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Zärtliche Hände
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Zärtliche Hände

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About this ebook

Eine große, schweigsame Frau mit graublauen Augen - eine Taxifahrerin, die sie in einer fremden Stadt zum Hotel fährt - beeindruckt Olivia tief. In heißen Träumen wünscht sie sich in ihre Arme, aber es scheint aussichtslos, sie wiederzusehen, denn Olivia kennt nicht einmal ihren Namen. Dafür tauchen andere Frauen in Olivias Leben auf, die sie nicht trösten können. Wird die geheimnisvolle Fremde einmal aus ihren Träumen auferstehen und in Fleisch und Blut zu ihr kommen? Das Rätsel scheint unlösbar, doch eine Frau gibt nicht auf - auch, wenn sich immer neue Schwierigkeiten ergeben ...
LanguageDeutsch
Publisherédition eles
Release dateApr 29, 2013
ISBN9783956090677
Zärtliche Hände

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    Zärtliche Hände - Victoria Pearl

    Fotolia.com

    1.

    »Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart. Der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht. Das notwendigste Werk ist stets die Liebe.« Dies sagte einst ein berühmter Mann.

    Ich bin weder berühmt noch männlich, und trotzdem ist dieser Ausspruch für mich zu einer Art Lebensmotto geworden. Als Mediatorin, die zwischen oftmals sehr kontroversen Positionen vermitteln muss, halte ich diese Sätze für sehr weise, als Mensch jedoch, der die meiste Zeit seines Arbeitslebens damit verbringt, von einer Stadt in die andere zu reisen, von einem Hotel ins andere und von einem Betrieb zum anderen, gehen sie mir manchmal ziemlich auf die Nerven.

    Eben jetzt, kaum in der neuen Stadt angekommen, finde ich an dieser Stunde gar nichts wichtig, und der Mensch, der mir gegenübersteht, ist ein unsympathischer, nach Schweiß riechender Bahnangestellter, der mir erklärt, wo sich der nächste Taxistand befindet – als ob ich das nicht selber herausfinden könnte! Was die Liebe betrifft: nun, darüber sage ich besser nichts, sonst werde ich ungerecht.

    Zu meiner trüben Stimmung passend regnet es in Strömen, als ich die Unterführung verlasse. Glücklicherweise stehen vier Taxen bereit. Der Fahrer des ersten Wagens dreht sich ostentativ zu seinem Kollegen um und lässt mich mit meinem Trolley stehen. Da steigt der Fahrer des zweiten Taxis aus. Er hat die Szene offenbar beobachtet, schüttelt den Kopf und kommt auf mich zu. Er ist ziemlich groß, Moment, es ist eine Sie, stelle ich erstaunt fest. Sie ist also ziemlich groß, kräftig – oder sollte ich sagen: athletisch gebaut?

    Sie nickt mir zu, greift nach dem Koffer, hebt ihn mühelos hoch und trägt ihn zum Taxi. Während die Chauffeuse das Gepäckstück in die unergründlichen Tiefen des Kofferraums verschwinden lässt, setze ich mich auf die Rückbank des Wagens. Er ist glücklicherweise gut geheizt, denn draußen ist es winterlich kalt, und es regnet.

    Der Kofferraumdeckel schlägt zu, die Fahrerin umkreist den Wagen, da erblickt sie mich. Sie zuckt mit den Schultern, offenbar ist sie es gewohnt, ihren Gästen die Tür aufzuhalten – und zwar auf der Beifahrerseite. Ich finde es aber wesentlich angenehmer, hinten zu sitzen, da ist mehr Platz, und ich muss mich mit dem Taxifahrer auch nicht allzu lange über nichtssagende Dinge unterhalten.

    Die Fahrerin gleitet schräg hinter das Steuer – sie kann sich nicht einfach hinsetzen, dafür ist sie zu groß. Sie dreht sich zu mir um und fragt höflich: »Wohin möchten Sie gefahren werden?«

    »Hotel Adler«, antworte ich knapp.

