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Victoria Report: Ein Mara-Podolski-Roman
Victoria Report: Ein Mara-Podolski-Roman
Victoria Report: Ein Mara-Podolski-Roman
Ebook640 pages8 hours

Victoria Report: Ein Mara-Podolski-Roman

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About this ebook

Die junge Journalistin Mara Podolski kehrt mit einem brisanten Bericht über die Ernährungsindustrie aus Tansania zurück und will diesen unter dem Titel "Victoria-Report" in Deutschland veröffentlichen. Doch kaum hat sie ihre Reportage einem Verlagshaus angeboten, sieht sie sich mit ernsthaften Problemen konfrontiert: Lobbyisten der deutschen Regierung wie auch die Anwälte eines Dresdner Nahrungsmittelkonzerns versuchen die Veröffentlichung mit allen Mitteln zu verhindern.

Mara Podolski wird eingeschüchtert und verfolgt. Beruflich verunsichert und finanziell ruiniert, ist sie schon bald auf einen Geldjob angewiesen. Sie wendet sich an ihren ehemaligen Arbeitgeber, der ihr das Verfassen eines Nachrufs überantwortet.
Bei den Recherchen dazu stellt Podolski fest, dass der Autounfall der tödlich verunglückten Frau mit ihrem Bericht aus Tansania in Zusammenhang stehen könnte.

Je hartnäckiger die Journalistin daran arbeitet, Einzelheiten einer manipulierten Wahrheit an den Tag zu fördern, desto skrupelloser stellen sich ihr die Widersacher in den Weg.
Als Podolski begreift, dass ihr Sohn Clive als letztes Druckmittel gegen sie in einer Kinderklinik gefangen gehalten wird, geht sie aufs Ganze. Es kommt zu einem blutigen Kräftemessen zwischen einem übermächtigen Konzern, der seine Verfehlungen zu vertuschen sucht, und der jungen Frau, die plötzlich um ihr eigenes und um Clives Leben fürchten muss.
LanguageDeutsch
Release dateJan 11, 2013
ISBN9783863370268
Victoria Report: Ein Mara-Podolski-Roman

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    Book preview

    Victoria Report - C. B. Stoll

    Mara!«

    1

    Es begann wie vieles, das nicht gut endet, mit Selbstüberschätzung und einer bittersüßen Prise Gier. Es ist kurz vor acht, Ende März, das Jahr spielt keine Rolle. Gleiches gilt für den Schauplatz. Er ist nicht von Bedeutung. Eine ähnliche Geschichte könnte ebenso gut in den Häfen Ugandas oder Kenias ihren Ursprung nehmen. Die Vorfälle im tansanischen Mwanza wären dadurch nicht ungeschehen gemacht, denn die Versuchung, so besagt die These, hält sich wie das Verbrechen weder an eine bestimmte Zeit noch an einen bestimmten Ort. Es kann sich jederzeit und überall einnisten, tut es jedoch am liebsten dort, wo eine Gesellschaft darüber gebietet, was Leistung ist – und wer sie zu welchem Preis erbringen muss.

    Von solcher Einsicht erstaunlich weit entfernt, feilt Dieter Meissner an seiner Karriere. Für gewöhnlich tut er dies hinter den geschützten Gemäuern eines Berliner Ministeriums, wo er in einem schmucklosen Arbeitszimmer Berichte verfasst, seitenlange Protokolle durchsieht und Akten seiner Partei studiert. Zweimal täglich sind Sitzungen anberaumt, denen beizuwohnen er sich verpflichtet fühlt, wenn er nicht gerade auf Tuchfühlung mit seinen Wählern ist und bei Anlässen mit Reden brilliert. Auch das kann er gut. So blond sein Haar, so begierig der Wille, die Karriereleiter bis ganz oben zu besteigen.

    Meissner, der die politische Bühne als Unbekannter betreten hat, durchlief in Windeseile wichtige Ämter, arbeitete Schulter an Schulter mit angesehenen Landesvertretern und wurde bald zu einem der unentbehrlichsten Politiker seines Ministeriums. Der Mann trägt das Haar mit einem Hang fürs Dramatische streng nach hinten gekämmt, ist neunundvierzig Jahre alt, verheiratet und gilt als aufrichtig und linientreu. Er trinkt in Maßen, isst meist gesund und verbringt, entgegen den Gepflogenheiten seiner Gilde, immer wieder mal ein Wochenende im Kreise seiner über alles geliebten Familie. Dann spielt er mit der fünfjährigen Tochter Fangen, hilft weinenden Auges der Frau beim Zwiebelschälen oder liest, seine verdiente Ruhe einfordernd, in einem gemütlichen Sessel Romane, mit Vorliebe historische.

    An jenem schicksalhaften Morgen im März aber befindet er sich in der tansanischen Provinzstadt Mwanza. Genauer gesagt im Kontrollturm des Flughafens Lake Victoria, wo er, nun eher angespannt, eine Transportmaschine beobachtet, die vor wenigen Minuten als winziger Punkt über dem Victoriasee aufgetaucht ist und in Kürze zur Landung ansetzen wird. Eine verschlafene Sonne wirft Nadeln staubigen Lichts schräg durch die vom Regen verdreckten Glasscheiben. Aus einem Funkgerät krächzen Stimmen. Fliegen, träge wie ihre eigenen Schatten, krabbeln über den mit Kippen und Unrat übersäten Boden.

    Neben Meissner steht ein Soldat der tansanischen Streitkräfte, ein untersetzter Mann mit weichen, schwammigen Zügen und einem Ausdruck im Gesicht, wie ihn viele in seinem Land aufweisen, die der Macht nahestehen. Wortkarg, wie der Offizier sich gibt, ist er vor allem darauf bedacht, die Szenen auf dem Flugplatz zu beschweigen. Erfahrungen im Umgang mit seiner Regierung haben ihn ein solches Verhalten gelehrt.

    Meissner muss zu einer ähnlichen Ansicht gekommen sein. Auch er weiß: Mit Verschwiegenheit verschafft man sich Einfluss. Afrika bleibt Afrika. Auf dem Kontinent unterliegen die Geschäfte eigenen Gesetzen. Andererseits gilt: Wer hier etwas wagt, hat das Recht, Macht auszuüben. Wer dieses Recht aber hinterfragt, verwirkt seinen Einfluss noch im selben Augenblick. Darin sind sich die beiden Männer einig, anderenfalls verbindet sie so gut wie nichts. Hin und wieder, eher selten, trinken sie einen Whisky zusammen, manchmal rauchen sie auch eine Zigarre dazu und geben vor, Freunde zu sein. Jetzt aber stehen sie wie zwei Fremde nebeneinander und verfolgen, wie eine vier-strahlige Iljushin mit aufheulenden Triebwerken und rauchenden Reifen auf der Landepiste aufsetzt und wenig später vor einem Hangar zum Stehen kommt. »Great«, sagt Meissner zufrieden, klopft, verstohlen lächelnd, dem Schwarzen auf die Schulter, murmelt etwas von einer Party, die er zur Feier des Tages steigen lassen will. »Unsere Zusammenarbeit muss wieder mal gefeiert werden. Habe an Sie gedacht, mein Lieber, und Ihnen eine echte Blondine organisiert. Blonde Muschis, da drauf steht ihr Offiziere doch«, sagt Meissner noch und verlässt mit öligem Grinsen den Kontrollturm.

