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Mein Herz bewacht dich
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Mein Herz bewacht dich

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About this ebook

Grace, pubertierender Teenager, wird für sechs Monate in ein Boot Camp geschickt. Dort lernt sie zu gehorchen, wird aber auch von der strengen Ausbilderin Carey ermuntert, ihre Nase in Bücher zu stecken und zu lernen. Denn Grace ist nicht unbegabt. Nach einiger Zeit jedoch wird das Verhältnis zwischen Grace und Carey immer freundschaftlicher - und liebevoller ...
LanguageDeutsch
Publisherédition eles
Release dateApr 29, 2013
ISBN9783956090257
Mein Herz bewacht dich

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    Mein Herz bewacht dich - Brenda L. Miller

    978-3-95609-025-7

    Die laute Stimme des Gerichtsdieners war über den Lärm des Gerichtssaals hinweg klar und deutlich zu vernehmen. »Bitte erheben Sie sich. Die Verhandlung des Familiengerichts von Iroquois County ist nun eröffnet. Den Vorsitz führt der ehrenwerte Richter Grimm.«

    In einer wilden Mischung aus Pink, Grün, Weiß und Blau, mit dem deutlichen Hervorstechen der blonden Haarwurzeln, bildeten die getönten Haare von Grace einen klaren Farbfleck in dem tristen Gerichtssaal, als sie sich neben ihrem Pflichtverteidiger von der Anklagebank erhob.

    »Bitte platznehmen«, war der Gerichtsdiener wieder zu vernehmen, nachdem der Richter sich auf seinen Stuhl gesetzt hatte.

    »Fräulein Waters.« Richter Grimm wandte sich direkt an Grace und schaute sie mit strengem Blick an. »Sie erscheinen heute nicht das erste Mal vor meinem Gericht, aber es wird definitiv das letzte Mal sein. Sie haben keinerlei Respekt vor den Rechten Ihrer Mitmenschen, und kein Sozialdienst oder irgendwelche Bewährungsmaßnahmen werden das ändern.«

    Grace verdrehte gelangweilt die Augen.

    »Ich weiß, Sie halten das alles nur für ein lustiges, kleines Spiel, aber der Spaß ist nun vorbei, junge Frau«, sagte er, und seiner Stimme war der Ärger über Grace’ Verhalten deutlich anzumerken. »Sie haben einen Lehrer angegriffen, und diese Art von Verhalten kann nicht toleriert werden. Ich bin mit der Schulleitung absolut einer Meinung, dass einer Rückkehr zur Iroquois-High-School nicht zugestimmt werden kann. Da der Staatsanwalt sich jedoch dagegen entschieden hat, Sie als Erwachsene anzuklagen, stellt sich diesem Gericht nun die Frage, was wir mit Ihnen machen sollen.«

    »Wen kümmert’s schon?« warf Grace dazwischen und verdrehte die Augen über den zurechtweisenden Blick ihres Pflichtverteidigers.

    »Das ist offensichtlich, Fräulein Waters«, sagte der Richter, »dass es Sie nicht kümmert. Für das Gericht ist auch klar, dass Ihre Mutter nicht in der Lage dazu ist, irgendeine Kontrolle über Sie auszuüben. Würden wir Sie wieder in ihre Sorgfaltspflicht entlassen, würden sich für Sie nur weitere Gelegenheiten ergeben, Ihr schon beeindruckendes Strafregister weiter auszubauen. Deshalb verhänge ich das folgende Urteil: Die minderjährige Graceful Lake Waters wird bis zur Vollendung der Volljährigkeit – was, wie ich den Unterlagen entnehme, in sechs Monaten der Fall sein wird – der Vormundschaft des Staates unterstellt.«

    »Ich geb’ da ’n Scheiß drauf«, sagte Grace völlig gleichgültig und ignorierte dabei das leise Wimmern ihrer Mutter, die gleich hinter der Anklagebank saß.

    Richter Grimms Gesicht nahm eine dunkelrote Färbung an. »Das reicht jetzt wirklich. Ich wollte Sie eigentlich nach Crestwood schicken, aber nachdem ich Ihnen jetzt hier zugehört habe, denke ich, dass wohl eine härtere Strafe als ein Aufenthalt in einer Besserungsanstalt für junge Mädchen angebracht ist. Ich schicke Sie und Ihre große Klappe nach Sapling Hill.«

    »Sie mussten ja Ihren Mund aufreißen«, sagte der Pflichtverteidiger.

    »Na und?« Grace zuckte die Schultern und zeigte dem Richter in einer obszönen Geste ihren Mittelfinger, bevor ihr vom Gerichtsdiener Handschellen angelegt wurden. »Straflager für Mädchen. Was soll’s?«

    »Oh Grace«, schluchzte ihre Mutter, während der Gerichtsdiener sie an die Vollzugsbeamtin übergab.

    Tag Eins

    Der Parkplatz war voller aufgeregter Eltern, die darauf warteten, dass die Vollzugsbeamten ihre jugendlichen Töchter wegbrachten, in die Sapling Hill Einrichtung für schwererziehbare Mädchen, besser bekannt als Mädchen-Bootcamp.

    Grace hatte die zwei Wochen seit der Urteilsverkündung in Crestwood verbracht, ohne ihre Mutter sehen zu können. Nun hatte sie nur ein paar Minuten, bevor sie in den Bus gesetzt und in den Norden geschickt werden würde, in – wie andere Mädchen es beschrieben hatten – ›eine Hölle mit einer Menge Bäume‹. Zu ihrer Verärgerung verbrachte ihre Mutter diese Minuten weinend, angesichts des Anblicks ihrer Tochter in einem orangefarbenen Overall und in Fesseln.

    »Na klar, mach eine Szene«, sagte Grace und verdrehte ihre Augen, als ihre Mutter ein weiteres Papiertaschentuch hervorholte.

    »Soll ich etwa glücklich darüber sein, dass meine einzige Tochter eingekerkert wurde?« sagte ihre Mutter und trocknete die Tränen, die aus ihren Augen strömten.

    »Es sind sechs Monate, Mama. Das schaff’ ich doch im Kopfstand.« Grace drehte ihren Kopf, damit der Wind den pinkfarbenen Pony aus ihren Augen wehen konnte. »Sieh es doch mal von dieser Seite: Du beschwerst dich immer, dass du nie weißt, wo ich bin oder was ich tue. Jetzt weißt du’s.«

    »Fesseln«, sagte ihre Mutter mit Blick auf die Ketten, die Grace’ Handgelenke fest an ihre Seiten pressten. »Wenn dein Großvater das noch erlebt hätte.«

    »Ja klar, ich weiß, dass ich eine große Enttäuschung und Schande für die Familie bin«, sagte das Mädchen, während einer der nahen Beamten ihr einen Blick zuwarf.

