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Die Weltenwanderer: Die Reise nach Awéyèna
Die Weltenwanderer: Die Reise nach Awéyèna
Die Weltenwanderer: Die Reise nach Awéyèna
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Die Weltenwanderer: Die Reise nach Awéyèna

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About this ebook

Die Weltenwanderer-Trilogie erzählt eine spannende Geschichte von fremden Welten, Freundschaft, Liebe, Abenteuern und außergewöhnlichen Helden.

Dass es außergewöhnliche Dinge gibt - daran zweifeln Mia und ihre Freunde Chris, Annabelle und Charlie schon lange nicht mehr. Schließlich leben im Haus von Mias Tante Kyra Geister, mit denen sie gut befreundet sind. Besonders der Geist Adelheid ist ihnen sehr ans Herz gewachsen und er bittet die vier Freunde eines Tages um Hilfe: Sie sollen in die Welt Awéyèna reisen und dort einen Schlüssel holen, um einen Fluch zu brechen, der auf den Geistern liegt. Entschlossen, den Geistern zu helfen, reisen die Freunde nach Awéyèna, um ihren Auftrag zu erfüllen. Aber als sie unfreiwillig ein düsteres Geheimnis aufdecken, werden sie zu Gejagten und ihre einfache Aufgabe, den Schlüssel zu holen, weicht einem gefährlichen Abenteuer. Und langsam wird den Freunden klar, dass viel mehr auf dem Spiel steht, als sie ahnen können...
LanguageDeutsch
Release dateMar 8, 2013
ISBN9783939229568
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    Book preview

    Die Weltenwanderer - Mareika Greiss

    Kapitel 1

    »Was zur Hölle tut ihr da?«, fragte Mia entgeistert.

    Sie starrte fassungslos auf Chris und Charlie, während auch Annabelle neben ihr vor Staunen der Mund offen stand. Die beiden Mädchen waren eben erst im Haus von Mias Tante Kyra angekommen, da hatten sie schon das Gerumpel im Keller gehört und waren sofort die Treppe hinuntergestürmt, um zu sehen, was da los war.

    Aber dass sie Chris und Charlie vorfinden würden, damit hatten sie nicht gerechnet, und weder Mia noch Annabelle wusste, was ihre Freunde vorhatten. Denn die beiden Jungs schienen den ganzen Keller nach irgendetwas zu durchstöbern. Überall lagen Kisten und Kartons herum, und die Türen sämtlicher Schränke standen sperrangelweit offen. Charlie kroch gerade unter einem Regal hervor, die Haare voller Spinnweben, während Chris rückwärts von einer Leiter stieg und in einen Haufen Kartons stolperte. In diesem Moment entdeckte er die Mädchen.

    »Mia! Annabelle! Was macht ihr denn hier?«, fragte Chris entsetzt und versuchte schnell, sich wieder aufzurappeln.

    »Ach, darf ich etwa meine eigene Tante nicht mehr besuchen?«

    »Schon, Mia«, entgegnete Charlie, »aber doch nicht jetzt!«

    Verlegen strich er sich den Staub so gut es ging aus den Haaren.

    »Ihr seht furchtbar aus«, bemerkte Mia lachend.

    »Was sollte das hier denn werden?«, wollte Annabelle wissen, während die Jungs sich den Dreck von der Kleidung klopften.

    »Das wüsstet ihr wohl gerne!«, stieß Chris hervor.

    »Ja!« Mia schob ein paar Kartons zur Seite. »Aufgeräumt habt ihr sicher nicht. Ich kenne euch. Dafür wärt ihr viel zu faul!«

    »Also bitte, Mia!« Charlie richtete sich so groß auf, wie nur möglich. »Für was hältst du uns denn?«

    »Für faul. Wie gesagt.«

    »Wir renovieren für Tante Kyra«, empörte sich Chris, »und du beleidigst uns!«

    »Sollte…«, fragte Annabelle schüchtern, »…sollte es nach dem Renovieren nicht eigentlich schöner aussehen?«

    Die Jungs sahen sich betreten um.

    »Wir arbeiten dran!«, sagte Chris dann.

    Mia musterte sie amüsiert. Sie kannte die beiden nur zu gut.

    Chris und Charlie waren, wenn es darum ging, etwas auszuhecken, so kreativ wie der Tag lang war, und sie waren so unzertrennlich wie siamesische Zwillinge, obwohl sie keine Geschwister waren. Die beiden kannten sich seit ihrer Geburt, weil ihre Mütter sich im Krankenhaus kennengelernt und sehr gut angefreundet hatten. Doch Charlies Mutter war kurz nach seiner Geburt an einer unheilbaren Krankheit gestorben und da sein Vater unbekannt war, hatten Chris’ Eltern ihn kurzerhand adoptiert. Seitdem verbrachten die beiden fast jeden Tag miteinander, und nicht selten waren sie bei Tante Kyra anzutreffen. Diese war zwar nicht ihre Tante, aber sie durften sie so nennen, weil Tante Kyra so oft auf sie aufgepasst hatte, als ihre Eltern arbeiten waren, dass sie für sie wirklich wie eine Tante war.

    Bei Tante Kyra hatte Mia die Jungs auch kennengelernt. Damals, als sie alle erst ein paar Jahre alt und bei Tante Kyra zu Besuch gewesen waren, hatte Mia die Dreistigkeit besessen, den beiden Jungs ihren neuen Traktor wegzunehmen. Daraufhin hatten die beiden ihn sich zurückerobert, und aus dieser kleinen Auseinandersetzung war eine wunderbare Freundschaft entstanden.

    Und deswegen konnte Mia den beiden nun ganz genau ansehen, dass sie mit Sicherheit nicht am Renovieren waren.

    »Ihr verschweigt uns doch was«, sagte sie. »Hab ich nicht recht?«

    Betreten sahen die Jungs sich an und versuchten ohne Worte auszumachen, ob sie jetzt mit der Wahrheit rausrücken sollten oder nicht.

    »Ihr seid mysteriös«, sagte Annabelle kopfschüttelnd.