    Der deutsche Abgesandte war, wie viele Geschäftsmänner, auf dem afrikanischen Kontinent über die Jahre Pragmatiker geworden und somit zur Überzeugung gelangt, dass die Welt ein Spielball ist. Ein Spielball für all jene, die damit zu jonglieren verstehen. Schauplätze, die Meissners Ansichten untermauerten, gibt es in Afrika zuhauf. Da ist nicht nur Tansania. Sondern auch die Demokratische Republik Kongo, Uganda, Ruanda, Angola, den Sudan und andere mehr. Auch dort wird jongliert, wenn geschäftstüchtige Herren den Drang dazu verspüren. Warum eingreifen und gegen das Alltägliche halten, wenn Mitspielen so viel einträglicher ist? Das Geldscheffeln in Afrika hat etwas Zeitloses. Der liebe Gott weiß es, die afrikanischen Behörden wissen es, die Herren im Europarat und der Berliner Abgesandte Dieter Meissner wussten natürlich auch davon. Die fruchtlosen Bemühungen der einen nutzen andere geschickt zu ihrem Vorteil. Jene nämlich, die auf die endlosen Debatten über den Sinn und Unsinn des globalen Handels verzichten, weil sie zum Jonglieren und nicht zum Lamentieren geboren sind.

    2

    Hoch über den Dächern der Stadt Dresden, weit von Afrika entfernt, kannte man die Spielregeln auf dem Schwarzen Kontinent und die Machtfülle des Abgesandten Dieter Meissner natürlich auch. Vertraut war man mit einflussreichen Personen in der russischen Flugindustrie und den Gepflogenheiten schwarzer Politiker. In den Reihen des Führungsgremiums von Royal Diners wusste man über fast alles Bescheid, was mit dem tansanischen Eldorado zu tun hatte. Schließlich hatte man eigens dafür Diplomaten und Anwälte in Stellung gebracht, wichtige Kontakte in Afrika geknüpft und Geld auf Schweizer Konten überwiesen. Die Begünstigten waren allesamt beauftragt, den Umschlagplatz Mwanza dem Konzern zunutze zu machen. Und so geschah, was von langer Hand vorbereitet worden war: Der Paradigmenwechsel in der Konzernphilosophie von Royal Diners wurde durchgesetzt. In Übereinstimmung mit den Vorgaben des amerikanischen Mutterhauses, den Investoren, dem Deutschen Handelsrecht und dem Regelwerk der EU-Subventionspolitik trieb der Nahrungsmittelriese den Fischimport aus Tansania voran, Fisch, mit dem man die Ernährung zu revolutionieren gedachte.

    Priska Hoffmann war in die Pläne ihres Auftraggebers nur teilweise eingeweiht. Gewiss, an der Vision, am großen Bild, wie es die Strategen nannten, ließ man sie teilhaben. Unschöne Einzelheiten indessen verschwieg man ihr, wie den meisten Mitarbeitern des Hauses übrigens auch. Man bezahlte Hoffmann für ihre Öffentlichkeitsarbeit und nicht dafür, das Geschäftsgebaren zu hinterfragen. Persönlich interessierte sie sich ohnehin nur am Rande für das, was in Mwanza geschah – wenn überhaupt. Will nicht heißen, dass sie die Welt um sich herum verschmähte. Nicht zu reden davon! Hoffmann war eine Lichtgestalt auf den Fluren der Macht. PR-Mandate hatte sie genug. Ihr Auftrag bei Royal Diners aber erfüllte sie mit besonderem Stolz. Dort gehörte sie einer Mannschaft an, die in einem Stil operierte, von dem andere in ihrer Branche nur träumen konnten. Ihre monatlich säuberlich eingetüteten und pünktlich versandten Honorarforderungen machten deutlich, wie viel Zeit sie für Royal Diners aufbrachte.

    An einem sonnigen Tag im April aber ist sie privat unterwegs. Sie, die nicht ahnen kann, dass die Minute unaufhaltsam näher rückt, in der das Schicksal sie auf jähe Weise einholen wird, fährt gerade mit ihrer Geländelimousine Rebecca, die Tochter, und David, den dreijährigen Nachzügler, nach Hause. Hoffmann fährt flott, nicht aber unbedacht schnell. Sie ist eine Frau der Vernunft, geduldig und belastbar, schon von Berufs wegen, und verliert so gut wie nie die Nerven, außer es geht um ihre Kinder. So kommt es vor, dass sie sich bei deren Erziehung im Ton vergreift, wie gerade eben, als sie über den Autositz hinweg David zugerufen hat, alles sei gut, man sei gleich da, er möge sich beruhigen. Ihrer Beurteilung nach hat sie es lieb und einfühlend gesagt. Ihr Dreijähriger aber ist kein einfaches Kind. Den Beschwichtigungsversuchen zum Trotz plärrt er weiter, und so bricht es aus Hoffmann heraus, ohne dass sie es will. »Sei endlich still, du dummer Kerl!«

    Und schon ist’s passiert! Die freundliche Aufmunterung hat wie eine Zurechtweisung geklungen. Hoffmann bemerkt es selbst. Verärgert beißt sie sich auf die Lippen und verflucht ihr Unvermögen. Doch leider kommt die Einsicht zu spät. Rebecca reagiert heftig auf den erzieherischen Fauxpas, der bereits wie ein Fluch über ihnen schwebt. Umgehend dreht sie sich um, starrt über die Lehne hinweg ihren Bruder an und faucht: »Halt endlich die Klappe!« Natürlich schreit David jetzt erst recht, worauf Rebecca an der Stereoanlage herumzufummeln beginnt, um das Geschrei mit Musik zu übertönen. Die Cola auf ihrem Schoß kommt dabei gefährlich ins Wanken, droht gar zu kippen. Hoffmann ahnt Böses und maßregelt mit erhobenem Finger.

    »Du kannst mich mal!«

    Du kannst mich! Der eigenen Mutter ins Gesicht? Hoffmann muss an sich halten. Zwei-, dreimal atmet sie tief durch, bevor sie die Tochter zu besänftigen versucht. »Rebecca, Liebes, deine Mutter möchte jetzt bitte keine Musik hören«, sagt sie und hofft auf Wirkung.

    »Aber Papa hat gesagt, ich darf, wann immer ich will.«

    Das ist natürlich eine Lüge, beide wissen es.

    »Und ich sage dir, du machst das Radio nicht an!« Kaum ausgesprochen, spürt Hoffmann die rasche Verdunkelung des Gemütszustands ihrer Tochter. Ihr selbst ergeht es nicht besser. Ihre Nerven liegen blank, einmal mehr. Das Lenkrad fest umklammert, erhöht sie den Druck auf das Gaspedal, um ihrem Unmut Raum zu verschaffen. Rebecca aber mag die Geschwindigkeit nicht, gibt vor, sie mache ihr Angst. Auch das gehört seit kurzem zu ihren Macken, und so wundert sich Hoffmann nicht, dass die Pubertierende ihren Widerwillen auch sogleich bekundet. Demonstrativ rutscht die Göre auf dem Beifahrersitz hin und her und stopft, entgegen früheren Abmachungen, eine Süßigkeit nach der andern in den Mund. Damit nicht genug: Wie eine Wahnsinnige trommelt sie mit den Fingernägeln gegen die Scheibe. – Dann passiert es. Rebecca hört auf zu kauen und massiert sich wie eine Besessene die Schläfen. Deutlich erkennt Hoffmann darin die ersten Anzeichen eines Anfalls. Dr. Toners Besänftigungen zum Trotz, man käme der Sache bald bei, jagen Hoffmann die Verrenkungen ihrer Tochter eine höllische Angst ein. »Schatz, du hast doch heute Morgen deine Medikamente eingenommen?«, fragt sie erschrocken.