    »Wenn du nur einsehen würdest, wieviel besser deine Lage sein könnte«, sagte ihre Mutter. »Wenn du nur ein wenig Richtung in dein Leben bringen würdest.«

    »Ich habe eine Richtung.« Grace drehte sich wieder zu ihrer Mutter um, ihre Fäuste geballt. »Ich brauche dich nicht und auch keinen anderen, der mir vorschreibt, wie ich mich benehmen soll und was ich zu tun habe. Ich kann mit allem ganz gut allein umgehen.«

    »Das ist genug«, sagte der bullige Aufseher, als er sich dem Paar näherte. »Frau Waters, es wird jetzt Zeit für Sie auf Wiedersehen zu sagen.« Er starrte Grace an. »Vielleicht vergehen dir deine großen Töne ja bald, und du lernst ein wenig Respekt in Sapling Hill.«

    »Na klar, und vielleicht werde ich Präsidentin, wenn ich groß bin, oder was?« Grace zerrte mit ihren Handgelenken an den Fesseln. »Dir ist das doch scheißegal, du kannst mich mal, geh zur Hölle, du mieses Schwein!«

    Der Vollzugsbeamte ergriff ihren Arm. »Ich glaube, du sitzt am besten vorn, mit mir«, sagte er. »Frau Waters, hat Ihr Anwalt Ihnen die Besuchsregelung erklärt?«

    Grace’ Mutter nickte und holte ein weiteres Papiertaschentuch hervor. »Er sagte, vielleicht nach den ersten zwei Monaten.«

    »Sie werden Ihnen einen Brief schicken und Ihnen Bescheid geben«, sagte er. »Wir gehen jetzt, Großmaul.«

    »Was ist los? Kannst keine abkriegen ohne sie anzuketten?« spottete Grace, während er sie in Richtung Bus zog. »Oder kriegste eh keinen hoch?«

    »Oh ja, deine große Klappe werden sie in Sapling Hill willkommen heißen«, sagte er und brachte sie dann zu einem abrupten Halt vor dem Bus, wo ein anderer Beamter mit einem Klemmbrett in der Hand stand. »Das ist Grace Waters«, sagte er. »Sie bleibt vorn.«

    Grace war rasend vor Wut, als der Bus durch die hohen Tore von Sapling Hill fuhr. Eine gut gezielte Ladung Spucke hatte ihr einen Knebel eingebracht und Gelächter und Kommentare von den anderen Mädchen. Inzwischen hatte der Bus angehalten und alle waren ausgestiegen, bis auf sie. Der Beamte, der sie in den Bus verfrachtet hatte und den sie bespuckt hatte, sprach nun mit einer großen Frau mit kurzen, schwarzen Haaren, die einen Kampfanzug trug. Die Frau nickte mehrmals, dann stieg sie in den Bus.

    »Also, Waters, es scheint, du wirst der schwierige Fall in dieser Truppe sein.« Die imposante Frau stand nun vor Grace und überragte sie. »Hör mal zu und hör ganz genau zu, kleines Mädchen. Der Spaß ist vorbei!« schrie sie in Grace’ Ohr und erschreckte sie, als die Fesseln, die das Mädchen an den Sitz gekettet hatten, entfernt wurden. »Jetzt beweg deinen Arsch aus diesem Bus und stell dich in die Reihe. Bewegung!« Grace rannte aus dem Bus, die schreiende Frau direkt auf den Fersen. »Los, los, los!«

    Als das Mädchen das Ende der Reihe erreicht hatte, drehte sie sich um und stand mit Blick auf den Bus.

    »In Ordnung, meine Damen«, sagte die große Frau. »Willkommen in der Sapling Hill Besserungsanstalt. Ich bin Aufseherin Carey. Ihr werdet mich entweder mit ›Aufseherin Carey‹ oder ›Ma’am‹ ansprechen.«

    Grace schaute sich um und bemerkte, dass mehr als die Hälfte der umherstehenden Mädchen orangefarbene oder grüne Overalls der Justizvollzugsbehörde trugen, sie eingeschlossen.

    Carey schritt auf und ab vor den drei Dutzend Mädchen. »Nichts anderes wird toleriert. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

    Als Antwort erklang ein gemischtes Konzert von »Ja, Ma’am« und »Ja, Aufseherin Carey«, außer von Grace, deren Mund noch immer geknebelt war.

    Carey ging die Reihe entlang, bis sie vor Grace stand. »Das ist Waters«, sagte sie mit einer lauten, klaren Stimme. »Waters war dumm genug, ihren Mund nicht zu halten. Wie ihr sehen könnt, wurde sie bestraft.« Carey griff hinter Grace’ Kopf, löste den Knoten und entfernte den Knebel. »Das hier ist Sapling Hill. Ihr habt hier eine Chance, euer Leben umzukrempeln. Die anderen Aufseherinnen und ich sind hier, um euch zu helfen. Wenn ihr diese Hilfe akzeptiert, werdet ihr diese Anstalt als veränderte Menschen verlassen. Wenn nicht«, sie starrte Grace direkt an, »werden dies die traurigsten fünf Monate, die ihr jemals hattet.«

    »So ein Quatsch«, sagte Grace zu dem Mädchen, das an der nächsten Pritsche stand.

    »Echt ey«, stimmte das Mädchen zu und nickte. »Ich bin Latisha Jones.« Sie streckte ihre Hand aus.

    »Grace Waters.« Grace streckte ihre Hand aus und schüttelte Latishas, deren Haut einen dunklen Kontrast zu ihrer eigenen bot. »Was hast du angestellt, um hierher zu kommen?«

    »Die Schulbibliothek angezündet«, sagte Latisha. »Du?«

    »’nen Stuhl nach ’nem Lehrer geschmissen«, sagte Grace. »Der hatte es aber auch verdient.«

    »Hast du fünf Monate gekriegt?«

    »Sechs«, sagte Grace. »Wenn ich hier rauskomme, muss ich noch einen Monat absitzen, wahrscheinlich in Crestwood.«

    »Ich bin fertig nach hier«, sagte Latisha. »Mann, das is’ ja ’n ultrakrasser Schnitt.«

    Grace fuhr sich mit den Fingern durch ihre bunten Haare. »Steht mir besser als Dreadlocks«, sagte sie und verwies damit auf die Frisur, die Latisha hatte.

    »Jones.«

    Sie drehten sich um und sahen Aufseherin Carey auf sich zukommen.

