die Wärme von Menschen, war aber leer und still. Sofe hatte vor der Abreise sauber gemacht, auf dem Fußboden lag kein einziger Krümel, und der Kaffeetopf stand umgestülpt auf dem Herdrand. Antaras spähte in die Schlafkammer: Sie wirkte traurig und verlassen, so als riefe sie nach den verschwundenen Menschen.

    Auf dem Tisch der Schlafkammer lagen neue Fäustlinge und Zierbänder, Antaras nahm sie auf und drückte sie an sein Gesicht. Er hielt es nicht länger im Haus aus, sondern stürzte hinaus, als wollte er fliehen.

    Er schritt schnell aus und stieg bereits den Paulaberg hoch, als jemand nach ihm rief. Antaras schrak zusammen: Waren gar nicht alle evakuiert? Oder hatte er sich verhört?

    Da waren auf einmal Nasti und Ranne bei ihm, sprangen vor Freude an ihm hoch und bellten.

    »Na, na, ist ja gut«, wehrte Antaras seine Hunde ab, ließ es sich aber doch nicht nehmen, beide zu kraulen. Die Hunde waren es zufrieden und stoben davon, um den Wanderer anzubellen, der nach Antaras gerufen hatte.

    Hinter den Bäumen trat der Krumme Ahta hervor.

    »Du hast einfach nichts gehört«, rief Ahta, der einen großen weißen Sack auf dem Rücken trug. »Ich musste dich fast jagen. Aber nun erst mal guten Tag! Und Stamm und Wolke sei Dank, dass ich dich noch eingeholt habe.«

    Antaras begrüßte den Alten und fragte ihn, warum er nicht mit in die Evakuierung gegangen sei.

    »Was soll ich da? Sterben kann ich auch hier, sehr wohl kann ich das. Ich hab mich verdrückt, bin in den Wald gegangen und hierher zu dir gewandert. Ich hab mir gedacht, dich hat bestimmt keiner dazu gekriegt wegzugehen. Die Kailos sind ja auch noch da, aber zu dem habsüchtigen Volk wollte ich nicht, nee, bloß nicht.«

    Der Krumme Ahta war ein Junggeselle aus Rakkakoski. Sein eigentlicher Name war Aslat, doch vor zwanzig Jahren hatte ihn das wütende Pferd von Kutnels Mihku an den Kopf getreten. Danach hatte Aslat von der Allmächtigkeit von Stamm und Wolke zu reden begonnen, und die Leute nannten ihn zuerst den Dummen und dann den Krummen Ahta, weil an ihm fast alles gebogen war. Sein Rücken bog sich nach hinten, sodass Ahta ständig in den Himmel schauen musste. Das gekrümmte Kinn stand vor wie ein Schlittenkufen, und eine Sattelnase vervollständigte sein Gesicht. Manche bemerkten auch noch, dass sich die Waden wie ein Kummet nach außen bogen, von seinen Krallenhänden ganz zu schweigen.

    »Wer ist sonst noch hiergeblieben?«, fragte Antaras, während sie den Paulaberg zur Herde hinaufstiegen.

    »Oh, einige, also jedenfalls die Kailos, Ovlla-Per Piera und Ante, Mihkus Mihku, Kutnels Mihku und die Rentiermänner von Lattuniemi. Die sind zum Polizeichef gegangen und haben ihm erzählt, wie wichtig es ist, dass sie bleiben. Der Polizeichef soll ohnmächtig geworden sein, so lange haben sie auf ihn eingeredet. Na ja, ich weiß nicht, vielleicht hat da auch einer gelogen.«

    »So, so«, meinte Antaras und lachte. Es war gut, dass Ahta gerade zu ihm gekommen war. Zuvor hatte ihn eine große, nie gekannte Einsamkeit überwältigt. Gewöhnlich fühlte er sich nicht einsam, obwohl er fast immer allein auf den Bergen und Fjälls unterwegs war. Doch jetzt, da seine Familie fort war, fühlte er sich wie ein Waisenkind. Ahta machte ihm das Dasein leichter.

    »Du bist hoffentlich nicht böse, dass ich mich dir anschließe?«, fragte Ahta.

    »Überhaupt nicht. Es ist nur gut«, erwiderte Antaras schmunzelnd.

    »Lässt du mich als Rentierknecht gelten?«

    »Aber ja, gern. Zu zweit macht es viel mehr Spaß als allein.«

    »Nicht wahr? Das hab ich mir auch gedacht, als ich rüberkam«, meinte Ahta erfreut. »Dein Boot hast du hoffentlich versteckt?«

    »Das Boot?«

    »Ja, denn im Krieg ist Diebstahl keine Sünde.«

    »Nein?«, fragte Antaras, als hätte er nicht verstanden. Und das hatte er auch nicht sofort. Wie konnte jemand das Boot eines anderen Menschen stehlen? Es war gar nicht möglich, weil in der Gegend jeder die Boote der anderen kannte. Ein Dieb würde sofort gefasst werden. Aber jetzt war es natürlich eine andere Sache, da die Leute wie Vieh in die Evakuierung getrieben worden waren. Doch wenn keine Menschen da waren, woher kamen dann die Diebe?

