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Notschek
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Notschek

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"Ich fessle dich. Gefesselt bist du frei." - Bedingungen von Selbstbestimmung und persönlicher Identität sind ein zentrales Thema in Jonas-Philipp Dallmanns spannendem Debütroman.

Als Notschek in die Mansarde zieht, kommt Unruhe in das abgelegene Vorstadthaus, in dem der Ich-Erzähler mit seiner Frau Maria lebt. Eigentlich soll Notschek nur vorübergehend Unterschlupf finden, aber sein Aufenthalt zieht sich in die Länge. Der nervöse Bohemien spielt sich als Rechthaber auf, er politisiert, verschlingt Zeitungen und sitzt in Wirtshäusern herum. Er scheint jedoch als Einziger eine beunruhigende Entwicklung zu verstehen: Kontingentierung lässt die Lebensmittel knapp werden, die Zeitungen werden verboten und eine Ausgangssperre wird verhängt.

Das Leben verengt sich auf das Vorstadthaus und die Dreiecksbeziehung der Bewohner, die sich zunehmend mit sinnlosen Verrichtungen beschäftigen: Notschek ordnet einen Nachlass, Maria zeichnet Wäsche und der Ich-Erzähler patrouilliert durch Haus und Garten. Von einem Nachbarn erhält er eine Warnung - kurz darauf ist dieser verschwunden.

Jonas-Philipp Dallmann spannt den Leser gekonnt auf die Folter. Seine Sprache und der unerwartete Handlungsverlauf entfachen einen geradezu klaustrophobischen Sog. Das scheinbar harmlose Kammerspiel um einen schrulligen Wichtigtuer und dessen grüblerischen Beobachter entpuppt sich als kafkaesk-orwellsche Gesellschaftsvision, in der die politischen Utopien und Wahnideen des 20. Jahrhunderts bruchstückhaft aufscheinen.
LanguageDeutsch
Release dateSep 23, 2011
ISBN9783902844019
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    Notschek - Jonas-Philipp Dallmann

    Irmgard

    Zeitungen

    Interimistisch, nur vorübergehend ist Notschek bei uns untergekommen, ganz wie man eine Leihgabe in einem Magazin unterstellt, haben wir ihn in der Mansarde installiert, in dem ehemaligen Schlupfwinkel des Wittler, der nun seit viereinhalb Jahren fort ist. Ich finde mich also mit allen Begleitumständen dieser Beherbergung ab, mit den neuen Geräuschen, die nun von oben herunterdringen, mit der Unmenge an Gepäck, das Notschek mitgebracht hat, mit dem Geschwätz, das wir nun von frühster Stunde an von ihm hören, wenn er schon zum allerersten Tee gleich zu uns herunterkommt, oft noch in seinem Kittel, einem weißen, unförmigen Ding, die Holzpantoffeln an den Füßen. Nein, ich bin müde, ich bin dieser Beherbergung schon müde, kaum dass sie wirklich begonnen hat. Notschek ist ein anstrengender Mensch, ein Schwätzer und Bummler; er hat Unmengen Papier und sogar Bücher in seinem Gepäck, dabei liest er ständig in irgendwelchen Zeitungen und ist überall mit seinem schwarzen Notizbuch anzutreffen, obwohl er gar kein Amt ausübt. Notschek schreibt in dieses Notizbuch mit wichtiger Miene, als nähme er Personalien auf, aber das ist reine Aufschneiderei, denn Notschek übt gar kein Amt aus und kann auch von niemandem Personalien aufnehmen, dazu ist er nicht berechtigt. Dazu diese halb amtliche, halb zivile Kleidung, dieser Paletot aus Kammgarn, den er trägt, und diese großen Brillengläser, durch die er einen immer anschaut, als habe man sich mit einem Gedanken zu weit vorgewagt und er müsse nun diese unsichere Brücke stützen. Das ist, wie gesagt, reine Aufschneiderei, so wie ist es mit seiner Bildung ja gar nicht so weit her ist: Notscheks Studien sind unabgeschlossen, seine Manuskripte sind unvollendet.