    »Das ist hier keine Makramee-Klasse, und dein Kopf ist kein Blumentopf. Nimm die Perlen aus deinen Haaren, jetzt sofort. Waters, los!«

    Grace verdrehte die Augen und stemmte ihre Hand in die Hüfte. »Wohin?«

    »Runter und zehn Liegestützen, sofort!« schrie Carey und brachte Latisha dazu, zurückzuspringen und die anderen Mädchen im Quartier, mit dem aufzuhören, was sie gerade taten, um zu sehen, was das Spektakel sollte.

    Grace ließ sich auf den Boden hinunter, wenn auch nicht so schnell wie es die schreiende Frau sicher gern gehabt hätte.

    »Wenn ich dir eine Anweisung gebe, dann sagst du ›Ja, Ma’am‹ oder ›Ja, Aufseherin Carey‹!« brüllte sie. »Vier, fünf, sechs, weiter, sieben, acht, neun, zehn. Steh auf!«

    Grace fühlte die Wut in sich hochsteigen, zusammen mit der Verlegenheit, vor den anderen Mädchen gedemütigt zu werden, aber sie wusste, dass es besser war, diesmal ruhig zu bleiben. Zweifellos war Aufseherin Carey jemand, mit der sie sich besser nicht einlassen sollte.

    »Los mit dir.«

    Grace blieb stumm, als Aufseherin Carey sie zum Verwaltungsgebäude führte. Sie wollte sich keine weiteren Liegestützen einhandeln.

    »Wir werden was gegen deine Haare unternehmen«, sagte Carey, als sie die Tür mit der Aufschrift ›Friseur‹ aufschloss.

    »Nie im Leben«, sagte Grace. »Sie werden verdammt noch mal meine Haare nicht anfassen.«

    Carey war sofort an ihrer rechten Seite. »Habe ich dich gefragt?« schrie sie in Grace’ Ohr. »Runter und zehn Stützen! Du kannst hier rein gar nichts entscheiden, verstehst du? Verstehst du?«

    »Ja, Ma’am«, sagte Grace, während sie sich mit ihren Armen hochdrückte.

    »Was glaubst du, denken die Leute, wenn sie diesen Regenbogen auf deinem Kopf sehen? Sie sehen einen Freak, nicht jemanden, den sie ernstnehmen können. Willst du, dass die Leute so von dir denken?«

    »Nein, Ma’am.«

    »Es ist mir egal, welchen Mist deine Eltern dir haben durchgehen lassen, du fluchst nicht gegenüber den Ausbildern hier. Verstehst du?«

    »Ja, Ma’am.« Miststück.

    »Ganz runter und ganz hoch, Waters. Du nimmst keine Abkürzungen hier«, sagte Carey. »Neun, zehn. Steh auf.«

    Grace tat wie ihr geheißen und warf der Aufseherin einen vernichtenden Blick zu, weil sie sie Liegestützen machen ließ.

    »Zwäng deinen Arsch in den Stuhl, und ich will kein Wort mehr von dir hören, außer ich stelle dir eine Frage. Kapiert?«

    Grace verdrehte die Augen und hievte sich langsam in den Stuhl. »Ja, Ma’am«, sagte sie und bemühte sich, dabei so respektlos wie möglich zu sein.

    »Wir können dies einfach machen oder wir können dies schwierig machen, es liegt alles bei dir, Waters«, sagte Carey. »Du kannst den Regeln folgen und tun, was man dir sagt, oder du verbringst den ganzen Tag mit Liegestützen und wirst angeschrien. Du hast es in der Hand.« Sie steckte eine kurze Klinge in den elektrischen Rasierer. »Nun wirst du still sitzen bleiben, und deine große Klappe wird kein Wort von sich geben, außer wenn ich dich was frage.«

    Grace warf ihr einen mörderischen Blick zu, als der Rasierer angeschaltet wurde.

    »Was du denkst, ist dir deutlich ins Gesicht geschrieben.« Carey stellte das Gerät ab. »Du denkst, ich bin das größte lebende Miststück, und du würdest mir liebend gern eins verpassen.« Die dunkelhaarige Frau packte die beiden Seiten des Frisierstuhls und brachte ihr Gesicht bis auf wenige Zentimeter an das des Mädchens. »Tu’s, und du wirst feststellen, dass du nur gedacht hast, du wärst jetzt so unglücklich wie’s nur geht. Jetzt wisch dir diesen Ausdruck aus dem Gesicht und setz dich gerade hin.«

    Grace biss die Zähne zusammen und starrte angestrengt auf die Tür auf der gegenüberliegenden Seite, während Aufseherin Carey einen Plastikumhang um ihren Hals wickelte. Verdammtes Miststück. Sie wurde noch wütender, als bunte Haarlocken herunterfielen. »Bleibt da noch was über?«

    Eine starke Hand krallte sich auf ihren Kopf und hielt sie davon ab, sich zu bewegen. »Beweg deinen Kopf noch mal, und ich scher’ dir eine Glatze«, sagte Carey. »Und wenn ich fertig bin, gehst du runter und machst zehn Stützen. Möchtest du vielleicht zwanzig machen?«

    »Nein, Ma’am.«

    »Dann sitz ruhig und sei still.«

    Als sie zum Quartier zurückging, ließ Grace ihre Finger durch ihr jetzt kurzes, blondes Haar gleiten. »Verfluchtes Miststück«, sagte sie und rieb ihre Arme, in denen sie von all den Liegestützen schon einen Muskelkater spürte. Als sie Latisha mit mehreren anderen Mädchen vor dem Gebäude stehen sah, ging sie hinüber, um sich ihnen anzuschließen.

    »Verdammt, Schwester, du bist ja kahlgeschoren«, sagte Latisha.

    Grace wuschelte sich verlegen ihr Haar. »Das Miststück war nicht glücklich, bis sie mich fast skalpiert hatte«, sagte sie. »Was hab’ ich verpasst?«

    Latisha schüttelte den Kopf. »Nix. Siehste das Mädchen da drüben? Sie ist mit der kleinen Aufseherin aneinandergeraten.«

    »Jau«, sagte eines der anderen Mädchen. »Und Gage hat angefangen sie anzuschreien, und das Weichei hat sofort angefangen zu weinen wie ein Baby.« Die Mädchen lachten über den Vorfall, und Grace machte mit, in der Gewissheit, dass niemand sie zum Weinen bringen konnte.

    »In Ordnung, Mädchen. In eine Reihe«, sagte Gage, als sie sich näherte. »Armbreit auseinander, ich will jeweils neun nebeneinander und vier hintereinander sehen.«

    Die Mädchen versammelten sich, und Grace begab sich schnell in die hinterste Reihe. Plötzlich fühlte sie eine starke Hand auf ihre Schulter herunterklatschen. Die Blicke der Mädchen ließen keinen Zweifel daran, wer das war.

