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Die Kunst der Benennung
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Die Kunst der Benennung
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Die Kunst der Benennung

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1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, führt Hitler einen ganz persönlichen Kampf: den Kampf für die Spitzmaus. Biologen, die sich erdreistet hatten, dem irrtümlich als "Maus" bezeichneten Tier einen anderen Namen zu verpassen, drohte er mit einem Arbeitseinsatz an der Ostfront. Um die richtigen Namen für die Natur wird - wenn auch weniger dramatisch - seit jeher gerungen. Entgegen der ausgefeilten Systematik der Tierkategorisierung unterliegt die Namensgebung selbst der Freiheit des Entdeckers und gestaltet sich entsprechend kunstvoll wie kontrovers. Doch wie passt das mit dem Exaktheitsanspruch der Naturwissenschaft zusammen? In einer unterhaltsamen Expedition durch die Geschichte der Naturkunde, durch Museen und Wildnis, eröffnet uns Michael Ohl eine eigentümliche, faszinierende Sprachwelt, die sich von volkstümlichen Bezeichnungen über die Systematisierung bei Linné bis hin zur Genetik stetig weiterentwickelt hat. Er erzählt die Geschichte von waghalsigen Abenteurern und sammelwütigen Sonderlingen und erkärt, warum der Maulwurf sein Maul bei sich behält und das Murmeltier pfeift und nicht murmelt. Mit diesem Verständnis des sinnlichen Wechselspiels von Kultur und Natur können wir begreifen, warum die "Diva unter den Pferdebremsen" mit goldenem Hinterteil den Namen von Beyoncé trägt, und was es mit der merkwürdigen Art "Homo sapiens" auf sich hat.
LanguageDeutsch
Release dateMay 9, 2015
ISBN9783957571342
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    Die Kunst der Benennung - Michael Ohl

    beschrieb.

    Hitler und die Fledermaus

    Kapitel 1

    In der Berliner Morgenpost vom 3. März 1942 stand an einer ziemlich unauffälligen Stelle eine kleine Meldung mit einer recht merkwürdigen Schlagzeile. »Nicht mehr Fledermaus!« versprachen fettgedruckte Lettern. Darunter laß man folgenden kurzen Text:

    »Die Deutsche Gesellschaft für Säugetierkunde hat bei ihrer 15. Hauptversammlung beschlossen, die zoologisch irreführenden Namen ›Spitzmaus‹ und ›Fledermaus‹ abzuändern in ›Spitzer‹ und ›Fleder‹. (Fleder ist eine alte Form für Flatterer.) Die Spitzmaus führte übrigens eine Vielfalt von Namen: Spitzer, Spitzlein, Spitzwicht, Spitzling. Während der Tagung wurden im Hörsaal des Zoologischen Museums verschiedene wichtige Vorträge gehalten […].«

    Ob diese kurze Notiz dazu geführt hat, dass zumindest die Leser der Berliner Morgenpost die in Berlin allgegenwärtigen Fledermäuse zeitweilig »Fleder« nannten, sei dahingestellt. Fledermaus ist sicherlich auch bis heute die übliche Bezeichnung für die einzigen hiesigen fliegenden Säugetiere und gehört wie auch die »Spitzmaus« zum allgemeinen deutschen Wortschatz. Selbst in Wörterbüchern oder fachspezifischeren Naturführern sind weder Fleder noch Spitzer zu finden (sieht man einmal von einem »kleinen Gerät zum Spitzen von Blei- und Buntstiften« ab). Es scheint beinahe so, als ob diese von den führenden deutschen Spezialisten für Säugetiere ausgerufene Namensänderung gänzlich ungehört den Weg vieler Zeitungsmitteilungen gegangen ist: Sie geriet in Vergessenheit.

    Allerdings gab es bereits einen Tag nach dem Erscheinen der Notiz eine unmittelbare Reaktion von unerwarteter Seite. Martin Bormann, der Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP, sandte am 4. März 1942 in seiner Funktion als Privatsekretär Adolf Hitlers eine Mitteilung an Hans Heinrich Lammers, den Chef der Reichskanzlei, in der er eine bemerkenswert unzweideutige Anweisung Hitlers überbrachte:

    »In den gestrigen Zeitungen las der Führer eine Notiz über die Umbenennungen, die von der Gesellschaft für Säugetierkunde anläßlich ihrer 15. Hauptversammlung beschlossen wurden. Daraufhin beauftragte mich der Führer, den Verantwortlichen mit wünschenswerter Deutlichkeit mitzuteilen, die Umbenennungen seien umgehend rückgängig zu machen. Wenn die Mitglieder der Gesellschaft für Säugetierkunde nichts Kriegswichtigeres und Klügeres zu tun hätten, dann könne man sie vielleicht einmal längere Zeit in Baubataillonen an der russischen Front verwenden. Wenn derartig blödsinnige Umbenennungen noch einmal erfolgten, würde der Führer unbedingt zu entsprechenden Maßnahmen greifen; keinesfalls solle man Bezeichnungen, die sich im Laufe vieler Jahre eingebürgert hätten, in dieser Weise abändern.«