    Ich lasse mich mit Notschek auf nichts ein, auf gar nichts, ich will nicht in seiner Trübe fischen, seine Mansarde betrete ich nicht, schon die Treppe dort hinauf sehe ich gar nicht an. Notschek ist eine unsichere Existenz, eine schwankende, er hat keinen Beruf, das ist das Übel, früher ist er Hilfslehrer gewesen in einem kleinen Dorf dreißig Kilometer vor der Stadt, wo er in der Dorfschule Kinder unterrichtet und wahrscheinlich durchgeprügelt hat. Von dieser Zeit sucht Notschek heute zu zehren, wenn er sich in den Wirtshäusern als Lehrer ausgibt. Notschek heischt nach Anerkennung und erhält sie nirgends, das sagt Maria, die ihn ohnehin für einen Säufer hält – aber das ist nicht ganz wahr, Notschek trinkt zwar den Rotwein, aber er ist kein Säufer, so weit kann man nicht gehen. Maria meint aber, Notschek sei ein Säufer und Hasardeur, der Glücksspiele wegen, die sie jetzt im „Raben und in den anderen Wirtshäusern treiben, Kartenspiele und sogar Roulette, aber ob Notschek daran teilnimmt, kann ich nicht sagen. Es fehlte noch, dass ich mich mit ihm dort sehen lasse! Notschek hat natürlich keinen Halt, außer der Mansarde und dem ehemaligen Lehrerberuf, von dem er zu zehren versucht, hat er keinen Halt, und wer haltlos ist wie Notschek, der ist natürlich durch das Glücksspiel und die Säuferei gefährdet, aber noch hält Notschek sich davon fern, das weiß ich von Tomek, mit dem er täglich im „Raben zusammentrifft.

    Notschek hält dort politische Reden, das hat Tomek mir unlängst verraten, Notschek politisiert. Das ist heute fast normal, wo jeder dahergelaufene Student im Wirtshaus über Regierungsfragen mitentscheiden will. Notschek ist für Freie Räte, für Paneuropa und für die Einführung eines Plebiszites – das sind Stichworte, die ich von Tomek erhalten habe, wie viel davon wahr ist, kann ich nicht sagen. Maria hält Notscheks Politisieren für eine Ausflucht, für eine dumme Bummelei, die zu nichts führen kann; Notschek, meint Maria, hält sich nun an die Politik und an das Politisieren im Wirtshaus, weil er seine Schullehrerstellung aufgeben musste. Daran ist bestimmt einiges wahr, anderes nicht, Notschek ist immer politisch eingestellt gewesen, in seiner Studentenzeit war er Mitglied einer sogenannten Reformpartei, und er hat Pamphlete und Kolumnen für politische Zeitschriften verfasst, für die „Ampel und angeblich sogar für die „Freie Zeitung.

    Notschek sieht die politische Lage als gefährlich an, als gefährlich und verfahren, eine schlechte Stimmung gibt es, sagt er, die sich weiter aufschaukeln kann. Das ist hundertmal wahr, hier hat Notschek recht, wer die Zeitungen liest und ihren hysterischen Tonfall bemerkt, der findet kaum noch die Ruhe für die alltäglichsten Verrichtungen. Aber Notschek übertreibt, er ist durch das eigene Politisieren befangen, das meint Tomek. Tomek sagt, Notschek hat sich in eine hysterische Verfassung hineingesteigert, in eine politische Hysterie, die heute charakteristisch ist; wir alle leben ja längst, so Tomek, in einer hysterischen Verfassung, und Notschek hat sich diese Haltung vollends zu eigen gemacht.