    »Du gehst nach vorn, wo ich dich im Auge behalten kann«, sagte Carey. »Los.«

    Grace war schlau genug, nicht zu widersprechen.

    Vorn hatte Grace jetzt ungehinderte Sicht auf drei der Aufseherinnen. Carey war die größte, ihr kurzes, schwarzes Haar schaute kaum unter der tristen olivenfarbenen Mütze hervor und eine verspiegelte Sonnenbrille verbarg ihre Augen. Neben ihr stand Gage. Etwas hinter den zwei anderen stand Donaldson, eine große, kurzhaarige Blonde mit einem kantigen Gesicht, deren hellblaue Augen ständig in Bewegung waren und von einem Mädchen zum nächsten wechselten.

    »Ruhe«, sagte Carey und sofort breitete sich Stille über die Truppe aus. »Wie ihr wisst, war es euch nicht erlaubt, irgendwelche persönlichen Sachen mitzubringen, außer dem, was ihr am Körper tragt.« Die verspiegelten Gläser drehten sich in Grace’ Richtung. »Dies ist das letzte Mal, dass ihr diese Sachen tragen werdet. Euch wird alles zur Verfügung gestellt, was ihr zum Anziehen benötigt, während ihr hier seid. Und bevor ihr auf dumme Gedanken kommt, BHs und Schlüpfer sind vorgeschrieben, nicht freigestellt.«

    Grace fragte sich kurz, wie sie diese Regel durchsetzen wollten; nicht, dass sie jemals dagegen verstoßen würde. Seit ihr Körper begonnen hatte, sich zu entwickeln, waren ihre Brustwarzen zu empfindlich geworden, um den ganzen Tag lang gegen Stoff scheuern zu können.

    Aufseherin Gage trat vor, sie reichte Carey nur knapp an die Schulter. »Ihr werdet in vier Truppen eingeteilt. Zählt durch und stellt euch mit eurer Truppe auf. Ihr seid die Alpha-, Bravo-, Charlie- und Delta-Truppe, genau in dieser Reihenfolge«, sagte sie über das Zählen hinweg. »Lasst mich erklären, wie euer Tag ablaufen wird, meine Damen. Um sechs Uhr werdet ihr aufwachen. Ihr habt eine halbe Stunde, um zu duschen, euch anzuziehen und eure Betten zu machen. Um sechs Uhr dreißig werdet ihr zur Inspektion hier erscheinen. Immer wenn euch gesagt wird, ihr sollt euch zur Formation melden, werdet ihr euch hier einfinden und mit eurer Truppe aufstellen. Ihr habt Frühstück von sieben Uhr bis sieben Uhr dreißig. Um sieben Uhr dreißig findet die Inspektion der Quartiere statt. Von acht Uhr bis zwölf Uhr werdet ihr an Hallen-Übungen oder Außen-Übungen teilnehmen. In Zukunft werden diese nur noch HÜ oder AÜ genannt werden. Nach dem Mittagessen habt ihr Unterricht, Nachhilfe oder Lernzeit bis zum Abendessen. Danach habt ihr drei Stunden für Lernen oder Freizeit. Nachtruhe ist um einundzwanzig Uhr. Das ist neun Uhr abends, für alle, die sich nicht so gut mit der Uhr auskennen.«

    »Eure Klassen- und Übungsgruppenzugehörigkeit richtet sich nach eurer Truppeneinteilung«, sagte Carey. »Der Stundenplan wird auf dem Schwarzen Brett außerhalb des Speisesaals ausgehängt. Ihr werdet persönliche Beratungsgespräche mit eurer zugeteilten Beraterin haben. Der Plan dafür wird auch am Schwarzen Brett ausgehängt. Es gibt hier keine Wochenenden, meine Damen. Montag, Mittwoch und Freitag gilt der Tagesplan A, und Dienstag, Donnerstag und Samstag Plan B. Sonntag ist kein Tag zum Ausruhen. An den Sonntagen gelten die Pläne A und B, mit der Ausnahme, dass ihr euch vom allmorgendlichen Laufen entschuldigen könnt, wenn ihr den Gottesdienst besuchen wollt. Die Nachmittage werden mit Lernen oder Hausaufgaben verbracht, zumindest solange, bis ihr euch gewisse Privilegien verdient habt.«

    »Privilegien«, sagte Gage, ihre Stimme war viel höher als die von Carey. »Was glaubt ihr, was Privilegien sind? Genauso wie in der Außenwelt sind Privilegien hier etwas, das ihr euch verdient. Wenn ihr euch Privilegien verdient habt, dann dürft ihr eure Freizeit entweder im Freizeitraum oder auf dem Sportplatz verbringen. Es wird euch dann erlaubt, Besuche von euren Familien zu bekommen.«

    »Nie im Leben«, sagte Grace, als sie die khakifarbene Uniform sah. »Wir sind doch nicht beim Militär.«

    »Du hast ein Problem?« fragte Gage, schnell näherkommend.

    »Nein, Ma’am.«

    »Dann stell das Geplapper ab und beweg dich.«

    Grace schritt zu der Theke vor, wo Aufseherin Carey bereits auf sie wartete.

    »Name?« fragte die schwarzhaarige Frau, ohne von ihrem Klemmbrett hochzusehen.

    »Waters, Ma’am.«

    Die Aufseherin drehte sich um und schnappte sich einen ordentlich zusammengefalteten Stapel Khakihosen und -hemden, auf denen Grace’ Namensschild bereits aufgestickt war. »Schuhgröße?«

    »Neununddreißig, Ma’am.« Aufseherin Carey schob die Kleidungsstücke in Grace’ Arme und packte dann noch schwarze Stiefel und weiße Leinen-Turnschuhe mit dicken Sohlen darauf. »Geh zur nächsten Ausgabe.«

    Grace ging weiter und stand nun vor Aufseherin Donaldson.

    »BH-Größe, Schlüpfergröße.«

    »Siebzig C, vierunddreißig, Ma’am.« Zwei Sport-BHs und drei Schlüpfer wurden ihrem Stapel hinzugefügt.

    »Ab in den nächsten Raum, ausziehen und duschen, dann die Uniform anziehen und zur Formation melden. Vergewissere dich, dass du bei der richtigen Truppe stehst«, sagte die blonde Frau. »Die nächste. BH-Größe, Schlüpfergröße.«

    Grace ging in den angrenzenden Raum, wo Aufseherin Mitchell auf sie wartete. »Ausziehen. Die Klamotten in die Mülltonne, Stiefel in die Kiste. Wie ist dein Name?«

    »Waters, Ma’am«, sagte Grace, während sie einen Fuß auf die Bank stellte und die Schnürsenkel zu lösen begann.

