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Oslo/Utøya: Und andere authentische Kriminalfälle aus Skandinavien
Oslo/Utøya: Und andere authentische Kriminalfälle aus Skandinavien
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Oslo/Utøya: Und andere authentische Kriminalfälle aus Skandinavien

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Die Zerstörung eines Idylls

Die Skandinavien-Korrespondentin Ingrid Raagaard beleuchtet in einer packenden Dokumentation die Hintergründe des Massakers von Oslo im Juli 2011. Vier Wochen nach dem Doppelattentat reist sie nach Norwegen, fängt die Stimmung im Land ein und begibt sich auf Spurensuche. Nach umfangreichen Recherchen rekonstruiert sie, was genau sich an jenem verregneten Sommertag im Regierungsviertel der Stadt und auf der Insel Utøya ereignete und macht auf bisher unbeachtete Fakten und Zusammenhänge aufmerksam.
Auf der Grundlage einzelner Augenzeugenberichte - zum Beispiel von Staatsangestellten, deren Büro nach der Bombenexplosion in Schutt und Asche zerfiel oder von Teilnehmern des Jugendcamps, denen es nur knapp gelang, dem Attentäter zu entkommen - wechselt sie dabei immer wieder die Sichtweise auf die Geschehnisse und gibt den zahlreichen Opfern, Überlebenden und Helfern ein Gesicht. Ohne Sensationslust, aber mit einem hohen Maß an Feingefühl und Empathie zeichnet sie das kaltblütige Attentat nach, welches das friedliche Norwegen mitten ins Herz treffen sollte.
Der Leser erhält zudem tiefen Einblick in die hasserfüllte Gedankenwelt des Anders B. Wie konnte sein jahrelanges Doppelleben so lange unerkannt bleiben? Und welche Umstände ebneten seinem brutalen Massenmord den Weg?

Daneben berichtet die Autorin über weitere aufwühlende Kriminalfälle aus dem hohen Norden, die sie ebenso meisterhaft und detailliert dokumentiert.
LanguageDeutsch
Release dateMar 1, 2012
ISBN9783861897866
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    Book preview

    Oslo/Utøya - Ingrid Raagaard

    angeben

    Massaker

    Am 22. Juli 2011 sprengte der zweiunddreißigjährige norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik im Osloer Regierungsviertel eine Bombe. Dann fuhr er zur Insel Utøya und erschoss – verkleidet als Polizist – neunundsechzig Menschen, die meisten von ihnen waren unter zwanzig Jahre alt. Insgesamt tötete Breivik innerhalb weniger Stunden siebenundsiebzig Personen. Das Massaker versetzte nicht nur Norwegen, sondern ganz Europa, in einen Schock.

    Spurensuche

    Vier Wochen nach jenem schrecklichen Freitag, dem 22. Juli 2011, an dem siebenundsiebzig Menschen bei einem unbegreiflichen Bomben-Angriff und Massaker ihr Leben verloren hatten, begab ich mich in Norwegen auf Spurensuche. Mein Ziel war klar vorgegeben: Ich wollte sehen, welche Wunden diese Tragödie in dem Land hinterlassen hatte.

    Die Zeit schien passend dafür, die Regierung und der König hatten mit einem großen Gedenkgottesdienst die offizielle Trauerzeit für beendet erklärt. Das Blumenmeer vor dem Dom war entfernt und die Insel Utøya von der Polizei wieder freigegeben worden. Im von der Bombe zerstörten Regierungsviertel hatte man längst alle Glasscherben beseitigt. Wenige Tage zuvor war das letzte Mordopfer von Utøya beigesetzt worden: Die erst sechzehnjährige Elisabeth Lie hatte in Halden ihre letzte Ruhe gefunden, die Familie hatte vier Wochen mit der Beerdigung gewartet, weil Elisabeths Schwester von einer Kugel schwer verletzt worden war und wochenlang im Krankenhaus gelegen hatte. Sie sollte und wollte an diesem traurigen Tag dabei sein und hielt dann auch am Grab ihrer toten Schwester eine berührende Rede: »Du bist der schönste Engel oben im Himmel, und auch der Engel mit der schönsten Stimme.«

    Norwegen schien nun endgültig wieder nach vorne zu blicken und zu seinem alten Lebensstil zurückzufinden.