    »Ja«, winselt Rebecca und fürchtet, dass man ihr die Lüge ansieht. Das Gesicht hinter einer Strähne versteckt, scheut sie die immer gleiche Diskussion. Wie oft hat sie es schon gesagt? Sie mag die Pillen nicht, ihr wird schlecht davon. Warum glaubt Mutter ihr nicht? Vaters Antwort ist auch immer dieselbe. Sie kann es nicht mehr hören, dieses gesabberte ›Wenn du deine Pillen artig nimmst, fangen die Attacken erst gar nicht an.‹ Das ist nicht wahr, die Scheißdämonen kommen trotzdem! Die Biester kriechen in sie hinein, in ihrer ganzen widerwärtigen Vielfältigkeit. Sie tun es in Form von Farbkugeln, die in ihrem Kopf explodieren, selbst wenn sie zum lieben Gott betet und ihn anfleht, er solle die Schmerzen verschwinden lassen. In solchen Momenten ist sie ganz allein, niemand kann ihr helfen. Sie spürt das Wummern in ihrer Brust. Sie fühlt das Blut in ihrem Kopf gerinnen. Sie weiß, sie weiß es einfach, dieses, was immer es auch ist, wird sie eines Tages zu Tode quälen. Wie ein Sturm stieben die Schmerzen durch sie durch, bäumen sich auf und lassen nicht mehr von ihr ab. Oft versucht sie Widerstand zu leisten, doch es ist stärker als sie. Die Welt, in der sie sich dann befindet, ist gleißend weiß, gemein und kalt. Wenn es beginnt, will sie nur noch eins. Sie will weg, schnell weg, wo auch immer sie gerade ist.

    Dem Himmel sei Dank. Hoffmann sieht gerade noch rechtzeitig, wie sich die Hände ihrer Tochter an der Wagentür zu schaffen machen. »Kind, was machst du da?«

    »Sie kommen wieder!«, schreit Rebecca, die Augen aufgerissen. Jetzt nur die Ruhe bewahren, denkt Hoffmann und schaut nach einer Möglichkeit, den Wagen auf der Autobahn zum Stehen zu bringen. So einfach geht das nicht. Der Verkehr ist dicht und der Pannenstreifen zu schmal, um anzuhalten. Sie versucht, Rebecca zu beruhigen, verweist auf den nächsten Rasthof, der ja nur, wie sie mit bebender Stimme sagt, wenige hundert Meter entfernt sei. Verzweifelt steuert sie darauf zu, lenkt die Geländelimousine gerade an einem Verkehrsschild vorbei, als sie einen Schlag verspürt. Erschrocken fährt sie hoch.

    »Spinnst du?«

    Keine Antwort, stattdessen ein zweiter Schlag. Dieses Mal trifft es Hoffmann am Kopf.

    »Um Gottes willen. Willst du uns umbringen?«, stößt sie hervor, kurz bevor sich zwei Hände an ihrem Hals zu schaffen machen. Mit ruckartigen Bewegungen versucht Hoffmann sich aus der Umklammerung ihrer Tochter loszureißen.

    Vergeblich. Rebeccas Griff wird fester, der Ausbruch heftiger. Hoffmann erfasst eine Woge der Panik. Sie nimmt die Hände vom Steuer, schlägt verzweifelt um sich. Alles rund um sie herum heult jetzt auf: der Motor, die Tochter, der kleine David auf dem Rücksitz. Es sind auch seine letzten Sekunden. Das Fahrzeug gerät außer Kontrolle, ist jetzt nur noch ein Katapult, knallt in die Leitplanke, prallt dort wie ein Gummiball ab und schießt ungebremst auf eine belebte Raststätte zu.

    3

    Die Nachricht vom Unfall erreichte Mara Podolski einige Tage später. Auch die Umstände, wie es zur Autobahntragödie bei Wilsdruff kommen konnte, sollten sich ihr erst bei späteren Recherchen offenbaren. Zeit, ihre Nase in Zeitungen zu stecken oder Nachrichten zu schauen, hatte sie kaum. Das liegt auch daran, dass ihr fünfjähriger Sohn Clive und sein Vater Alex seit ihrer Rückkehr aus Mwanza unauffindbar sind. Keine Spur von beiden, nur Alex’ Stimme auf dem Anrufbeantworter, die da behauptet, mit Clive stimme etwas nicht. Mit dieser Nachricht war das Band vollgesprochen. Mara könnte sich die Haare raufen, ein neues Gerät nicht längst gekauft zu haben. Trotzdem: Wie kommt es, dass in der heutigen Zeit zwei Elternpaare sich nicht ausfindig machen können? Warum nimmt Alex sein verfluchtes Handy nicht ab? Nicht aufgeladen? Wieder mal verlegt oder verloren? Rechnung nicht bezahlt? Sähe dir ähnlich, knurrt Mara und nimmt sich vor, es weiter zu versuchen. Auch auf Alex’ Festnetzanschluss im Musikstudio. Spätestens am Abend nach der Besprechung mit Herdecke vom Nachrichtenmagazin Blickpunkt. Jetzt reicht die Zeit nicht mehr. Cordula Herdecke müsste jeden Moment hier sein. In Erwartung der Redakteurin schaut Mara ungeduldig aus dem Fenster.

    Hamburg liegt unter einer dunklen Decke. Schmierig nasse Wolken, die für die kommenden Stunden nichts Gutes verheißen, ziehen über die Stadt hinweg. Es ist zehn nach eins, von Herdecke ist weit und breit nichts zu sehen. Mara, die seit zwanzig Minuten vor ihrem erkalteten Tee sitzt, zückt gerade ihr Handy, da schiebt sich eine Dame mittleren Alters durch die Eingangstür und steuert direkt auf sie zu.

    »Sie müssen Mara Podolski sein?«

    Mara ist so freundlich und erhebt sich. »Wie haben Sie mich so schnell erkannt?«

    »Im Internet findet man so ziemlich alles«, entgegnet Cordula Herdecke und lächelt Mara auf eine liebenswürdig routinierte Weise an. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, nach Hamburg kommen.«

    »Liegt ja auch in meinem Interesse«, grinst Mara und reicht der Hamburger Redakteurin die Hand.

    Podolskis Ausstrahlung, wie Herdecke umgehend feststellt, hat etwas Herbes. Die Körperhaltung wirkt stämmig, die Schultern kräftig. Zum leicht maskulinen Ausdruck tragen auch das ärmellose T-Shirt bei und die an den Ellbogen abgewetzte Lederjacke, die über einer Stuhllehne liegt. »Setzen wir uns doch«, schlägt Herdecke vor und mustert, während sie sich ihres Mantels entledigt, Podolskis langes, wildes Haar, das, der Farbe nach zu urteilen, mit Henna nachkoloriert wurde. Kalkuliert nachlässiger Schick oder Mangel an gutem Geschmack? Herdecke hätte es nicht zu sagen gewusst. Podolski gehörte jedenfalls nicht zu den Frauen, die Schönheitswettbewerbe gewinnen wollen, ein Umstand, den die Hamburger Redakteurin wohlwollend aufnimmt. Umständlich, weil noch nicht beim eigentlichen Thema angelangt, plaudern die beiden Frauen zunächst über dies und das, nette Belanglosigkeiten, mit denen man gern auf Tuchfühlung geht.

    Bei der zweiten Tasse Tee dann kommt Herdecke endlich auf den Victoria-Report zu sprechen, den eigentlichen Grund des Treffens.