    »Und das auch noch ohne uns anzustrengen!« Charlie stemmte triumphierend die Hände in die Hüften.

    »Wirklich unanstrengend sieht das aber nicht aus«, meinte Mia. »Weiß Tante Kyra überhaupt davon?«

    Die Jungs schwiegen. Mia sah zu Annabelle.

    »Sie weiß es nicht.«

    »Was?«

    »Tante Kyra weiß es nicht!« Sie zeigte auf die Kartons. »Ihr nehmt hier ihren ganzen Keller auseinander und sie weiß es nicht! Sie wird euch umbringen!«

    »Tante Kyra doch nicht!«, protestierte Charlie lachend, aber Chris gab ihm einen Stoß, sodass er verstummte.

    »Niemand hat gesagt, dass sie es nicht weiß«, sagte Chris. »Tante Kyra kriegt alles mit.«

    »Ist sie damit einverstanden?«

    »Äh…«

    »Okay«, unterbrach Annabelle die beiden. »Lassen wir das. Sagt uns doch einfach, was das werden soll, in Ordnung? Dann können wir beurteilen, wie sinnvoll das von euch war. Raus mit der Sprache. Was war hier los?«

    Die Jungs zuckten mit den Schultern. Jetzt blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Aber sie würden wenigstens zu ihrer Tat stehen, obwohl es nicht geplant gewesen war, dass die Mädchen sie dabei überraschen sollten.

    »Tja«, meinte Chris verschwörerisch. »Das wüsstet ihr wohl gerne!«

    »Inzwischen schon!«

    Er liebte es, die Mädchen auf die Folter zu spannen. Mia gab ihm einen freundschaftlichen Schubs. Deshalb machte Chris eine theatralische Pause, dann sah er die Mädchen von oben herab an und sagte:

    »Wir…suchen einen Schatz!«

    Mia und Annabelle waren sprachlos, und Chris war zufrieden.

    Das war die gewünschte Reaktion.

    Annabelle war die Erste, die reagierte. Sie begann zu lachen.

    »Das ist krank!«

    »Einen Schatz?«, wiederholte Mia, bevor auch sie zu lachen begann. »Im Ernst?«

    »Wir hätten es nicht sagen sollen.« Chris hob einen Karton auf und schleuderte ihn in eine Ecke.

    »Entschuldigung«, sagte Mia. »Aber…ihr seid sechzehn Jahre alt und sucht nach einem Schatz. Das ist einfach absurd. Wie seid ihr denn da draufgekommen?«

    »Es war eine Wette!«, verteidigte sich Charlie.

    »Oh«, machte Annabelle interessiert. »Mit wem?«

    Aber noch bevor er antworten konnte, hörten sie die Haustür zuschlagen und kurz darauf kamen Tom und Jerry, Tante Kyras Hunde, die Treppe hinuntergelaufen. Sie stürmten auf die Freunde zu, sprangen bellend an ihnen hoch und begannen dann voller Wonne in den Kartons herumzuwühlen. Tante Kyra folgte ihnen gemächlicher.

    »Was steht ihr denn so erschrocken da ‘rum?«, fragte sie lachend.

    Die Jungs wirkten peinlich berührt.

    »Es…es ist nicht so, wie es aussieht«, sagte Charlie.

    »Das ist es nie«, sagte Tante Kyra und betrachtete das Chaos. »Gute Arbeit, Jungs. Aber jetzt kommt erst mal hoch. Ich habe Kuchen mitgebracht.«

    Als sie alle in der Küche saßen und den mitgebrachten Kuchen aßen, sagte sie:

    »Mal im Ernst. Da steckt doch was anderes dahinter als renovieren. Das war doch vorhin nur ein Vorwand, um im Keller wühlen zu dürfen, oder?«

    »Nein«, sagten die Jungs.

    »Ja«, sagte Annabelle gleichzeitig.

    Schließlich mussten die Jungs nachgeben.

    »Wir haben nach einem Schatz gesucht.«

    »Einem Schatz?«, fragte Tante Kyra stirnrunzelnd. »So viel zum Renovieren. Wie seid ihr denn darauf gekommen?«

    »Adelheid hat mit uns gewettet«, erklärte Chris. »Sie sagte, es gebe hier einen Schatz und sie würde wetten, dass wir ihn niemals finden würden.«

    »Und dann habt ihr mal eben begonnen den Keller auseinanderzunehmen?«, fragte Annabelle.

    Chris zuckte die Schultern.

    »Einen Versuch war´s wert.«

    »Es war so klar, dass der Vorschlag von Adelheid kam«, sagte Mia. »Ich hätte es mir denken können.«

    Adelheid war ein Geist.

    Sie war nur einer von vielen Geistern, die in Tante Kyras Haus wohnten, denn die Anwohner der Villa, die auf dem Hügel vor vielen hunderten Jahren niedergebrannt war, hatten wohl beschlossen, einfach auf ihrem Anwesen wohnen zu bleiben, und Adelheid war einer von ihnen. Sie behauptete, dass sie einmal in der alten Villa gewohnt habe, aber andere Geister berichteten wiederum andere Geschichten, und so wusste niemand sicher, welcher Geist wirklich zu diesem Grundstück gehörte.

    Adelheid war ein sehr „junger Geist. Obwohl sie erklärt hatte, schon über Jahrhunderte ein Geist zu sein, galt sie als jung, da sie sehr früh gestorben war. Mit nur einundzwanzig Jahren hatte sie Gelbsucht bekommen und war daran umgekommen. Sie war eine der besten Freundinnen von Mia und Annabelle, obwohl sie manchmal zugegebenermaßen etwas altmodisch war. Sie kam eben aus einer anderen Zeit. Ihr Lieblingsbuch war „Romeo und Julia. Sie hatte es in einem von Tante Kyras Bücherregalen gefunden und förmlich verschlungen. Aber im Laufe der Jahre hatte sie das Lesen verlernt und von da an Tante Kyra gebeten, es ihr vorzulesen, was Tante Kyra bereitwillig getan hatte.