    Es steht außer Frage, dass diese wenig missverständliche Aufforderung von den »Verantwortlichen« begriffen und umgesetzt wurde. Zumindest erschien bereits am 1. Juli 1942 im Zoologischen Anzeiger, zur damaligen Zeit das »Organ der Deutschen Zoologischen Gesellschaft« ein nur fünf Zeilen umfassender Hinweis. Die Notiz ist nicht namentlich gekennzeichnet und geht wohl auf die Herausgeber des Zoologischen Anzeigers zurück:

    »Zu der [in vorherigen Heften des Zoologischen Anzeigers] geführten Diskussion über etwaige Änderung der Namen ›Fledermaus‹ und ›Spitzmaus‹ teilt die Schriftleitung mit, daß laut Mitteilung des Herrn Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung aufgrund einer Anordnung des Führers Bezeichnungen, die sich im Laufe vieler Jahre eingebürgert haben, nicht abzuändern sind.«

    Es ist denkbar, dass Lammers diese über Bormann an ihn herangetragene Anweisung Hitlers an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, weitergeleitet hat. Rust hatte dann vermutlich einen der »Verantwortlichen« dieser unerwünschten Initiative aufgefordert, an geeigneter Stelle eine entsprechende Korrektur zu veröffentlichen. Dafür bot sich der Zoologische Anzeiger an, da dort bereits 1941 in zwei Artikeln diskutiert wurde, ob der Name Spitzmaus zu ändern sei.

    Was ist nun aber das Problem, das gestandene Wissenschaftler mit den Spitzmäusen und Fledermäusen haben? Und wie kommt es, dass sich ein Adolf Hitler, dessen folgenreiche Welteroberungspläne ihn 1942 sicherlich voll ausfüllten, persönlich für die korrekte Benennung einiger kleiner Säugetierarten einsetzte?

    Der Stein des Anstoßes bei diesen beiden unscheinbaren und vertrauten Bezeichnungen ist die »Maus« als zweiter Wortbestandteil. Diesen Teil eines Kompositums, also eines zusammengesetzten Substantivs, nennt man in der deutschen Grammatik das Grundwort oder Determinatum. Das immer am Schluss befindliche Grundwort legt dabei die Hauptbedeutung sowie das grammatikalische Geschlecht des zusammengesetzten Wortes fest. Das links vom Grundwort stehende Wort, das Bestimmungswort oder Determinans (es können auch mehrere Wörter sein), bestimmt die Bedeutung des Grundwortes genauer. So ist ein Wandschrank zuallererst einmal ein Schrank, dem die genauere Bestimmung beigegeben wird, an der Wand zu hängen. Bei unseren Mäusen ist also eine Gelbhalsmaus in erster Linie eine Maus. Mäusearten gibt es viele, sodass eine artgenaue Benennung einen einschränkenden oder modifizierenden Wortanteil braucht. Da diese Art eine gelbliche Halsfärbung besitzt, präzisiert man die allgemeine Bezeichnung Maus durch den davorgesetzten Bestandteil, sodass eine eindeutige Bezeichnung für eine ganz bestimmte Mäuseart, die Gelbhalsmaus, entsteht.

    Ganz entsprechend verfährt man üblicherweise mit den Fledermäusen und den Spitzmäusen, die (sprachlich) zuallererst einmal Mäuse sind. Durch den Verweis auf bestimmte Charakteristika im zusammengesetzten Wort (Fleder kommt von Flattern, Spitz verweist auf die spitze Nasenbeziehungsweise Kopfform) wird eine eindeutige Benennung ermöglicht (zumindest fast eindeutig, da es mehrere Fledermaus- und Spitzmausarten gibt, aber dazu später mehr). Beide Namen implizieren also die Zugehörigkeit zu den Mäusen, und hier liegt der zoologische Hase im Pfeffer. Mäuse im zoologischen Sinn sind eine Gruppe von Nagetieren, die man auf einer höheren Ebene der Klassifikation als Muroidea oder Mäuseartige bezeichnet. Zu ihnen gehören recht verschiedene Tiergruppen mit teils wunderlichen Namen wie Blindmulle, Stachelbilche und Mähnenratten, aber auch unsere heimischen Hamster und die uns vertrauten Mäuse und Ratten. Gemeinsam sind allen Mäuseartigen allerlei recht komplexe Merkmale im Schädelbau und natürlich die den Nagetieren typischen vergrößerten, ständig nachwachsenden Nagezähne. Auch wenn es darüber hinaus verschiedenste evolutive Spielereien rund um dieses Mäusemotiv gibt (lange oder kurze Beine, verschiedene Fellfarben und Schwanzlängen und vieles mehr), sind doch die meisten Mäuseartigen auch ohne biologische Fachkenntnis ohne Weiteres als Maus in einem ganz vagen Sinne erkennbar. Zoologisch gesehen reicht der Tatbestand einer gewissen mäusehaften Erscheinung nicht aus, um die Mäuseartigen zu kennzeichnen. Stattdessen müssen die besonderen anatomischen Schädelmerkmale herhalten. Die Grundidee der biologischen Systematik ist dabei recht einfach und einleuchtend. Im Lauf der Evolution haben Tier- und Pflanzenarten neue Merkmale entwickelt und an ihre Nachfahren weitergegeben. Übereinstimmungen zwischen heute lebenden Arten können also Indizien dafür sein, dass diese Arten auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen, von dem sie diese Merkmale übernommen haben. Die Ähnlichkeit zwischen diesen Arten ist also das Ergebnis eines Evolutionsereignisses, das tief in der Vergangenheit liegt und nur indirekt als wissenschaftliche Hypothese erschlossen werden kann. Gruppierungen von Arten, für die man den Nachweis führen kann, dass sie auf eine nur ihnen gemeinsame Stammart zurückgehen, und ein System der Organismen, das nur solche Gruppen enthält, nennt man »natürlich«. Dem stehen künstliche Gruppen und künstliche Systeme gegenüber, bei denen die Zusammengehörigkeit der Arten durch Übereinstimmungen begründet wird, für die gezeigt werden kann, dass sie nicht als evolutive Neuerung einmalig bei der letzten gemeinsamen Stammart entstanden sind. Ein natürliches System der Organismen repräsentiert also den wahrscheinlichen Verlauf der Evolution, eine künstliche Klassifikation dagegen eine ganz willkürliche Vorstellung des Menschen über eine sinnvolle Gruppierung der Arten. Die heutige biologische Systematik strebt in der Regel die Rekonstruktion des natürlichen Systems der Organismen an.