    Wenn Notschek morgens zum allerersten Tee hinunterpoltert, hat er schon die Zeitungen gelesen und schwenkt sie hin und her, Zeitungen verschiedener politischer Ausrichtung, die er abonniert hat und die ihm ein Zeitungsjunge in aller Frühe in die Mansarde hinaufbringt. „Regierungskommission erlässt befristetes Embargo, liest er uns dann vor, oder „Eklat im Innenministerium: Rücktritt gefordert – das sind Schlagzeilen der überregionalen Presse. Notschek verfolgt nämlich die überregionale Presse, er gibt sich nicht mit den lokalen Zeitungen zufrieden, die doch nur marginale Ereignisse verzeichnen, die nicht den Weitblick und die Kompetenz der überregionalen Presse haben, wie Notschek sagt. Notschek sitzt da, in seinem Kittel, die Teetasse in der Hand, und liest den „Kommentar des Tages und „Von unserem Korrespondenten und die „Schlaglichter und politisiert, während Maria das Geschirr abzuräumen versucht. Bald kommt dann Tomek, auch mit Zeitungen der überregionalen Presse, und dann gehen beide zusammen in den „Raben, Notschek im Kammgarnmantel und die Zeitungen unterm Arm, Tomek in seiner weißen Felljacke. Ja, es ist anstrengend, diese Beherbergung ist nicht mehr lange auszuhalten, ich bin ihrer bereits überdrüssig, und täglich redet Maria auf mich ein, ich solle Notschek aus dem Hause weisen, ihm zeigen, wo die Tür ist. Aber das bringe ich nicht fertig, Notschek ist ein Gast, auch wenn er anstrengend ist. Außerdem hat Notschek in vielem Recht: Die politische Lage ist verfahren, ja, sie ist sogar unsicher. Notschek ist möglicherweise der einzige, der die Zusammenhänge ein wenig begreift, und was soll werden, wenn er fort ist?

    Der Ton der Zeitungen, die wir durch Notschek erhalten, von denen auch wir profitieren, wie er immer sagt, ist in den letzten Wochen immer unruhiger geworden, hat sich von einer leichten Aufgeregtheit zu einer Unruhe und schließlich zu der von Tomek erwähnten Hysterie gesteigert; die verschiedenen politischen Richtungen scheinen sich heimtückisch zu umkreisen und zu belauern. In der einen Zeitung, dem „Boten, die Notschek regierungstreu nennt, werden die Vorkommnisse der Politik mit großer Behutsamkeit erörtert, mit einer fast auffälligen Vorsicht; da ist immer die Rede von Gesprächen, die „in einvernehmlicher Atmosphäre verlaufen seien und von „guten Beziehungen, die man vertieft habe, während in dem Konkurrenzblatt, dem „Beobachter, die selben Vorfälle mit beißender Schärfe, mit einer ganz unnachsichtigen Kritik kommentiert werden; jeden Tag ist der „Beobachter angefüllt mit Forderungen nach Rücktritt von politischen Ämtern und mit Pamphleten, die dazu aufrufen, die bestehende Administration auszuhebeln, sie zu unterwühlen und umzustürzen, das ist der Wortlaut dort. Dazu ist diese Zeitung noch auf ein rotes Papier gedruckt. Zu diesen beiden Blättern kommen die Stimmen des „Freien Lichts, Hausblatt einer obskuren heimattreuen Sekte, und der „Neuen Zeitung, eines politisch überhaupt nicht einzuordnenden Blattes, das zwischen übertriebener Staatstreue und aufwühlerischem Umstürzlertum hin- und herschwankt, als werde die Redaktion jeden Tag neu besetzt. Neben diesen Zeitungen gibt es dann noch die unabhängigen Blätter, den „Überblick, der auf ein kleines, querrechteckiges Format gedruckt ist, und die „Letzte Stimme, die mehr einer Aneinanderheftung von schlecht gedruckten Flugblättern ähnelt als einer wirklichen Zeitung. In dem Durcheinander der Meinungen, das alle diese Blätter beschwören, ist aber schon lange keine Ordnung mehr zu finden: Hat man sich zu der weitblickend-behäbigen Meinung des „Boten durchgerungen, wird sie einem vom „Beobachter sogleich wieder untergraben und weggenommen, erwägt man die gefährlichen, freischärlerischen Überzeugungen des „Freien Lichtes, stellt die „Neue Zeitung" sie sogleich wieder in Frage.

