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Geliebte Fremde
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Geliebte Fremde

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About this ebook

Paula verschwindet aus Susannes Leben genauso plötzlich, wie sie erschienen war. Wütend, verletzt aber auch voller Sehnsucht macht sich Susanne auf die Suche nach ihr. Doch je länger diese Reise ins Ungewisse dauert, desto fremder und faszinierender erscheint ihr diese Frau, mit der sie einmal den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Als sich die Spur zu verlieren droht, ändert ein unerwarteter Anruf alles ...
LanguageDeutsch
Publisherédition eles
Release dateApr 29, 2013
ISBN9783941598942
Geliebte Fremde

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    Geliebte Fremde - Toni Lucas

    Toni Lucas

    GELIEBTE FREMDE

    Roman

    Originalausgabe:

    © 2012

    ePUB-Edition:

    © 2013

    édition el!es

    www.elles.de

    info@elles.de

    Alle Rechte vorbehalten.

    ISBN 978-3-941598-94-2

    Coverfoto:

    © Scope – Fotolia.com

    Coverillustration:

    © Igor Nazarenko – Fotolia.com

    Als Susanne Fischer an diesem Donnerstagabend im Juli ihre Wohnungstür aufschloss, hätte sie eigentlich die Leere, Kälte und Einsamkeit fühlen müssen, die ihr entgegenschlug. Doch alles, was sie spürte, waren ihre schmerzenden Füße, die pochenden Kopfschmerzen und der dringende Wunsch nach einer Dusche.

    Erschöpft stellte sie ihre kleine Tasche auf den Hocker neben der Garderobe und hängte ihren eleganten dunkelblauen Blazer auf. Dann nahm sie ihre Brille ab und legte sie zu den elf anderen auf das dafür vorgesehene Gestell unter dem Spiegel. Sie rieb sich die müden Augen und gähnte herzhaft.

    »Paula?«

    Keine Reaktion.

    Susanne streifte ihre Schuhe ab und machte sich auf Nylonsohlen auf den Weg ins Wohnzimmer, wobei die etwas zu langen Beine ihrer weißen Hose schleifende Geräusche auf dem Boden von sich gaben.

    »Paula?«

    Im Wohnzimmer herrschte die gemütliche Halbaufgeräumtheit zweier Frauen, die beschlossen hatten, nicht im Chaos unterzugehen, die aber auch weder Zeit noch Lust hatten, zu Staubkornjägerinnen zu mutieren.

    Susanne schüttelte irritiert den Kopf. Eigentlich saß Paula meist hier und las oder arbeitete am Laptop, wenn sie nach Hause kam. Ab und an beschallte sie sich dabei noch über die Kopfhörer ihres MP3-Players, sodass sie Susanne nicht hören konnte. Heute allerdings wirkte das Wohnzimmer seltsam leer.

    »Paula, wo steckst du denn? Sag bloß, du machst ausnahmsweise mal was zu essen?«

    Mit einem verschmitzten Lächeln kam Susanne in den Flur zurück und öffnete die Küchentür. Doch hier wirkte alles kühl und sauber, seltsam unbewohnt. Susannes Lächeln erstarb und wich einem besorgten Stirnrunzeln. Schnellen Schrittes eilte sie nun in das kleine Gästezimmer, das, vollgestopft mit Büchern, allerlei Krimskrams und einer Liege, ihnen als eine Mischung aus Rumpelkammer und Rückzugsort diente. Von Paula jedoch fand sich keine Spur.

    Merkwürdig.

    Plötzlich erhellte sich Susannes Miene wieder. Vielleicht hatte Paula sich ja einen besonderen Abend ausgedacht . . . Vorsichtig und in Erwartung von Kerzenschein und leiser Musik öffnete sie die Schlafzimmertür.

    Nichts. Nur mattes Halbdunkel. Die Enttäuschung traf sie wie eine Ohrfeige.

    Wo war Paula bloß?

    Susanne schlurfte ins Bad. Jetzt brauchte sie wirklich erst mal eine Dusche. Wer weiß, wo Paula abgeblieben war. Wenigstens einen Zettel hätte sie ihr schreiben können. Das tat sie doch sonst auch, wenn sie abends noch wegging.