    »Die Deutschen nehmen sich die Boote, kannst es mir glauben. Mihkus Mihku hat es gesagt, und er hat sein Boot in den Wald gezogen«, berichtete Ahta.

    »Dann muss ich wohl wieder umkehren und meines auch verstecken«, meinte Antaras. »Geh du schon voran zu den Tieren. Wie unbedacht, dass ich vorhin nicht selbst darauf gekommen bin.«

    Antaras wartete keine Antwort ab, sondern ging den Weg zurück und stand bald wieder am Seeufer. Er prüfte, ob ihn jemand sah. Es war jedoch ganz still, alle Menschen waren fort.

    Er stieß das Boot ins Wasser und ruderte auf die Vaadininsel zu. Dahinter, auf der anderen Seite des Rievansee, unter den schief gewachsenen Bäumen des Kosteflusses, würde er das Boot verstecken. Der Kostefluss war nicht zu befahren, das Boot musste also bis zur Bucht gezogen werden, und dort würde es niemand entdecken, der zufällig vorbeikäme. Die Bucht hatte auch den Vorteil, dass es dort Erdwälle gab, hinter denen niemand das Boot suchen würde, der nicht wüsste, dass es sich dort befand.

    Es hatte aufgehört zu regnen. Die Wolkendecke riss auf, sodass hier und da blauer Himmel zu sehen war, und auch die Sonne kam wieder zum Vorschein. Der Wind ließ die Wellen gegen das Boot klatschen.

    Antaras war Hunderte Male über den See gerudert, genau wie jetzt, er hatte gesehen, wie mit wachsender Entfernung sein Haus kleiner wurde, er hatte zum Morsiofjäll aufgeschaut und den Wind im Gesicht gespürt. Manchmal hatte Sofe auf der hinteren Ruderbank gesessen, manchmal auch Johanas oder Ovlla. Doch jetzt musste er allein rudern und außerdem noch das Boot verstecken; nie hätte er gedacht, dass das einmal nötig sein würde.

    Aber Krieg war Krieg, und wenn der eine Krieg aufhörte, begann der nächste. Wie mochte dieser ausgehen, wie mochte die Vertreibung der Deutschen enden? Ob sie gehen würden? Sie waren so viele Jahre hier gewesen. Wie viele Tote würde es noch geben, ehe die Menschen davon ablassen könnten, sich gegenseitig totzuschlagen?

    Was veranlasste die Menschen dazu, Kriege zu führen, war es Hass, war es etwas anderes? Was trieb sie zu so grausamen Handlungen? Büßte der Mensch seine Menschlichkeit in dem Moment ein, da er zum ersten Mal auf einen anderen Menschen schoss oder an sich selbst die ersten Wunden spürte? Oder führten die Menschen nur Befehle aus und wären auch bereit, auf dem Mond Krieg zu führen, wenn die Herrscher es verlangten?

    Krähen waren erschienen und lärmten über den halb verwesten Mägen und Därmen der eiligst geschlachteten Tiere. Sie waren die wahren Boten des Krieges, seine sehenden Engel, die immer wussten, wo ein Toter lag. Den Krähen und Raben fiel die Aufgabe zu, die Spuren des sinnlosen Tuns der Menschen zu beseitigen.

    Und auch ihn, Antaras, hätte man in den Krieg geschickt, wenn er sich gefügt hätte. Doch er benutzte die Waffe nicht, um andere Menschen zu töten, sondern nur, um sich und seine Familie zu ernähren. Er brauchte keine aufgewühlten Schlachtfelder, sondern wollte in Ruhe neben einem Ren liegen, wollte zusehen, wie die Kühe ihre Kälber säugten, und hören, wie das Tier lebte. Im Frühjahr wollte er der Stimme des Schwans lauschen und am Kaamosmorgen den Hasenpfaden folgen. Und er brauchte seine Familie; doch höhere Kräfte hatten sie ihm nun geraubt und von ihm fortgeführt.

    Motorengedröhn unterbrach Antaras’ Gedanken. Auf dem Majavafluss näherte sich ein Motorboot. Antaras erschrak: Hatte man schon bemerkt, dass er nicht bei den anderen war, und die Suche nach ihm eingeleitet? Hatte man nicht genug Unglückliche beisammen, musste man auch noch ihn jagen? Er beschleunigte sein Tempo und ruderte mit aller Kraft, um hinter die Insel zu gelangen, ehe das Motorboot auftauchen würde. Er hatte noch ein gutes Stück vor sich. Er blickte über die Schulter zurück, Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er musste es schaffen, durfte sich auf keinen Fall ertappen lassen.

    Die Dollen knarrten, und die Ruder spritzten ihm Wasser in die Augen. Antaras ruderte, was das Zeug hielt, und erreichte zum Glück sein Ziel, ehe das Motorboot auf dem Fluss in Sicht kam. Er fuhr schnell um die Insel herum und hielt dann inne, um zu lauschen, wohin es fahren würde.