    »Als Wirtschaftsredakteurin bin ich ja so einiges gewohnt, aber das…«, lässt sie nachdenklich verlauten und klaubt ein Dokument aus der Tasche. »Als wir uns das erste Mal am Telefon gesprochen haben, dachte ich, o Gott, jetzt will mir schon wieder so eine durchgeknallte Menschenrechtsfanatikerin eine von diesen Schwarze-Kinder-in-Not-Geschichten andrehen. Ich bin froh, dass Sie darauf bestanden haben, mir Auszüge aus ihrem Bericht zukommen lassen zu dürfen. Wie sind Sie eigentlich auf die Story gestoßen?«

    Mara muss die Antwort nicht lange überlegen. »Ich war noch nie gut auf Missstände zu sprechen. Liegt mir irgendwie nicht. Dann habe ich Herbert Sauperts Dokumentarfilm gesehen.«

    »Darwins Alptraum?«, fragt Herdecke, um letzte Zweifel aus dem Weg zu räumen. Mara bestätigt das mit einem kaum hörbaren Ja, da sie dem Gesprächverlauf gedanklich bereits Welten voraus ist.

    »Und dann sind Sie in eine Maschine gestiegen und nach Tansania geflogen?«

    »Ja, ich wollte der Frage nachgehen, ob Dokumentarfilme wie Bottled Water, We Feed the World oder eben Darwins Alptraum etwas in der Industrie auslösen und die verantwortlichen Konzerne zu einer Art Umdenken bewegen.«

    »Und«, fragt Herdecke, »zu welcher Auffassung sind Sie gelangt?«

    »Sie haben den Victoria-Report ja gelesen: Nichts, rein gar nichts ändert sich. Die Arroganz und Überheblichkeit in der Lebensmittelindustrie sind grenzenlos. Das kotzt mich so an! Bei manchen Konzernen ist so etwas wie Verantwortung gar nicht existent. Andere definieren sie auf eine Weise, dass die Schuld von ihnen und ihren Mitarbeitern abperlt wie Wasser von einem Schirm.«

    Obschon Herdecke Podolskis Auffassungen in mancher Hinsicht teilt, lässt sie sich ihre Verwirrung ob deren rüder Ausdruckweise nicht ansehen. Insgeheim bewundert sie ja Journalisten, die das Übel der westlichen Gesellschaft beim Namen nennen. Viele gibt es in der Branche freilich nicht mehr. Die meisten schreiben angepasst und unterwerfen sich dem Diktat ihrer Blätter. Mara Podolski tut es nicht. Sie schreibt unverblümt, mutig und schon fast anmaßend konsequent. Herdeckes anfängliche Bedenken, der Victoria-Report könnte wegen seiner Heftigkeit von ihrem Chefredakteur Bernd Strove abgewiesen werden, waren mit der Zeit einer wachsenden Begeisterung für eben diese Zielstrebigkeit gewichen. Ein wenig Anpassung aber muss sein.

    »Um Missverständnisse aus der Welt zu schaffen, aber auch um die wichtigsten Aspekte Ihrer Reportage einen Tick anschaulicher darzustellen, habe ich, wie telefonisch vereinbart, ein paar wenige Änderungen an Ihrem Manuskript vorgenommen.« Herdecke lächelt gespreizt. »Heikle Passagen habe ich leicht überarbeitet und hier und dort eine gewisse politische Schläue einfließen lassen. Nichts aber, was wir nicht vereinbart hätten.« Wieder dieses Grinsen. »Haben Sie die Zeit gefunden, die Stellen anzusehen?«, fragt Herdecke und wirft einen Blick auf Mara, die ihr misstrauisch gegenübersitzt.

    »Die Story ist sauber und professionell recherchiert. Jeder einzelne verdammte Satz«, kontert Mara, die sich ungern redigieren lässt.

    »Ich darf Ihnen versichern, auch mit den wenigen Änderungen, die ich vornehmen musste, wird es an Ihrem Report nichts zu deuteln geben. Er kommt noch immer einer Anklageschrift an unsere kapitalistische Zeit gleich. So haben Sie es doch ausgedrückt. Oder nicht?«

    »An den Größenwahn unserer kapitalistischen Zeit«, korrigiert Mara verstimmt.

    »Ich habe übrigens auch ein Gespräch mit Ihrem ehemaligen Auftraggeber Martin Kaprolat geführt und mir dabei erlaubt, ein paar persönliche Erkundigungen über Sie einzuziehen«, lächelt Herdecke, die das Gespräch auf neues Terrain zu locken versucht.

    Kaprolat! Mara ist mit einmal hellwach, setzt sich kerzengerade auf.

    »Sie müssen wissen, Frau Podolski, wir veröffentlichen keine Berichte von freien Redakteuren, die wir nicht bis auf die Knochen durchleuchtet haben. Beruflich, meine ich, natürlich. Es gibt zu viele, die sich in der Branche versuchen, ohne zu wissen, was sie tun.«

    »Was hat er gesagt?«

    »In unserem Beruf gibt es Grundsätze, die es zu beachten gilt«, flötet die Hamburgerin. »Als rechte Hand des Chefredakteurs gehört es zu meinen Aufgaben, Falschmeldungen von den Meldungen zu unterscheiden, die von öffentlicher Relevanz sind. Als ich Ihre Reportage zum ersten Mal …«

    »Was hat er gesagt?«

    »Herr Kaprolat? Nun, er hat sich sehr positiv über Sie geäußert. Sie seien ihm eine tolle Geschäftpartnerin gewesen. Sie seien zuverlässig, arbeiteten korrekt und schnell. Ehrlich gesagt, ich hatte den Eindruck, Herr Kaprolat hätte Sie gerne in seiner PR-Agentur behalten. Charakterlich rühmte er Sie als ast- und lupenrein, um Ihren Leumund müsse man sich keine Sorgen machen, schon gar nicht, was Ihre journalistischen Fähigkeiten angehe. Eine raffinierte, kluge Publizistin hat er Sie genannt.«

    »Das hat er gesagt? Heuchler, verdammter.«

    »Asche auf mein Haupt«, lenkt Herdecke ein, um bei der ganzen Wahrheit zu bleiben. »Durch die Blume gab Herr Kaprolat mir unter anderem auch zu verstehen, dass Sie … nun, wie hat er sich ausgedrückt, zu der Spezies freiheitsliebender Journalistinnen gehörten, die ungebunden bleiben wollen. Ein bisschen stur und verbohrt seien Sie durchaus, meinte er, und Sie wären wohl gerne so etwas wie die neue Anna Politkowskaja und glaubten in dieser Mission immer wieder mal, Burgen einreißen zu müssen. – So. Jetzt ist es raus!«

    »So ein Arsch.«

    »Wie würden Sie sich denn selbst einschätzen, Frau Podolski?«

    »Mag sein, dass ich hin und wieder meiner Arbeit mit einer an Verbissenheit grenzenden Euphorie nachgehe. Zugegeben, das stört mich zuweilen selbst«, antwortet Mara gelassen. »Aber so bin ich eben. Mein Antrieb ist das Misstrauen. Das Misstrauen gegenüber Systemen allgemein, gegenüber dem etablierten kapitalistischen System aber ganz besonders – was aber nicht heißt, dass ich eine Linke bin. Ich sehe mich eher als eine Humanistin.«

    »Eine Humanistin? In Ihrem Gewerbe?«, fragt Herdecke mit hochgezogenen Brauen.