    Sie startet den Motor, drückt auf den Knopf der Taxiuhr, legt den Gang ein, schert aus der Reihe und fädelt sich, nach einem Dutzend absichernder Blicke nach hinten, links und rechts in den langsam fließenden Verkehr ein.

    Ich lehne mich entspannt in das weiche Polster zurück. Das leise Brummen des Motors wirkt einschläfernd. Ich döse vor mich hin, denn als erfahrene Taxikundin weiß ich, dass spätestens bei der nächsten roten Ampel ein ruckartiges Bremsen, ein ungeduldiges Knurren vom Vordersitz oder das Aufheulen des gequälten Getriebes mich wieder wecken wird.

    Nichts dergleichen geschieht. Wir fahren zügig durch die verkehrsreichen Straßen, halten, starten, werden schneller, dann wieder langsamer, ohne dass auch nur ein einziges Mal eine Bremse quietscht oder der Motor stottert.

    Etwas perplex beobachte ich die Chauffeuse. Ihre linke Hand liegt locker auf dem Lenkrad, die rechte auf dem Schaltknüppel. Sie sitzt entspannt am Steuer, lässt ihre Augen in kurzen Abständen über die Spiegel huschen und blickt dann wieder konzentriert auf die Fahrbahn. Sobald ein anderer Verkehrsteilnehmer sie schneidet, runzelt sie die Stirn.

    Wunderbar, denke ich zufrieden, hier bleibe ich. Unwillkürlich löst sich ein tiefer Seufzer aus meiner Kehle.

    Sie blickt in den Rückspiegel. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

    »Ja, ja, alles klar. Ich . . .« Den Satz beende ich nicht, denn schließlich muss ich einer Taxifahrerin nichts erklären.

    Ihre blauen Augen fixieren mich noch immer im Rückspiegel. Sie sind seltsam intensiv, fast schon hypnotisch.

    Die Chauffeuse wendet ihre Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Fast hätte ich wieder geseufzt. Diesmal aber aus Erleichterung darüber, dass sie nicht fragt, was mit mir los sei oder ob sie mir helfen könne, und dass sie nicht versucht, die ungewohnt stille Fahrt durch ein oberflächliches Gespräch zu stören.

    »Das Hotel Adler«, sagt sie schließlich leise.

    Sie hält an, steigt aus, öffnet mir die Tür, geht nach hinten und hievt meinen Trolley aus dem Kofferraum. Ich zahle, frage mich, ob das Trinkgeld nicht etwas hoch ausgefallen ist, und gehe langsam und sehr zufrieden ins Hotel, das mich für die ganze Woche beherbergen wird.

    Für heute reicht es mit Reisen, denke ich. Essen werde ich im Hotel, danach werde ich noch ein wenig arbeiten, mich mit den Problemen der Marketingfirma vertraut machen, die ich ab morgen zu betreuen habe, und früh zu Bett gehen.

    Wie lange die Taxifahrerin wohl noch unterwegs ist? frage ich mich plötzlich. Hoffentlich hat sie eine Ausbildung in Selbstverteidigung, denn schließlich ist ihr Job nicht ganz ungefährlich. Aber weshalb überlege ich mir das überhaupt? Ich bin wohl ziemlich übermüdet, und der Stress des letzten Wochenendes ist auch nicht spurlos an mir vorübergegangen.

    Meine Gedanken kehren zu Iris zurück. Sie hatte immer mehrere Affären gleichzeitig, doch das wusste ich, als ich sie kennenlernte, und es hat mich nicht daran gehindert, eine weitere Bettgeschichte in ihrer Sammlung zu werden.

    Iris meinte, ich sei ihre Hauptfrau, die anderen dienten ihr als Abwechslung und um ihr die Zeit zu verkürzen, bis ich von meinen Aufträgen wieder zurück sei. Ich wollte keine feste Beziehung mit ihr, der Sex reichte voll und ganz, schließlich bin ich erwachsen und weiß, dass Liebe und guter Sex nicht unbedingt zusammengehören. Als sie mir aber am vergangenen Samstag eröffnete, unsere Affäre sei zu Ende, war ich dennoch vor den Kopf gestoßen.