    Susanne streifte sich ihr blassrosa Oberteil über den Kopf. Als sie wieder sehen konnte, fiel ihr Blick auf den großen Badezimmerspiegel, und sie erstarrte. In großen, lippenstiftroten Buchstaben sprang es sie an:

    Tut mir wirklich leid, aber das mit uns hat keine Zukunft. Such nicht nach mir. Paula

    Susanne hatte das Gefühl, als würde der Fußboden unter ihr zu schwanken beginnen. Halt suchend klammerte sie sich am Rand des Waschbeckens fest.

    Das war ein Scherz, ein schlechter Scherz!

    Sie kniff die Augen fest zusammen und schüttelte ihre halblangen, hellbraunen Locken. Dann schlug sie die Augen wieder auf. Noch immer bedrohte sie die rote Schrift. Wie ein blutiger Riss lief sie quer über ihr Spiegelbild, dessen weit aufgerissene braune Augen sie entsetzt anstarrten.

    Was um alles in der Welt war passiert?

    Susanne ließ sich erschöpft auf den Badvorleger sinken und barg ihr Gesicht in den Händen.

    Heute Morgen noch schien die Welt in Ordnung gewesen sein. Sie war davon aufgewacht, dass Paulas weicher Körper sich zärtlich fordernd an ihr gerieben hatte. Ihre rechte Hand hatte sich suchend unter dem Oberteil ihres Schlafanzuges bewegt, bis sie schließlich mit festem doch zärtlichem Griff ihre linke Brust umfasst gehalten und sie beide eng aneinandergeschmiegt gelegen hatten.

    Susanne hatte müde blinzelnd gefragt: »Wie spät ist es?«

    »Kurz nach sechs.«, hatte Paula ihr dann leise ins Ohr geflüsterte, um dieses sogleich liebevoll anzuknabbern.

    Susanne hatte gespielt unwillig geknurrt: »Und was verschafft mir die frühe Ehre deines Besuchs? Ein feuchter Traum?«

    Paula hatte leise gurrend gelacht und gemurmelt: »Och auch, aber ich dachte, wo du doch heute deinen langen Tag hast, hättest du ein wenig Motivation nötig.«

    Susanne hatte sich wohlig gerekelt und willig den Schlafanzug abstreifen lassen. Dann hatte sie Paulas intensive Zärtlichkeiten hingebungsvoll genossen, ohne auch nur die leiseste Anstalt zu machen, ihrerseits aktiv zu werden. Manchmal liebte sie dieses Gefühl des hemmungslosen Begehrt- und Genommen-Werdens.

    Susanne schloss die Augen und rief sich das Gefühl von Paulas vollen weichen Brüsten auf ihrer Haut ins Gedächtnis. Der Gedanke beschwor Gänsehaut auf ihrer Haut herauf. In ihrem Unterleib spürte sie das vertraute begehrliche Ziehen, und ihre Brustwarzen zogen sich so stark zusammen, dass sie unwillkürlich nach den sich deutlich unter dem weißen BH abzeichnenden Hügelchen griff.

    Paula hatte sich stets darüber amüsiert, wie leicht erregbar sie war, und hatte gern ihre Spielchen mit ihr getrieben. Die Erinnerung an Paulas Handgreiflichkeiten in Umkleidekabinen, im Café oder im Kino trieb noch immer schamhafte Röte in Susannes Gesicht.

    Paula! Was war nur geschehen?

    Susanne schniefte und spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen rollten.

    Wieso hatte ihre Beziehung plötzlich keine Zukunft? Und was sollte dieses seltsame Such nicht nach mir?

    Beinahe automatisch griff sie nach ihrem Telefon und wählte Paulas Handynummer. Sie musste das klären. Auf der Stelle.

    Konzentriert lauschte sie dem Tuten im Hörer, bis ihr schließlich eine Computerstimme erklärte, dass der Teilnehmer nicht erreichbar wäre.

    Susanne schniefte erneut und rappelte sich auf. Vielleicht spielte Paula auch nur Spielchen. Vielleicht war sie ja bei Katja, und die beiden lachten sich bereits kringelig bei dem Gedanken an ihre Reaktion. Auch wenn sie sich sonst nicht besonders mochten, wenn es darum ging, sie zu veralbern, waren sie sich meist einig.

    Entschlossen wählte Susanne eine weitere Nummer.