    Nun konnte Adelheid es vorwärts wie rückwärts auswendig. Sie schleppte es die meiste Zeit mit sich herum und tat so, als lese sie darin. Als Mia sie einmal gefragt hatte, ob sie ihr nicht das Lesen wieder beibringen solle, hatte sie geantwortet, sie brauche es ja nicht zu können, da sie ihr Lieblingsbuch schließlich auswendig kenne. Und als Geist musste sie ja auch nicht Zeitung lesen. Allerdings sah sie sich gerne die Bilder an.

    Heute hatte sie Chris und Charlie offensichtlich wieder einmal, wie schon so oft, ein Märchen erzählt.

    Und als hätte sie erraten, dass von ihr gesprochen wurde, schwebte sie in diesem Moment geräuschlos ins Esszimmer. Den Blick nach oben gerichtet und verträumt vor sich hin summend ließ sie sich neben Chris in einen Korbsessel sinken.

    Die Freunde hatten sich bereits daran gewöhnt, dass mehr Leute als nur Tante Kyra in ihrem Haus wohnten. Inzwischen erschreckten sie sich fast nicht mehr, wenn eins dieser durchsichtigen Wesen neben ihnen durch die Wand geschwebt kam, oder dass bereits jemand in einem Zimmer saß, wenn sie es betraten. Mia, Chris und Charlie waren ja damit aufgewachsen. Nur Annabelle zuckte manchmal noch zusammen, wenn sie beispielsweise in einen Raum hineinging und die Tür hinter ihr ohne ihr Zutun ins Schloss fiel, oder wenn die Toilette bereits von einem Zeitung lesenden Geist besetzt war, der vergessen hatte abzuschließen.

    Nun waren alle Augen auf Adelheid gerichtet. Doch diese schien das nicht zu bemerken. In Gedanken war sie weit weg, wohl bei Romeo und Julia. Erst als Chris sie anstupste, was bei einem Geist nicht ganz einfach ist, erwachte sie aus ihren Träumereien. Erfreut sah sie in die Runde.

    »Schön, dass ihr alle da seid!«, sagte sie mit ihrer klaren, sanften Stimme. Als alle schwiegen und sie nur belustigt musterten, fragte sie verwirrt:

    »Ist was? Hab ich was verpasst?«

    Keiner sagte etwas, nur Tante Kyra rief aus der Küche:

    »Schau mal in den Keller, Addy!«

    Sie nannte Adelheid gerne Addy. Irgendwann hatte Chris das einmal gesagt, und nun hatte sie es sich angewöhnt. Adelheid war nun nur noch verwirrter.

    »Was…wie…«, stotterte sie und schwebte in Richtung Treppe. Da entdeckte sie das Chaos.

    »Oh du meine Güte!«, rief sie aus. »Was ist denn da passiert? Wir haben doch nicht etwa einen Poltergeist?«

    »Nein«, antwortete Mia verschmitzt. »Keinen Poltergeist.«

    Sie machte eine Pause und blickte ernst drein. Die anderen mussten sich das Lachen nun krampfhaft verkneifen. Mia war manchmal wirklich die geborene Schauspielerin.

    »Das war kein Poltergeist«, wiederholte sie noch einmal. Sie beugte sich vor und sagte mit gesenkter und dramatisch klingender Stimme:

    »Das waren…Schatzsucher!«

    Sie lehnte sich zurück und Adelheid war geschockt. Erst als die Freunde laut loslachten, begriff sie, und ein rötlicher Schimmer breitete sich auf ihren silberweißen Wangen aus. Kleinlaut erkundigte sie sich:

    »Habt ihr wirklich im Keller herumgewühlt, weil ich euch von dem Schatz erzählt habe?« Die Jungs nickten und Adelheid schüttelte den Kopf.

    »Grundgütiger! Was hat man heute nur für eine Vorstellung von Schätzen und ihren Lageplätzen!«, meinte sie entrüstet. »Ihr habt euch ja benommen wie Tom und Jerry!«

    Sie warf lachend den Kopf in den Nacken.

    »Was denkt ihr denn, wo ein schlauer Mensch seinen Schatz versteckt?«, fragte sie belustigt. »Na, man vergräbt seine Schätze doch immer«, sagte Charlie dann. »Die Piraten haben es doch so gemacht, oder?«

    Adelheid schüttelte kichernd den Kopf und während auch die anderen lachten, glaubte Mia zu hören, wie Adelheid murmelte:

    »So tief kann keiner graben…«

    Doch da wandte sich Adelheid auch schon wieder an die Jungs:

    »Glaubt ihr ernsthaft, die Menschen haben sich die Mühe gemacht, ihren ganzen Garten umzugraben?«

    Die Jungs sahen sich ratlos an, und Adelheid fuhr fort:

    »Einige Piraten haben ihre Schätze vielleicht schon vergraben. Aber das ist erstens furchtbar anstrengend und zweitens auch ziemlich unsicher. Jeder könnte zufällig auf den Schatz stoßen! Viele versteckten die Schätze in Höhlen. Und oft war es übrigens gar nicht so, dass sie überhaupt etwas vergraben konnten, Charlie. Die meisten Piraten waren arm. Und nicht jedes Schiff hatte Gold und Silber geladen. Meistens haben Piraten nur Stoffe oder Tee oder Ähnliches erbeutet, das sie verkauften, um überhaupt zu überleben!«

    »Und außerdem«, sagte Annabelle. »Hier in Gartenach gab es wohl kaum Piraten!« Adelheid machte eine Pause, dann sagte sie:

    »Viele Menschen, die keine Piraten waren und trotzdem Schätze besaßen, versteckten diese oft in ihren eigenen Häusern oder in ihren Brunnen, um den Nachfolgern ihr Hab und Gut auf diese Weise zu vererben. Hierbei konnte es sich wirklich um Gold oder Ähnliches handeln, zum Beispiel um den Familienschmuck, der nicht in die falschen Hände geraten sollte.«

    »Ja, aber so viele reiche Familien gab es hier in Gartenach doch gar nicht, oder?«, fragte Mia.