    »Warum so plötzlich?« fragte ich.

    »Olivia, es stimmt nicht mehr für mich.«

    Ich hätte beinahe laut gelacht. Wie fühlst du dich? Spürst du mich? Stimmt’s für dich? Solche Fragen stelle ich zugegebenermaßen manchmal auch. Doch ich stelle sie meinen Kunden oder Klienten. Sie aber war meine Geliebte und erklärte mir allen Ernstes, es stimme nicht mehr für sie – als ob ich daraus einen wirklichen Grund für ihre Entscheidung erkennen könnte!

    Über meinen Beruf als Vermittlerin hatte sich Iris immer lustig gemacht. Sie meinte, das Psychogesülze diene nur der schnellen Geldvermehrung und helfe vielleicht noch dem Finanzamt, aber bestimmt nicht den zerstrittenen Paaren, Geschäftspartnern oder all den anderen, die meine Firma konsultierten. Und nun verwendete ausgerechnet sie eine Formulierung, die mir zuwider ist, die ich zu umgehen suche.

    Selbstverständlich gab ich mich damit nicht zufrieden. Ich kenne die Kniffs, um jemanden zum Reden zu bringen, auch bei Iris funktionierten sie, und ich erfuhr, dass ihre Haupt-Hauptfrau ihr ein Ultimatum gestellt hatte: entweder beiderseits viele Affären oder eine feste Zweierbeziehung. Sie hatte sich für die Beziehung entschieden, und als ich das hörte, wurde mir klar, dass Iris nicht allen Frauen gegenüber ehrlich gewesen war.

    Nun habe ich also keine Affäre, von einer Beziehung ganz zu schweigen. Vielleicht ist es besser so, ich bin zu meinem Leidwesen monogam veranlagt, doch ich werde mich bestimmt ziemlich einsam fühlen in meinem Bett, wenn ich nicht ab und zu eine heiße Nacht mit einer Frau haben kann, die mir die Wartezeit versüßt und meine Phantasie beflügelt.

    Wer Hotelbetten kennt, kann vielleicht nachvollziehen, wie angenehm diese erste Nacht für mich ist. Zwar liege ich schon seit drei Stunden unter der warmen Decke, doch ich finde keinen Schlaf. Ich wälze mich von einer Seite auf die andere, schlummere kurz ein, erwache wieder, weil mich ungewohnte Geräusche stören. Ich träume wirres Zeug von entgleisenden Schnellzügen, von Geiselnahmen im Flugzeug, von Taxis, die am Hotel vorbeifahren und nie ans Ziel kommen.

    Verschwitzt und mit rasendem Puls knipse ich morgens um vier die Nachttischlampe an. Es hat einfach keinen Wert, die erste Nacht im Hotel wirklich schlafen zu wollen, sage ich mir, ich weiß es doch. Also zappe ich mich durch die 35 Fernsehkanäle, die entweder ein Testbild anbieten oder für irgendwelche Sexseiten im Internet werben. Der einzige Sender, der etwas anderes bringt, trägt auch nicht dazu bei, dass ich mich beruhige, denn Horrorfilme wirken auf mich nicht eben einschläfernd. Ich schalte die Kiste aus, beginne Schäfchen zu zählen, und bei 3712 tauche ich endlich ab.

    Logisch, dass ich am anderen Morgen erschlagen und völlig zerknautscht erwache. Die kalte Dusche, die ich mir verordne, belebt mich ein wenig, den Rest muss starker Kaffee erledigen. An der Rezeption verlange ich nach einem Taxi, und für einen kurzen Moment hege ich die verrückte Hoffnung, es käme dasselbe, das mich gestern hergefahren hat, natürlich mit derselben Chauffeuse.