    »Hi, Sanne!«, scholl es ihr fröhlich aus dem Hörer entgegen, »Was gibt’s?«

    »Ist Paula bei dir?«

    »Pauuuulaaaa?« Katja dehnte den Namen mit so lustvollem Erstaunen, als hätte Susanne gefragt, ob der amerikanische Präsident später noch auf ein Glas Wein zu ihr käme. »Was sollte sie denn bei mir wollen? Habt ihr euch gestritten?«

    »Das nun nicht gerade. Aber sie ist weg. Einfach weg.«

    So sehr Susanne bisher versucht hatte, ruhig zu bleiben, nun konnte sie ein kräftiges Schluchzen nicht verhindern. Schluchzend und schniefend erzählte sie von dem, was sie bei ihrer Heimkehr vorgefunden hatte.

    »Sanne-Kind, bist du dir sicher, dass sie wirklich weg ist? Hast du mal in ihrem Schrank nachgesehen, ob ihre Sachen noch da sind?«

    Susanne wurde blass und murmelte: »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Bleibst du mal dran? Ich geh schnell nachsehen.«

    Noch ehe Katja etwas sagen konnte, stürmte sie ins Schlafzimmer und riss Paulas Schubladen und Schranktüren auf.

    »Katja? Bist du noch dran?«

    »Klar! Und? Was hast du gefunden?«

    Katjas Neugier materialisierte sich beinahe durch den Hörer.

    »Ich weiß auch nicht so recht. Ein paar ihrer Sachen sind wohl weg. Aber ich denke, das meiste ist noch hier. Ich verstehe das nicht.«

    Ratlos ließ Susanne den Hörer sinken und blickte sich um. Sicher, viel war es nicht, was Paula mitgebracht hatte. Aber dass sie nun beinahe alles hiergelassen hatte . . .

    »Sanne! Sanne! Bist du noch dran?«

    Katjas blecherne Rufe aus dem Hörer ließen Susanne zusammenfahren. Sie hob den Hörer ans Ohr.

    »Sicher, ich bin noch dran.« Ihre Stimme klang schlaff und leblos.

    »Soll ich bei dir vorbeikommen?«

    Eigentlich stand Susanne nicht der Sinne nach ihrer besten Freundin. So sehr sie Katja auch mochte, ihr ständig übersprudelndes Temperament konnte manchmal ziemlich anstrengend sein. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie das momentan ertrug. Viel lieber hätte sie sich auf die Couch geworfen und hemmungslos geheult. Doch sie wusste nur zu gut, dass daraus nichts werden würde. Katja würde so lange auf sie einreden, bis sie schließlich nachgab.

    Also meinte sie resigniert: »Von mir aus. Aber bring etwas zu trinken mit. Ich fürchte, ich brauche geistige Stärkung.«

    Nur wenige Minuten später, Susanne hatte gerade noch Zeit gehabt, sich ein paar bequeme Jeans und ein ausgeleiertes Zuhause-T-Shirt anzuziehen sowie sich die Tränenspuren aus dem Gesicht zu tupfen, da klingelte es auch schon an der Haustür. Susanne drückte den Summer, und Katja kam trotz ihrer relativen Fülle eiligen Schrittes die zwei Treppen des erst kürzlich sanierten Altbaus nach oben gehastet.

    »Mein Gott, Sanne! Was machst du denn für Sachen?«

    Schon hatte Katja sie in den Arm genommen und so fest an sich gedrückt, dass Susanne Mühe hatte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Sie trat einen Schritt zurück und musterte kritisch die Blondine vor sich, die ihre langen Haare mal wieder zu einem seltsamen Puschel zusammengerafft hatte und deren rote Plaste-Armreifen angriffslustig klapperten. Dann schnappte sie: »Was ich für Sachen mache? Na hör mal, schließlich ist Paula weg, ohne ein Wort zu sagen.«

    Katja blinzelte treuherzig aus blauen Augen und hielt ihr triumphierend eine Flasche Rotwein vor die Nase.

    »Das können wir doch alles drinnen bei diesem leckeren Tröpfchen beplaudern.«

    Schon schob sie Susanne beiseite und machte sich auf den ihr so wohlbekannten Weg ins Wohnzimmer, wo sie sich in einen der beiden Sessel vor der Couch fallen ließ.

    Susanne blieb am Türrahmen stehen und blickte sie aus zusammengekniffenen Augen an.