    Verkompliziert wird die Rekonstruktion des Systems der Organismen dadurch, dass die Evolution nicht selten eingeschlagene Wege unvorhersehbar verlässt. So passiert es manches Mal, dass einmal erworbene Merkmale bei späteren Arten wieder verloren gegangen sind oder sich erneut änderten. Das bedeutet, dass die bei einer Stammart erworbenen Erkennungszeichen heute nicht immer noch zu finden sein müssen. Die hohe Kunst der biologischen Systematik besteht nun darin, mithilfe all dieser Merkmale gut begründete Abstammungshypothesen zu formulieren und Klarheit in den »Baum des Lebens« zu bringen.

    Zurück zu den Mäusen und ihren besonderen anatomischen Schädelmerkmalen. Da diese bei nahezu allen Mäuseartigen vorhanden sind, aber bei den nächsten Verwandten fehlen, schlussfolgern die Stammesgeschichtsforscher, dass sie als evolutive Neuheiten bereits bei der Stammart der Mäuseartigen, der »Ur-Maus«, entstanden sein dürften. Diese Schädelmerkmale erlauben den Systematikern also, in den Mäuseartigen eine natürliche Gruppierung zu sehen. Die Stammart aller Mäuseartigen, die diese Merkmale erworben hat, bildet damit den Ausgangspunkt, die Wurzel, des ziemlich komplizierten Mäusestammbaums, der an seinem Ende heute rund 1500 Arten, übrigens ein Viertel aller überhaupt auf der Erde lebenden Säugetierarten, umfasst. Die Aussage, eine bestimmte Nagetierart gehöre zu den Mäuseartigen, bedeutet also nichts anderes, als dass sie eine der vielen Nachfahren der letzten gemeinsamen Stammart der gesamten Mäuseverwandtschaft ist. Die in Deutschland vorkommenden Arten Erdmaus, Feldmaus, Hausmaus, Brandmaus, Gelbhalsmaus und noch einige andere Mäuse sind vielen von uns bekannt, auch wenn sie häufig recht versteckt leben und man sie nicht allzu oft antrifft. Diese Tierarten mit dem Hauptwort Maus sind wirklich Mäuse in einem zoologischen Sinn.

    Nun trifft dies auf die Fledermäuse und die Spitzmäuse, trotz ihres Namens, jedoch gerade nicht zu. Beide gehören noch nicht einmal zu den Nagetieren und sind folgerichtig auch keine Mäuseartigen. Aber was sind sie dann? In der Klassifikation der Säugetiere wird traditionell eine ganze Reihe von Gruppierungen unterschieden, die üblicherweise den Rang einer Ordnung innerhalb der Klasse der Säugetiere haben. Von diesen Ordnungen gibt es innerhalb der Säugetiere je nach wissenschaftlicher Meinung 25 bis 30. Eine dieser Ordnungen sind die Nagetiere, zu denen die Mäuseartigen und einige weitere Säugetiergruppen gehören. Die Fledermäuse dagegen sind typische Vertreter der Ordnung der Fleder- oder auch Flattertiere. Ihr wissenschaftlicher Name ist Chiroptera und setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern chiros, Hand, und pteros, Flügel. Chiroptera bedeutet also sinngemäß Handflügler und ist eine recht treffende Bezeichnung für Fledermäuse und ihre nächsten Verwandten, die Flughunde. Beide spannen ihre typische Flugmembran zwischen den stark verlängerten Fingerknochen auf. Die Fähigkeit zum aktiven Flug hat sich innerhalb der Säugetiere nur bei ihnen entwickelt. Andere, zumindest scheinbar flugfähige Säugetiere wie die Flughörnchen sind passive Gleitflieger. Chiroptera sind mit deutlich mehr als 1000 bisher bekannten Arten die zweitgrößte Säugetiergruppe nach den Nagetieren. Den Fledermäusen fehlen nun nicht nur die den Mäuseartigen typischen Schädelmerkmale, sie besitzen darüber hinaus auch die den Chiroptera eigenen Merkmale wie die »Handflügel«. An der Zugehörigkeit der Fledermäuse zu den Chiroptera kann es daher keinen Zweifel geben.