    Aber das Dröhnen erstarb – das Boot machte entweder kehrt oder fuhr ans Ufer. Zu welchem Zweck war es unterwegs? Antaras wischte sich den Schweiß ab und überlegte, ob er sich schon hinauswagen sollte. Vorsichtig ruderte er weiter, denn er durfte nicht säumen. Er musste die Herde nach Vuomaskaiti und von dort weiter nach Westen treiben, denn der Krieg konnte jederzeit auch über diese Gegend hinwegfegen.

    2

    Anderthalb Wochen reichte Antaras’ und Ahtas Proviant, doch dann gingen ihnen das Mehl, der Kaffee-Ersatz und die Zigaretten aus. Antaras wusste sich keinen anderen Rat, als nach Härkäsaari zu wandern und zu versuchen, in Anols Speicher etwas Essbares aufzutreiben. Nein, er wollte nicht stehlen, nur borgen, bis der Kaufmann wieder da wäre. Falls er überhaupt käme, denn gegenwärtig schien niemand zu wissen, wem diese Gegend nach dem Krieg gehören würde. Ahta hatte von jemandem gehört, Russland wolle Nordfinnland übernehmen, andere wieder wussten, ganz Finnland solle an Deutschland fallen.

    Das war ein schrecklicher Gedanke, und oft hatte Antaras inzwischen bereut, dass er sich nicht von Sofe und den Kindern verabschiedet hatte, ehe sie evakuiert wurden. Würde er jemals wieder Sofe im Arm halten, den Söhnen Johanas und Ovlla Ratschläge geben, Klein-Hansa und Sammol hochheben, Sofe-Magga füttern oder Elles schöne Stimme hören können? Antaras’ Augen wurden feucht, wenn er an seine Lieben dachte. Sehnsucht überkam ihn, wenn er sich daran erinnerte, wie er mit Johanas am Seitastein gestanden hatte.

    Johanas hatte ihm einen winzig kleinen Lederbeutel übergeben, den er als Piehtis Beutel bezeichnet hatte. Antaras zog ihn jetzt hervor und betrachtete ihn. Der Beutel war unscheinbar, und niemand hätte ihn für einen Gebrauchsgegenstand gehalten, wenn er ihn auf dem Weg gefunden hätte. Doch Johanas und vermutlich auch Hansa hatte er viel bedeutet. Der Zauberbeutel hatte seinem früheren Besitzer Piehti Glück und Wohlstand gebracht. Dasselbe wünschte Johanas wohl seinem Vater, als er ihm gab, was ihm selbst teuer war.

    Würde der Beutel etwas bewirken? Würde er die Tiere zu Weidegründen führen, Wolfsrudel fernhalten und den Sturm daran hindern, die Herde auseinanderzutreiben? Bei Piehti hatte es geklappt, warum nicht auch bei ihm, Antaras? Und wenn nicht anders, so würde ihm das Glück durch die guten Gedanken seines ältesten Sohnes folgen.

    Antaras seufzte und steckte den Beutel wieder in die Tasche. Die Einsamkeit bedrückte ihn. Zum Glück hatte er in Ahta einen Kameraden und eine Hilfe beim Hüten der Rentiere.

    Ahta war ein tüchtiger Kerl; allerdings war er ein wenig einfältig, und außerdem schwafelte er ständig von Wolke und Stamm. Seiner Meinung nach waren diese beiden die Mächtigsten und Weisesten, denn der Stamm ließ neue Schösslinge wachsen, und die Wolke bewässerte alles, was auf der Welt wachsen, grünen und blühen sollte. Doch Ahta war es auch, der Antaras Medizin eingeflößt hatte, als ihn der Schmerz in der Brust wieder überraschte.

    Sie hatten tagsüber die Herde getrieben, nachts wegen der Wölfe gewacht, und morgens wollte sich Antaras noch aufmachen, um nach versprengten Tieren zu suchen. Doch nach ein paar Schritten war er zusammengebrochen. Ahta eilte zu ihm, half ihm, sich hinzulegen, und holte dann aus seinem Leinensack einen winzigen schwarzen Kaffeetopf hervor. Er goss Wasser hinein und entnahm einem weißen Beutel einige Kräuter. Kurz darauf flößte er Antaras eine bittere Tinktur ein, die sofort half.