    »Klar, komm doch rein und mach es dir bequem. Kann ich noch etwas für dich tun?«

    »Gläser wären nicht schlecht. Ach, und den Korkenzieher kannst du auch gleich noch mitbringen.«

    Susanne wollte schon empört auffahren, da sprang Katja wieder auf und rief: »Sanne, es tut mir leid, so meinte ich das natürlich nicht. Ich bin nur so verwirrt. Paula und du – ihr wart doch, nein, ihr seid doch einfach füreinander geschaffen. Ihr seid doch das Traumpaar für mich. Sie kann doch nicht einfach weg sein.«

    Noch immer stand Susanne regungslos am Türrahmen.

    »Ist sie aber. Einfach so.«

    »Und da bleibst du so ruhig?«

    Katja kam ein paar Schritte auf Susanne zu und legte ihr tröstend die Hand auf den Arm.

    »Ich bin nicht ruhig. Eigentlich ist mir nach Schreien und Toben. Andererseits fühlt sich mein Inneres so taub an, dass ich Mühe habe, zu atmen. Was soll ich denn jetzt nur tun?«

    Ihre rechte Hand malte eine hilflose Geste in die Luft.

    Katja strich ihr zärtlich über die Wange und fing dabei eine der rollenden Tränen auf, die Susanne nun doch nicht länger zurückhalten konnte.

    »Ach Schätzchen, das ist wirklich eine vertrackte Situation. Komm, setz dich erst mal hin, und dann überlegen wir, was du tun kannst.«

    Vorsichtig, als geleitete sie eine Schwerkranke, führte sie Susanne zur Couch.

    »Süße, du wirst dich doch jetzt nicht gehen lassen. Ihr habt euch auf so wunderbare Weise gefunden, das muss doch einen tieferen Sinn haben, das wirft man doch nicht einfach so weg.«

    »Wem sagst du das. Aber schließlich bin ich noch hier, und sie ist gegangen. Was ist bloß schiefgelaufen?« Susanne schniefte erneut und kramte ein Taschentuch hervor. »Machst du nun endlich den Wein auf und holst die Gläser?« Sie schnäuzte sich heftig und murmelte nachdenklich: »Auf so wunderbare Weise gefunden . . .«

    Dann zog sie die Beine an und kuschelte sich in der Sofaecke zusammen. Wenn sie nur daran dachte, wie sie Paula gefunden hatte, wurde Susanne ganz wehmütig ums Herz.

    ~*~*~*~

    Es war letzten September in ihrem Griechenlandurlaub passiert. Eigentlich hatte sie gar nicht fahren wollen. So allein, ohne Britta. Nach einem halben Jahr verzweifelten Kampfes um und miteinander war sie jedoch zu zermürbt gewesen, um sich auch noch um solch komplizierte Dinge wie das Umbuchen eines Urlaubs zu kümmern.

    Eigentlich war es ja Britta gewesen, die unbedingt nach Athen gewollt hatte. Was hatte sie ihr vorgeschwärmt – die Akropolis, das Flair der Stadt, wie viel Spaß sie gemeinsam dort haben würden. Also hatten sie bereits mehr als ein halbes Jahr vorher gebucht.

    Und dann hatte sich Britta verliebt. Einfach so. Von heute auf morgen. In ihre neue Arbeitskollegin. In eine belanglose kleine Mittzwanzigerin, an der Susanne am Bemerkenswertesten erschien, wie imposant sie die Schwesterntracht des hiesigen Krankenhauses ausfüllte. Anfangs, als eine von Britta an die Kleine adressierte SMS mit Liebesschwüren versehentlich bei ihr angekommen war, hatte sie ja noch geglaubt, dass deren Üppigkeit auch Brittas Hauptgrund für ihr Interesse darstellte. Doch sie sollte sich täuschen.

    Keine vier Wochen später hatte Britta ihr weinend gestanden, dass sie sich ernsthaft verliebt hätte. Dass es diesmal ganz anderes sei als bei ihren sonstigen Seitensprüngen. Sie seien wie füreinander geschaffen, hätten die gleichen Interessen, könnten stundenlang miteinander reden und ja, auch der Sex sei göttlich.

    Göttlich! Genau diesen Begriff hatte Britta verwendet. Als Susanne gereizt nachfragte, in welche Kategorie denn ihr gemeinsamer Sex der letzten fünf Jahre fallen würde, hatte Britta sie dramatisch beschworen, dass sie selbstverständlich ebenfalls viel Spaß gehabt hätten. Aber schon ihre unzähligen Affären hätten doch gezeigt, dass sie nie ganz glücklich gewesen wäre. Nun jedoch hätte sie sich selbst gefunden.