    »Schnieke Treter, Waters. Die Wohlfahrt wird sich drüber freu’n«, sagte Mitchell.

    Grace schaute mürrisch und hätte fast etwas gesagt, überlegte es sich im letzten Moment aber noch anders. Sie wollte keine Liegestützen mehr machen.

    »Los, Waters. Du hast nichts, was ich nicht auch habe.«

    »Hört gut zu«, sagte Carey. »Ihr habt zwei T-Shirts und zwei kurze Hosen bekommen. Das blaue Paar ist für HÜ, das weiße Paar zum Schlafen.« Sie hielt vor Grace an. »Waters, wann trägst du das blaue Paar?«

    »HÜ, Ma’am.«

    »Ihr habt außerdem mehrere Unterhemden erhalten«, sagte Carey und schritt an der Reihe der Betten entlang. »Wenn ihr euch zur Formation meldet, werdet ihr eure Uniform tragen. Diese besteht aus dem Folgenden: euren Stiefeln – glänzend poliert, die Schnürsenkel berühren nicht den Boden –, einem Paar weißer Socken, Schlüpfer, BH, Khaki-Hose – mit exakter Bügelfalte vorn und hinten –, dem gewebten Khaki-Gürtel mit blankpolierter Schnalle, eurer Khaki-Mütze, einem Unterhemd und eurem Khaki-Hemd mit sauber gebügelten Ärmeln.« Sie erreichte das Ende der Betten, drehte sich um und begann wieder zurückzugehen. »Wenn ihr zur AÜ, oder Außen-Übung, gerufen werdet, erscheint ihr in eurem TA. TA steht für Tarn-Anzug. Das ist das Tarnhemd und die Tarnhose, mit olivenfarbenem Unterhemd und der olivenfarbenen Mütze. Unterricht und Mahlzeiten werden in der normalen Uniform besucht.« Wieder hielt sie vor Grace inne. »Waters, woraus besteht die normale Uniform?«

    »Tarnhemd und Tarnhose, Ma’am.«

    »Runter und zehn«, sagte Carey. »Will jemand anderes es versuchen?«

    Ich hasse dich. Grace ließ sich auf den Betonboden hinab und begann ihre Liegestützen zu zählen.

    »Wir haben den ersten Tag überlebt«, sagte Gage, öffnete eine Cola-Dose und lehnte ihre Hüfte gegen den Schreibtisch.

    »Die Zeit wird diesmal lang werden, Sue«, sagte Carey und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Das fühle ich einfach.« Sie warf einen Blick auf den Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch. »Wir müssen noch die Beraterinnen-Einteilung fertigstellen.«

    »Wie viele sind noch übrig?«

    »Zwölf«, sagte Carey. »Mitchell hat zehn übernommen und Donaldson vierzehn.«

    »Warum hat Marilyn vierzehn genommen?«

    »Weil Judith den Förderunterricht in Mathe übernimmt«, sagte Carey.

    »Warum sollte jemand freiwillig den Förderunterricht in Mathe übernehmen?« fragte Gage. »Du weißt, das wird die größte Klasse werden.«

    »Judith ist sehr gut darin«, sagte Carey. »Sie kann jedem Mathe verständlich machen. Sei froh, dass ich es nicht zuweisen musste, sonst hättest du Förder-Mathe gekriegt.«

    »Auf keinen Fall, Carey«, sagte Gage. »Ich mache schon Private Finanzen und Englisch.«

    »Und ich hab’ Selbstverteidigung und Sexualkompetenz«, sagte Carey. »Glaubst du, ich mag es, zwei Stunden am Tag darauf zu verwenden, junge Mädchen dazu zu bringen, über Sex zu sprechen? Ich mach’ dir einen Vorschlag, du nimmst SK und ich übernehm’ sieben Mädchen.«

    »Keine Chance«, sagte Gage. »Ich übernehm’ sieben und du behältst SK.«

    Carey seufzte und griff nach der obersten Akte. »Wenigstens hab’ ich’s versucht«, sagte sie. »Also gut, Jennings, Christine. Sechzehn, Angriff mit einer tödlichen Waffe. Als Person mit Überwachungsbedarf erklärt, nachdem sie ihrem Vater den Schädel mit einem schweren Schraubenschlüssel eingeschlagen hat. Das Psycho- Gutachten deutet auf sexuellen Missbrauch.«

    »Ich nehm’ sie«, sagte Gage.

    »Okay, eine weg, noch elf übrig«, sagte Carey und griff nach der nächsten Akte. »Bowen, Jan. Siebzehn, oh, das ist schön: bewaffneter Überfall, Hehlerei, Körperverletzung, drei Aufenthalte in Crestwood. Wurde in ein Pflegeheim gesteckt, nachdem der Stiefvater wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger verurteilt wurde. Das Psycho-Gutachten ist unvollständig?« Sie schlug das oberste Blatt um und sah sich die Zusatzinfos an. »Sie hat die Psychologin in Crestwood angegriffen, aber bereits viel Erfahrung mit Therapie.« Sie blickte zu Sue. »Frag mich, was die Seelenklempnerin gesagt hat, um sie so ausrasten zu lassen.« Carey blätterte weiter in der Akte und stieß schließlich einen leisen Pfiff aus. »Scheint, als ob alle was über sie zu berichten hätten.«

    »Dreimal Crestwood sagt allein schon eine Menge aus«, sagte Gage. »Lass sie uns erst einmal zur Seite legen. Wer ist die nächste?«

    »Lopez, Maribel . . .«

    Die beiden Aufseherinnen entschieden sich hin und her und wählten die Mädchen, für deren Beratung und Betreuung sie die Verantwortung übernehmen wollten.

    Carey hob die letzte Akte an, erstaunt über den Umfang. »Waters, Graceful.« Sie hob eine Augenbraue und blickte zu Gage.

    »Du musst zugeben, ihre Mutter hat sich da was einfallen lassen«, sagte Gage.

    Carey lächelte und schüttelte den Kopf. »Ihre Mutter hätte sie lieber Stormy nennen sollen. Ich hab’ gedacht, ich müsste sie an den Stuhl fesseln, um ihr diese albernen Haare abzuschneiden. Okay, lass uns mal einen Blick auf die erlesenen Taten unseres Großmauls werfen. Siebzehn. Körperlicher Angriff, Vandalismus, Drogenbesitz auf dem Schulgelände, die Liste geht immer weiter . . .« Sie blätterte durch die Seiten. »Schau dir dieses Zeugnis an. Im ersten und zweiten Jahr in der High-School hatte sie nur Einser und Zweier, dann gleich im ersten Viertel ihres dritten Jahres nur noch Dreier, Vierer, Fünfer und sogar Sechser.«

    »Was sagt das Psycho-Gutachten?« fragte Gage.