    Aber wann habe ich schon Glück? Der Taxifahrer, der mich zur Marketingfirma bringen soll, hat wohl ebenso schlecht geschlafen wie ich. Er flucht auf der ganzen Strecke in die Innenstadt über die idiotischen Autofahrer, die Tussis, die keine Ahnung haben, wo sich das Gaspedal befindet, die Fußgänger, die den Nerv haben, genau dann einen Zebrastreifen zu überqueren, wenn ein Taxi angefahren kommt, über das Wetter, obwohl es gar nicht regnet, über die Fußballmannschaft, die schon wieder verloren hat. Er findet noch andere Dinge, über die er sich lautstark ärgert, aber ich schalte meine Ohren auf Durchzug.

    Mein erster Arbeitstag mit den Marketingfachleuten verläuft sehr erfreulich. Aus verschiedenen Einzelgesprächen suche ich die wunden Punkte herauszufiltern. Die Menschen hier sind anfangs ziemlich zugeknöpft, denn sie haben unbewusst Angst, ich würde ihren Chefs weitermelden, was sie mir anvertrauen. Meist schaffe ich es aber binnen einer Viertelstunde, das Eis zu brechen, denn ich werte nicht, ich höre nur zu.

    Das letzte Gespräch habe ich nachmittags mit einer Dorothea Bischof. Sie betritt das kleine Zimmer, das man mir zur Verfügung gestellt hat, und schließt die Tür mit so viel Nachdruck, dass die kleine Milchglasscheibe besorgniserregend zittert.

    »Also«, beginnt Doro, wie ich sie in Gedanken nenne, »was muss ich Ihnen erzählen?« Sie setzt sich unaufgefordert auf einen der freien Stühle. Ihre Haltung soll wohl Präsenz und Selbstbewusstsein ausstrahlen, doch auf mich wirkt sie äußerst verkrampft und unsicher. Ich frage mich, was diese zierliche Brünette zu verbergen versucht.

    »Sie müssen mir nichts erzählen, wenn Sie nicht wollen«, sage ich ruhig. »Ich wurde gerufen, um mir ein Bild über die Zusammenarbeit in dieser Firma zu machen. Vielleicht finden wir alle miteinander Ansatzpunkte, um die innerbetriebliche Kommunikation zu verbessern, falls es nötig sein sollte.«

    Meine Worte sind mit Bedacht gewählt, denn ich weiß, dass hier sehr viel verändert werden muss. Mediatoren werden ohnehin erst dann gerufen, wenn die Situation schon sehr verfahren ist.

    Doro schnaubt verächtlich. »Zusammenarbeit? Was ist das?« fragt sie mit provozierendem Blick.

    Das habe ich heute schon öfter erlebt. Ich gehe nicht darauf ein, sondern will von ihr wissen, welches ihr Aufgabenbereich ist, wie sie den Arbeitstag verbringt, welche Tätigkeit sie schätzt und so weiter.

    Allmählich taut Frau Bischof auf. Ich notiere mir »sehr kommunikativ«, höre ihr zu, beobachte, wie sie ihre Haltung ändert, sich zurücklehnt, den Kopf dreht, wenn sie auf etwas Unangenehmes zu sprechen kommt, ihn zurückwirft, wenn sie lacht, wie sie die Hände ineinander verhakt, wenn sie unvorsichtig etwas von sich preisgibt.

    In mir steigt plötzlich ein Gedanke auf. »Und was sagt Ihre Freundin zu dieser Situation?« frage ich sie in einem Tonfall, als hätte ich mich nach der Wettervorhersage erkundigt.

    »Sie findet es eine Frechheit, wie man hier mit uns umgeht«, antwortet Doro ohne zu überlegen. Dann errötet sie.

    Ich erkenne, dass am liebsten aus dem Zimmer stürzen würde – oder aus dem Fenster. Ganz sicher bin ich nicht. »Doch Ihre Freundin versteht, weshalb Sie Ihren Job trotzdem lieben?« hake ich nach, ehe sie etwas sagen kann. »Meine nämlich bringt dies Verständnis für mich nicht auf«, ergänze ich und bemerke erst hinterher, dass ich die grammatische Zeit falsch gewählt habe.