    Susanne hatte sich wie in einer Seifenoper gefühlt. Enttäuscht und auch ein wenig angewidert hatte sie Britta vor die Wahl gestellt, die Beziehung zu beenden oder sofort auszuziehen. Britta jedoch schien sich für keines von beiden entscheiden zu können.

    Also rangen sie beinahe ein halbes Jahr miteinander. Britta versuchte angeblich, von der Kleinen loszukommen, Susanne präsentierte ihr eine Wohnungsanzeige nach der nächsten. Als Britta schließlich nach einem gigantischen Streit, der tsunamigleich sowohl ihre Wohnung als auch die letzten Reste gegenseitiger Zuneigung zerstört hatte, nur mit den Sachen in ihrem kleinen Stadtrucksack endgültig ausgezogen war, hatte sich Susanne völlig leer und ausgebrannt gefühlt.

    Sie war zu Katja geflüchtet, weil sie sich nicht imstande sah, auch nur einen Augenblick länger an jenem Ort der Verwüstung zu verweilen. Katja war es auch, die die Wohnung wieder in begehbaren Zustand brachte und es schaffte, Susanne dazu zu bewegen, nach drei Wochen wieder in ihre eigenen vier Wände zurückzukehren. Dort verpackte sie Brittas Habseligkeiten in Kisten, um ihr diese schließlich wortlos ins Schwesternzimmer des Krankenhauses zu stellen.

    Es hatte Susanne ausgesprochen große Genugtuung verschafft, mit anzusehen, welchen Menschenauflauf der Kistenstapel im Handumdrehen hervorrief und wie peinlich Britta diese öffentliche Demütigung war.

    Je länger Susanne auf ihrer Couch über diese Ereignisse nachdachte, desto intensiver fühlte sie sich in jene Zeit zurückversetzt und desto tiefer versank sie in ihre Gedanken . . .

    Plötzlich war es wieder jener Donnerstag, und sie saß in dem Flieger, der sie zwei Wochen nach dem endgültigen Aus nach Athen brachte. Wieder grübelte sie darüber nach, ob dieser Urlaub wirklich eine gute Idee war oder ob, wie Katja es ihr prophezeit hatte, diese Reise sie nur noch stärker deprimieren würde.

    Immerhin erwies sich das Zimmer in ihrem ziemlich anonym wirkenden Viersternehotel nahe der Akropolis als sauber und angemessen komfortabel, sodass sie sich zumindest hier wohlfühlen konnte.

    Sie verbrachte den Abend mit einem Bummel durch die nahe Altstadt und schloss schließlich in einer kleinen Taverne mit einem großen Krug kühlem Retsina Freundschaft. Schließlich fiel sie in ihrem großen Doppelbett in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

    Am nächsten Morgen wachte sie erstaunlich frisch, wenn auch mit leicht brummendem Kopf auf und begab sich hungrig in den Frühstücksraum. Obwohl die Hauptsaison im Wesentlichen vorüber war, war es ausgesprochen voll. Es fanden sich vielfach Großeltern mit jenen Enkeln, die dem Kindergartenalter noch nicht entwachsen waren, verliebte junge Pärchen sowie einige Langzeitehepaare, die sich offensichtlich nichts mehr zu sagen hatten oder einfach auch nichts mehr sagen mussten, um einander zu verstehen. Zudem gab es da noch die alleinreisenden Frauen jeglichen Alters, die jeweils einen Tisch für sich in Beschlag genommen hatten.

    Susanne war unschlüssig. Wohin sollte sie sich setzten? Auf keinen Fall zu den Kindern. Deren Aufgewecktheit und das großelterliche Bedürfnis über die lieben Kleinen und deren ach so süßen Streiche zu plaudern, konnte sie auf keinen Fall ertragen. Ehepaare kamen sowieso nicht infrage, blieben die alleinreisenden Damen.

    Susanne überlief ein leichter Schauder. Ihr stand so gar nicht der Sinn nach Diskussionen über zerbrochene Beziehungen, Anfragen, ob man die einheimischen Diskotheken gemeinsam verunsichern wolle und ähnliche Annäherungsversuche. An die Möglichkeit, dass eine der Frauen auch noch lesbisch wäre, mochte sie erst recht nicht denken.