    Notschek verhält sich all dem gegenüber neutral, keiner der Zeitungen gibt er seine Stimme ganz, keine Meinung macht er sich vollständig zu eigen. Hat er einen Artikel gelesen, so ist er gleich danach schon bei einem „jedoch, bei einem „ja, aber, und beginnt dann, seine Überzeugungen weitläufig auseinanderzusetzen, die komplizierten Verflechtungen der Zeitungen darzustellen, die er aus eigener Anschauung zu verstehen vorgibt. Da soll es personelle und persönliche Abhängigkeiten, ja sogar verdeckte Zusammenarbeit geben, da wechseln, wie Notschek behauptet, täglich Redakteure vom „Beobachter zum „Boten, vom „Freien Licht zur „Neuen Zeitung, und vollends undurchschaubar seien die Besitzverhältnisse der Zeitungsverlage, wo man auf doppelte und gar dreifache Anteilschaften stoße, die sich politisch völlig widersprächen. Notschek sagt, die Mehrzahl dieser Zeitungen sei korrumpiert, sie seien in ein verdecktes, ein schmutziges Kartell eingebunden, dessen Ziel die systematische Verwirrung der Leser, ihre geistige Entmündigung sei. Nur die unabhängigen Blätter, Zeitungen wie die „Letzte Stimme und der „Überblick, versuchten noch, sich dem übermächtigen Einfluss dieses Kartells entgegenzustemmen, und mit diesen Zeitungen hält er, Notschek, es; sie seien, so sagt er, noch lesbare Blätter. Die „Letzte Stimme erscheint inzwischen nur noch anderthalbtägig, das sind Konzessionen, die diese Zeitung bereits machen muss, denn das Blatt ist in seiner Existenz gefährdet, so steht es jeden Tag in den immer dünner werdenden „Kommentaren in eigener Sache, gefährdet angeblich aus wirtschaftlichen Gründen. Notschek meint, dies seien vorgeschobene Gründe, Vorwände, in Wirklichkeit sei die „Letzte Stimme einfach nicht mehr opportun, und eins stimmt: Die „Stimme will sich in den Ton der übrigen Blätter, den Ton der kollektiven Hysterie, einfach nicht hineinfinden; ihre Artikel und selbst ihre Kommentare sind weitblickend, höchstens vorsichtig warnend, und sie verzichten auf den aggressiven Diskurs, auf den Diskurs der Hysterie, wie Notschek es nennt.

    Dies alles sind Eröffnungen, die Notschek beiläufig, mit einer Art Langeweile, macht, während er ihre Wirkung zugleich zu genießen scheint. Er steht am Küchentisch oder vor der Tür des Abortes (er nimmt nie Rücksicht auf irgendwelche Schamhaftigkeiten), schüttelt an seiner Hose herum und streicht sich den Schnurrbart, während er bedeutungsvolle Wahrheiten in der Art eines weitgereisten Lebemannes preisgibt. Dabei blickt er irgendwohin, mit einem unruhigen, schwankenden Blick, der verrät, dass Notschek natürlich keineswegs sicher ist, dass er sich in Wahrheit unsicher und auf verlorenem Posten fühlt. Seine Reden beendet Notschek dann immer mit einem langgezogenen Seufzen, einer ausgreifenden, wie suchenden Bewegung der linken Hand und schließlich mit einem unerwarteten Schütteln und Sich-Rütteln des ganzen Körpers, wobei er auf dem Absatz, auf dem Ende des Holzpantoffels, gleichzeitig schon umdreht, kehrtmacht, und hocherhobenen Hauptes, mit der vor sich wie eine Waffe gehaltenen Zeitung, den Weg in die Mansarde antritt.