    In gleicher Weise lässt sich die systematische Stellung der Spitzmäuse bestimmen. Auch sie besitzen die fraglichen Mäusemerkmale nicht, teilen dafür allerdings Eigenschaften mit den Maulwürfen und Igeln sowie den nur auf den Karibischen Inseln vorkommenden Schlitzrüsslern (ein weiterer schöner Name im Übrigen). Erst seit 1999 firmieren sie gemeinsam unter der wundersamen Bezeichnung Eulipotyphla. Allerdings sind ihre Verwandtschaftsbeziehungen und die einer Reihe anderer Säugerfamilien wie der Tenreks, Desmane und Goldmulle nicht endgültig geklärt, und es gibt eine schwer zu überschauende Fülle von Bezeichnungen für unterschiedliche Kombinationen dieser Tiergruppen. Der immerhin auf Carl von Linné auf das Jahr 1758 zurückgehende und immer noch weit verbreitete Name für die Spitzmäuse, Igel, Maulwürfe und alle möglichen anderen mehr oder weniger exotischen Tiere ist Insectivora oder Insektenfresser. Dass sie auf eine nur ihnen gemeinsame Stammart zurückgehen, dass die Insectivora also eine natürliche, evolutiv begründbare Einheit darstellen, gilt heute als unwahrscheinlich. Es ist aber unzweifelhaft so, und das ist es, was uns hier besonders interessiert, dass die Spitzmäuse weder etwas mit den Nagetieren oder gar mit den Mäuseartigen zu tun haben noch mit den Fledermäusen.

    An dieser Stelle eine kleine Nebenexkursion auf die Spuren der Eulipotyphla. Die Vorsilbe Eu- wird bei wissenschaftlichen Namen recht häufig verwendet und bedeutet dem Griechischen entlehnt normal und typisch im Gegensatz zu krankhaft oder von der Regel abweichend. Eu- wird meist einem Namen vorangestellt, um zum Ausdruck zu bringen, diese Gruppierung vereine die eigentlichen, die wahren (in diesem Fall) Lipotyphla. Lipo- leitet sich allerdings nicht von lipos, also Fett oder Öl, ab wie in Lipiden, sondern von dem Verb leipo, was fehlen oder verlassen bedeutet. Das griechische typhlos schließlich bedeutet blind, dunkel und dient in der Medizin unter dem Begriff Typhlon als Bezeichnung für den Blinddarm. So sind die Lipotyphla also durch das Fehlen eines Blinddarms gekennzeichnet, und hinter den Eulipotyphla verbergen sich demzufolge die »eigentlichen Blinddarmlosen«. Wenig überraschend gibt es demgegenüber auch Nahverwandte mit einem Blinddarm, die Menotyphla heißen (von meno, bleiben, standhalten), wobei die Unterteilung der Insektenfresserverwandtschaft in Blinddarmlose und Blinddarmbesitzende von Ernst Haeckel aus dem Jahr 1866 stammt.

    Der Präfix Eu- hat bei der Bildung von neuen Namen im Rahmen der modernen Stammesgeschichtsforschung eine wichtige Bedeutung erlangt, da viele Systematiker dazu neigen, jeden oder doch viele der zahlreichen ineinander verschachtelten Äste der komplexen Stammbäume zu benennen. So wurden üblicherweise Spinnen, Insekten, Krebse und ihre Verwandten als Arthropoda, also Gliedertiere oder wörtlich Gliederfüßer, bezeichnet. Die Arthropoden mit ihrem hartem Außenskelett und den namengebenden, mehrfach gegliederten Extremitäten sind nah verwandt mit den Stummelfüßern (Onychophora) und den Bärtierchen (Tardigrada), zwei gar nicht sehr arthropodenhaft wirkenden Gruppen weichhäutiger Organismen mit einfachen, ungegliederten Beinen. Diese im System der Tiere ganz zentrale Beziehung zwischen den Stummelfüßern und Bärtierchen einerseits und den gegliederten Arthropoden andererseits sollte sich nach Ansicht der meisten Systematiker auch in entsprechenden Benennungen widerspiegeln. Dies kann auf zwei Wegen erreicht werden. Lösung 1: Man schlägt die Stummelfüßer und Bärtierchen ebenfalls den Arthropoden zu und erweitert so den Bedeutungsbereich von Arthropoda. Der Preis dafür: Die ehemaligen Arthropoden, also die mit den »richtigen« Gliederbeinen, benötigen einen anderen, neuen Namen. Lösung 2: Die alten Arthropoden bleiben Arthropoden, bekommen aber zusammen mit den Stummelfüßern und Bärtierchen einen neuen übergeordneten Namen.

    Der überwiegende Teil der Systematikergemeinschaft hat sich für Lösung 1 entschieden. Fortan schließen also die Arthropoda auch die weichhäutige Verwandtschaft der Stummelfüßer und Bärtierchen ein. Die eigentlichen Gliedertiere aber, die ehemals als Arthropoda bekannt waren, bekommen einen neuen Namen, der aus dem alten Arthropoda und einem davorgestellten Eu- gebildet wird: Euarthropoda. Das Eu- bedeutet, wie gesagt, normal und typisch, in einer Nebenbedeutung aber auch gut und schön, sodass man die Euarthropoda als neu benannte Teilgruppe der Arthropoda auch als die »Guten« unter den Gliederfüßern betrachten könnte, also als diejenigen, die sich durch den Besitz »ordentlicher« Gliedertiermerkmale ausweisen. Dass die griechische Sprache nun eigentlich verlangt, das Präfix Eu- vor einem Vokal zu einem Ev- zu wandeln, sodass die korrekte Bildung nicht Euarthropoda, sondern Evarthropoda lauten müsste, beachten nur einige wenige sprachpuristische Wissenschaftler. Abseits davon krabbeln die Euarthropoden auch ohne gräzistische Weihen fröhlich durch Publikationen wie Vorträge.