    Also, was tun? Suchend ließ sie ihre Blicke im Saal schweifen, bis sie schließlich in einer Ecke die Silhouette eines jungen Mannes erspähte, der intensiv in eine Zeitung vertieft war. Das schien ihr vielversprechend. Etwaige Annäherungsversuche würde sie genießen oder mit wenigen Sätzen abwehren.

    Schon eilte sie zu seinem Tisch: »Entschuldigung, ist hier noch frei?«

    Ein kurzes Nicken hinter dem Zeitungsrand, ein leises, zustimmendes Brummeln, mehr war nicht von ihm zu bekommen. Susanne seufzte erleichtert auf und machte sich daran, am Buffet ihr Frühstück zusammenzusuchen.

    Das Frühstück selbst verlief stumm. Lediglich das Rascheln der Zeitung und das leise Klappern des Geschirrs unterbrachen hin und wieder die Stille. Merkwürdigerweise genoss Susanne diese Stille nicht annähernd so, wie sie eigentlich gehofft hatte. Im Gegenteil, sie fühlte sich angesichts der Zeitungswand unbehaglich. Selbst wenn sie sich mit Britta gestritten hatte, spätestens am Frühstückstisch hatten sie zumindest wieder miteinander geredet.

    »Entschuldigung, kann ich bitte mal das Salz haben?«

    Susanne war selbst erschrocken, als sie sich das sagen hörte. Konnte man ein Gespräch wirklich so plump beginnen? Doch ihre Sorge schien unbegründet. Lediglich eine Hand löste sich von der Zeitung, griff nach dem Salz und schob es ihr wortlos zu.

    »Danke.«

    Undefinierbares Brummen.

    Nun wurde Susanne neugierig. Konnte es das geben? Einen so muffeligen Mann, der jegliche Konversation mit ihr verweigerte? Sicherlich, sie war nicht gerade die langbeinige Blondine, auf die angeblich so viele Männer standen. Aber mit Anfang dreißig, einsachtundsechzig, einer wohlproportionierten Figur, ihren haselnussbraunen Augen sowie dem dichten, leicht gelocktem braunen Haar, dessen eine Strähne sie sich immer wieder nervös hinter das rechte Ohr strich, fühlte sie sich durchaus attraktiv.

    »Tut mir leid, wenn ich Sie schon wieder störe, aber ich bin das erste Mal in Athen. Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich von hier aus bis zur Akropolis komme? Mein Orientierungssinn ist nämlich ziemlich lausig.«

    Susanne lächelte nervös und starrte die Zeitungswand an. Sie starrte so intensiv, dass die deutschen Wörter vor ihr Augen anfingen zu hüpfen.

    In diesem Moment geschah das Wunder. Die Zeitung senkte sich und sichtbar wurde ein knabenhaft zartes Gesicht, das von raspelkurzen blonden Haaren umrahmt wurde. Zwei kristallgrüne Augen lächelten sie freundlich an, und es erklang eine angenehm sanfte Stimme mit dem leichten Timbre eines Reibeisens, die ihr mitteilte: »Klar kann ich. Ich war schon mehrfach dort. Wenn Sie mögen, können wir gern zusammen dorthin gehen. Mein Orientierungssinn ist eigentlich ziemlich gut.«

    Eine Sekunde lang starrte Susanne die Person vor ihr, die noch immer freundlich lächelnd gerade dabei war, ihre Zeitung zusammenzufalten, völlig perplex an und ließ den Blick zur Zeitung wandern, deren Buchstaben sich wieder beruhigt hatten. Dann blickte sie wieder in die kristallgrünen Augen.

    »Oh, Entschuldigung, Sie sind ja . . .«, Susanne schüttelte verwirrt den Kopf und lachte leise auf, »Ich dachte, . . . naja, egal . . . warum eigentlich nicht.«

    Die junge Frau vor ihr fuhr sich mit der Linken über das Stoppelhaar und lächelte nunmehr spitzbübisch.

    »Sie dachten, ich sei ein Mann?«

    Susanne fühlte sich ertappt und wurde ein wenig rot.

    »Nun ja, nicht direkt ein Mann . . .«

    »Nicht direkt . . .?«

    Das spitzbübische Lächeln verstärkte sich zu einem Grinsen. Das führte dazu, dass sich Susanne nur noch mehr verhaspelte.