    »Wieso nicht?«, antwortet Mara mit einem Lächeln, das den ganzen Raum erfüllt. »Ich habe schon immer Sympathien für Benachteiligte gehegt, für Menschen, die unterdrückt werden und in unserer Welt keine Stimme haben. Kein Witz! Ich träume von einer besseren Weltordnung, besser jedenfalls als die, die in Brüssel und Berlin propagiert wird.«

    Herdecke kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Diese Podolski ist in der Tat die Idealistin, die Kaprolat beschrieben hat.

    »Ungeachtet Ihrer politischen Ausrichtung und Herrn Kaprolats Aussagen, Frau Podolski, bin ich nach reichlicher Prüfung zur Auffassung gekommen, dass Ihre Reportage publiziert werden muss. Ihr Bericht zeugt von hoher Professionalität und einem publizistischen Instinkt, der Respekt verdient. Ich meine es ernst, Frau Podolski, in Ihnen schlummert echtes Talent.«

    »Danke«, murmelt Mara und zeigt ausnahmsweise Anstand genug, zu erröten.

    »Da wir gerade beim Thema Veröffentlichen sind: Gerne wäre ich noch auf das Bildmaterial zu sprechen gekommen. Die Fotos, die Sie mir zur einstweiligen Einstimmung, wie Sie es nennen, übermittelt haben, sind … Offen gestanden, ich war schockiert. Mir ist es kalt über den Rücken gelaufen. Kinderprostitution war das erste, was mir durch den Kopf schoss. Was für ein widerliches Schlachtross, das sich an diesem Mädchen zu schaffen macht, dachte ich. Erst beim genaueren Hinschauen habe ich ihn erkannt. Nicht zu fassen. Ein bekannter Politiker. Frau Podolski, ich glaube nicht, dass wir unserer Leserschaft so ein Bild zumuten dürfen. Gibt es denn nicht noch andere Fotos, weniger abstoßende meine ich, die Sie uns anbieten könnten?«

    Mara verzieht das Gesicht. Hübsch sieht sie damit nicht aus. Eher frech. Weiteres Bildmaterial gäbe es schon. Sie wolle es aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht herausgeben, verkündet Mara. Das Geschäft sei schließlich nicht unter Dach und Fach. Lieber würde sie über das Honorar sprechen. »Wie viele Piepen liegen da für mich drin?«, fragt Mara in ihrer direkten Art.

    Herdecke wählte ihre Worte jetzt mit Bedacht. »In diesem Punkt muss ich vage bleiben, Frau Podolski. Das übersteigt meine Kompetenz. Drei-, viertausend Euro müssten aber meiner Meinung nach da schon drin sein. Unser Chefredakteur hat aber das letzte Wort. Auch darüber, ob der Bericht überhaupt, und wenn, zu welchem Zeitpunkt er veröffentlicht wird. Leider steht Herr Strove Ihrer Reportage nicht sehr positiv gegenüber, obschon er den Bericht nicht vollständig eingesehen hat. Aber bitte, Frau Podolski, Sie haben mein Wort: Ich werde mich mit allem, was ich besitze, auf der nächsten Redaktionssitzung für eine Veröffentlichung Ihres Victoria-Reports einsetzen.«

    4

    Chefredakteur Bernd Strove beendete die Redaktionssitzung kurz nach neun Uhr. Schweren Schrittes ging er zurück in sein Arbeitszimmer, wo er sich, seiner ganzen Energie beraubt, in seinen Stuhl fallen ließ, zur Decke starrte und feststellte, dass der Job ihm zuweilen das Leben schwerer machte, als es ihm lieb sein konnte. Schuldgefühle plagten ihn. Er hatte sich schlecht verkauft. Die Kunst der Diplomatie war noch nie seine Stärke gewesen. Sollte er sich bei Cordula Herdecke für sein Benehmen entschuldigen und seine Entscheidung, den Victoria-Report nicht veröffentlichen zu wollen, mit neuen, freundlicheren Worten rechtfertigen? Kaum hatte Strove die Möglichkeit angedacht, schrie ihn das Telefon an.

    Mit »Bender hier« meldete sich eine bekannte Stimme. Der Gruß, wenn es denn einer war, hörte sich drängend an. Strove hatte den Mann vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung noch nie zu Gesicht bekommen. Schon nach dem ersten Telefongespräch mit ihm hatte Strove sich dafür entschieden, den Mann nicht zu mögen. Benders Aufsässigkeit nervte ihn schwer, und dessen Einmischungsversuche in die redaktionellen Belange des Verlags gingen entschieden zu weit. Sei’s drum. Strove bemühte sich, der Dringlichkeit in Benders Stimme, mit einem unbeschwerten »Recht schönen guten Tag« entgegenzuwirken, was nicht sonderlich gut gelang. Dennoch: Strove hielt an seiner gespielten Laune fest, als er bemerkte, Bender habe ein vortreffliches Zeitgespür, er habe vor wenigen Minuten die Redaktionssitzung beendet und sei gerade eben an sein Pult zurückgekehrt.

    »Und, wie ist’s gelaufen?«

    Das war er: Maximilian Bender, Sonderbeauftragter beim Ministerium. Der Kerl war wie immer kurz angebunden, forsch und im Fall Podolski auf keine Freundlichkeiten bedacht. Strove war klug genug, in der Angelegenheit kein persönliches Empfinden vorzutragen. Er hielt sich an die Regeln, bedankte sich in aller Form für die Nachfrage, um den Sonderbeauftragten dann darauf hinzuweisen, dass die Besprechung des Victoria-Reports höchst unangenehm verlaufen sei.

    »Kann ich mir denken«, kam es durch den Hörer gekrochen.

    Was sollte Strove lange um den Brei reden. Er kam gleich zum Punkt und meinte, frei von jeder Sentimentalität, die Reportage aus Mwanza sei ein sehr ausführlicher Bericht, detaillierter noch, als er angenommen habe. Bender, dem die Aussage nicht präzise genug war, drängte auf Beispiele. Welche Begebenheiten im Detail denn so verdammt präzise beschrieben seien, wollte er wissen.

    »Schlichtweg alle. Die Situation in Mwanza. Die Verflechtung mit der deutschen Industrie, deren Hintergründe, die Zusammenhänge sowie die Konsequenzen, die daraus gezogen werden müssten.« Als Bender darauf nicht reagierte, fügte Strove lakonisch hinzu, es täte ihm aufrichtig leid, nichts Angenehmeres berichten zu können, Podolski habe als Publizistin Hervorragendes geleistet.

    »Wird Dieter Meissner mit Namen genannt?«

    »Ja.«

    »Verdammter Bockmist auch!«

    Kein offizieller Ausdruck im Berliner Ministerium, dachte Strove. Mit einer vornehmeren Reaktion aber hatte er auch nicht gerechnet. Für gewisse Leute würde mit Podolskis Reportage wohl der Gau eintreffen. Da würde es wohl Herren geben, die sich den Mund fuselig reden müssten, um nicht in die Affaire mit hingezogen zu werden. Auch Stove, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen, glaubte, einen Kommentar zum Thema anbringen zu müssen. Er habe Cordula Herdeckes Wunsch, den Victoria-Report zu veröffentlichen, nicht entsprochen, sagte er, ja ihr sogar untersagt, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. Er habe dies mit fadenscheinigen Argumenten getan, mit ungutem Gefühl und entgegen seiner eigenen Überzeugung.