    »Unvollständig. Sag bloß nicht, dass sie auch ihren Seelenklempner angegriffen hat.« Carey suchte in der Akte, bis sie den Bericht fand. »Sie weigerte sich, mit der Psychologin zu sprechen.« Sie schloss die Akte und legte sie auf den Stapel. »Ich übernehm’ Waters, du kümmerst dich um Bowen.«

    »Bist du sicher?« fragte Gage.

    »Ich bin sicher«, sagte Carey. »Ich habe da so eine Ahnung bei Waters.«

    Grace schwang sich das Handtuch über ihre Schulter und schnappte ihren Kulturbeutel. »Das ist so ein Quatsch«, sagte sie.

    »Echt ey«, sagte Latisha. »Was glauben die, was wir mit dem Rasierer anstellen?«

    »Nichts«, sagte Jan. »Gage will nur zugucken, das ist alles.« Sie gingen in den Umkleideraum und öffneten ihre zugewiesenen Spinde. »Macht sie an, herauszufinden, wer von Natur aus blond ist.«

    »Wunderbar«, sagte Grace, sie knöpfte ihr Hemd auf und zog es aus ihrer Hose. Neben ihr zog sich Latisha bereits ihren weißen Sport-BH aus und enthüllte Brustwarzen, die noch mal einige Töne dunkler waren als ihre leicht karamellfarbene Haut. Grace wagte es, sie aus den Augenwinkeln weiter zu beobachten, während sie sich selbst ihres T-Shirts und ihres BHs entledigte.

    »Tja, Latisha, ich nehm’ an, du musst dir da keine Sorgen machen«, sagte Jan.

    »Muss ich doch«, sagte Latisha. »Wie soll ich meine Bikinizone rasieren, wenn sie da steht und mich beobachtet?«

    »Dreh ihr den Rücken zu«, sagte Grace und ging in die Knie, um ihre Stiefel aufzuschnüren. »Dann ist alles, was sie sieht, dein Arsch.«

    »Au ja«, sagte Jan. »Der ist so breit, dass sie nichts anderes mehr sehen kann.«

    »Kannst mich mal, Bowen«, sagte Latisha. »Ich war nicht die, die noch mal zurück musste, um sich größere Hosen geben zu lassen.«

    »Das war nicht mein Fehler«, sagte Jan. »Crestwood hat denen die falsche Größe gegeben. Ich hab’ dir das vorhin schon gesagt.«

    »Ja klar, sicher«, sagte Latisha.

    »Wollt ihr Mädchen da den ganzen Tag stehen und quasseln?« rief Aufseherin Gage aus dem Duschraum.

    »Nein, Ma’am«, sagte Grace. Sie schob Schlüpfer und Hose zusammen herunter und setzte sich dann auf die Bank, um sie auszuziehen. »Duschen mit Babysitter«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu. »Totaler Quatsch.«

    »Echt ey«, sagte Latisha mit genauso leiser Stimme und schloss ihren Spind.

    »Okay«, sagte Jan. »Los, gehen wir und zeigen der Kurzen, was wir haben.«

    Als sie den großen Duschraum betraten, stand Aufseherin Gage am Eingang mit einem Klemmbrett und einer Schachtel Einwegrasierer an ihrer Seite. »Name?«

    »Bowen, Ma’am«, sagte Jen.

    Gage befestigte ein Plastikschild an einem Rasierer und beschrieb ihn dann mit einem wasserfesten Stift. »Rasieren ist nur in den Duschen Eins bis Vier erlaubt«, sagte sie, als sie Jan den Rasierer aushändigte. »Name?«

    »Waters«, sagte Grace und sah sich in dem gefliesten Raum um. Zehn Duschköpfe waren über drei Wände verteilt. An der vierten Wand gab es Handtuchhalter und eine Abtrennung für etwas Privatsphäre. Sie verdrehte die Augen. Na klar, kotzgrün mit kleinen Fenstern hoch oben, aus denen sich niemand zwängen konnte. Als ob eine versuchen würde auszureißen, während sie splitterfasernackt in der Dusche war.

    »Rasieren ist nur in den Duschen Eins bis Vier erlaubt«, sagte Gage.

    Sie hängte ihr Handtuch an den Halter und ging vorbei an Jan in Dusche Eins zur Dusche Zwei, während Latisha die neben ihr wählte. »Heißes Wasser?«

    »Lauwarm«, sagte Jan und seifte ihre Unterarme ein. »Also, was soll denn der ganze Trubel mit dem Rasieren genau hier?«

    Grace stellte das Wasser an und drehte es so heiß, wie es nur ging. »Ich nehm’ mal an, die wollen nicht, dass wir uns die Adern aufschlitzen oder so was.«

    »Mit diesen kleinen Dingern?« fragte Jan und streckte den kleinen blauen Rasierer in die Höhe. »Als nächstes werden sie uns noch die Seife wegnehmen, aus Angst, wir könnten daraus eine Pistole schnitzen.«

    Grace ließ das Wasser über ihre Haare laufen, dann griff sie nach dem Shampoospender, der an der Wand zwischen den Duschen angebracht war. »Kein Fön, kein Make-up, kein Nagellack, können noch nicht mal Schmuck tragen.«

    »Echt ey«, sagte Latisha. »Meine Ohrlöcher werden wieder zuwachsen, aber das ist denen ja egal.«

    »Ein Wunder, dass Hathaway ihre Brille behalten durfte«, sagte Grace. »Wissen die nicht, dass da Metall-Schrauben drin sind?«

    »Du hast einen Kommentar, Waters?« fragte eine respekteinflößende Stimme.

    »Nein, Ma’am«, sagte Grace und warf Jan und Latisha einen Blick zu. Ich muss lernen aufzupassen, was ich sage, wenn einer von der Schlägertruppe in der Nähe ist.

    Tag Zwei

    Grace hielt ihre Augen geradewegs auf den Fahnenmast gerichtet, während die Aufseherinnen die Reihen der Mädchen auf- und abmarschierten. Trotzdem fand sie sich kurz darauf Auge in Auge mit der furchteinflößenden Aufseherin Carey wieder.

    »Zwei Fehler bei Waters«, sagte sie. »Kein Unterhemd und Schnürsenkel am Boden.« Grace verlagerte ihr Gewicht von einem Bein zum anderen und verdrehte die Augen. »Runter und zwanzig!« schrie ihr Carey ins Ohr.