    Ich hatte Oslo in den letzten Jahrzehnten schon sehr oft besucht, aber natürlich sah ich die Stadt damals mit anderen Augen. Das Regierungsviertel in der Innenstadt war für mich der Ort eines architektonischen Missverständnisses. Wie konnte man mitten in der Altstadt so hässliche Hochhäuser bauen? Und so nahe an historischen Gebäuden, wie z. B. dem Restaurant Justisen, einem kleinen gelben Häuschen aus dem Jahr 1840. Wenn man dort im Hinterhof ein Bierchen trinkt oder eines der berühmten Lamm-Gerichte isst, liegt eines der Beton-Regierungsgebäude so nahe, dass man denkt, man könne es mit den Händen berühren.

    Wie würde das alles nach dem Massenmord und dem Bombenanschlag auf mich wirken?

    Oslo hatte sich verändert, das merkte man sofort. Ich hielt kurz inne, dann fiel es mir auf: Die ganze Stadt war voller Polizisten, und sie machten auch nicht den geringsten Versuch, diskret zu sein. Wohin man auch schaute: Überall sah man Uniformen, entweder zu Pferd, auf Motorrädern, in Streifenwagen, oder zu Fuß auf der Straße sowie in kleinen Grüppchen auf den Bürgersteigen und in den Parkanlagen stehend. Die Stadt Oslo muss sämtlichen Polizisten der Stadt Urlaubsverbot erteilt haben, schoss es mir durch den Kopf.

    Der Dom war vier Wochen »danach« immer noch so klein und bescheiden wie eh und je, an keiner Stelle Oslos ragt er wirklich aus dem Stadtbild hervor, so wie man es vielleicht von einem Dom erwarten würde. Man sieht ihn mit seinem niedrigen Turm erst dann richtig, wenn man direkt davor steht. Trotzdem war der Dom in der Trauerphase der wichtigste Sammlungsort des ganzen Landes gewesen. Vor seinem Tor wuchs nach dem Morden ein Blumenmeer, das von Tag zu Tag größer wurde. Die Stadt Oslo hatte zwei Wochen nach den Anschlägen dieses Blumenmeer entfernen lassen und dabei große Sensibilität bewiesen. Alle Blumen kamen gemeinsam auf einen Komposthaufen, die Erde, die daraus entstehen wird, soll später für eine Gedenkstätte verwendet werden. Alle schriftlichen Grüße, Stofftiere, Herzen, Geschenke und Kerzen kamen ins Staatsarchiv und werden dort für immer aufbewahrt.

    Doch in den zwei Wochen nach der Aufräumaktion war erneut ein kleines Blumenmeer entstanden. Vor dem Hauptportal lagen die weißen Rosen, die die Thronfolger aus Dänemark und Schweden wenige Tage zuvor bei der Gedenkfeier niedergelegt hatten. Daneben Rosen, Rosen, Rosen, immer wieder Rosen. Rote und weiße. Ich erinnerte mich daran, dass eine Zeitung vor kurzem gemeldet hatte, dass man in ganz Oslo und Umgebung nirgendwo mehr Rosen kaufen könne.

    Eine dänische Familie hatte einen langen schriftlichen Gruß hinterlassen und beteuert, in Gedanken beim norwegischen Volk zu sein. Andere hatten siebenundsiebzig weiße, bemalte Steine – für jedes Opfer eines – hingelegt. Ein riesiges rotes Herz mit einer Rose stand einige Meter neben dem Dom auf einer Stange mit den Worten: »Aber am größten ist die Liebe.« Dazwischen immer wieder Zettel mit ganz persönlichen Grüßen. »Wir werden dich nie vergessen.« »Du warst der wunderbarste Mensch der Welt.«

    Touristen machten Fotos, andere standen still davor, einige weinten. Hier war nichts davon zu spüren, dass Norwegen nach vierwöchiger Schockstarre nun wieder nach vorne blicken wollte.

    Im Dom selbst war es ruhig und kühl. Einige Menschen beteten. Waren sie hier, um Trost nach dem Massaker zu finden? Oder waren sie die üblichen Gläubigen, wie man sie in jedem Dom der Welt findet? Ich habe nicht gefragt, niemand sollte aus welchem Grund auch immer beim Gebet gestört werden.

    An einer Wandseite entdeckte ich eine lange Reihe von Kinderzeichnungen. Man sah Rosen, Kerzen, Herzen, kleine Menschen, Tränen, aber auch Sonnen und Wolken, festgehalten mit dicken Buntstiftstrichen. Der Weg entlang den Kinderzeichnungen führte mich zu einer Kirchenbank, auch hier hingen noch Bilder. Der Kirche war der Platz an den Wänden ausgegangen für all die mit Farben festgehalten Gefühle der Kleinen, die so auf ihre Art zeigten, was nach dem 22. Juli auf ihren Seelen lastete. In einer Ecke hatte man Kissen ausgelegt, daneben Buntstifte und jede Menge Papier. »Die Kinder-Malecke« stand auf einem Schild. Der Dom hatte damit den kleinsten Gläubigen die Möglichkeit gegeben, sich so auszudrücken, wie es ihrem Alter entspricht. Ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. So viel Trauer in so vielen kleinen Menschen. Und man hatte gesagt, dass man nun wieder nach vorne blicken wird. War das im Moment wirklich schon möglich?