    »Wie steht es um das Bildmaterial?«

    »Belastend«, bemerkte Strove trocken. »Podolski hat auch in dieser Hinsicht ganze Arbeit geleistet. Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. Ich persönlich nehme an, dass …«

    »Auf Ihre Bemerkung verzichtet Berlin gerne, wenn Sie mir auch ein persönliches Wort gestatten«, platzte Bender Strove ins Wort. »Es geht hier nicht um Ihre persönlichen Belange, Herr Strove. Ich muss Sie wohl kaum daran erinnern, dass dem Ganzen eine gesamtdeutsche Komponente anhaftet. Das macht alles so verdammt unangenehm. Unser Vorteil ist allerdings, dass weder die deutsche Botschaft in Daressalam noch die tansanischen Behörden Podolskis Behauptungen bestätigt haben.«

    »Vortreffliches Glück nennt man so etwas«, lästert Strove.

    »Seien Sie nicht so verdammt naiv, Strove. Berlin hat da nachgeholfen. Ein weiterer Grund, weshalb wir der Auffassung sind, dass Podolskis Reportage nicht unter die Leute gestreut werden darf. Begreifen Sie doch! Wir handeln nicht nur im Interesse unseres Bundesministeriums, sondern auch zum Schutz des deutschen Bürgers.«

    Strove lehnte sich erschöpft im Sessel zurück, während der Berliner Sonderberater fortfuhr, ihn daran zu erinnern, dass er Anweisungen habe. »Die habe ich in der Tat«, bestätigte Strove. »Damit lässt sich wohl eine Veröffentlichung in unserem Nachrichtenmagazin verhindern. Ob meine Anweisungen, wie Sie es nennen, auch ausreichen werden, eine Publikation bei der Konkurrenz zu verhindern, wage ich zu bezweifeln. Podolski wird, wie ich sie einschätze, zweifellos von der Pressefreiheit Gebrauch machen!«

    »Die deutsche Pressefreiheit in Ehren, Strove, aber Sie scheinen den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen zu haben«, ging Bender dazwischen. »Karrieren stehen auf dem Spiel und jede Menge Arbeitsplätze.«

    Wessen Karriere und wessen Arbeitsplätze, hätte der Chefredakteur gerne gefragt, hielt sich aber zurück. Zum Befehlsempfänger degradiert, erkundigte er sich mit unverfänglicher Stimme, zu welchen Maßnahmen Berlin, jetzt, da der heikle Inhalt des Victoria-Reports sich bestätigt habe, zu greifen gedenke.

    Bender überlegte nicht lange. »Kaufen Sie den Scheißbericht! Wir wollen ihn exklusiv. Wir wollen alle, und wenn ich alle sage, dann meine ich alle Rechte dingfest bei uns in Berlin wissen. Die Urheberrechte, die Veröffentlichungsrechte, die Vervielfältigungsrechte, die Wiederverkaufsrechte, die Rechte für das Bildmaterial, den ganzen Kram eben. Sie kennen das Geschäft ja wohl besser als ich. Tun Sie, was notwendig ist. Podolskis Reportage darf unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen.«

    »Und wenn Frau Podolski nicht mitspielt?«

    »Dann verdoppeln Sie den Preis und kaufen die Dame dazu!«

    Strove wurde wieder einmal schmerzhaft bewusst: Die hochgepriesene Pressefreiheit, wenn es sie denn je gegeben hatte, war nun auch zur Handelsware verkommen wie alles andere auch auf dieser Welt. Strove, der sich gerne als seriöser Medienschaffender gesehen hätte, konnte nicht fassen, wozu er gezwungen wurde. Berlins Schattenreich wurde immer dunkler und die besitzergreifenden Allmachtsphantasien der Politiker immer dreister. Konnte er als verantwortlicher Journalist auf der einen Seite für sich und seine Kollegen die mediale Unabhängigkeit von Berlin einfordern und auf der anderen mit deren korrupten Akteuren Verlagsrechte verhandeln? In Gedanken verloren, welche Berufsethik ein Chefredakteur heute noch vertreten durfte und wie er damit seinen Geschäften nachgehen konnte, ohne das Gesicht zu verlieren, saß Bernd Stove in seinem Lederstuhl, als der Sonderbeauftragte ihn wieder in die Gegenwart zurückriss: »Herr Strove«, schnauzte dieser, »ich muss darauf bestehen, dass meinen Worten Taten folgen. Ich hoffe, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt.« Bender sprach jetzt angespannt. Strove war nur allzu klar, dass das arme Schwein selbst unter Druck stand. Als Publizist hatte er dem nichts hinzuzufügen. »Sie haben sich deutlich ausgedrückt, in der Tat, das haben Sie«, parierte der Hamburger Chefredakteur und legte auf.

    5

    Der Erfolgsdruck war nach der letzten Besprechung mit Cordula Herdecke so weit gewichen, dass Mara sich gerne den Gefühlen der Genugtuung und der Gelassenheit hingegeben hätte. Doch die Angst um ihren Sohn machte das Entspannen unmöglich. Hinzu kam das Wissen um die schwierige finanzielle Situation, in der sie steckte. Verunsichert vom Ausbleiben eines Anrufs aus Stralsund, wo Mara Alex und Clive vermutete, oder halbwegs ersatzweise einer erfreulichen Nachricht aus dem Hamburger Nachrichtenmagazin, verkam jeder Tag, den sie vor dem stummen Telefon zubrachte, zur Strapaze, und auch die durchwachten Nächte trugen nicht dazu bei, die Schatten um ihre Augen heller werden zu lassen. Am Nachmittag des neunten Tages, zwischen Erwartungen, Angst und Zweifel hin- und hergerissen, klingelte das Telefon. Endlich, dachte sie, schoss vom Sofa hoch und nahm den Anruf entgegen.

    »Alex, bist du das?«, schrie sie lauter als gewollt in den Hörer. In der Leitung blieb es still. Maras geschundenes Herz sprang nun erst recht. »Alex, ich bin’s, Mara. Ich habe …«

    »Hallo? Frau Podolski?«, unterbrach sie eine Männerstimme, die nicht Alex gehörte. »Hier ist Bernd Strove vom Hamburger Nachrichtenmagazin. Störe ich Sie gerade?«

    »Im Gegenteil.«

    »Ich nehme an, Sie wissen, warum wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen.«

    »Ja, gewiss. Meine Reportage aus Mwanza.«

    »Ich nehme es gleich vorweg. Wir hier in Hamburg sind sehr angetan von dem, was Sie dort unten zu Tage gefördert haben. Mein Kompliment, Frau Podolski.«

    »Sie haben Einsicht genommen?«

    »Das haben wir.«

    »Mann, Sie haben ja keine Ahnung, wie … Es ist nicht leicht gewesen, das Material vor den tansanischen Behörden zu verbergen.«

    »Kann ich mir denken«, bekundete Strove mit der richtigen Abmischung von Gerissenheit und Taktik, bevor er mit der Stimme des besorgten Chefredakteurs in Erfahrung bringen musste, ob Frau Podolski die Reportage auch anderen Verlagshäusern angeboten habe.

    »Nein«, antwortete Mara stolz. Wie vereinbart, habe sie Cordula Herdeckes Bescheid abwarten wollen.

    »Frau Herdeckes Bescheid, richtig. Nun, liebe Frau Podolski, angesichts der Dringlichkeit und der Brisanz Ihrer Reportage werde ich, Kraft meines Amtes als Chefredakteur, umgehend die Geschäfte und Verhandlungen mit Ihnen persönlich übernehmen, was auch bedeutet, dass ich zukünftig Ihre einzige und alleinige Ansprechperson sein werde«, erklärte Strove. »Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden?«

    »Natürlich bin ich das. Selbstverständlich doch. Offen gestanden, bin ich auch ein wenig überrascht und nicht wenig verwirrt, vom Chefredakteur persönlich angerufen … und dann noch so spät abends. Wie sind denn die Gespräche in der Redaktionsitzung verlaufen«, preschte sie vor.