    »Ich hab von meinem Vater gelernt, wie man Arznei kocht«, erzählte Ahta, als Antaras sich so weit erholt hatte, dass er sich aufsetzen konnte. »Mein seliger Vater war ein Heiler und Medizinmann, und in früheren Zeiten kamen die Leute zu ihm, um sich behandeln zu lassen oder Arznei zu holen. Als nachher dauernd von dem einen, allmächtigen Gott gepredigt wurde, nannten die Leute Vaters Heilmethoden auf einmal Hexerei und Aberglauben. Sie kamen nicht mehr, es war ein für alle Mal Schluss. Aber heutzutage sind die Menschen auch nicht gesünder, obwohl man sich einen Arzt kaufen und die Medizin aus dem Laden holen kann. Und die Kirchengebete helfen auch nicht, nee, nee.«

    Ahta goss die Tinktur in einen Darm und band diesen mit einer Sehne zu. »Steck sie ein«, befahl er. »Wenn du sie mal brauchst, hast du sie parat. Ich koche die Arznei ja nicht allein, mir helfen Wolke und Stamm, ihnen sei Dank. Die Blätter, die Rinde und die Wurzeln der Eberesche helfen gut gegen den Schmerz in der Brust, darum sammle ich sie auch immer.«

    Ahta erklärte lang und breit die Wirkung der Heilpflanzen, und Antaras steckte die Medizin in seine Brusttasche. Er hatte sie seit diesem Morgen nicht gebraucht und schon wegwerfen wollen, dann aber doch behalten. Sie störte ihn ja nicht weiter, und man konnte nie wissen …

    Als es dämmerte, war Antaras bis auf Sichtweite an Härkäsaari herangekommen. Er blieb stehen und prüfte mit dem Fernglas, ob der Ort verwaist war, wie er annahm.

    »Na, Deibel auch, mehr sag ich nicht«, entfuhr es Antaras, denn die Stadt war keineswegs leer. Es wimmelte von Menschen wie in Peskijoki am Ostermarkt. Hauptsächlich liefen Soldaten herum, sowohl in finnischer als auch in deutscher Uniform. Mehrere Lantas kamen aus dem Laden, und Frauen standen auf dem Hof. In der Kleidung der Samen war niemand zu sehen. Ein paar Autos fuhren auf der Straße.

    Plötzlich tauchten von Osten her drei Militärmaschinen auf, überflogen im Tiefflug den Ort und drehten nach Norden ab. Antaras warf sich bäuchlings unter einen Baum und zog sich aus der Nähe von Härkäsaari zurück. Es war besser, nicht hinzugehen, jedenfalls nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Er drückte sich in die Sträucher und hielt Ausschau, in welche Richtung er am besten fliehen könnte, falls jemand käme.

    Doch niemand kam. Es wurde dunkel, und Antaras schlich aus seinem Versteck, um zu spähen, wie es jetzt im Ort aussah.

    In allen Häusern brannte Licht, und auf der Straße hörte er die Leute reden und lachen. Sollte er es wagen? Möglicherweise begab er sich direkt in die Höhle des Löwen.

    Antaras machte sich auf den Weg, schlich lautlos den Berg hinunter und gelangte als Erstes zu Malgas Haus. Langsam und vorsichtig pirschte er sich ans Fenster, um hineinzuschauen.

    An der Stirnseite des Tisches, auf Malgas Platz, thronte ein langer und magerer Kriegsherr, der viele glänzende Abzeichen an der Jacke trug. Ein Deutscher, wie Antaras erkannte. Rechts und links von ihm saßen Herren mit weniger Metall an der Brust. An der Decke brannte eine helle Lampe – diesen Menschen mangelte es nicht an Öl, obwohl die Einheimischen schon seit Jahren nur hin und wieder kleine Rationen zu kaufen bekamen. Auf dem Tisch stand zu essen und zu trinken, die Herren unterhielten sich und blickten einander mit scharfen Blicken an. Immer noch hatten die Deutschen diese scharfen Blicke, obwohl sie den Krieg verloren hatten. Oder gab es neue Siege zu feiern, da sie so lachten, als seien sie immer noch die Herrscher der Welt?

    Antaras ließ Malgas Haus links liegen und wählte als nächstes Ziel Anols Speicher. Er wagte nicht, den direkten Weg zu nehmen, sondern machte einen Umweg durch den Wald. Als er schon ganz in der Nähe war, hörte er in der Dunkelheit plötzlich eine Frau lachen.

    Antaras erstarrte zur Salzsäule und lauschte. Hatte die Frau ihn bemerkt?

    Nein, denn jetzt erwiderte eine Männerstimme leise etwas. Auf den Stufen des Speichers stand ein eng umschlungenes Paar. Antaras schlich fort.

    Jetzt wusste er sich keinen anderen Rat mehr, als Ovlla-Per Pieras Haus anzusteuern, obwohl es dort am unruhigsten zuging. Menschen kamen und gingen, in den Fenstern sah man die Schatten der Gäste. Antaras machte einen weiten Bogen um das Haus und näherte sich vom Wald her dem rückwärtigen Fenster. Er drückte sich an die Wand, ehe er sich reckte, um hineinzuspähen.

    Welch ein Anblick, lauter Bekannte! Ovlla-Per Piera persönlich thronte vorn am Tisch mit deutschen Kriegsherren. Weiter hinten im Raum saßen der Polizist und Anol, der Kaufmann. Er war also hier, betrieb weiter sein Geschäft und war keineswegs evakuiert, wie Antaras angenommen hatte. Vulles Risten und Johan Ivvars Ella tanzten mitten im Raum mit deutschen Soldaten. Ein junges Mädchen, das stark betrunken war, kam aus der Schlafkammer und taumelte mal diesem und mal jenem auf den Schoß. Niemand wollte sie haben, da entführte sie Ellas Tanzpartner und verschwand mit ihr in der Schlafkammer.