    Die Fachwelt weiß seit langer Zeit, nämlich spätestens seit Linnés Systema Naturae, dass die Fledermäuse und die Spitzmäuse keine Mäuseverwandte sind, worum sich allerdings der Volksmund wenig schert. Die oberflächliche Gestaltähnlichkeit ist frappierend, wenn auch recht unspezifisch, was im Übrigen auch für andere Tiere gilt, die zwar Mäuse heißen, aber keine sind. Die Seemaus, ein ungewöhnlicher Meeresborstenwurm in Mäusegröße mit einem schillernden Borstenkleid, kommt nur recht oberflächlich als Maus daher und besitzt keinen Schwanz. Ebenfalls als Seemaus werden manchmal die mäusegroßen, mehr oder weniger rechteckigen Eier der Rochen und Haie bezeichnet, die allerdings außer der Größe kaum noch Mäusemerkmale zeigen. Die Neigung, etwas als Maus zu bezeichnen, wird also schon bei sehr grober Gestaltähnlichkeit ausgelöst, bei Spitzmäusen und Fledermäusen dagegen liegt es unmittelbar auf der Hand.

    Nun sind Wissenschaftler sicherlich willens anzuerkennen, dass Spitzmäuse oberflächlich wie Mäuse aussehen, ihr Tun und Streben als Systematiker allerdings dient dem Ziel, wissenschaftlich exakt und unzweideutig zu sein. Dies nicht nur ganz allgemein in ihrer wissenschaftlichen Arbeit – das sowieso –, sondern ganz besonders auch bei den verwendeten wissenschaftlichen Bezeichnungen der Organismen. Ausführliche Regelwerke wie die Nomenklaturregeln dienen einzig dem Zweck, in der Biologie eindeutige und für jeden nachvollziebare Namen festzulegen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass manche Systematiker diese strengen Standards auch auf die nicht-wissenschaftlichen, die umgangssprachlichen Benennungen ausweiten möchten. Dies spielt sicherlich bei gut bekannten Tiergruppen wie den mitteleuropäischen Säugetieren und Vögeln eine besondere Rolle, da es eine überschaubare Zahl von Arten gibt, die allesamt einen deutschen Namen tragen. Einer der Säugetierforscher, die sich für die Vereinheitlichung der deutschen Säugetiernamen eingesetzt haben, ist Hermann Pohle. 1892 in Berlin geboren und der Stadt zeitlebens treu geblieben, hat Pohle einen Großteil seines Lebens am dortigen Museum für Naturkunde gearbeitet. Seine Karriere als Säugetierforscher begann schon während seines Studiums als unbezahlter Hilfsarbeiter in der berühmten Säugetiersammlung des Museums, und durch Fleiß, Ausdauer und wissenschaftliche Kompetenz arbeitete er sich bis zum zuständigen Kustos für Säugetiere hoch. Er hatte damit eine der einflussreichsten Positionen der systematischen Säugetierforschung mit internationaler wie nationaler Bedeutung inne. Pohle gründete 1926 zusammen mit Ludwig Heck, dem damaligen Direktor des Berliner Zoos, und einigen anderen Kollegen die Deutsche Gesellschaft für Säugetierkunde, deren erster Geschäftsführer er wurde. Damit war Pohle sozusagen am Puls der säugetierkundlichen Zeit, und er begleitete die Geschicke der Gesellschaft über fünf Jahrzehnte »mit warmem Interesse«, wie ein Biograf berichtete.

    2.

    Eier der Patagonienmöwe Larus maculipennis Lichtenstein, 1823 (heute in der Gattung Chroicocephalus) und verschiedener anderer Möwenarten.

    Neben seiner Tätigkeit als Säugetierforscher und Kurator der Säugetiersammlung am Berliner Naturkundemuseum galt Pohles Interesse auch den deutschen Säugetiernamen. Dabei setzte sich Pohle nun nicht nur für eine Vereinheitlichung der Namen ein, sondern auch dafür, die bereits vergebenen Namen auf wissenschaftliche Plausibilität zu prüfen und zu ändern, wenn sie ihm zoologisch nicht geheuer erschienen.

    Das Jahr 1942: Pohle veröffentlichte einen zusammenfassenden Artikel zur Frage »Wie viele Säugetierarten leben in Deutschland?«, dem er eine vollständige Liste aller deutschen Säugetiere mit korrektem »technischem Namen«, wie Pohle es nannte, und dem dazugehörigen deutschen Namen beifügte. Im Falle der Spitzmausarten (es gibt derer bei uns im Übrigen acht, auch wenn bislang der Eindruck entstanden sein mag, es gäbe »die« Spitzmaus) und der 16 Fledermausarten, die »Fledermaus« als Grundwort im Namen tragen, werden nun konsequent alternative Bezeichnungen verwendet. So sollen die acht Spitzmausarten Waldspitzer, Zwergspitzer, Alpenspitzer, Wasserspitzer, Mittelspitzer, Feldspitzer, Gartenspitzer und Hausspitzer heißen. Bei den Fledermäusen wird das Grundwort des zusammengesetzten Namens zu Fleder: Teichfleder, Langfußfleder, Wasserfleder und so weiter bis hin zu einer Bezeichnung besonderer Eleganz, dem Wimperfleder.