    »Wir haben die Thematik in aller Länge und Breite besprochen.«

    »Na wunderbar.«

    »Frau Podolski, wir wollen die Story exklusiv.«

    »Exklusiv?«

    »Allerdings muss ich noch auf der einen oder anderen Abklärung bestehen. Ich nehme an, Sie verstehen das.«

    »Gewiss«, antwortete Mara, die sich nur noch durch ein paar Nebensächlichkeiten von dem dringend benötigten Honorar getrennt glaubte.

    »Gut! Dann lassen Sie mich ein paar abschließende Fragen klären.«

    »Wie Sie wünschen.«

    »Frau Podolski, Sie bleiben dabei, persönlich in Mwanza gewesen zu sein, den Bericht selbst recherchiert, die Interviews selbst durchgeführt und den Text eigenhändig verfasst zu haben.«

    Mara bejahte mit Stolz.

    »Wie steht es mit den Fotos? Stammen sie alle von Ihnen?«

    Mara quittierte auch diese Frage mit einem aufrichtigen und stolzen: »Ja!«

    »Es waren also keine anderen Journalisten, Fotografen oder sonstige Personen involviert?«

    »Nein.«

    »Frau Podolski, zu Ihrem eigenen Schutz und unserem Interesse muss ich absolute Gewissheit haben, dass sämtliche Informationen hieb- und stichfest sind und auf wahren Begebenheiten beruhen. Tun sie das?«

    »Mein Ehrenwort, wenn so etwas heute noch gilt.«

    »Keine eingeschobenen Sätze zur Dramatisierung? Keine noch so harmlose Dramatisierung?«

    Stroves unterschwelliges Misstrauen ließen in Mara eine Saite anklingen, die ein Unbehagen auslösten. Mutig kämpfte sie dagegen an. »Nichts dergleichen.«

    »Keine pikanten Auslassungen, die hinterher auftauchen könnten?«

    »Vergessen Sie’s.«

    »Würden Sie uns Ihre Zusicherungen auch schriftlich geben?«

    »Jederzeit.«

    Strove sog geräuschvoll an seiner Zigarette. »Gibt es noch weiteres Beweismaterial, das den Abgeordneten Dieter Meissner belasten könnte? Frau Herdecke hat von Fotos gesprochen.«

    »Die gibt’s in der Tat.«

    »Wie viele genau?«

    »Zwanzig, fünfundzwanzig Bilder. Die meisten davon gestochen scharf.«

    »Sonst nichts? Kein weiteres Material?«

    Mara, die seismographisch genau Misstrauen erfassen konnte, beschlich das Gefühl, dass etwas hier nicht stimmte. Verwirrung machte sich in ihr breit. Wenn der Mann glaubte, mit Schachzügen aufwarten zu müssen, wollte auch sie sich die Freiheit zum Taktieren herausnehmen. »Ob ich sonst noch über Beweismaterial verfüge?«, wiederholte sie gedehnt. »Möglich wäre es.«

    »Wie meinen Sie das?«

    »Nun, Herr Strove, die Möglichkeit, dass neben den Fotos noch andere Beweismaterialien existieren, nimmt mit der Ernsthaftigkeit Ihres Versprechens zu, den Victoria-Report veröffentlichen zu wollen.«

    Alarmiert von dieser Aussage, nahm der Hamburger eine aufrechte Sitzposition ein. Frau Podolski habe davon gegenüber Frau Herdecke nichts erwähnt, meinte er irritiert.

    »Alles zu seiner Zeit.«

    »Die Zeit ist jetzt, Frau Podolski.«

    »Einverstanden.«

    »Sie halten also noch mit belastendem Material hinter dem Berg?«

    »Wenn Sprachaufnahmen als solche betrachtet werden.«

    »Sprachaufnahmen?«

    »Meine Interviews mit Meissner. Ich habe sie auf Band.«

    »Es bestehen Tonaufnahmen der Interviews?«

    »Eine alte Gewohnheit von mir.«

    »Ich nehme an, Sie wissen, dass bei einem allfälligen Exklusivvertrag auch die Rechte dieser Sprachaufnahmen an uns übergehen.«

    »Davon gehe ich aus.«

    »Sind es digitale oder analoge Aufnahmen?«

    »Meine Bilder wie auch die Sprachaufnahmen liegen in digitaler Form vor.«

    »Gibt es Kopien davon auf anderen Datenträgern als auf Ihren eigenen?«

    »Werden Sie veröffentlichen?«, fragte Mara, getrieben von etwas, das sie nicht mehr unter Kontrolle hatte.

    »Wir sind daran interessiert.«

    »Wir haben uns noch nicht über das Honorar unterhalten. Was glauben Sie, Herr Strove, ist Ihr Verlagshaus bereit, dafür zu bezahlen?«

    »An wie viel haben Sie denn gedacht?«, gab Strove lachend zurück. Es hörte sich an, als wollte er sie an der Entscheidungsfindung teilnehmen lassen.

    Mara streckte den Hals nach den Notizen auf dem Küchentisch. Cordula Herdecke hatte unverbindlich einen Betrag von drei-, viertausend Euro erwähnt, eine Summe, die Mara jetzt auf Grund des Gesprächverlaufes mit Strove zu erhöhen gedachte. »Für die Veröffentlichungsrechte hätte ich gerne fünftausend Euro. Falls Ihr Verlagshaus allerdings an den Exklusivrechten interessiert ist, so sprechen wir von einem Betrag um die siebentausend«, sprudelte es aus ihr heraus. Dem fügte sie mit kämpferischer Verdrossenheit hinzu, das Bildmaterial sei im genannten Preis natürlich nicht inbegriffen.

    »Und wie viel möchten Sie für dieses?«, fragte Strove vorsichtig.

    Mara wog den Kugelschreiber angespannt in den Händen. Mut stieg in ihr auf. »Dreihundert pro Bild«, pokerte sie. »Ausgenommen das eine. Ich nehme an, Sie wissen, welches. Für das hätte ich gerne neunhundert.«

    Strove wusste selbstverständlich, welches Foto gemeint war. Das schlimmste von allen: Es zeigte Dieter Meissner, der sich mit erigiertem Glied gierig über eine minderjährige Schwarze beugt. Strove blies die Wangen auf, um seinen Widerwillen zur Schau zu stellen, gerade so, als säßen Podolski und er sich gegenüber. »Neunhundert Euro?«, plusterte er ins Telefon, als hätte er die Forderung nicht richtig verstanden.

    Was für ein lächerliches, völlig unnötiges Spielchen, dachte Mara, die in einem Winkel ihres Bewusstseins ahnte, dass sie sich zu günstig verkauft hatte. »Neunhundert Euro, keinen Cent weniger«, bestätigte sie heroisch. Strove notierte sich die Zahlen mit feuchter Hand auf einem Blatt Papier, multiplizierte die Anzahl Fotos mit dem geforderten Betrag, addierte die Kosten der Sprachaufnahmen und berechnete daraus sein Angebot für die Exklusivrechte. Um das Risiko einer Zurückweisung zu umschiffen, schlug er einen Tausender obendrauf. Ein gespreiztes Lächeln zierte seinen Mund, als er bekannt gab, dass sein Verlag bereit sei, zwölftausend Euro, aber nicht einen Cent mehr für Podolskis Victoria-Report zu bezahlen. Das sei ein faires Angebot, fügte er hinzu und lud die Dresdner Journalistin ein, raschmöglichst nach Hamburg zu kommen, um das Geschäft vertraglich zu besiegeln.