    Viel Liebe braucht der deutsche Soldat, dachte Antaras, und viel scheint er auch selbst zu geben. Die tröstende Hand und das warme Herz einer Frau halfen, das Töten zu vergessen, wuschen rein und gaben wieder neue Kraft, sonst hätten die Deutschen ihren Krieg hier im kalten Sameland wohl nicht ausgehalten. Viel zerstörtes Land hatten sie überall hinterlassen, Tausende Leichen und Waisenkinder. Und in jedem Land besaß der deutsche Soldat eine Braut, so erzählten die Leute.

    Was für Leckerbissen drinnen auf dem Tisch standen! Dort waren Platten mit Fisch, ganze Fleischberge, Brot, Butter, Käse. Es gab hohe breite und kleine kantige Flaschen, dazu Kelche und Gläser in großer Zahl. Man hatte richtigen Kaffee in den Tassen und echte Zigaretten zwischen den Lippen. Es lohnte, mit den Deutschen vertraulich beisammenzusitzen und über ihre Scherze zu lachen, es lohnte!

    Antaras war so in den Anblick der Festtafel vertieft, dass er völlig vergaß, das Geschehen draußen zu verfolgen. Plötzlich stand neben ihm ein Mann und knöpfte seine Hose auf, um zu pinkeln. Antaras war so erschrocken, dass er kaum zu atmen wagte. Er versuchte sich so unsichtbar wie möglich zu machen, denn falls dieser Mann sich jetzt umdrehte, wäre er entdeckt und stünde bald drinnen in der Stube vor dem Polizisten. Da hätte der verflixte Kerl bestimmt seinen Spaß, würde ihn entweder ins Gefängnis stecken oder als Spion in die Gewehrmündung blicken lassen.

    Der Mann pinkelte in Ruhe, knöpfte die Hose zu und schickte sich zum Gehen an, aber da packte Antaras ihn am Ärmel. Er hatte den Mann erkannt.

    »Elias«, flüsterte er.

    »Wa-as zum Teufel?«, entfuhr es dem anderen.

    »Schrei nicht, um Gottes willen, ich bin’s doch«, flüsterte Antaras.

    »Du? Was in aller Welt fällt dir ein, hierher in die Höhle des Löwen zu kommen? Spinnst du? Warum bist du nicht auf dem Berg geblieben? Dich hätte ich wirklich als Letzten erwartet, verflixt noch mal. Komm da weg, und lass dich bloß nicht sehen.«

    Elias zerrte ihn vom Haus weg und rannte mit ihm über das Feld und hinter den Schafstall.

    »Was zum Teufel willst du?«, fluchte Elias. »Siehst du nicht, dass hier alles voller Deutscher ist?«

    »Ich kann mich ja wohl in meiner Heimat frei bewegen«, erwiderte Antaras wütend. »Oder habt ihr sie den Deutschen übergeben?«

    »Von wegen«, schnaubte Elias. »Die Deutschen müssten von selber abziehen, aber sie scheinen nicht die Absicht zu haben.«

    »Wollte Finnland sie nicht rausschmeißen?«

    »Die hohen Herren in Helsinki warten immer noch, dass sie freiwillig abhauen. Wir hätten sie ja schon vor Zeiten ins Eismeer gejagt, aber unsere Oberen haben es verboten.«

    »Es scheint euch ja gut zu gehen; ihr sauft und feiert mit den Deutschen im besten Einvernehmen«, sagte Antaras.

    »Wir saufen nicht und wir feiern nicht, aber der deutsche Kriegshäuptling hat heute Geburtstag. Der ist ein so hoher Herr, dass er alle nach seiner Pfeife tanzen lassen kann.«

    »Der Kerl, der neben deinem Vater sitzt?«

    »Genau der, dieser verfluchte letzte Urian.«

    »Müsste dein Vater nicht Rentiere weiden?«

    »Klar müsste er das, aber er kam nicht mehr weg. In jeder Ortschaft sollte eine offizielle Vertretung Finnlands bleiben, und hier haben sie uns dafür auserkoren. Hier hocken wir nun, bis die Deutschen weg sind.«

    »Wann gehen sie?«

    »Weiß der Teufel«, antwortete Elias wütend und raufte sich das Haar. »Willst du nicht verschwinden, ehe dich jemand bemerkt?«

    »Nein, noch nicht«, erklärte Antaras. »Mir ist der Proviant ausgegangen. Hättest du nicht ein paar Kilo Mehl, ein bisschen Kaffee-Ersatz und ein paar Zigaretten?«

    »Ich? Wieso gerade ich?«

    »Na, du bist doch der Busenfreund der Deutschen«, gab ihm Antaras zur Antwort.

    »Scheiß auf den Busenfreund!«, erwiderte Elias wütend.