    Nur wenige Meter vom Dom entfernt kommt man in die Karl-Johan-Straße, dem einzigen richtigen Prachtboulevard der Hauptstadt, der allgemein nur »Karl-Johan« genannt wird. Nahe dem Dom liegt hier das Parlament Stortinget – etwa einen Kilometer weiter am anderen Ende der Karl-Johan das Königsschloss. Da die Karl-Johan an einem Berg liegt, hat man auf dem Bürgersteig neben dem Parlament einen direkten Blick zum Schloss. Dazwischen liegt eine breite Allee mit Springbrunnen und Restaurants, gesäumt von den besten Hotels der Stadt, schicken Lokalen und Einkaufs-Eldorados für Touristen.

    Vor dem Stortinget gibt es eine breite von Löwen bewachte Treppe. Zwischen den Pfoten eines Löwen lag eine weiße Rose, so, als wolle er sie festhalten und nicht hergeben. Es schien, als habe sich die Trauer für immer vor dem Parlament niedergelassen.

    Aber trotzdem spürte man hier, nur hundert Meter vom Dom entfernt, so etwas wie Lebensfreude. Die Sonne schien, Osloer saßen vor den Lokalen und tranken Bier, auch wenn das Glas hier zwischen sechs und acht Euro kostet. Für einen Moment fühlte man sich wie in jeder anderen Prachtstraße jeder anderen europäischen Großstadt. Wenn da nicht plötzlich der Blick nach links gewesen wäre. In einer Seitenstraße genau neben dem Parlament wehte wie zum Trotz gegen all die Ungeheuerlichkeiten der letzten Wochen eine riesige weiße Flagge mit einem roten Malteserkreuz, das der Mörder Anders Behring Breivik als Symbol für das Titelblatt seines berühmtberüchtigten Manifests gewählt hatte. Die Flagge wehte am Osloer Sitz der norwegischen Freimaurer-Loge. Hier hält man Treffen ab – und hier war Breivik Mitglied gewesen. Nur deshalb hatte er sich in der traditionellen Kleidung der Freimaurer ablichten lassen können und das Foto auf den letzten Seiten seines Manifests veröffentlicht.

    Warum hatten die Freimaurer nach dem Massaker ihre Fahne, die an jedem schönen Tag vor dem Fenster gehisst wird, nun nicht beschämt eingezogen? Dafür scheint es in Norwegen keinen Grund zu geben. Schon kurz nach dem 22. Juli hatte die Loge ein offizielles Statement abgegeben:

    »Wir sind über die Grausamkeiten im Regierungsviertel und auf der Insel Utøya entsetzt. Wir denken mit Trauer an alle Betroffenen. Es wurde bekannt, dass der Verhaftete Mitglied des norwegischen Freimaurer-Ordens war. Er wurde mit unmittelbarer Wirkung ausgeschlossen. Dieser Ausschluss ist ein Ausdruck dafür, dass seine Taten vollkommen unvereinbar sind mit dem, wofür die Loge steht. Wir bauen auf christliche und humane Werte, und wir wollen, dass unsere Mitglieder Nächstenliebe, Frieden und Güte in die Gesellschaft tragen. Die Polizei wird natürlich von uns jegliche Unterstützung erhalten.«

    Diese Mitteilung hatte die Bevölkerung ganz offensichtlich beruhigt. Es gab nach dem Anschlag keine einzige Klage über die Freimaurer-Flagge, denn auch hier zeigten die Norweger in aller Deutlichkeit, dass sie es ernst meinen, wenn sie fordern, dass das Land an seiner offenen Gesellschaft festhält.

    Aber auch auf der anderen Seite des Stortinget, wenn man dort nach rechts in eine der Seitenstraßen geht, spürte man, dass die Trauer noch allgegenwärtig war.

    Nur wenige Meter vom Prachtboulevard entfernt, fehlten auf einmal die Fensterscheiben in den Häusern. Überall sah man düstere Spanplatten. Die Druckwelle der Neunhundertfünfzig-Kilo-Bombe hatte die Fenster in einem Umkreis von fünfhundert Metern zertrümmert. Was mögen die Menschen damals gedacht und gefühlt haben, als ihnen plötzlich Glas um die Ohren flog?

    Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras verschiedener Geschäfte in dieser Gegend zeigten überall die fast immer gleichen Szenen: Kunden stehen im Laden, dann bersten Fenster, Glasscherben fliegen durch die Luft, Waren aus den Regalen. Die Menschen stürzen im ersten Reflex zur Tür und wollen hinaus, dann rennen sie entsetzt wieder zurück ins Geschäft und suchen Sicherheit im hinteren Teil. In dem Moment, in dem sie die Tür öffneten, müssen sie gemerkt haben, dass draußen völliges Chaos herrschte.

    Stumme Zeitzeugen jener Sekunden waren die Zettel an den mit Holz verschalten Fenstern. »Wir haben wieder geöffnet, bitte besucht unseren Garten im Hinterhof«, meldete ein Restaurant. »Wir hoffen, Ende September wieder öffnen zu können«, hieß es bei einem anderen.

    Verzweifelte Worte dagegen an einer Galerie. »Es hat 26 Jahre gedauert, um eine der größten Galerien Skandinaviens zeitgenössischer nordischer und internationaler Kunst zu werden. Wir kommen bald zurück«, stand auf einem Zettel. Auf einem anderen: »Wir leiden. Drei Stockwerke wurden durch die Bombenexplosion stark beschädigt. Aber – wir kommen zurück!!« Und auf einem letzten: »Wegen den Explosionsschäden müssen wir unsere Galerie einige Zeit schließen. Telefon funktioniert normal!!!!«

    Jeder der Zettel wurde in einer anderen Farbe geschrieben, so als wären sie zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden. So wurden sie ein kleines, aber deutliches Indiz dafür, dass die Panik über das zerstörte Lebenswerk von Tag zu Tag gewachsen war. Erstaunt blickte ich die Hauswand hoch, alle Fenster im Galerie-Gebäude waren intakt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es dagegen nur noch Spanplatten. Die Druckwelle musste die hintere Seite des Hauses zerstört haben. Hatten die Scherben kostbare Kunst zerfetzt? Gab es außerdem einen Wasserschaden? Oder ganz andere Schäden, von denen wir Nicht-Betroffene keine Ahnung haben?

    Ein paar Meter weiter dann plötzlich ein Bauzaun und in einem kleinen Häuschen daneben ein Polizist. Hinter dem Zaun lag das zerstörte Regierungsviertel, das wusste ich, aber sehen konnte man nichts. Nur Rosen, gelbe, weiße, rote, die Trauernde an jeder erdenklichen Stelle am Zaun befestigt hatten. Dazu Kerzen und kleine norwegischen Fähnchen. Geduldig erklärte mir der Polizist, dass das ganze Regierungsviertel gesperrt sei, auch für die Presse, schon aus Sicherheitsgründen. Alles sei eine einzige große Baustelle und das Betreten einfach zu gefährlich. Und dann gab er mir noch einen Tipp. Ich soll in die Parallelstraße gehen, dort habe man den Bauzaun extra offen gehalten, damit man alles sehen könne. Vorbei an den immer trauriger wirkenden verschalten Fenstern, Baugerüsten und Abdeckplanen folgte ich seiner Empfehlung. Und wirklich: Genau vor mir lag die Straße Grubbegata. Durch das nicht verhüllte Absperrgitter blickte ich auf Gebäude ohne Fenster und einen riesigen gelben Stahlträger, der vier Stockwerke hoch in die Luft ragte. Dort wo er nun steht, explodierte am 22. Juli der Lieferwagen mit der Bombe. Direkt vor dem ebenerdigen Empfangshäuschen des wichtigsten Regierungsgebäudes, in dem auch der Ministerpräsident seinen Sitz hat. Ich drehte mich um und blicke in Richtung Karl-Johan. Unzählige Regierungsangestellte und Beamte, Politiker und einfach nur Passanten müssten normalerweise die Grubbegata nehmen, um sich nach Feierabend auf der Karl-Johan noch mit jemandem zu treffen, oder um dort in den Bus nach Hause zu steigen. Jetzt war die Grubbegata leer, weil sie keine Durchgangsstraße mehr war. Das Leben hörte hier am 22. Juli, Punkt 15 Uhr 24 und 18 Sekunden auf. Wird es je wieder zurückkehren?