    Mara schnappte nach Luft. »Schön. Ich komme. Wann wäre es Ihnen recht?«, trällerte sie und fiel dabei fast in Ohnmacht.

    6

    Von Bernd Stroves Versprechungen umgarnt, sah Mara tags darauf die Welt nicht mehr ganz so düster und hoffnungslos wie noch kurz zuvor. Ein Gefühl des Aufbegehrens beflügelte sie. Jede Handlung und jede Bewegung, selbst wenn nicht vollzogen, war getränkt von einer Leichtigkeit, die eine fast kindliche Ausgelassenheit heraufbeschwor. Beim Frühstück brach sie gar in ein Lachen aus, das ihr, hätte jemand dabeigestanden, peinlich gewesen wäre. Nachdem sie die letzte Scheibe Brot verdrückt und den Kaffee getrunken hatte, machte sie sich unverzüglich daran, das ihr zugesprochene Vermögen auszugeben. Die mit Kummer beladenen Tage waren vorbei, nun musste sie nur noch ihren Sohn finden und in die Arme schließen.

    Mit zuversichtlichem Lächeln klapperte sie die Boutiquen nach einer Sonnenbrille ab. Da ihr das Angebot in der Neustadt nicht schick genug erschien, eilte sie zur Prager Straße. Zweihundertfünfzig Euro war sie geneigt auszugeben. Ihre alte, die man ihr in Mwanza abgenommen, nicht aber wieder ausgehändigt hatte, musste ersetzt werden. Ohne ging es nicht. Eine Brille im wehenden Haar diente ihr als Sinnbild, zu den Menschen zu gehören, die ihr Dasein auf der sonnigen Seite des Lebens verbringen.

    So trieb Mara auf der Suche nach einem neuen Modell wie ein Stück Holz auf Wasser durch Dresdens Altstadt. So gut wie pleite, jedoch Bernd Stroves Zusage vor Augen, blieb sie vor einem Schaufenster stehen, dann vor einem anderen, spähte auch dort hinein, überlegte, ob sie das Geschäft betreten wollte, entschied sich dagegen und hastete weiter. Eine passende Brille aber ließ sich nicht finden. Je mehr Brillen sie probierte, desto größer wurde die innere Leere. Immer launischer hetzte sie durch die Stadt. Einmal, ganz unvermittelt, betrat sie eine Kneipe und bestellte Wasser. Kaum hatte der Kellner es ihr gebracht, verspürte Mara keinen Durst mehr. Fiebrig in ihrer Hetze, bezahlte sie die Rechnung und eilte weiter. Eine neue Idee hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Einen Teddybären musste sie erstehen, einen, so groß wie Clive. Schon bemühte sie einen netten Verkäufer. Dieser war, nachdem er ihr eine halbe Stunde lang sämtliche Modelle feilgeboten hatte, der Verzweiflung nah. Einen so großen, kuscheligen, braunen und anschmiegsamen, wie die Kundin es verlangte, führte das Kaufhaus nicht. Doch wenn sie es wünsche, könne er beim Lieferanten nachfragen. Damit war Mara auch nicht einverstanden. Jetzt und sofort wollte sie einen Teddybären, sonst gehe sie. Der Verkäufer, nun schon ganz verschwitzt, erkundigte sich, ob er Frau Podolski also doch diesen einpacken dürfe, und deutete auf den dunkelbraunen Bären mit dem dicken runden Bauch und den traurigen Augen. Mara schaute erst den Verkäufer, dann den Bären lange an. Ihr Schweigen legte der arme Mann als Zusage aus. Beflissen machte er sich daran, das größte aller Plüschtiere einzupacken. Leider aber passte es in keine Tasche. Was soll’s, sagte sich Mara und klemmte den Bären wie eine Mappe unter den Arm. Und weiter ging’s mit der Einkaufstour. Beschwipst von drei Gläsern Prosecco und trällernd wie eine Studentin nach bestandenem Staatsexamen, ging sie, ausgerüstet mit einer Designerbrille, einer neuen Mütze, die auch Che Guevara gestanden hätte und Clives Bär, den Mara in einer Bar unter dem lauten Zuspruch irgendwelcher Gäste Teddy-Fredi getauft hatte, durch Dresdens Straßen, wo sie jedem ein Lächeln schenkte, der sich dafür interessierte. Schließlich bog sie mit viel Schwung in die K.-Straße ein, wo sie eine Wohnung gemietet hatte. Stampfenden Trittes auch hier, erklomm sie das Treppenhaus. Beängstigend ruhig schien es hier, bis auf das Klingeln eines Telefons, das sich sehr bald als ihr eigenes herausstellte. Alex ruft an, schoss es Mara durch den Kopf. In aller Hast sperrte sie die Wohnungstür auf, warf die Einkaufstüten in eine Ecke und rannte in die Küche. Beim neunten Klingelton nahm sie ab. »Alex?«

    »Spreche ich mit Frau Podolski?«, meldete sich dieses Mal eine Frauenstimme.

    »Nee, mit Teddy-Fredi. Wer schbricht?«, antwortete Mara enttäuscht.

    Kurzes Zaudern am anderen Ende. Dann folgte ein Satz, der Mara noch lange beschäftigen sollte: »Frau Podolski, hat Herr Strove mit Ihnen Kontakt aufgenommen?«

    Das Hamburger Nachrichtenmagazin. Mara hielt den Atem an. So erfreut sie über den Anruf war, der Zeitpunkt erschien ihr höchst ungelegen. Sie musste sich ernsthaft zusammenreißen, um nicht den Verdacht zu erwecken, betrunken zu sein. Ein Vorhaben, das sich als schwierig herausstellte.

    »Frau Herdecke. Schind Schie dasch? Schie dürfen doch gar nischt mit mir reden.«

    »Haben Sie schon eine Vereinbarung mit Herrn Strove getroffen?«

    »Und ob ich dasch habe. Zwölftausend Euro. Ich bin Ihnen zu groschem Dank verpflichtet, Frau Herdecke. Ich spreche doch mit Frau Herdecke.«

    »Lehnen Sie ab, Frau Podolski! Strove hat den Auftrag, Ihre Reportage in der Schublade verstauben zu lassen. Nehmen Sie sein Angebot nicht an. Wenden Sie sich an ein anderes Verlagshaus!«

    »Bidde? Hallo, Frau Herdecke! Sind Sie dasch?«

    Das Nächste, was Mara vernahm, war das Freizeichen und das Dröhnen der Stadt im Hintergrund. Es dauerte eine kleine Weile, bis sie klar denken konnte, dann aber traf Mara die Warnung wie eine Kugel aus dem Hinterhalt.

    »In der Schublade verstauben laschen?«, fragte sie Teddy-Fredi, der ahnungslos neben ihr auf dem Steinboden lag. Mara fühlte, dass etwas in ihr ins Rutschen kam. Im Versuch, die auflodernde Erregung zu besänftigen, schloss sie die Augen. Fassungslosigkeit überkam sie, die sich in einer plötzlichen Atemnot ausdrückte. Als hätte man ihr in die Beine getreten, glitt Mara zu Boden. Herdecke und Strove, was zum Teufel wollten die, wenn nicht …? Einen verrückten Moment lang erwog Mara die Möglichkeit, nach Hamburg zu fahren und … Aber nein, das

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