    »Stimmt. Andere versteckten vielleicht Tagebücher, private oder offizielle Dokumente. Das können für manche Menschen auch Schätze sein! Erinnerungen sind große Errungenschaften, die wir nicht leichtsinnig verschenken, sondern bewahren sollten!«

    Sie senkte die Stimme und zischte:

    »Nicht jeder Schatz ist Gold und Silber. Ein weiser Mensch hat das gesagt. In irgendeinem Film, den eure Tante mal gesehen hat. Aber es gibt Dinge, von denen ihr keine Ahnung habt!« Die vier starrten sie an, halb entsetzt, halb neugierig.

    Tante Kyra hatte die ganze Zeit über die Küche aufgeräumt. Sie hatte den Geschirrspüler eingeräumt, den Müll entsorgt und die Arbeitsplatten gewischt, und währenddessen hatte sie jedes Wort, das die Freunde gesprochen hatten, aufmerksam verfolgt, ohne sich einzumischen. Doch nun warf sie Adelheid einen skeptischen Blick zu und rief den sprachlosen Freunden zu:

    »Addy, komm, hör auf, den Kindern Gruselmärchen zu erzählen! Und übrigens, nur zu eurer Information: dieser weise Mensch war Captain Jack Sparrow!«

    Doch Adelheid ließ sich dadurch nicht beirren:

    »Ihr habt keine Ahnung. Aber denkt nur nicht, dass ich euch noch mehr davon erzähle, um was es sich handeln könnte!«

    »Das ist mies! Das ist echt gemein!«, protestierte Charlie. »Erst machst du uns super neugierig, und dann verschweigst du uns die echt interessanten Informationen!«

    »Ja!«, stimmte Chris ihm zu, »Warum erzählst du uns überhaupt von dem Schatz? Wohl kaum weil du wolltest, dass wir Tante Kyras Keller verunstalten!«

    Annabelle ließ Adelheid gar nicht antworten.

    »Und, du meinst, dass es hier im Haus einen Schatz gibt?«, fragte sie atemlos. Adelheid schaute sie wissend an.

    »Nein, ich meine es nicht. Ich weiß es!«, flüsterte sie bedeutungsvoll.

    Kapitel 2

    Die Freunde schnappten nach Luft. Nur Tante Kyra blieb unbeeindruckt.

    »Nun hör aber auf, Adelheid«, befahl sie ernst, und es war das erste Mal seit Langem, dass sie Adelheid mit ihrem vollen Namen ansprach. Adelheid sah sie empört an. Dann verzog sie sich mit wehenden Röcken durch die Wand in ihre Lieblingsecke.

    Chris und Charlie waren total aufgewühlt, die Mädchen ebenso.

    »Wie konnten wir nur so bescheuert sein, im Keller zu suchen!«, meinte Charlie verärgert. Schließlich gelang es ihnen aber wieder, sich normal zu verhalten.

    »Wir sollten nichts überstürzen!«, meinte Mia schließlich. »Wir wissen gar nicht, ob das alles stimmt!«

    »Aber warum hat Tante Kyra dann so seltsam abweisend reagiert?«, fragte Chris. »Das ist nicht logisch.«

    Das war ihnen allen ein Rätsel.

    Aber gerade als Annabelle vorschlagen wollte, dass sie ja nach oben ins Kuppelzimmer gehen könnten, ertönte mit einem Mal ein ohrenbetäubender Knall und in der Küche wurde es schlagartig stockdunkel. Die Freunde zuckten zusammen. Was war das? Ein Stromausfall? Doch plötzlich flogen alle Fenster auf und schlugen die Blumentöpfe von der Fensterbank, sodass sie mit einem lauten Klirren auf den Fliesen aufschlugen und zersprangen. Erde verteilte sich über den Boden, als ein heftiger Wind in den Raum wehte und an den kurzen Vorhängen zerrte. Die Freunde schrien und kniffen die Augen zusammen, da der Wind wild um sie herumfegte. Tante Kyra starrte schockiert zur Tür, die in den Gang führte. Verwirrt starrten auch die Freunde zur Tür. Und genau in diesem Moment ertönte wieder einer dieser lauten Schläge und die Tür flog mit einem Mal krachend auf. Schreiend sprangen sie zur Seite, als ein grelles Licht aus dem Flur immer näher zu kommen schien und das Chaos in der Küche beleuchtete, wo der Wind noch immer die Erdbrösel durch die Luft wirbelte. Sie rutschten auf Knien unter den Tisch, um vor durch die Luft fliegenden Teilen sicher zu sein. Weitere Schläge ertönten in fast gleichmäßigem Rhythmus, wie das Schlagen eines mächtigen Herzens. Sie schienen immer näher zu kommen. Und die Freunde konnten nicht aus der Küche heraus. Als sie dachten, sie könnten diese enorme Lautstärke nicht ertragen, schlug plötzlich die Küchentür wieder zu, die Fenster schlossen sich wieder und die Blumentöpfe setzten sich, jedoch unbemerkt von den Freunden, wieder zusammen. Nur die Erde blieb als feiner Schleier über allem liegen, während auch der Wind verschwunden war.

    Verstört krochen die Freunde unter dem Tisch hervor. Auch Tante Kyra sah erschrocken aus. Annabelle wimmerte und Mia drückte sie, um sie zu beruhigen.

    »Was um alles in der Welt war das!«, brüllte Charlie und ließ sich auf einen Stuhl fallen, um in nächsten Moment mit schwacher Stimme hinzuzufügen:

    »Das war übel.«

    Auch die anderen setzten sich auf die Stühle. Ihre Knie zitterten und sie hätten nicht stehen können. Tante Kyra schien als Einzige weniger verwirrt zu sein.

    »Es tut mir so leid«, sagte sie und strich der weinenden Annabelle über den Kopf. Annabelle war ein ruhiger, und auch ein sehr schreckhafter Mensch.