    Am nächsten Tag fuhr ich mit einem Leihwagen von Oslo nach Utvika, dem winzigen Ort am Tyrifjord-See, in dem es eigentlich nur einen Campingplatz und eine Anlegestelle für eine Fähre gibt. Die Fähre verkehrt nur, wenn Leute kommen, die hinüber auf die kleine Insel mitten im See wollen: Nach Utøya. Utvika ist so klein, dass das Navigationsgerät den Ort nicht finden konnte, ich musste den nächstgrößeren eingeben. Aber das machte nichts, denn dort – in Sundsvollen – liegt das Sundsvollen-Hotel, in dem die Überlebenden und die Angehörigen der Toten nach dem Massaker ihre erste Anlaufstelle fanden. Hier suchten Eltern nach ihren Kindern, Jugendliche nach ihren Freunden, Polizisten nach Zeugen. Hier hat eine Mutter einen siebenjährigen Jungen gestreichelt und immer wieder gerufen: »Da bist du ja, da bist du ja, da bist du ja«, bis die Umstehenden weinten, weil sie selbst gerade noch auf ein Wunder hofften oder das Massaker überlebt hatten und deshalb selbst ein Wunder waren.

    Das Hotel selbst ist hypermodern und strahlt geschäftsmäßige Kühle aus. Es ist kein Erholungs- und Familienhotel, eher ein Mini-Kongress-Center oder ein Hotel für Geschäftsleute, die hier irgendwelche Seminare und Kurse belegen müssen. Und richtig: An dem Tag, an dem ich komme, gibt es gerade mehrere Seminare.

    Utøya gehört der sozialdemokratischen Jugend und war seit Jahrzehnten Ort der sommerlichen Jugendlager. Manchmal gab es tausend Gäste auf der Insel, manchmal nur ein paar Hundert. Der Verband schätzt, dass am 22. Juli fünfhundertfünfundachtzig Personen auf der Insel waren, aber noch Wochen nach dem Massenmord forderte man alle auf, die dort waren, sich als Zeugen bei der Polizei zu melden. Ganz sicher war man sich über die genaue Anzahl also nicht. Mitte August waren die Nachforschungen auf Utøya abgeschlossen, die Insel für die sozialdemokratische Jugend freigegeben worden. Für die Öffentlichkeit oder die Presse wurde diese trotzdem nicht geöffnet. Auch ein langes Gespräch mit dem Pressesprecher des Verbandes hatte daran nichts geändert. Die Angehörigen wollten keine Journalisten auf der Insel, jedenfalls noch nicht zu diesem Zeitpunkt.

    Ich fuhr trotzdem nach Utvika, ich wollte die Insel wenigstens aus der Entfernung sehen.

    Normalerweise braucht man vierzig Minuten von der Osloer Innenstadt nach Utvika, Anders Behring Breivik benötigte die doppelte Zeit. Er war Umwege gefahren, weil er fürchtete, in Straßensperren zu geraten. Für das letzte Stück des Weges kann er aber nur eine einzige Strecke genommen haben: die E16, eine dicht befahrene Straße, die direkt von Oslo nach Bergen – Norwegens zweigrößter Stadt – führt. Wenn man von Oslo kommt, liegt der See links, nur wenige hundert Meter von der Straße entfernt, rechts steigen Felswände in die Höhe. Ausweichmöglichkeiten gibt es kaum. Kurz nach dem Campingplatz taucht plötzlich ein kleines, weißes Schild auf: »Utøya: 200 Meter«. Aber auch nach zweihundert Metern sieht man nichts und fährt als Ortsunkundiger einfach vorbei. Erst beim Vorrüberfahren entdeckt man, dass es zwischen Bäumen einen schmalen Weg gibt, der hinunter zum Ufer und zur Fähre führt. An Umdrehen ist hier nicht zu denken, und erst beim Sundsvollen-Hotel kann man die zweispurige Straße endlich verlassen.

    Auf der Rückfahrt nach Utvika behielt ich das kleine weiße Utøya-Schild fest im Auge und bog nach zweihundert Metern rechtzeitig ab. Ich musste an die Polizisten denken, die sich damals auf dem Utvika-Campingplatz verirrt hatten und hilflos fragten: »Wie kommt man eigentlich nach Utøya?« Wer die Gegend nicht ganz genau kennt, ist erst einmal orientierungslos. Anders Behring Breivik muss vor seiner Tat das ganze Ufer mit seinen versteckten Wegen und Plätzen genau überprüft haben. Ich kam nur zehn Meter weit, nachdem ich die Utøya-Abfahrt genommen hatte, dann versperrte eine Kette den Weg. Auf der anderen Seite der Kette muss man

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