    »Geh schon und hol mir ein paar Sachen …«

    »Herrgott, bist du eine Nervensäge! Die kriegen mich ran wegen Diebstahl.«

    »Du weißt doch bestimmt, wo sie ihre Essvorräte haben. Da suchst du dies und das zusammen und bringst es mir«, redete ihm Antaras zu.

    »Nein, das mache ich nicht!«, protestierte Elias. »Oder willst du meinen Tod?«

    »Sie töten dich nicht. Und pass auf, du kriegst von mir ein fettes Kalb, wenn dieser Krieg zu Ende ist. Du kommst und holst es dir aus meiner Siita, wann es dir passt.«

    »Und wenn ich nicht in der Verfassung bin, mir was zu holen? Hier gibt es noch einen Tanz, den nicht alle lebend überstehen werden, das sag ich dir.«

    »Ich bringe das Kalb deiner Mutter, und ich pflege mein Wort zu halten. Aber wenn du dich nicht traust, dann gehe ich eben selbst.«

    »Mensch, so was solltest du nicht mal aussprechen! Die Deutschen denken, du bist ein Spion und wir stecken unter einer Decke. Sie stellen uns nebeneinander an die Wand und befördern uns ins Jenseits. Womit habe ich das verdient, warum musste ich hier rauskommen!«

    »Ich wollte eigentlich in Anols Speicher, aber da waren auch Leute. Lass sein, ich werde schon …«

    »Verflucht und zugenäht!«, schimpfte Elias. »Warte hier. Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, verschwindest du und verziehst dich auf den Berg. Kapiert?«

    »Halbwegs«, entgegnete Antaras und lächelte. Elias sah es nicht in der Dunkelheit, er ging, und Antaras setzte sich an die Stallwand. Es hatte aufgeklart, am Himmel funkelten die Sterne. Antaras suchte nach dem Kreuz des Schwans. Dort, in jener Himmelsrichtung, befand sich Ahta mit den Tieren. Sie waren fern vom Krieg, vorläufig jedenfalls, denn natürlich konnte der Krieg eines Tages auch Vuomaskaiti erreichen, genau wie er vor ein paar Jahren Piiken und Njallavaara erreicht hatte.

    Wo mochte Bruder Sammol jetzt sein? Oder Piiret-Inka, Piehtar und die muntere Kutnel? Und Antes Ivvar, der heimlich Menschen über die Fjälls führte? Dass er nur nicht gefasst und erschossen worden war …

    Elias ließ eine Ewigkeit auf sich warten, und Antaras befürchtete schon, der junge Mann hätte ihn verraten und käme mit dem Polizisten angerannt, um ihn zu holen. Doch so falsch konnte er unmöglich sein, wenn er auch Ovlla-Per Pieras Sohn war. Allerdings konnte man nie wissen … Elias war im Charakter zwar mehr nach seiner Mutter Inggos geraten und hatte sich nicht auf die Methoden des Vaters eingelassen. Doch jetzt, da Krieg war und auch Elias ein bisschen Angst hatte, war natürlich nichts sicher. Jetzt konnte sich unter Umständen alles so völlig verändern, dass man es nicht wiedererkannte.

    Wie mochte das alles einmal enden? Wie viele Leichen waren noch nötig, ehe die Sonne des Friedens schien? Wie viele Orte würden noch zerstört werden? Ahta hatte einmal erzählt, wie er im Sommer den Kortto, den bösen Geist, den Majavafluss hatte heraufkommen sehen. Jeder Ort, an dem der Kortto erschien, wurde vernichtet.

    Hoffentlich würde sich Ahtas Vision nicht bewahrheiten, dann wäre nämlich auch diese Gegend eines Tages nicht mehr wiederzuerkennen …

    Schließlich waren Elias’ eilige Schritte zu hören, er trat hinter einem Baum vor und schob Antaras einen Sack hin.

    »Da! Und jetzt verschwinde verdammt plötzlich. Drinnen haben sie gerade von Spionen geredet, die durch die Wälder schleichen. Also, geh!«

    »Danke, vielen Dank!«, rief Antaras und wollte sich bei Elias mit Handschlag bedanken, doch der rannte bereits zurück, verschwand im Haus und knallte die Tür hinter sich zu.

    Antaras hob den Sack auf die Schulter und machte sich auf den Weg. Von Spionen ging also die Rede. Hoffentlich waren nicht auch die hiesigen Wälder schon voller Deutscher.

    3

    Antaras nahm Kurs auf das Kreuz des Schwans, den Proviantsack trug er auf dem Rücken. Er konnte in Ruhe den Härkäberg hinaufsteigen und dann zur Kota auf dem Morsiofjäll gehen. Der Himmel blieb klar, und Antaras kam auf dem ebenen Fjällboden gut voran. In den frühen Morgenstunden traf er in der Kota ein, entfachte ein Feuer und prüfte dann, was Elias ihm eingepackt hatte.