    Selbst auf Maria haben Notscheks betont nebenher gemachte Enthüllungen schon Einfluss ausgeübt; letztens hat sie vorgeschlagen, die „Letzte Stimme" zu abonnieren, damit man endlich nachprüfen könne, ob Notscheks Behauptungen nicht doch einen wahren Kern hätten; dabei hat sie auf eine Weise zur Tür gesehen, als erwartete sie Notscheks Zustimmung.

    Ja, es ist wahr: Notscheks Einfluss oder der Einfluss der Zeitungen, die er ins Haus bringt, bleibt nicht ohne Wirkung. Trotz ihrer Vorbehalte gegen Notschek und gegen sein Politisieren ist Maria in der letzten Zeit unruhig, nervös, sie schläft schlecht und wacht nachts immer wieder auf. Dann läuft sie im Schlafzimmer umher, rückt Dinge von einem Platz auf den anderen und beginnt schließlich, mit einer ganz ungewöhnlichen, übermüdeten Aufmerksamkeit, in den Zeitungen zu lesen, die sie tagsüber verächtlich von sich stößt. Sie liest die Schmähartikel im „Beobachter oder die weitschweifigen Erörterungen der Außenpolitik im „Boten – Dinge, die sie tagsüber als überflüssigen Unsinn bezeichnet, die sie nun aber, in der Nacht, aufregen und bis zum frühen Morgen nicht einschlafen lassen.

    Notschek hat Marias Unruhe bemerkt; letzte Nacht kam er herunter und saß im Nachthemd bis zum frühen Morgen in unserem Schlafzimmer mit der Absicht, Maria die politische Lage auseinanderzusetzen, was natürlich nicht gelingen konnte: Maria war übermüdet, ich selbst konnte Notschek kaum folgen, der, sich auf einen wackligen Stuhl stützend, eine Rede über die außenpolitische Situation zu halten versuchte. Die Situation war verfahren, ich wollte Notschek nicht vor den Kopf stoßen, Maria schien seinen Rat oder wenigstens diese Art der Fürsprache zu benötigen, sie hatte selbst schon nach Notschek verlangt, aber trotzdem war sie übermüdet, und ein Schlafzimmer ist für politische Erörterungen gewiss nicht der richtige Ort. Notscheks Stimme hallte seltsam umher, und seine Worte schienen ihr Ziel zugleich immer zu treffen und zu verfehlen, während er unablässig auf Maria blickte, die Notschek mit einer Erwartung ansah, als könne er alle Rätsel zugleich benennen und auflösen. Notschek wurde immer lebhafter, sprach über politische Gerüchte, die er gehört hatte, und begann, eine dunkle Gleichförmigkeit zu prophezeien, eine falsche Ruhe, in die wir alle miteinander eingehen würden und die eine nicht abzuschätzende Gefahr darstelle. Dass Notschek diese Ausdrücke, Gleichförmigkeit und Ruhe, benutzte, konnte ich gar nicht begreifen; von dem Streit der Zeitungen schien mir alles andere auszugehen als gerade Beruhigung, und mehrmals versuchte ich, Notschek auf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen. Aber Notschek ließ sich von seiner Meinung natürlich nicht abbringen, sondern erklärte, dies alles seien Vordergründigkeiten, Maskeraden, von denen er sich nicht verwirren lasse. Die politische Entwicklung ziele unzweifelhaft auf falsche Ruhe hin, eine Ruhe, die uns in Kürze ereilen werde, die alles einzuebnen drohe. Und Notschek machte mit den Händen eine Bewegung, als schiebe er zwischen den Handflächen Sand zu einer glatten, ebenen Fläche auseinander. Ich sah zu Maria, die sich im Bett aufrichtete und dabei vergaß, die Decke festzuhalten, sodass sie plötzlich im Nachthemd vor Notschek saß. Obwohl Notschek tat, als bemerke er nichts von Marias Blöße, war es doch offensichtlich, dass er sie gesehen hatte, denn er wurde immer unruhiger, ruderte mit den Armen hin und her und redete dabei über das kaum vorstellbare Maß an Protektion, das innerhalb der Zeitungen die Redakteure in ein Netz von Abhängigkeiten binde, sprach über die nicht durchschaubare Verflechtung von Interessen, welche die Öffentlichkeit, die gesamte Presse in ihrer Freiheit immer mehr einschränke, lähme, unfrei mache, schließlich fessele und so weiter.