    »Was war das, Tante Kyra?«, fragte Chris. »Hast du jetzt doch noch einen Poltergeist?«

    »Nein«, Tante Kyras Stimme zitterte kaum, als sie sagte:

    »Das...das kommt öfter vor. Es...es ist Fred. Fred, der Verrückte. Manchmal bekommt er solche Anfälle.«

    »Und was ist, wenn du aus Versehen in das Zentrum von so einem „Anfall" kommst? Dann wirst du doch taub von den Schlägen und blind von diesem Licht!«, rief Charlie.

    »Was treibt der Kerl da?«

    »Ich weiß es nicht! Aber ich kann ihn nicht fortschicken. Denn sonst wird er wirklich zum Poltergeist für mich werden.«

    »Vielleicht solltest du einen Geisterjäger rufen«, schlug Charlie vor. »So was gibt’s.«

    »Charlie! Um Himmels willen, das würde ich niemals tun! Es gibt doch auch so nette Geister! Was, wenn er Addy erwischt?«

    »Die ist doch gar nicht mehr da!«, entgegnete Charlie pampig.

    Die Freunde entschuldigten sich, um hoch ins Kuppelzimmer zu gehen. Sie würden heute alle bei Tante Kyra übernachten. Noch immer zitterten sie, der Schreck saß ihnen noch immer in allen Knochen. Ihre Blicke durchsuchten die dunklen Räume. Keiner der Freunde wollte Fred begegnen. Oben angekommen, ließen sie sich auf die vier nebeneinander auf dem Boden liegenden Matratzen fallen. Tante Kyra hatte sie schon hergerichtet, damit die Freunde dort übernachten konnten. Annabelle zog sofort eine Decke über ihre Schultern. Sie fühlte sich etwas unwohl. Aber dass sie sich im Kuppelzimmer befanden, beruhigte sie ein wenig. Die Freunde liebten Tante Kyras Haus. Es war anders als alle Häuser, die sie kannten, so wie auch Tante Kyra anders war. Denn nachdem vor vielen Jahren die Villa, die auf dem Hügel gestanden hatte, abgebrannt war, hatte man dort einen Turm errichtet, den Tante Kyra gekauft und abenteuerlich renoviert hatte. Der gesamte Turm war nun ein außergewöhnliches Gebäude. Doch kein Raum übertraf das Kuppelzimmer.

    Es war der höchste Raum des Hauses und füllte das gesamte oberste Stockwerk aus. Hier hielten sich die Freunde meistens auf, und Tante Kyra hatte es ihnen als ihr Zimmer überlassen. Der Raum hatte etwas Magisches, denn er hatte keine gemauerten Wände, sondern wurde von einer großen Glaskuppel überspannt, die von vier schlanken Säulen gestützt wurde und gleichermaßen auch das Hausdach war. Auch heute entdeckte Mia keinen einzigen noch so kleinen Fleck auf der riesigen Glasfläche. Sie fragte sich, wie Tante Kyra die Kuppel sauber hielt. Vermutlich bat sie die Geister um Hilfe.

    »Ich bin fertig mit den Nerven«, ächzte Charlie. »Diese Geister machen mich echt verrückt! Ich weiß nicht, wie Tante Kyra das überlebt!«

    »Ich auch nicht«, Annabelle zitterte noch immer.

    Mia dachte angestrengt über das nach, was Adelheid erzählt hatte. Nicht alles, was sie gesagt hatte, hatte realistisch geklungen. Und ein Schatz in Tante Kyras modernem Haus? Das war doch unmöglich! Tante Kyra kannte doch jede Ecke. Sie hätte nie gesagt, dass Adelheid keine Märchen erzählen sollte, wenn es wirklich so wäre.

    In Gedanken war Mia wieder bei Adelheids Worten. Was sollte dieses ‚So tief könnt ihr nicht graben’? Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus. Obwohl so viele Gründe dagegen sprachen, spürte sie auf einmal, dass Adelheid es wirklich ernst gemeint haben könnte. Aber ihr war einfach nicht klar, wie dies möglich sein sollte.

    Die Freunde beschlossen, es sich mit ein paar Filmen gemütlich zu machen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie sich endlich auf etwas geeinigt hatten, mit dem alle zufrieden waren, aber dann genossen sie es, einfach nebeneinander auf dem Sofa sitzen zu können und in Gedanken in eine andere Welt zu reisen. Nur Mia schaffte es als Einzige nicht, vollständig in die Welt der Filme einzutauchen. Es war an diesem Tag einfach zu viel passiert. Die Bilder waren noch zu präsent, um sie einfach beiseitezuschieben.

    Denn was vorgefallen war, bevor sie sich getroffen hatten, hatte Mia ihren Freunden gegenüber noch gar nicht erwähnt. Sie rieb sich mit den Fingern über die Stirn. In ihrem Kopf sah sie dauerhaft das Gesicht ihrer Mutter. Der Ausdruck ihrer Augen war seltsam, fast fremd und ihre Gesichtszüge waren unpersönlich, wie ein verfälschtes Abbild dessen, was sie einmal gewesen waren. Ihnen fehlte die Seele, die sie zum Leben erweckt hätte. Der Blick ihrer Mutter schien Mias nur zu streifen, aber nie zu treffen. Sie wirkte abwesend.

    Mia seufzte. Schon immer hatte sie zu ihrer Mutter ein gutes Verhältnis gehabt, da ihr Vater die beiden kurz nach Mias Geburt verlassen hatte und sie immer nur zu zweit gewesen waren. Und jetzt? Vor ein paar Wochen hatte Mias Mutter sich plötzlich grundlegend verändert. Mia erinnerte sich noch genau, wie sie an jenem Tag ins Wohnzimmer gekommen war. Ihre Mutter hatte auf dem Boden gelegen, regungslos an die Decke gestarrt und sich nicht bewegt. Vollkommen panisch hatte Mia einen Krankenwagen gerufen und war an der Seite ihrer Mutter mit ins Krankenhaus gefahren. Die ganze Fahrt über hatte sie ihre Hand gehalten. Zuerst hatte sie einen Schlaganfall vermutet, aber im Krankhaus war ihr erklärt worden, dass ihrer Mutter offenbar nichts fehlte. Mia hatte protestiert, aber sie waren nach Hause geschickt worden.