    Doros Gesicht, sehr hübsch übrigens, mit haselnussbraunen Augen und einem markanten Kinn, entspannt sich. Es lächelt gar für den Bruchteil einer Sekunde. Das reicht uns beiden, um zu wissen, dass wir nicht mehr flunkern müssen.

    Endlich kann ich die Tür von außen schließen. Es war ein sehr intensiver Arbeitstag, all diese Menschen, die mit ihren Geschichten in das Zimmer kommen, sie so erzählen, wie sie sich aus ihrer Perspektive zugetragen haben, den größeren, unangenehmeren Teil aber verschweigen. Und alle nehmen mich unter die Lupe, bilden sich ein Urteil, fragen sich, ob sie mir vertrauen sollen oder nicht.

    Ich überlege, ob ich zu Fuß ins Hotel zurückkehren soll, doch die lange Strecke schreckt mich ab. Ich kenne mich auch nicht sonderlich gut aus in dieser Stadt und müsste der Hauptverkehrsader folgen, was mir nicht behagt. Es bleibt mir keine andere Wahl, als wieder ein Taxi zu rufen.

    Wenige Minuten später hält der Wagen vor dem Haupteingang des Hochhauses. Der Chauffeur steigt aus und geht zur hinteren Tür. Moment mal – es ist meine Chauffeuse! Wow! Ich freue mich, obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, warum.

    Sie hält mir die Tür auf, nickt mir zu. Fast meine ich die Andeutung eines Lächelns auf ihrem Gesicht zu erkennen. Gegen meinen Willen schlägt mein Herz etwas schneller, nur ein kleines bisschen, aber das reicht, um mich zu beunruhigen.

    »Hotel Adler?« fragt sie. Ihre blauen Augen fixieren mich und bannen meinen Blick im Rückspiegel.

    Ich nicke, doch dann korrigiere ich mich schnell. »Erst einmal würde ich gern noch ein paar Schritte zu Fuß gehen.« Mir wird plötzlich bewusst, dass ich mit dieser Frau bisher kaum zwei Sätze gesprochen habe. »Ich kenne mich allerdings nicht aus in dieser Stadt und weiß nicht, wo man hier in der Nähe am besten frische Luft tanken kann.«

    Die Taxifahrerin lässt meine Augen los. Sie dreht sich zu mir um und schaut mich nachdenklich an.

    So dicht habe ich ihr Gesicht noch nicht vor mir gesehen, vor allem nicht von vorn. Auf den ersten Blick entdecke ich nichts Besonderes, abgesehen von ihren vollen Lippen, dem kleinen Leberfleck auf der rechten Wange, den feinen Fältchen um die blauen Augen, die einen Graustich aufweisen, und der rundlichen Kopfform. Gut, das ist doch mehr als ich gedacht habe.

    »Ich kann Sie zum Park am Fluss fahren.«

    Ich bemühe mich, meine Gedanken zu sammeln. Weshalb will sie zum Fluss?

    Ach so, ich wollte ja spazierengehen, und an Flüssen spaziert es sich gut. Ich nicke und lasse mich in das Polster zurücksinken. Ich weiß, dass ich eine ausnahmsweise angenehme Taxifahrt vor mir habe.

    Nach gut zehn Minuten hält der Wagen auf einem Parkplatz, der an eine ausgedehnte Grünanlage grenzt. Die Fahrerin stellt den Motor ab und stoppt die tickende Taxiuhr.

    Schade, denke ich, jetzt muss ich mit einem anderen Taxi zum Hotel zurückfahren. Ich greife nach der Tasche, in der ich meinen Laptop und die Unterlagen habe, die ich heute noch auswerten muss.