    Die ganze Situation mit dem bramarbasierenden, armerudernden Notschek und mit Maria, die da halbnackt und offenbar völlig übermüdet dasaß, erschien mir lächerlich, und ich überlegte, mit welchen Worten ich sie beenden konnte. Da hörte ich plötzlich draußen vor dem Fenster ein Geräusch, ein Knistern und Zilpen. Endlich begriff ich, dass es Vogelgezwitscher war; der Morgen hatte eingesetzt. Tatsächlich konnte man jetzt hinter den Vorhängen bläuliche Dämmerung erkennen. Mit dem Hinweis auf dieses offensichtliche Ende der Nacht gelang es mir, Notschek zum Verstummen zu bringen, sein Kolloquium abzubrechen und ihn aus dem Zimmer zu schieben. Aber noch in der Tür blieb Notschek stehen, hielt sich am Rahmen fest, redete auf Maria ein, hob den Zeigefinger und schwenkte die Zeitung wie eine Fahne.

    Die Mansarde

    Die Räume, die Notschek bewohnt, in denen er Unterschlupf gefunden hat, die Mansarde, wie ich diese Kammern unter dem Dach nenne, sind eigentlich eine ehemalige Dienstmädchenwohnung, die viele Jahre leer gestanden hat. Das Haus ist ja, trotz seiner äußerlichen Einfachheit, in seinen besseren Zeiten eine sogenannte Familienresidenz gewesen; die Familie meines Onkels oder dessen Eltern haben hier, wie man sagt, ein Haus geführt, haben auf großem oder doch auf größerem Fuß gelebt, und dazu gehörten standesgemäß ein paar Dienstmädchen und eine Köchin, die in der Mansarde gewohnt haben.

    Die Mansarde (der Ausdruck leitet sich von dem gleichnamigen Dach her) ist sozusagen ein Teil, der untere Teil des Daches, welches das Haus wie ein hoher Hut bedeckt. Er steigt steil und geschwungen an, knickt mit einer Traufe dann flacher nach oben hin weg und schließt mit einem First breit und knapp ab. Hinter seinem steil anschwingenden Teil, der mit sogenannten Biberschwänzen gedeckt ist, befindet sich aber kein Speicher, sondern der dahinter liegende Raum ist, mit einigen Umständlichkeiten, zu einer Wohnung, eben der Dienstmädchenmansarde, ausgebaut. Alles in allem besteht diese Wohnung nur aus drei Kammern und einem hakenförmigen Flur, in den man förmlich hineinfällt. In der Mansarde gibt es keine geraden Wände, die Zimmer sind klein (es sind eigentlich Kammern), und überall stößt man auf Winkel und Einschnitte, die von den notdürftig verkleideten Balken des Dachstuhls herrühren. Der Fußboden ist aus einfachen Holzdielen, die Türen sind schwach und dünn, die Decken niedrig – trotzdem ist dies aber eine wirkliche Wohnung, eine Wohnung mit Zimmern, deren Wände tapeziert sind, keinesfalls ein dunkler Dachboden, wie man annehmen könnte. Um die Räume zu belichten, ist das Dach aber an einigen Stellen mit Gaupen durchbrochen, die von außen wie Kästen in das Dach schneiden und von innen wie Auswölbungen aus den schrägen Wänden treten. Ein Bad gibt es, streng genommen, nicht, in einer Kammer befindet sich aber, an einer gefliesten Wand, ein Waschbecken mit Spiegel. Eine Küche oder Kochstelle aber hat die Mansarde nie besessen, denn die Dienstmädchen pflegten unten, in der Küche der Herrschaft, zu essen.