    Seit diesem Tag lebte ihre Mutter wie in einer Traumwelt. Sie arbeitete nicht mehr. Sie nahm nichts wahr. Mia hatte sie krankschreiben lassen und musste sich um den Haushalt kümmern. Manchmal sprach ihre Mutter mit ihr. Aber Mia verstand nie, was sie ihr sagen wollte. Dann wurde sie wieder von einer verrückten Laune erfasst, so wie vorhin, als sie von Mia erwartet hatte, dass sie Auto fuhr. Sie hatte Mia einfach in ihr Auto verfrachtet, den Motor gestartet und die Handbremse gelöst, bevor sie weggerannt war, als würde sie verfolgt. Mia sog scharf die Luft ein bei der Erinnerung an die wenigen Momente im Auto. Denn da das Auto am Hang gestanden hatte, war es sofort losgerollt und immer schneller geworden. Die Handbremse hatte geklemmt. Mia hatte sie gerade noch ziehen können, sonst wäre sie frontal in ein anderes Auto gekracht. Da war sie einfach aus dem Auto gesprungen und weggelaufen, hatte Tante Kyra und Annabelle angerufen und schließlich mit Annabelle Tante Kyras Haus erreicht, wo sie Chris und Charlie vorgefunden hatten.

    Mia sah zu Annabelle, die wie gebannt den Bildern des Films folgte. Sie war ihr so unglaublich dankbar. Annabelle war die Person, die sie immer anrufen konnte. Annabelle würde ihr immer zuhören. Zu jeder Tageszeit. Sie lebte bei ihren Großeltern auf deren Hof am Stadtrand, wo sie mithalf und, soweit Mia wusste, auch ganz glücklich war. Das Einzige, was sie bedrückte, war die Tatsache, dass ihre Eltern sich kaum um sie kümmerten. Wie oft war sie zu Mia gekommen und hatte mir ihr und ihrer Mutter geredet. Doch jetzt, da sich Mias Mutter so seltsam verhielt, trafen sie sich für gewöhnlich bei Tante Kyra, die Mias neues Zuhause geworden war.

    Charlie riss Mia aus ihren Gedanken.

    »Ich sterbe vor Durst«, er rappelte sich auf. »Will noch jemand was trinken?«

    »Setz dich wieder hin«, forderte Mia ihn auf. »Ich gehe nach unten. Ich brauche ein bisschen Bewegung.«

    Chris sah sie forschend an.

    »Ist alles in Ordnung?«

    Mia nickte.

    »Ja. Natürlich.«

    Sie verließ den Raum über die Wendeltreppe und ging langsam nach unten. Insgeheim war sie glücklich, die anderen kurz verlassen zu können. Sie wollte für einen Moment an die frische Luft. In der Küche knipste sie kein Licht an. Sie brauchte kein Licht, um Gläser zu finden. Schließlich war sie mehr oder weniger in Tante Kyras Haus aufgewachsen. Dennoch verlor sie für einen kurzen Moment die Orientierung, als sie aus dem grellen Flur in die Dunkelheit trat. Sie blieb stehen. In diesem Moment erschien ihr die Küche so ruhig, so leise. Normalerweise gab es immer Geklapper in der Küche, Tante Kyra, die aufräumte, die Geisterkatze, die zwischen den Blumentöpfen auf der Fensterbank umherstrich. Jetzt hörte Mia nur ihren eigenen Atem und das kaum vernehmliche, tiefe Brummen des Kühlschranks.

    Da war plötzlich etwas. Es war ein leises Rascheln.

    Gespannt hielt Mia wieder die Luft an.

    War es nur Einbildung gewesen?

    Sie stand nun in der Mitte des Raumes. Jeder einzelne Muskel ihres Körpers war angespannt, und sie starrte in die Dunkelheit. Sie war sich vollkommen sicher: Sie war nicht allein. Es war noch jemand im Zimmer, das spürte sie. Aber sie konnte niemanden sehen. Und einen Geist hätte sie doch leuchten sehen! Sie lauschte angespannt. Es war totenstill. Eine Gänsehaut rieselte über ihren Rücken und sie fühlte sich so, in der Dunkelheit, völlig ungeschützt.

    Dann rief sie sich zur Vernunft. Sie musste sich alles eingebildet haben. Kopfschüttelnd ging sie zum Schrank mit den Gläsern und öffnete ihn. Da sah sie die verzerrte Reflexion einer schimmernden Gestalt auf den vielen Gläsern und fuhr erschrocken herum, aber der Schrei in ihrer Kehle wurde von einer eiskalten Hand erstickt, die sich auf ihren Mund presste.

    »Was macht sie denn so lange?«, fragte Chris.

    »Mach dir mal keine Sorgen«, sagte Charlie. »Sie holt nur was zu trinken.«

    »Hm«, machte Chris, richtete sich auf und sah in Richtung Treppe. Annabelle lachte.

    »Warum bist du denn so nervös? Ihr wird schon nichts passiert sein.«

    »Chris macht sich eben immer etwas mehr Sorgen um Mia, als es nötig ist«, meinte Charlie grinsend.

    Chris verpasste ihm einen Schlag in die Seite, der ihn zum Schweigen brachte, dann stand er auf.

    »Ich gehe mal nachsehen.«

    Mia stieß die Gestalt, die ihren Mund zuhielt, keuchend von sich. Dann seufzte sie laut.

    »Addy!«, stöhnte sie erleichtert und sank auf einen Stuhl. »Bist du verrückt, mich so zu erschrecken?«

    Adelheid zuckte nur amüsiert mit den Schultern.

    »Rache.«

    »Dafür, dass Tante Kyra gesagt hat, dass du aufhören sollst? Das ist aber nicht fair! Wie konntest du dich hier überhaupt so verstecken? Ich habe dich nicht gesehen. Aber du leuchtest doch im Dunkeln! Das geht doch gar nicht!«

    Adelheid lächelte. Dann trat sie zur Seite und wies auf einen Kleiderhaken, an dem einige Schürzen hingen.

