Lebenszeichen mit 14 Nothelfern: Geschichten aus einem kurzen Leben
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About this ebook
Seit Hermann Peter Piwitt Mitte der sechziger Jahre debütierte, gilt er als ein äußerst wacher und kritischer Chronist der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik. Sein schriftstellerischer Rang wurde früh erkannt und nie bestritten. Nun, fast 80-jährig, schaut er auf Ereignisse seines Lebens zurück, allerdings nicht in einer brav und chronologisch Rückschau haltenden Autobiographie, sondern in erzählerischen Bravourstücken. Auf die Verhältnisse im Elternhaus, auf die frühen Erlebnisse in Frankfurt, die Lehrer, die Prägungen, die in der Jugend erfahren wurden und für sein Leben bestimmenden Einfluss gewannen. Immer wieder finden sich Erinnerungen an Einzelne, an Freunde, denen Dank abgestattet wird, weil sie wichtig waren, Helfer und manchmal auch Nothelfer. Naturgemäß werden auch die Erfahrungen des Autors Hermann Peter Piwitt mit dem sogenannten Literaturbetrieb ins Licht gesetzt, und ebenso naturgemäß zeigt sich, dass dieser Autor seinen Überzeugungen, dass es nottut, für eine gerechte Gesellschaft einzutreten, treu geblieben ist. Was bleibt? Ein Kinderlachen, eine Liebesnacht, die Amseln morgens, Gelächter ...
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Lebenszeichen mit 14 Nothelfern - Hermann Peter Piwitt
Zeit‹
Sind achtzig Jahre ein Leben? Der Vater war einundsechzig, als er starb. Die Mutter sechsundneunzig. Sie war im Rahmen des geschlossenen Wahnsystems, in dem sie lebte, völlig normal. Sie beklagte mindestens vierzig Jahre lang, dass sie nur Gutes getan habe. Und wie habe man es ihr gedankt? Einmal fuhren die Eltern mit uns für ein paar Tage nach Cuxhaven. Einmal besuchten wir den ältesten Bruder im Lazarett in Sigmaringen. Und immer herrschte ständig dicke Luft.
Es fing auch mit mir nicht gut an. Das heißt, anfangs lief es leidlich. Ich will mich auf die ersten zehn Jahre beschränken, wenn ich aus meinem Leben erzähle.
Es sei mein Kopf gewesen, sagte die Mutter später. Mein Kopf. Ich hätte wohl Stunden gebraucht, bis ich ihn draußen hatte. Offenbar hatte ich partout nicht auf die Welt wollen; wenigstens nicht auf diese. Aber ein Kind wird eben nicht gefragt.
Man musste sie aufschneiden. Und anschließend sei alles kaputt gewesen. Sie sagte ›kaputt‹. Und an sich heruntersehend, verbot sie sich, sich näher darüber auszulassen. Es verbietet sich mir, sagte sie. Jedenfalls alles ausgeräumt. Und dabei wies sie an sich herunter auf die riesige Narbe, die sie dort habe. Ich wagte nicht hinzusehen. Vor Scham. Ich saß auf der Bettkante, als sie sich aufdeckte. So, mein Junge, jetzt will ich dir mal was zeigen. – Dort also hatte ich mich rausgequält. Noch viele Jahre danach träumte ich davon. Wie ich lag in einem zähen, steifen Gelee und keine Luft bekam.
Sie deckte sich wieder zu. Nie ›da dafür‹, wie sie gewesen sei, sagte sie. Wofür, dazu äußerte sie sich nicht. Und ich habe das, glaube ich, alles schon woanders erzählt. In diesem oder jenem Roman. Ich habe die Titel vergessen. Auch wie der Vater, kaum dass ihre Wunden verheilt gewesen waren, wieder sein Recht verlangte. Die ganze Woche über haben sie kein Wort miteinander gesprochen. Dann, am Sonntagnachmittag, verschwinden sie im Schlafzimmer. Es muss schrecklich gewesen sein. Für beide. Und es war nie anders. Die Mutter kommt mit einem kleinen Koffer aus dem Zimmer, zieht sich den Mantel an und greift sich den Jüngsten, das bin ich. Komm, mein Junge, ich lass mich scheiden. Und der Vater, am Fenster stehend, dreht ihr, mit verschränkten Armen, den Rücken zu. Manchmal kam es schlimmer. Sie schlugen aufeinander ein. Und weil ein Junge immer die Partei des Schwächeren ergreift, schlug ich nach dem Vater, als ich versuchte, sie zu trennen. Und auch mit mir sprach er danach kein Wort mehr.
Dann schwiegen sie sich wieder an. Manchmal wochenlang. Bis zum Monatsende. Dann bekam der Vater sein Gehalt. Und wieder stand er mit verschränkten Armen am Fenster. Und sie musste irgendwie versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ihn um Versöhnung bitten, notfalls; anders kam sie nicht ran ans Haushaltsgeld. Sie spricht von Anschaffungen, die nötig seien, auch für die Kinder. Und das schon mal stimmte ihn gnädig. Dass sie gemeinsame Kinder hatten. Und sie sich daran erinnerte.
Danach gingen sie wieder zu Bett. Und anderntags sprachen sie wieder kein Wort miteinander.