    Pohles Artikel, der den Geschehnissen rund um die 15. Jahresversammlung der Gesellschaft und dem emotionalen Einspruch Hitlers um mehr als ein Jahr vorausging, ist aber auch deshalb eine interessante Quelle, weil er uns seine eigentliche Motivation für die Änderungsvorschläge mitteilt. Er will mit Nachdruck erreichen, dass »die Bezeichnung ›Maus‹ verschwindet, ist doch diese daran schuldig, daß die Tiere von Laien immer wieder mit den wirklichen Mäusen in einen Topf geworfen werden«. Mäuse seien nach der Laienüberzeugung etwas »Häßlich-Schädliches, das man bekämpfen, am besten ausrotten muß«. Und dieses brutale Schicksal erlitten eben auch die für den Menschen so harmlosen Spitz- und Fledermäuse. Pohle aber hofft, dass sich »ein Wandel der Anschauung« ereigne, wenn die gefährdeten Tiere nicht mehr als Mäuse bezeichnet werden. Was also tun? Am liebsten wäre Pohle der Name Spitz für Spitzmaus, der aber bereits einer Hunderasse anhängt. Rüssler sei auch geeignet, aber ebenfalls bereits an andere Insektenfresser vergeben. Bleibt Spitzer, ein Name, der den spitzen Kopf als herausstechendes Merkmal betone und noch frei sei. Für die Fledermäuse wünscht sich Pohle einen Namen ohne Maus, gern aber mit Bezug auf die Flugfähigkeit der Tiere. Die meisten derartigen Namen seien schon für Vögel in Benutzung, und »Flatterer« könne sinnvoll nur einem Teil der Fledermäuse angeheftet werden, nämlich demjenigen der schlechten Flieger. »Flieger« selbst sei ebenfalls ein heißer Kandidat, allerdings auch bei verschiedenen Tiergruppen in Verwendung. Warum aber, fragte Pohle den Leser, müsse man überhaupt Fleder»maus« sagen, wenn doch bei genauem Nachdenken »Fleder« völlig genüge? Pohle wies zwar darauf hin, dass die ursprüngliche Bedeutung von Fleder eine andere sei, dass diese aber heute niemand mehr kenne. Für den Fall, dass er damit richtig liegt, sei hier noch ergänzt, dass die Fledermaus sich bereits seit dem 10. Jahrhundert als fledarmus vom althochdeutschen vledern, also Flattern, ableitet. Seit dieser Zeit gibt es also die Fledermaus als »flatternde Maus« in zahlreichen Sprachen. Es gibt noch einige andere deutsche Bezeichnungen für Fledermäuse. In manchen Regionen Deutschlands, so in Rheinland-Pfalz und Südhessen, soll das althochdeutsche fledarmus auf die ebenfalls nachtaktiven Nachtfalter und Motten übertragen worden sein. Die eigentlichen Fledermäuse sollen dort Speckmäuse heißen, da man sie winters wie Speck im Rauch hängen sehe.

    Pohles engagiertes Auftreten, den Schutz der Fleder- und Spitzmäuse durch eine gewagte Namensänderung zu fördern, erreicht ein Jahr später seinen einstweiligen Höhepunkt, als auf der 15. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Säugetierkunde in Berlin eine Resolution verabschiedet wird, die von Pohle vorgeschlagenen Spitzer- und Fledernamen allgemein und verbindlich zu akzeptieren. Die Folgen sind bekannt: Hitler was not amused.

    An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass Pohle wenige Jahre nach den geschilderten Ereignissen, nämlich 1956, zusammen mit einigen namhaften Vertretern der deutschen Säugetierforschung einen grundlegenden und zusammenfassenden Vorschlag für »Die deutschen Namen der Säugetiere« veröffentlichte. Sowohl von »Spitzern« als auch von »Fledern« war darin längst nicht mehr die Rede. Alle Spitzmausarten heißen wie eh und je Spitzmaus, alle Fledermausarten Fledermaus.

    Es kann bezweifelt werden, dass Hitlers erbostes Eingreifen zugunsten von Spitzmaus und Fledermaus einen weitreichenden Einfluss auf den tatsächlichen Gebrauch deutscher Namen hatte. Sicher, die zuständigen Wissenschaftler werden nicht lange überlegt haben, auf Spitzer und Fleder zu verzichten oder lieber anderweitig »eingesetzt« zu werden. Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass einer Notiz im Zoologischen Anzeiger oder entsprechenden Aufrufen in anderen Organen oder anlässlich späterer säugetierkundlicher Tagungen überhaupt weitreichender Einfluss auf die Verwendung dieser umgangssprachlichen Namen beschieden gewesen wäre.