    Vor Freude riss er die Augen auf, als er den Sack öffnete, denn Elias hatte wirklich nicht gegeizt. Obenauf lagen echte Zigaretten, feine deutsche und kein einheimischer Knaster, obwohl auch der vorhanden war. Darunter kam ein Paket echten Kaffees zum Vorschein, zusätzlich zum Ersatz. Mehl war da und sogar Salz. Ganz unten lag eine Flasche. Das war einfach zu viel! Antaras nahm sie heraus und prüfte das Etikett: deutscher Kognak. Wie hatte Elias das alles zu stehlen gewagt?

    Antaras packte die Vorräte wieder ein, nahm sich jedoch zuvor eine Zigarette und drehte sie lange zwischen den Fingern, ehe er sie endlich anzündete. Ach, schmeckte die herrlich! Nicht das gewohnte geschmacklose Kraut, sondern Tabak, der die Kehle wärmte und ein wenig in den Kopf stieg. Antaras sog genüsslich an der Zigarette, drückte sie jedoch halb aufgeraucht aus. Er musste sparen, denn es war völlig ungewiss, ob und wo er Nachschub bekommen würde. Ahta und er waren von nun an völlig dem Fjäll ausgeliefert.

    Antaras wollte sich nicht mehr schlafen legen, denn es tagte bereits. Er aß, kochte sich Ersatzkaffee und saß kurze Zeit untätig da. Er war müde, doch sollte er besser aufbrechen, damit Ahta nicht unruhig würde. Schön, sehr schön wäre es gewesen, ein wenig zu schlafen und dann ausgeruht aufzuwachen. Wenn nicht Krieg wäre, würden jetzt Johanas und Ovlla die Rentiere hüten, und er selbst würde erst mal schlafen …

    Nein, er musste jetzt aufbrechen und nicht träumen, sagte sich Antaras, raffte sich auf, löschte das Feuer und hob den Sack auf den Rücken.

    Auf die klare Nacht war Bewölkung gefolgt, und es sah nach Regen aus. Antaras wandte sich nach Norden und überquerte den Hügel in Richtung Karkkufluss. Er war guter Dinge, da die Proviantbeschaffung geklappt hatte. Jetzt konnten sie getrost nach Westen ziehen, denn dorthin mussten sie sich wenden, wenn sie nicht in den Krieg geraten wollten. Auf der Westseite lagen weite, unbewohnte Gebiete.

    Antaras schritt rasch aus und ließ die Blicke schweifen. Plötzlich blieb er stehen, denn er hatte am Hang einen dunklen Klumpen entdeckt. Was war das? Er konnte sich nicht erinnern, dass vorher dort etwas gelegen hatte. Er setzte den Sack ab und sah erneut hin: Es schien weder der Kadaver eines Rens noch eines Wolfes zu sein. Prüfend trat er näher.

    Seine Schritte verlangsamten sich. Entsetzen packte ihn, er schluckte und rieb sich die Augen. Seine Hände begannen zu zittern. Es war furchtbar, Gewissheit zu bekommen über das, was er bereits ahnte: Es war Hansa, der dort zwischen zwei Steinen lag.

    Antaras fiel es schwer, näher zu treten. Hansa lag auf dem Bauch, er war mit einem Rentierpelz bekleidet. Das rote Halstuch war verblichen, ebenso auch die übrige Kleidung.

    »Hansa«, flüsterte Antaras, »hier bist du also umgekommen, so nah, fast in Sichtweite …«

    Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er stand da und schluchzte laut. »Und ich habe in der Kota geschlafen und dich rufen gehört, aber trotzdem nichts begriffen. Wie konnte ich nur so unaufmerksam sein? Du hast dich bis hierher gequält, hast mich vor den Fängen des Polizisten gerettet, und ich habe trotzdem nichts verstanden. Was war ich nur für ein Klotz … Ich werde dich begraben, Hansa.«

    Antaras erinnerte sich, dass sich auf der anderen Seite des Hügels eine hohe Felswand und darunter eine kleine Grotte befand. Dort würde er Hansa begraben. Da er ihn nicht auf den Armen tragen konnte, flocht er aus Gerten eine Trage. Mit zitternden Händen drehte er Hansa auf den Rücken und sah, dass die Raubtiere ihn nicht berührt hatten. Die glasigen Augen waren genauso schwarz wie früher, und die Lippen sahen aus wie bei einem lebendigen Menschen. Es schauderte Antaras: War Hansa überhaupt tot?

    Vorsichtig hob er ihn auf die Trage und zog ihn in die Grotte. Dort bettete er ihn sorgfältig auf den Rücken und legte ihm die Hände auf die Brust.

    »Leb wohl, Hansa«, flüsterte Antaras mit rauer Stimme. »Du bist genug umhergewandert, jetzt ist die Zeit zum Ausruhen gekommen. Ruhe in Frieden, Hansa, ruhe hier inmitten deiner Berge und Ebenen. Sie gehörten vorher dir, aber jetzt gehörst du ihnen.«

    Antaras trocknete sich lange die Tränen, ehe er imstande war, Abschied zu nehmen. Traurig ging er schließlich hinaus, rollte einen großen Stein vor die Grotte und schichtete kleine Steine dicht darüber, bis er sicher war, dass nichts zu sehen war und kein Raubtier in die Grotte gelangen könnte.