Dass es mich zerrissen hätte? Nein, wieso? Dass sie merkwürdig miteinander umgingen? Über all ist was, und irgendwas ist immer, sagte die Mutter. Das leuchtete ein. Und wir hatten Fluchtwege. Das riesige Haus, wo sich im Lauf der Zeit immer neue bislang verbotene Zimmer, Kammern, Dachböden auftaten. Wälder und Teiche, die ganze Welt stand uns offen. Das ganze Land drum herum. Wir flüchteten vor der Familie nicht. Wir nahmen sie einfach nicht wahr. Wir liefen im Winter Schlittschuh. Und gruben sommers uns Höhlen in Strohmieten. Wir gingen in die Teichwiesen zum Schwimmen. Und wenn es regnete, kamen wir abends von Freunden, vom Briefmarkentauschen, heim und waren hungrig. Habe ich je Schularbeiten gemacht? Ich erinnere mich nicht.
Ich erinnere mich. Es ist Frühling, und ich liege im Kinderwagen im Garten, in einer Laube aus Hainbuchen. Ich bin verloren und doch ganz in Obhut gegeben den Vögeln, die drängeln und lärmen, und dem Wind, der die Baumschatten auf der weißen Bettdecke lautlos verwirbelt. Es ist die erste Erinnerung meines Lebens. So hätte es ewig weitergehen können.
Als die Eltern heirateten, war die Zeit des Geldverfalls gerade vorbei.
Der Vater war Untermieter bei der Brautmutter gewesen. In der Nachbarschaft hieß er nur der ›schöne Fritz‹. Und als die Tochter den Fehltritt mit ihm der Mutter gesteht, ist sie schon im sechsten Monat. Die Brautmutter nimmt den immer sauber und adrett gekleideten Beamtenanwärter bei der Ehre und erzwingt eine Shotgunwedding. Euer Vater wollte immer eine Frau, die rein in die Ehe geht, sagte die Mutter. Und wir Kinder ahnten nicht, was sie meinte, und nahmen ihn uns zum Vorbild.
Der Vater hatte nur ein winziges Gehalt. Die Brautmutter hatte ihnen noch zu Inflationszeiten das Erbe ausgezahlt; und es reichte eben für ein Brot. Aber die Banken gaben dem alsbald auf Lebenszeit Verbeamteten ohne Grenzen Kredit. Draußen an der Stadtgrenze, am Wald, bei einer Feldmark hatte die Stadt Bauland ausgewiesen. Und der Vater ließ ein Haus bauen. Ein Haus aus Klinker. Klinker war etwas Besonderes. Er war so was wie der Rohdiamant unter den Ziegeln, wenn ich der Mutter glauben sollte. Sie brüstete sich: Alles Klinker, sagte sie und legte die Hand auf den violett gebrannten Stein. Klinker, das blieb zeitlebens ein Wort wie ›hypothekenfrei‹ oder ›Alter Kämpfer‹. Ich weiß nicht, wie lange sie daran abbezahlten. Jahrelang tranken sie zu Weihnachten Wasser. ›Gänsewein‹ sagten sie dazu. Und mit dem ›schönen Fritz‹ war es von nun an vorbei. Der erste Sohn kommt 1923. Acht Jahre später der zweite. Und vier Jahre danach der dritte. Ich.
Ich war nie in einer Partei, sagt der Vater. Aber in die neue geh ich. Und die Mutter sagt, Männer machen Geschichte. Und: Als wir hier bauuuten, war ja noch alles Waaald.
Ein Teich, ein Tümpel nur, in der Feldmark, der erste Zufluchtsort. Ich konnte gerade laufen. Nachbarn aus dem Dorf warfen seit Jahren ihren Sperrmüll hinein. Sprung- und Fahrradrahmen, alte Schuhe, Lampenschirme. Aber er schien das alles zu verdauen. Und wir verbrachten Frühling und Sommer an seinem Ufer und fingen mit Keschern Wasserkäfer und ihre Larven. Und Molche. Die Larven von Köcherfliegen und Libellen sperrten wir mit ihnen zusammen in Einmachgläser. Und am andern Morgen waren die Lurche tot. Einfach aufgefressen. Wir sammelten sie in getrennte Gefäße. Die zarten, fast durchsichtigen Leiber mit dem gesträubten Kamm auf dem Rücken gediehen trotzdem nicht. Und ich fing an zu hoffen, dass der Bruder und seine Freunde, wenn sie sie im Wasser entdeckten, mit den Keschern vorbeistießen. Scheinbar absichtslos trat ich ihre Gefäße um und fing mir Knüffe ein. Das tapferste Tier war der Molch. Tapferer noch als der Gelbrandkäfer, so stämmig, wie er war.
Der Teich: Der Schlagersänger Hans Arno Simon (›Bowidldatschkerl‹) hat sich später seine Garage hineingebaut.
Ich bin fünf, als der Vater Leiter der Gemeindedienststelle Volksdorf wird. Und angesichts des unvermeidlichen Endsiegs beschließt er, sich auch privat zu vergrößern. Er fasst die Villa, die die Dienststelle bisher beherbergte, ins Auge und verkauft das eigene Haus. Für einen Pappenstiel. (›Soll ich mir später sagen lassen, ich hätte mich im Amt bereichert wie ein Sozi?‹) Und da sich die Neugestaltung der Villa hinzieht, bunkert er uns für anderthalb Jahre in Wohldorf, im alten Bauernhaus am Kupferteich.