    Anders als die Namen in allen folgenden Kapiteln, in denen es um wissenschaftliche Nomenklatur geht, sind Spitzmaus und Fledermaus Elemente der deutschen Alltags- oder Umgangssprache. Die formale Nomenklatur der wissenschaftlichen Namen wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt eingesetzt, der im Fall der Tiernamen ziemlich genau 250 Jahre zurückliegt. Nomenklaturregeln können sich zwar ändern und tun dies auch, allerdings wiederum durch einen streng formalisierten und für jeden Interessierten nachvollziehbaren Prozess der Um- und Neuformulierung einiger Bestandteile des Regelwerks. Dies entspricht in vielem der Anpassung oder Ergänzung juristischer Gesetzestexte. Eine Besonderheit der wissenschaftlichen Namen ist zudem, dass ihr individueller Entstehungszeitpunkt exakt bestimmbar ist. Erst durch ihre Veröffentlichung beginnen sie zu existieren.

    Die Alltagssprache und ihre sprachlichen Elemente dagegen unterliegen völlig anderen Einflüssen und haben eine ganz eigene, dem Wesen nach nicht formalisierte Entstehungsgeschichte. Der Ursprung unserer heutigen Sprache, die man sprachwissenschaftlich als Neuhochdeutsch bezeichnet, lässt sich immerhin bis etwa 1600 zurückdatieren, und der Sprachgebrauch und die verwendeten Wörter in der deutschen Sprache haben sich seitdem gravierend verändert. Wortänderungen, Wortbildungen, Wortverluste und Aufnahme von Worten aus anderen Sprachen (Wortentlehnungen) hat es zu allen Zeiten gegeben, auch wenn durch schnelle, weltweite Kommunikationswege besonders Anglizismen heute schneller denn je in die deutsche und andere Sprachen einsickern. Die Wörter der deutschen Sprache wurden daher im Gegensatz zur wissenschaftlichen Nomenklatur in der Regel nicht durch einen genau datierbaren Akt der Wortschöpfung geboren, sondern nahmen durch vielfältige Einflüsse in einem komplexen sprachlichen Prozess im Laufe der Zeit ihre heutige Gestalt an.

    Die in der deutschen Sprache verwendeten Tiernamen sind zu einem erheblichen Teil keine einfachen Wörter, Simplizia, wie der Sprachwissenschaftler sagt, sondern Kombinationen aus mehreren Elementarausdrücken. Nach Zerlegung dieser zusammengesetzten Wörter in ihre Wortbestandteile kann man in vielen Fällen spontan ihren sprachlichen Ursprung erkennen, oft sogar ihre Bedeutung. Im typischen Fall wird einem verallgemeinernden, einfachen Grundwort wie Maus, Ente oder Muschel ein spezieller Wortteil angefügt, der zur notwendigen Genauigkeit in der Bezeichnung des jeweiligen Tieres führt: Hausmaus, Stockente, Scheidenmuschel. Durch Hinzufügung weiterer Wortbestandteile, auch durch Adjektive, können einander ansonsten ähnliche Arten sprachlich weiter unterschieden werden: Polarbirkenzeisig, Späte Adonislibelle, Vierfleckige Kreuzspinne. Wenn man sich also fragt, warum der Feldhase diesen Namen trägt, scheint die Antwort intuitiv auf der Hand zu liegen. Es handelt sich um einen Hasen (übrigens auch aus zoologischer Sicht), der sich als Bewohner offener Landschaften gern auf landwirtschaftlichen Flächen aufhält und sich von den dort angebauten Pflanzen ernährt.

    Wesentlich schwieriger aber ist die sprachhistorische Ableitung der einzelnen Elemente eines solchen zusammengesetzten Tiernamens. So intuitiv sich die Bezeichnung Feldhase ableiten lässt, so wenig offensichtlich gelingt dies bei den Wörtern Feld und Hase. Dies sind zugegebenermaßen keine leichten Fragen und mit den Werkzeugen eines sprachinteressierten Biologen nicht zu beantworten. Das Problem dabei ist ein vor langer Zeit stattgefundener Wandel in der Wortbedeutung oder -verwendung, der sich vor dem Hintergrund unseres heutigen Wortschatzes nicht mehr ohne Weiteres erschließt. Hase dient uns inzwischen nur noch als Bezeichnung für einen bestimmten Typ von Säugetieren, der durch lange Ohren, große Augen und lange Hinterbeine gekennzeichnet ist. Man muss dabei immer damit rechnen, dass ein Wort wie Hase in seiner ursprünglichen Verwendung eine ganz andere Bedeutung gehabt hat oder aus einer anderen Sprache oder einem anderen Kontext auf diese Gruppe von Tieren übertragen wurde. Auch Neuschöpfungen von Wörtern, also die vollständige Erfindung einer neuen Lautfolge, kommen vor, gelten aber als extrem selten. Die Rekonstruktion der komplexen Herkunft und des geschichtlichen Wandels der Wörter ist das Forschungsgebiet der Etymologie, der ältesten aller sprachwissenschaftlichen Disziplinen.

    Das Feld in Feldhase ist einem ganz anderen Bedeutungskontext als dem zoologischen entnommen und dient hier der speziellen Bezeichnung eines ganz bestimmten Hasen. Dem allgemein Sprachinteressierten wird allerdings diese Auskunft bei Weitem nicht genügen, und so erklärt das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache von Friedrich Kluge (respekt- und liebevoll auch »der Kluge« genannt), dass Feld ursprünglich Ausgebreitetes oder Ebene bedeutet und bereits im Althochdeutschen des 8. Jahrhunderts nachweisbar ist. Auch das Wort Hase ist bereits seit dem 8. Jahrhundert im Althochdeutschen nachweisbar und meint in seiner ursprünglichen Bedeutung wohl »der Graue«.