    »Hier, Süße. Ich habe mich an den Kleiderhaken gehängt, so was kann man als Geist, toll, nicht wahr? Dann habe ich mich in die Schürzen gewickelt. Ich liebe dramatische Auftritte!«

    »Dramatisch ist gut! Du hast mir einen Schrecken eingejagt, den ich mein ganzes Leben nicht vergessen werde!«

    »Danke, vergiss nicht, ich bin ein Geist. Leute erschrecken – das sollte doch eigentlich meine Bestimmung sein.«

    Doch plötzlich war sie wieder todernst. Sie schwebte zur Tür und drehte den Schlüssel ohne ein Geräusch um. Mia runzelte die Stirn.

    »Was machst du?«, fragte sie verwirrt. »Warum schließt du ab?«

    Adelheid wandte sich um.

    »Oh bitte!« Mia hatte einen Blick in Adelheids Gesicht geworfen und eine Ahnung stieg in ihr auf. »Addy, bitte nichts Dramatisches mehr! Das eben hat mir gereicht!«

    Doch Adelheids Gesichtsausdruck änderte sich nicht.

    »Du weißt«, begann sie im Flüsterton, »dass die Jungs einen Schatz gesucht haben.«

    »Meine Güte, wie soll ich das nicht gemerkt haben? Und wir haben zufällig ewig darüber diskutiert!«

    »Natürlich«, fuhr Adelheid fort. »Allerdings hat deine Tante mich unterbrochen.« Sie beugte sich zu Mia vor und lächelte.

    »Mia, ich weiß, wo der Schatz ist, und ich weiß, was der Schatz ist. Glaub mir, er braucht unsere Hilfe!«

    Mia schnappte nach Luft.

    »Das...«, begann sie zögernd. »Das sagst du jetzt aber nicht nur wegen der Dramatik?«

    »Zum Teufel mit der Dramatik, Mia! Ich meine es ernst!«

    »Ich...ich fasse es nicht! Das ist kein Scherz...und...und du weißt es!« Sie lachte, weil es ihr so abwegig erschien. »Du weißt es und der Schatz braucht unsere Hilfe! Oh mein Gott, Addy!«

    Dann hörte sie plötzlich auf zu lachen und wurde wieder ernst.

    »Aber Addy, die anderen müssen das wissen! Sie müssen doch mitkommen!«

    Sie sprang hastig auf und stürzte zur Tür, doch Adelheid fuhr herum und hielt sie auf.

    »So warte doch!«, zischte sie leicht verärgert. »Bleib noch kurz hier! Wir haben nämlich ein Problem.«

    Sie errötete so zart, wie nur Geister erröten können.

    »Ähm, ich weiß nicht, wie ihr dorthin kommen könnt.«

    »Aber ich dachte, du weißt wo er ist!«

    Damit hatte Mia nicht gerechnet. Doch Adelheid erwiderte:

    »Ich weiß es auch.«

    Sie strich Mia über den Kopf.

    »Aber wir müssen erst einen Weg für euch finden. Ihr könnt schließlich nicht durch Wände gehen.«

    Dann richtete sie sich zu voller Größe auf.

    »Such die anderen. Ich suche einen Weg und ich verspreche dir, ich werde einen finden.«

    Und sie rauschte durch die verschlossene Tür davon.

    Zuerst saß Mia noch wie erstarrt da. Dann sprang sie auf. Das musste sie sofort den anderen erzählen! Sie rannte auf die Tür zu, wollte sie aufdrücken und knallte dagegen. Kopfschüttelnd drehte sie den Schlüssel um, dann stieß sie die Tür auf und prallte gegen Chris, was sie beide zu Boden riss.

    »Chris!«, rief sie erstaunt aus und rappelte sich auf. »Was tust du denn hier?«

    »Ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst so lange weg!«

    »Aber...« Mia sah ihn verwundert an. »...du musst dir doch keine Sorgen machen.«

    »Und warum bist du dann hier im Stockdunkeln? Addy kam mir entgegen. Sie sah so ernst aus. Hat sie dich getroffen? Was ist denn passiert?«

    »Chris, du wirst es nicht glauben: Ich weiß, wo der Schatz ist!«

    »Was? Du weißt, wo der Schatz ist?«

    »Nein, das war falsch, nicht ich weiß es. Addy weiß es!«

    Chris ließ die Schultern sinken.

    »Das war mir auch klar.«

    »Ja, aber das Wichtigste kommt noch: Addy sagt, der Schatz brauche unsere Hilfe!«

    Erstaunt zog Chris die Augenbrauen hoch.

    »Das ist absurd. Was hat das denn bitte zu bedeuten?«

    »Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls will sie uns zu ihm führen. Sie sucht einen Weg für uns.

    Weil wir ja nicht durch Wände gehen können.«

    »Der Schatz braucht unsere Hilfe?« Chris schien nicht darüber hinwegzukommen.

    »Aber... das ist sinnlos!«

    »Nicht für Addy!«

    Plötzlich begann er zu lachen.

    »Irgendwie gefällt mir das. Aber so wie das klingt, könnte Addy jederzeit um die Ecke gerauscht kommen und uns zu dem Schatz führen. Wir müssen es den anderen erzählen!«

    »Der Schatz braucht unsere Hilfe?«, wiederholte Annabelle ungläubig, während Charlie sich vor Lachen auf dem Sofa rollte. »Seid ihr euch sicher?«

    Mia hatte den beiden die Nachricht soeben überbracht.

    »Ja, das hat sie gesagt«, antwortete Mia. »Sie spricht in letzter Zeit sowieso immer in solchen Rätseln. Wisst ihr noch, was sie vorhin gesagt hat? Da hat sie so was gesagt wie ‚So tief kann keiner graben’! Seltsam, oder?«

    Annabelle nickte.

    »Ja, stimmt, ich habe es auch gehört, aber ich habe mir bisher noch keine Gedanken darüber gemacht. Also, eins steht fest: Wo auch immer der Schatz versteckt ist, es muss ziemlich tief unter der Erde sein.«

    Die anderen stimmten ihr zu.