    »Nein, kein Mann, ein Junge, ein großer, sozusagen . . . einer, der . . .« Hier gab Susanne auf und lachte hell auf. »Tut mir leid. Ich bin zurzeit ein wenig durch den Wind. Ja, ich dachte, Sie seien ein Mann und war ziemlich froh darüber, weil ich eigentlich keine Lust auf Gespräche und schon gar nicht mit einer Frau hatte.«

    »Schon gar nicht mit einer Frau?«, echote die junge Frau fragend zurück.

    Susanne zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. Dann holte sie tief Luft und sprudelte hervor: »Nein, meine hat mich nämlich gerade verlassen.«

    Sie blickte kurz auf, um zu sehen, wie ihr Gegenüber auf diese Neuigkeit reagieren würde. Doch diese blieb gelassen. Nur einem sehr aufmerksamen Beobachter wäre das leichte Zucken der rechten Augenbraue aufgefallen, das ihre Verwunderung für den Bruchteil einer Sekunde manifestierte.

    »Und da fragen Sie mich trotzdem nach der Akropolis?«

    Das rauchige Timbre wurde von einem amüsierten Glucksen untermalt.

    Susanne seufzte.

    »Blöde Idee, ich weiß. Aber als Pfadfinder bin ich wirklich hoffnungslos. Da muss ich schon mal riskieren, Grund- und Vorsätze aufzugeben. Zeigen Sie mir trotzdem den Weg zur Akropolis? Ich bin übrigens Susanne.«

    Sie reichte ihre Hand über den Tisch, die ohne zu zögern ergriffen wurde. Der Händedruck war kräftig und von einer angenehmen Wärme.

    »Paula. Wann möchtest du losgehen?«

    Susanne zögerte.

    »Ich dachte eigentlich gleich nach dem Frühstück. Vielleicht halten sich die Touristenströme da noch in Grenzen, und es ist sicherlich auch noch nicht ganz so warm.«

    Sie blickte Paula fragend an.

    »Klar, gute Idee. Musst du noch mal aufs Zimmer?«

    »Ja, sicher. Meine Sachen sind ja noch oben.«

    Paula nickte verstehend. »Gut, dann warte ich vorn in der Lobby. Ich habe schon alles dabei.« Sie klopfte auf einen kleinen Rucksack neben sich.

    »Na dann, bis gleich.«

    Susanne stand auf und begab sich zum Fahrstuhl. Ihr Zimmer lag im vierten Stock. Die Treppe zu nehmen war für sie, die sonst eigentlich sportliche Herausforderungen mochte, an diesem Tag keine Option.

    Kaum hatte sie das Zimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen, zögerte sie einen Moment. Eigentlich hätte Britta hier sein sollen. Eigentlich hätte sie ihr zeigen sollen, wie man zur Akropolis kam. Eigentlich . . . Tja, eigentlich. Eigentlich kam sich Susanne vor, als wäre sie in einem Film, als hätte sie keine Macht über den Gang der Dinge. Irgendwie fremdgesteuert.

    Sie ging ins Bad und starrte ein paar Minuten ihr Spiegelbild an. Was tat sie hier? Blass, mit weißer Leinenhose und ärmellosem türkisfarbenem T-Shirt angetan, sah sie aus wie die Karikatur einer Touristin. Wäre es nicht besser gewesen, zu Hause zu bleiben? Stattdessen sprach sie hier bereits am ersten Morgen eine Frau an und ließ sich von ihr den Weg zeigen.

    Sie schüttelte ihre Locken und musste auflachen. Nein, es war ein Mann gewesen. Er zeigte ihr diesen großen Haufen Steine. Und Britta konnte sie mal. Sie kam gut ohne sie zurecht. Sie würde sich amüsieren!

    Rasch griff sie nach ihrem kleinen Stadtrucksack, verstaute eine Wasserflasche und ein paar Müsliriegel darin und eilte in Richtung Lobby. Als sie den Fahrstuhl verließ, blickte sie sich suchend um. Schließlich fand sie Paula. Sie stand in der Nähe der großen Drehtür. Susanne hielt kurz inne und betrachtete sie genauer.

    Paulas Silhouette erschien wirklich wie die eines großen Jungen. Sie trug ein lustig kariertes Herrenhemd, das anscheinend von einem guten Herrenausstatter stammte, aber offensichtlich schon bessere Tage gesehen hatte. Auch ihre Skaterjeans wirkten abgewetzt. Die Trekkingsandalen, ebenfalls Markenware, hatten wohl schon viele Kilometer absolvieren

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