    Die Taxifahrerin hält offensichtlich viel von guten Manieren. Sie öffnet mir die Tür und wartet, bis ich ausgestiegen bin. Doch statt mir den Fahrpreis zu nennen, den ich auf der Uhr abgelesen habe, blickt sie auf meine voluminöse Tasche und schüttelt den Kopf. »Lassen Sie das ruhig im Auto. Oder möchten Sie lieber mit einem anderen Taxi ins Hotel?«

    »Wie? Ich verstehe nicht ganz.«

    Mehr noch, ich verstehe gar nichts. Sie hat bestimmt Besseres zu tun als hier auf eine gestresste Karrierefrau zu warten, die in einem plötzlichen Anfall von Naturverbundenheit am Ufer eines Gewässers zu wandeln gedenkt.

    »Wenn Sie nichts dagegen haben, mache ich eine kurze Pause und bringe Sie dann zum Hotel«, sagt sie, als wäre ein solcher Vorschlag in Taxifahrerkreisen üblich.

    Ich schüttle verwirrt den Kopf, lege aber die Tasche wieder auf den Rücksitz. Dann wende ich mich dem Park zu. Nach ein paar Schritten stelle ich fest, dass die Chauffeuse noch immer beim Taxi steht und keine Anstalten macht, mir zu folgen. »Kommen Sie mit?« frage ich. Wäre doch logisch, oder etwa nicht?

    »Nur, wenn es Sie nicht stört«, erwidert sie zurückhaltend.

    Mein Gott, ist die jetzt kompliziert, anständig oder einfach nur blöd? »Ich bitte Sie darum«, antworte ich lächelnd.

    Ich bin im Begriff, mit einer wildfremden Frau, einer Taxifahrerin, einen unter anderen Umständen möglicherweise romantischen Abendspaziergang am Fluss zu machen. Ich weiß weder ihren Namen noch ihr Alter. Ich weiß noch nicht einmal, ob Taxifahren ihr Beruf ist oder nur ein Teilzeitjob. Und über ihr Inneres weiß ich erst recht nichts.

    Mit ihren langen Beinen hat sie mich längst eingeholt. Sie geht schweigend neben mir, blickt abwesend auf das träge fließende Wasser und scheint mich völlig vergessen zu haben. Das schätze ich gar nicht. »Haben Sie eigentlich eine Ausbildung in Selbstverteidigung?« frage ich.

    Sie blickt mich überrascht an. »Ja«, antwortet sie. Weiter nichts.

    »Und haben Sie sich schon einmal verteidigen müssen?« bohre ich weiter. Sie weckt meine Neugier, ohne dass ich einen Grund dafür nennen könnte. Irgend etwas hat sie, das mich reizt, mehr über sie zu erfahren.

    »Bisher bin ich ohne ausgekommen«, erwidert sie – und verfällt wieder in Schweigen.

    Was will ich eigentlich von ihr, frage ich mich. Offensichtlich gehört sie nicht zu den Menschen, die über sich sprechen, die überhaupt sprechen, ohne gefragt zu werden. Vielleicht ist es diese Verschwiegenheit, die mich zur nächsten Frage treibt. »Wie lange fahren Sie schon Taxi?«

    »Fünf Jahre.«

    Toll, das war nicht mal ein ganzer Satz. »Und wie sieht Ihr Arbeitstag aus?« frage ich und bleibe stehen.

    Sie dreht sich nach mir um. In ihren Augen erkenne ich Erstaunen, sehe, dass sie die Antwort abwägt, sich wohl überlegt, was ich im Schilde führen könnte. Wenn ich das nur selber wüsste.

    Sie atmet tief durch. »Je nachdem. Wir haben drei Schichten zu jeweils acht Stunden. Die erste dauert von Mitternacht bis morgens um acht, dann von acht bis vier Uhr nachmittags, anschließend kommt die Spätschicht bis Mitternacht.«

    Erschöpfend, absolut klar und völlig unantastbar. »Und welches ist Ihre bevorzugte Schicht?« frage ich weiter. Ich kann nicht heraus aus meiner Haut.