    Die Mansarde hat lange leer gestanden – um genau zu sein, steht sie leer seit fünf Jahren, seit dem Weggang des Wittler. Wir haben damals darauf verzichtet, sie zu vermieten, denn dies hätte zu viel Aufwand an Umbau erfordert. Man hätte die Räume herrichten, sie renovieren müssen, der Einbau einer Küche und eines Bades wäre notwendig geworden, und die mit einem solchen Umbau verbundenen Umständlichkeiten haben wir gescheut. In den letzten Jahren sind die Kammern vor allem als Abstellraum, als Lager für allerlei Dinge benutzt worden, es standen darin: Gartenmöbel aus Korbgeflecht, Bücher in Kisten, gebündelte Jahrgänge einer Zeitschrift, alte Teppiche und Kisten und Kartons, deren Inhalt ich selbst nicht mehr genau kenne – Reste aus der Wohnungseinrichtung des Wittler und aus dem Nachlass des Onkels, den ich immer noch nicht geordnet habe. Nun aber ist Notschek hier, Notschek bewohnt die Mansarde als Unterschlupf, und wie die Räume inzwischen aussehen, kann ich nicht einmal genau sagen, obwohl das unsinnig genug klingt.

    Notscheks Einzug hat sich mit erschreckender Eile vollzogen. Kaum hatte ich ihm, nur als eine Idee, den Vorschlag unterbreitet, die Mansarde für einige Zeit zu nutzen, mit ihr gleichsam Vorlieb zu nehmen, bis seine Wohnungssuche erfolgreich wäre, da kam er auch schon am nächsten Tag mit einem Umzugswagen vorgefahren und wuchtete plötzlich, unterstützt von zwei Möbelpackern, seine Habe über die Stiegen flink und geschickt hinauf. Notschek hat viel Hausrat mitgebracht: Sessel aus abgeschabtem Leder, Schränke und Regale, eine Stehlampe mit grünlichem Schirm, einen alten Schreibtisch, dessen gewaltige Platte sich nur schwer um die Ecken des Stiegenhauses bugsieren ließ, und natürlich, in Kisten, seine vielen Bücher, Papiere und Ordner.

    Zwei Tage lang hat Notschek dann dort oben Möbel gerückt, hat sich, wie er sagt, installiert und wollte bei dieser Einräumung durchaus keine Hilfe annehmen – die wir, Maria und ich, ihm gern gewährt hätten, schon, um festzustellen, was Notschek in der Mansarde treibt, wie er die Möbel dort umgestellt hat und wie sehr die Räume durch seinen Aufenthalt nun verändert sind. Notschek aber wies unser Angebot immer wieder zurück: Er könne es uns nicht zumuten, so erklärte er (und lächelte dabei mit zusammengezogenen Augenbrauen), in den staubigen Räumen zu arbeiten; er, Notschek, werde schon Ordnung schaffen, werde sich schon zu installieren wissen. Er bitte nur (und hier wandte er sich an Maria) um einen Eimer mit Wasser und um Besen und Putzzeug.

    Notscheks Liebenswürdigkeit ließ Einwände gar nicht zu, und Maria beeilte sich, ihm das Verlangte sogleich heranzuschaffen. Sie füllte einen großen Zinkeimer mit heißem Wasser, holte Besen, Schrubber und Lappen aus der Putzkammer und stellte alles am Fuß der Treppe ab. Gleich holte Notschek das Putzzeug dann auch ab, nachdem er mit dem Finger die Temperatur des Wassers geprüft hatte, als beabsichtige er, sich darin zu baden. Kurz darauf hörten wir über uns das scharrende Geräusch des Besens.