    Grace war sofort am Boden und kämpfte darum, ihre Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, für sich zu behalten. Verdammtes Miststück. Du denkst wohl, es macht Spaß, ständig Liegestützen zu machen? Beweg deinen großen Arsch doch selbst hier runter und mach mit. Dann merkst du, wie sich das anfühlt, du königliches Miststück. Als sie fertig war, stand sie auf und blickte wieder starr auf den Fahnenmast. Sie hatte die leise Hoffnung, dass er ihren Wünschen nachgeben, umfallen und direkt auf Carey landen würde.

    »In Ordnung, ab in den Speisesaal. Quartierinspektion in dreißig Minuten«, teilte Aufseherin Carey mit, die verspiegelte Sonnenbrille schaute in Grace’ Richtung. »Ich habe mir die Quartiere schon mal angesehen, und einige von euch sollten wohl lieber das Frühstück ausfallen lassen.«

    »Stillgestanden«, sagte Carey, als sie und Gage die Quartiere betraten. »Stellt euch an den Fußenden eurer Pritschen auf. Bowen, Turnschuhe gehören links neben die Truhe, nicht rechts. Jennings, Mützen werden nicht drinnen getragen.« Sie hielt vor Grace’ Pritsche. »Offensichtlich hat dir deine Mutter nie beigebracht, wie man ein Bett richtig macht«, sagte sie, beugte sich hinunter und riss die Laken mit einem kräftigen Ruck von der Matratze.

    Grace schaute zu, wie ihre Bettlaken auf den Boden fielen. Verdammt.

    »Nochmal machen«, befahl die dunkelhaarige Aufseherin.

    Grace griff nach unten und hob das Laken auf, warf es über die Matratze und führte es an den vier Enden darunter.

    »Halt«, sagte Carey und zog das Laken noch mal von der Pritsche. »Sieh mir zu. Nimm das Laken und die Decke zusammen. Zuerst immer das Ende unterführen, dort machst du eine scharfe Kante und steckst es fest.« Sie demonstrierte ihre Anweisungen. »Dann kommen die Seiten dran. Siehst du, keine Falten, und eine Münze könnte daran abprallen, so fest ist es.«

    »Ja, Ma’am«, sagte Grace, obwohl sie es für Unsinn hielt, sich darüber Gedanken zu machen, wie ein Bett gemacht war.

    »Nun bist du an der Reihe«, sagte Carey und zog Grace’ Pritsche noch mal ab.

    »Ja, Ma’am.« Grace nahm das Laken und zusammen mit der Decke warf sie es über die Pritsche. Sie führte es zuerst am Bettende unter die Matratze und machte dann eine sehr stümperhafte Kante, bevor sie die Seiten unterschlug.

    »Glaubst du, wenn ich nun eine Münze darauf fallen lassen würde, dass sie darauf hüpfen könnte?« fragte Carey.

    »Nein, Ma’am.« Wen kümmert’s?

    Aufseherin Carey packte die Laken ein weiteres Mal und zog sie herunter. »Nun, dann mach es noch mal und diesmal richtig.«

    »Ja, Ma’am.« Miststück. Grace schnappte die Decke vom Boden.

    »Stillgestanden!«

    Das Mädchen nahm Haltung an, die Decke immer noch fest in ihrer Hand.

    »Du solltest besser lernen, deine Klugscheißer-Haltung im Zaum zu halten, und ich meine damit jetzt sofort!« schrie Carey in Grace’ Ohr. »Mach es richtig, dann musst du es nicht immer wieder wiederholen. Verstehst du?«

    »Ja, Ma’am.«

    »Ich glaub’ nicht, dass du das tust, Waters. Aber du wirst es tun, auch wenn ich dich jede Sekunde lang anbrüllen muss. Jetzt runter und zehn. Jetzt!«

    Grace ließ sich auf den Boden runter. Verfluchtes Miststück.

    »Zähl laut mit, Waters.«

    »Eins, Ma’am.« Ich hoffe, du wirst von einem Bus überfahren. »Zwei, Ma’am.« Und nachdem er dich überfahren hat . . . »Drei, Ma’am.« . . . setzt er zurück. . . . »Vier, Ma’am.« . . . und fährt noch mal über dich drüber. »Fünf, Ma’am.« Fahr zur Hölle. »Sechs, Ma’am.« Ich hasse dich. »Sieben, Ma’am.« Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen? »Acht, Ma’am.« Miststück. »Neun, Ma’am.« Fall tot um. »Zehn, Ma’am.«

    »Steh auf und mach die Pritsche anständig«, sagte die Aufseherin.

    »Ja, Ma’am.« Ich hoffe, ich werd’ den Bus fahren. Grace langte nach unten, hob die Laken wieder auf und machte das Bett diesmal sorgfältig.

    »In Ordnung, Alpha- und Bravo-Truppe, antreten.« Carey stand vor der achtzehnköpfigen Truppe. »Die vier Stunden zwischen der Quartierinspektion und dem Mittagessen sind zur körperlichen Ertüchtigung gedacht. Wenn ihr nach Plan A eingeteilt seid, dann habt ihr das Training bei mir, unter Plan B erteilt Aufseherin Gage das Training. Bei diesen Übungen geht es um mehr als Muskelkater. Ihr werdet Selbstvertrauen gewinnen und das Gefühl, etwas erreicht zu haben – beides liegt bei jeder einzelnen von euch im argen. Wie viele von euch denken, dass ihr acht Kilometer laufen könnt?« Sie legte eine Pause ein und schaute von einem Mädchen zum nächsten. »Hey, nicht alle auf einmal die Hand heben. Noch bevor eure Zeit hier vorbei ist, werdet ihr acht Kilometer mit Leichtigkeit schaffen.«

    Grace verdrehte wieder ihre Augen und stemmte eine Hand in die Hüfte.

    »Waters, hast du ein Problem?«

    Grace richtete sich wieder gerade auf. »Nein, Ma’am.«

    »Bist du dir sicher? Du siehst nicht glücklich aus bei dem Gedanken an Hallen-Übungen.«

    »Hallen-Übungen sind okay, Ma’am.«

    »Dann ist es der Acht-Kilometer-Lauf, der diese kleine Unmutsbezeugung hervorgerufen hat.«

    »Nein, Ma’am.«

    »Dann muss ich annehmen, dass dein stiller Protest gar keinen Grund hatte«, sagte Carey völlig ruhig und ging zu dem Mädchen hinüber. »Also, da du den Unterricht ohne guten Grund unterbrochen hast: runter und zehn, sofort!«

    Grace ließ sich auf den Boden herunter.