    »Hören Sie, ich möchte nicht unhöflich sein, doch ich muss mir täglich acht Stunden die Sorgen und den Ärger vieler Kunden anhören. Wenn ich Pause mache, entspanne ich mich gern ein wenig.«

    Autsch, das hat getroffen. Mitten ins Schwarze. Selber schuld, tadle ich mich. Jetzt ist sie verärgert, und du hast sie so weit gebracht. Asche auf mein Haupt! Ich hebe den Blick, will eben zu einer Entschuldigung ansetzen, da sehe ich ihre Augen. Das gibt’s doch gar nicht, denke ich überrascht. Sie lächelt mich an! Das heißt, nur die Augen lächeln, ihr Gesicht bleibt völlig unbewegt. Ich gebe ihr Lächeln zurück und gehe weiter. Ich werde mich hüten, auch nur ein Wort zu sagen, nehme ich mir vor.

    Nach einer großzügig bemessenen Viertelstunde meint sie: »Wir sollten umkehren, sonst fährt mein Taxi von alleine davon.«

    Ich stutze. Der Wagen hat mit Sicherheit keine Fernsteuerung. Aber diese Frau scheint einen seltsamen Humor zu haben.

    Sie lächelt schief und sagt: »Die Pause dauert eine halbe Stunde. Sie ist um, wenn wir wieder beim Auto sind.«

    Nachdem mich die Chauffeuse vor dem Hotel abgesetzt hat, sehe ich ihr fast wehmütig hinterher. Sie berührt mich, nein, sie rührt mich, diese große Frau, die kaum spricht, mich nur manchmal, ganz flüchtig ansieht, mit ihren blaugrauen Augen, in denen ich ihre Gedanken lesen könnte, wenn ich nur das nötige Vorwissen oder Feingefühl hätte.

    Während ich warte, bis mein Laptop das Arbeitsprogramm startet, rufe ich mir ihr Gesicht in Erinnerung. Weshalb will sie nicht, dass ich etwas über sie erfahre? Warum verrät sie mir nicht einmal ihren Namen? Und doch hat sie mich heute angelächelt, sogar zweimal!

    Ich beginne meine Notizen zu überarbeiten, in den Computer einzugeben und sie zu ordnen. Es erfüllt mich immer wieder mit Erstaunen, wie manche Menschen sich selbst sehen und ihre Mitmenschen beurteilen. Wäre die Taxifahrerin eine der Befragten von heute, ich wüsste nicht, was ich von ihr denken sollte. Ich kann sie nicht einschätzen. Ich bemerke, dass sie mir nicht aus dem Sinn geht, ich sehe sie vor mir, ohne dass ich sie rufen müsste. Aber ich kenne sie nicht, so wenig wie sie mich kennt, denn ich habe ihr nichts über mich erzählt.

    Wahrscheinlich interessiert sie sich nicht für ihre Kundinnen oder Kunden. Ich bin für sie nichts Außergewöhnliches, eben nur eine unter vielen – dazu noch eine, die dumme Fragen stellt. Ich werde aus ihrem Gedächtnis verschwunden sein, sobald sie mich zum letzten Mal von einem Ort zum anderen befördert und die Tür zugeschlagen hat.

    2.

    Um mein Seelenleben steht es gar nicht gut. Ich liege wieder einmal im Bett und kann nicht schlafen. Üblicherweise fordert die zweite Nacht im selben Hotelzimmer meine arithmetischen Fähigkeiten nicht mehr heraus, doch heute schaffen es selbst die bewährten Schafe nicht, mich in den Schlaf zu kuscheln.

    In Gedanken gehe ich das Programm für den nächsten Tag durch. Ich werde wieder mit dem Taxi in die Innenstadt fahren. Wer wird hinter dem Steuer sitzen? Eine große dunkelblonde Frau mit blaugrauen Augen?

    Ich wünschte, sie wäre hier. Wir müssten ja nicht reden, es gibt so viele schöne Dinge, die wir zusammen machen könnten.

    In meinem Kopf schrillt die Alarmglocke in den höchsten Tönen. Was überlege ich

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