    Langsam ging er davon, es fiel ihm unendlich schwer, Hansa zu verlassen, den sie alle so gemocht und um den sie sich gesorgt hatten, am meisten Johanas. Er würde ihm Hansas Grab zeigen … Auf dem Morsiofjäll endete Hansas Weg, genau wie der Piehtis. Doch Hansa hatte sich nicht in einen gefährlichen Wolf verwandelt, wie es Piehti angeblich getan hatte.

    Antaras hob den Proviantsack wieder auf die Schulter und machte sich eilig auf den Weg. Er hatte bei Hansas Begräbnis Zeit eingebüßt und war nicht sicher, ob er es bis Einbruch der Dunkelheit nach Vuomaskaiti schaffen würde. Er wollte nicht noch eine zweite Nacht durchwachen, womöglich würde ihn der Schmerz in der Brust überraschen. Doch andererseits war zu große Eile auch nicht angebracht, die war ebenfalls nicht gut für ein müdes Herz.

    Er erreichte den Rimpifluss, als es bereits dämmerte, aber bis zur Siita war es nicht mehr weit. Antaras malte sich aus, was Ahta beim Anblick der Delikatessen sagen würde. Wahrscheinlich würde er alles Wolke und Stamm zuschreiben, obwohl Antaras die Angst in Härkäsaari ausgestanden und sich außerdem noch über Elias’ Reden geärgert hatte.

    Plötzlich bewegten sich unmittelbar vor Antaras die Zweige, und ein Soldat tauchte auf. Antaras bekam einen solchen Schrecken, dass ihm ein schneidender Schmerz durch die Brust fuhr. Sein erster Gedanke war, man habe ihn geschnappt und ein deutscher Soldat stünde vor ihm, bereit, ihn auf der Stelle zu erschießen. Er blickte Schutz suchend nach allen Seiten.

    »Erschrick nicht«, sagte der Soldat.

    Jetzt war Antaras vollends verwirrt, denn der Soldat sprach samisch. Antaras musterte den Jüngling scharf.

    »Ich bin Aimo«, erklärte der Soldat. »Ich bin aus den Fängen der verdammten Teufel geflohen. Sie haben uns gefangen genommen und wollten uns nach Norwegen verschleppen, aber wir sind geflüchtet. Ich weiß nicht, wie es den anderen ergangen ist.«

    »Wer hat euch gefangen genommen?«

    »Die verfluchten Deutschen«, antwortete Aimo hinter zusammengebissenen Zähnen. »Die Teufel haben mir in den Fuß geschossen. Jetzt ist in Tornio wieder Krieg ausgebrochen, wir haben es gestern Morgen gehört. Und uns haben sie zusammen in eine Gefängniszelle gesteckt, wollten uns bestimmt zu Tode foltern. Man kennt ja die verfluchten Nazis.«

    »Oje, wo hast du denn die Wunde?«

    »Hier hinten am Hacken. Es tut verdammt weh«, sagte Aimo mit schmerzverzerrtem Gesicht.

    »Schaffst du es bis in meine Siita? Es ist nicht weit. Du kannst dich auf mich stützen. So, also gehen wir, ich habe in meiner Kota einen Arzt«, sagte Antaras.

    Sie kamen sehr mühsam voran, denn sie mussten immer wieder stehen bleiben, wenn Aimo vom Hinken ermüdete. Der Bursche war ohnehin geschwächt, weil er schon einen ganzen Tag mit seinem verletzten Fuß unterwegs war. Er kann von Glück reden, dass er nicht zusammengebrochen und liegen geblieben ist, dachte Antaras bei sich.

    Ahta wartete bereits, und als er sie kommen hörte, eilte er ihnen entgegen, obwohl er gerade die Herde umrundet hatte. Er übernahm Aimo und führte ihn in die Kota. Dort schlitzte er mit dem Messer den Soldatenstiefel auf und wickelte den Fußlappen ab. Eiligst kochte er einen Kräuteraufguss, rieb damit die Wunde ein und wickelte noch ein Stück saubere Birkenrinde darum. Erst dann nahm er sich die Zeit, den Soldaten näher zu betrachten.

    »Oje, armer Bursche, mehr sag ich nicht«, brabbelte er, den Kopf schief geneigt. »Mögen Wolke und Stamm dir helfen.«

    »Wa-as?«, fragte Aimo verdutzt.

    »Trink jetzt die Brühe, und iss von dem Fleisch, und stell keine überflüssigen Fragen«, erwiderte Ahta. »Wenn es dir besser geht, dann fragst du, nicht jetzt.«

    Aimo bekam hohes Fieber, sein Fuß hatte sich entzündet, und die schmutzigen Fußlappen hatten die Wunde aufgerieben. Ahta pflegte den Jungen, sowie er bei den Rentieren abkömmlich

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1