    Notschek hat das Schmutzwasser, wie er uns später erzählt, dann einfach in die Regenrinne geschüttet – eine praktische Idee, die mir im ersten Moment aber doch eigentümlich vorkam, denn wie mag Notschek dabei von unten, im Blick eines vorbeigehenden Nachbarn, ausgesehen haben?

    Mit den Putzarbeiten und Möbelrückereien hat Notschek seine Installation nun schon beendet, sie für abgeschlossen erklärt, und es kann also nur eine sehr oberflächliche Ordnung sein, die er hergestellt hat. Ich selbst hatte ja ein wenig darauf gehofft, die Räume bei dieser Gelegenheit notdürftig renovieren zu können, Notschek mit einer Renovierung zu beauftragen. Die Tapeten sind schadhaft und vergilbt, an einigen Stellen hängen sie von den Wänden, der Anstrich der Türen ist fehlerhaft, er blättert ab, und obwohl die Türen aus schlechtem Holz sind, hätte es wohl noch gelohnt, sie mit Farbe aufzufrischen. Die Decken sind rissig, die Fenster undicht, die Fußböden uneben – und so fort, die ganze Mansarde ist vernachlässigt, befindet sich am Rande des Verfalls, auch wenn dieses Wort vielleicht zu dramatisch klingt.

    Ich habe Notschek meine Pläne also unterbreitet, habe ihm für die Durchführung einer Renovierung, einer, wie ich betonte, oberflächlichen Renovierung, sogar Geld angeboten. Notschek aber reagierte auf meine Vorschläge unwillig, sie schienen ihn sogar abzuschrecken. Gleich trat er zurück und begann einen umständlichen Vortrag. Er, Notschek, lebe ganz einfach, ganz ohne Ansprüche, die Wohnung, die Mansarde, so wie sie jetzt sei, könne er durchaus nutzen, eine Reinigung, eine gründliche Reinigung vorausgesetzt (er betonte immer wieder die Gründlichkeit der Reinigung, so, als könne diese eine Renovierung ersetzen). Darüber hinaus sei es auch nicht ohne Gefahr, einen Zustand, der schon so lange fortbestehe, zu ändern, zu zerstören; man wisse nicht, wie sich die Mauern, die Wände darstellen würden, wenn die Tapeten erst einmal abgenommen seien, möglicherweise seien sie bereits schadhaft. Eine Reparatur von Wänden oder Mauern aber, eine Maurerarbeit, erfordere einen Aufwand und eine Geschicklichkeit, die er, Notschek, sich nicht zutraue. Er sei in handwerklichen Dingen ganz ungeschickt, ganz unerfahren, er habe zwei linke Hände (hier streckte Notschek seine großen und geröteten Hände vor, als sollte ich ihre Zweckmäßigkeit begutachten); selbst Malerarbeiten, die doch viel Geschick erforderten, könne man ihm, Notschek, guten Gewissens nicht übergeben, mit ihnen sei er schon ganz überfordert. Wie nur den Pinsel halten, sagte Notschek, ohne dass die Farbe daraus fortlaufe, wie die Farbe auftragen, ohne dass sich sofort Schlieren bildeten; wie auch einen solchen Anstrich vorbereiten; schon die Vorbereitungen einer Malerarbeit erforderten ja viel Geduld, eine Geduld, die er, Notschek, nicht aufbringen könne und auch nicht aufbringen wolle. Am Ende sei es auch unsinnig, Räume herzurichten, aufzuputzen, deren Bewohner an sie gar keine Ansprüche stellten, die sich mit einer gesäuberten, einer gereinigten Wohnung schon befriedigt zeigten, fügte Notschek hinzu.

    Ich hörte mir Notscheks Reden an, die er eindringlich, mit allerlei

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