    »Machst du gern Liegestütz?«

    »Nein, Ma’am.«

    »Dann magst du es, wenn man dich anschreit«, sagte Carey. »Ist es das? Brauchst du es, angeschrien zu werden?«

    »Nein, Ma’am.«

    »Bist du dir da sicher?«

    »Ja, Ma’am.«

    »Dann änderst du besser ganz schnell deine Einstellung«, sagte Carey. »Ich werde dir das nicht durchgehen lassen. Verstanden?«

    »Ja, Ma’am.«

    »Sieben, acht, neun, zehn. Jetzt steh auf und zeig ein bisschen Respekt.«

    Grace erhob sich und rückte ihre Mütze zurecht. Verdammtes Miststück.

    »Also gut, wir machen jetzt einen schön einfachen Ein-Kilometer-Lauf, Mädels. Fangt an euch zu dehnen.«

    Dehn das hier, dachte Grace, während sie sich warmmachte. Sobald die dunkelhaarige Frau ihr den Rücken zugedreht hatte, zeigte sie ihr den Mittelfinger.

    »Oh Mann, die hat dich wirklich gefressen«, sagte Jan mit leiser Stimme.

    »Sie ist ein verdammtes Miststück«, sagte Grace. »Ich werd’s in diesem Dreckloch nie schaffen, wenn ich mich mit der einlassen muss.«

    »Das ist doch kein Geplapper, das ich da höre, oder?« fragte Ausbilderin Carey und brachte damit alle flüsternden Unterhaltungen zu einem abrupten Ende. »Müsst also mit dem Dehnen fertig sein. Also gut, antreten und bereithalten.«

    »Grace, komm, sitz hier.« Latisha winkte sie rüber an den Tisch und rutschte zur Seite, um auf der Bank neben sich Platz zu machen. »Hast du den Stundenplan gesehen?«

    »Habe ich«, sagte Grace, als sie ihre Beine über die Bank schwang und sich setzte. »Irgendeine Idee, was PF bedeutet?«

    »Keinen Schimmer, aber Gage unterrichtet es«, sagte Latisha. »Ich weiß, SV ist Selbstverteidigung.«

    Grace verdrehte die Augen. »Na, großartig, das wird von Carey unterrichtet.«

    »Jau, noch ’ne Ausrede, auf uns rumzuhacken«, sagte Jan Bowen. »Grenner hat gesagt, Wickinger Donaldson hat der Delta-Truppe erzählt, dass SK Sexualkompetenz ist.«

    »Oh nein«, stöhnte Grace. »Sag bloß nicht, dass die den ganzen Scheiß machen mit ›seid brave Mädchen und haltet eure Beine zusammen‹.«

    »Hört sich so an«, sagte Jan. »Was ist dein Problem, Waters? Liegen deine Beine so weit auseinander, dass sie unterschiedliche Postleitzahlen haben?«

    Die Mädchen am Tisch brachen in Gelächter aus.

    »Kannst mich mal«, sagte Grace leichthin, ohne die dunkelhaarige Frau zu bemerken, die sich ihr von hinten näherte. »Wenigstens geh’ ich nicht ins Tierheim, um nach einem Date zu suchen.«

    »Oh nein, das hast du eben nicht wirklich gesagt«, sagte Latisha.

    »Ach leck mich, Waters.«

    »Nee, ich versuch, weniger Fett zu essen«, sagte Grace und erzeugte damit noch mehr Gelächter am Tisch, das jedoch nur Sekunden später plötzlich stoppte, weil alle erschrocken auf einen Punkt hinter Grace’ Rücken blickten. Sie verdrehte wieder die Augen, denn ihr war klar, dass ihre neue beste Freundin sie gerade wieder erwischt hatte.

    Carey beugte sich etwas hinab, um mit ihnen auf Augenhöhe zu kommen. »Glaubt ihr, meine Damen, ihr könntet etwas Sinnvolleres zum Bereden finden?« sagte sie und blickte in die Runde. Sie machte eine Pause, als ihr Blick auf Grace fiel. »Es sei denn, ihr habt Lust dazu, einen schönen langen Aufsatz darüber zu verfassen, wie unglaublich unfein es ist, anzudeuten, dass jemand Sex mit Hunden hat.«

    Könntest du vielleicht einmal ein anderes Opfer finden? Als die Aufseherin wieder außer Hörweite war, salutierte Grace mit ihren ausgestreckten Mittelfinger. »Jawoll ja, Kapitän Carey, Ma’am«, sagte sie und erzeugte damit wieder ein Kichern rund um den Tisch.

    »Sie macht sich doch nur Sorgen, dass dann für sie kein Dobermann mehr übrigbleibt«, fügte Jan hinzu, und das Gelächter wurde lauter. Sie hielt ihre Hände hoch wie die Pfoten eines bettelnden Hundes. »Wau, wau.«

    »Oh, Mist«, sagte Latisha. »Sie kommt zurück.« Die Mädchen beruhigten sich im Rekordtempo und machten den Eindruck, sehr an ihrem Mittagessen interessiert zu sein.

    »Warum ist euer Tisch von den vieren eigentlich der lauteste?« fragte Carey. »Ihr Mädchen scheint zu viel überschüssige Energie zu haben. Ich werde Aufseherin Gage wohl sagen müssen, dass sie euch morgen im Training mehr rannehmen soll.«

    »In Ordnung, setzt euch«, sagte Carey, als sie die Tür des Schulzimmers hinter sich schloss. »Nun, wenn das nicht die Bravo-Truppe ist. Aus welchem Unterricht kommt ihr gerade?«

    »Englisch, Ma’am«, sagte Latisha.

    »Also einem Unterricht, in dem ihr alle gut aufpassen solltet«, sagte Carey. »Nun, jetzt seid ihr in SK gelandet. SK steht für Sexualkompetenz, und unser Augenmerk in den nächsten fünf Monaten wird auf dem verantwortungsvollen Umgang mit Sex liegen, und wie sich sexuelle Aktivität auf euer Leben auswirken kann.« Die dunkelhaarige Aufseherin setzte sich auf den Tisch. »Nun, hier ist nicht die High-School und ihr seid kein guterzogener Mädchen-Chor. Ich nehme mal an, die meisten von euch sind keine Jungfrauen mehr. Nimm deine Hand runter, Jones. Ich hab nicht gefragt, wer es noch ist und wer nicht. Erzählt mir lieber, was ihr unter verantwortungsvollem Umgang mit Sex versteht. Waters?«

    Natürlich muss sie wieder auf mir rumhacken. »Es bedeutet, dass man mit Sex verantwortungsvoll umgeht, Ma’am.«

    »Gib

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