    Die Herkunft des Tiernamens Maus ist dagegen nicht so leicht zurückzuverfolgen. Als mus oder in Form einer mus mehr oder weniger ähnlichen Ableitung ist die Maus offenbar in allen indogermanischen Sprachen nachweisbar. Auch sie reicht mindestens bis in das Althochdeutsche des 8. Jahrhunderts zurück. Auffällig ist zudem, dass Maus im Lateinischen ebenfalls mus heißt, was sich heute noch im wissenschaftlichen Artnamen Mus musculus widerspiegelt. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass das indogermanische mus durch Entlehnung aus dem Lateinischen entstanden ist. So weit die sprachhistorische Ableitung. Welches aber ist dann die ursprüngliche Bedeutung von mus?

    Dazu sagt uns der Kluge, dass die Bedeutung und Herkunft von mus im Detail zwar umstritten sei, dass es aber doch eine »ansprechende« Erklärung gäbe. So soll sich mus aus dem altindischen musṣṇắti herleiten lassen, was »stiehlt« bedeutet und auf die lästige Angewohnheit von Mäusen Bezug nehmen könnte, Lebensmittel zu »stehlen«. Allerdings könne auch eine Verbindung zum althochdeutschen chreo-mosido nicht ausgeschlossen werden, was »Leichenberaubung« bedeute. Als ob diese Erklärung nicht bereits »ansprechend« genug sei, wird die Geschichte noch komplizierter. Kluge zufolge darf man ebenfalls nicht außer Acht lassen, dass die andere alte Nebenbedeutung des Wortes, »Muskel«, auf einen ganz anderen Kontext hindeutet. In vielen indogermanischen Sprachen existieren von mus ableitbare Wörter, die Muskeln bedeuten oder zumindest einen bestimmten Muskel. Es ist daher denkbar, dass der Tiername auf die dementsprechende Bedeutung »das sich Bewegende« zurückgehe. In diesem Fall stünde auch das lateinische Verb movere, das uns noch im englischen to move und movement bekannt ist, in einer Beziehung zu mus. Eine Entscheidung, ob sich Maus nun inhaltlich von »Stehlen« oder doch von »Bewegung« ableiten lasse, könne nicht gefällt werden, so der Kluge. Zumindest aber zeigt uns das einfache, in der Kindheit leicht und daher früh erlernbare Wort Maus, wie kompliziert worthistorische Ableitungen sein können.

    Neben allgemeinen etymologischen Wörterbüchern gibt es keine zusammenfassende, wissenschaftliche Bearbeitung der Herkunft der deutschen Tiernamen. Das eher populär gehaltene Buch von Helmut Carl über Die deutschen Pflanzen- und Tiernamen. Deutung und sprachliche Ordnung, das seit 1957 in mehreren Nachdrucken erschienen ist, bietet eine wunderbare Übersicht über die Namensvielfalt der Organismen im Deutschen. Carl ordnet dabei die Namen im Wesentlichen nach dem Wortinhalt, also nach Bedeutungsgruppen, denen die jeweils zur Bildung des Namens verwendeten Wörter entstammen. So heißen die Kapitel unter anderem »Harmlose und tückische Naturgeister«, »Feste des Jahres« und »Sterben und Tod«. Eine enorme Sammlung von Namen, ihrer Ableitung und Bedeutung.

    Die etymologische Rekonstruktion zumindest der deutschen Vogel- und der Säugetiernamen im Carl aber auch im Kluge und in anderen etymologischen Wörterbüchern gehen wiederum auf zwei interessante Bücher zurück. Im Jahr 1899 veröffentlichte der finnische Philologe Hugo Palander einen Teil seiner Dissertation in einem Darmstädter Verlag. Die Arbeit trägt den Titel Die althochdeutschen Tiernamen. I: Die Namen der Säugetiere und wurde von Friedrich Kluge zumindest unterstützt, wenn nicht sogar formal betreut. Hugo Palander wurde 1874 in der südfinnischen Stadt Hämeenlinna geboren, die übrigens auch der Geburtsort des wohl bekanntesten finnischen Komponisten Jean Sibelius ist, der nur fünf Jahre vor Palander das Licht der Welt erblickte. Über Hugo Palander ist nur wenig bekannt. Nach dem Studium und Magister-Abschluss 1896 an der Universität von Helsinki promovierte er dort 1901 zum Doktor der Philosophie. Das Thema seiner Doktorarbeit war die Etymologie der deutschen Tiernamen, und die Beschäftigung mit der deutschen Philologie brachte ihm zunächst eine Dozentur und später eine Professur für deutsche Philologie an der Universität von Helsinki ein. Diese Stelle hatte er bis drei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1944 inne. Als Sucher nach verschütteten Bedeutungen machte er auch vor seinem eigenen, im 17. Jahrhunder latinisierten Familiennamen nicht halt. Ab 1906 publizierte er unter dem Namen Suolahti und griff damit auf den finnischen Herkunftsnamen seiner Familie zurück.

    Die für unser Thema besonders interessanten Bücher sind aus diesem

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