    »Aber was könnte das nur sein?« Charlie kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. »Was um alles in der Welt könnte es nur sein?«

    Die anderen zuckten die Schultern.

    »Keine Ahnung.«

    »Im Grunde können wir ja nur spekulieren«, stellte Mia fest. »Vielleicht ist es aber auch am besten, wenn wir nicht so viel darüber nachdenken. Denn irgendwie glaube ich, Addy weiß ganz genau, was sie tut.«

    Kapitel 3

    Aber Adelheid tauchte nicht mehr auf. Die Stunden vergingen, und schließlich beschlossen die Freunde, dass es keinen Sinn mehr hatte zu warten, und gingen schlafen.

    Mitten in der Nacht wachte Mia auf. Sie hatte ein seltsames Geräusch gehört. Verschlafen richtete sie sich auf und blickte sich vorsichtig um. Da sie aber in der Dunkelheit nichts erkennen konnte, war ihre Müdigkeit größer als die Neugier, ihre müden Augen fielen ihr bleischwer zu und sie kippte seitwärts wieder auf ihr Kissen. Doch eine ihrer Haarsträhnen kitzelte sie in der Nase, und zwei Minuten später erwachte sie erneut, da sie niesen musste.

    Jemand kicherte.

    Ruckartig setzte Mia sich auf. Mit zitternder Hand tastete sie nach Chris, der neben ihr lag, und klopfte vorsichtig auf seine Schulter, um ihn zu wecken. Inzwischen war sie hellwach, im Gegensatz zu vorher. Sie ließ den Blick durch das dunkle Zimmer schweifen.

    Chris hatte kaum reagiert, als Mia auf seine Schulter geklopft hatte. Trotzdem war er wach. Mia war ungeheuer erleichtert, als er sich geräuschlos neben ihr aufsetzte.

    Ratlos blickten die beiden ins Dunkel. Der Lichtschalter war zu weit entfernt, und in Tante Kyras Haus konnte man sich nie sicher sein, ob man sich etwas eingebildet hatte oder ob es „spukte", was ja ohnehin der Fall war. Chris und Mia konnten immer noch nichts erkennen. Hatten sie sich das nur eingebildet, oder war dort hinter dem Sofa tatsächlich etwas? Obwohl beide an Geister gewöhnt waren, konnten sie sich trotzdem nie sicher sein, ob der Geist, dem man begegnete, gerade gute Absichten hatte oder nicht.

    Inzwischen waren die zwei sich sicher, dass sie nicht geträumt hatten. Hinter dem Sofa hatten sie kurz einen schwachen Lichtschein erkennen können. Außerdem hatte jemand begonnen, leise vor sich hin zu summen. Es schien allerdings kein Geist zu sein, denn diesen hätten sie leuchten sehen. Zuerst hatten die beiden gedacht, Annabelle würde im Schlaf singen, doch sie regte sich nicht, und die Stimme kam nicht aus ihrer Richtung.

    Die Melodie bewegte sich.

    Die Stimme bewegte sich.

    Verwirrt fuhren Mia und Chris herum. Die Stimme wanderte umher, doch niemand war zu sehen. Mia blickte hinter sich, wo sie den letzten Ton hatte verklingen hören.

    Im Mondlicht, das durch die Ritzen der Jalousien fiel, hatte sie etwas erkennen können. Eine flüchtige Bewegung, als das Lied verstummt war. Auch Chris wandte sich um. Er dachte sich, dass Mia etwas entdeckt hatte, so starr wie sie im Bett saß. Kaum hatte er sich umgedreht, da hörten die beiden schon eine erstaunte Stimme flüstern:

    »Oh, ihr seid ja wach!«

    Verdutzt sahen die beiden, dass plötzlich ein Geist vor ihnen stand, allerdings sahen sie ihn nur bis zu seiner Hüfte. Doch wo waren die Beine?

    »Addy?«, fragte Mia verwirrt, »Was...was ist mit deinen...?«

    Adelheid sah erschrocken an sich hinunter.

    »Oh, Verzeihung«, sagte sie und löste ein Tuch von ihren Hüften. »Ich habe mir ein Tuch von meiner alten Freundin Rose ausgeliehen, damit ich nicht mehr leuchte und euch nicht wecke. Ich hatte gehofft, dass ihr von selbst aufwacht. Ich fühle mich immer so unhöflich, wenn ich Leute wecken muss...«

    »Hast du etwas herausgefunden?«, unterbrach Chris sie atemlos. Ein Lächeln huschte über Adelheids Gesicht.

    »Weckt die anderen«, sagte sie. »Dann werdet ihr es erfahren.«

    Es dauerte keine Minute, bis Mia und Chris die anderen beiden wachgerüttelt hatten. Gespannt sahen sie Adelheid an.

    »Ihr wisst ja, dass ich für euch einen Weg gesucht habe. Zum Schatz«, begann diese.

    »Nun, ich habe einen gefunden. Aber ihr müsst warten, bis morgen Abend.«

    Alle vier Augenpaare waren auf sie gerichtet.

    Es gab also einen Weg! Um was für einen Schatz würde es sich handeln? Gold und was eben sonst so von Piraten versteckt wurde, war es ja offensichtlich nicht. Sie standen noch immer vor einem Rätsel, aber langsam ging ihnen die Geheimnistuerei auch immer mehr auf die Nerven.

    »Können wir nicht jetzt schon hin?«, fragte Charlie ein bisschen trotzig.

    Adelheid schüttelte den Kopf.

    »Nicht mehr heute. Ihr seid doch todmüde, das sehe ich euch an!« Sie lachte freundlich.

    »Euch fallen doch gleich die Augen zu! Lasst uns morgen gehen. Da seid ihr ausgeschlafen. Ich werde mich jetzt auch ausruhen. Ich bin völlig fertig mit den Nerven« Sie griff sich theatralisch an die Stirn. »Morgen müssen wir ausgeruht sein, es könnte spät werden.«

    Damit stand sie auf, wünschte allen eine gute Nacht, was sofort erwidert wurde, und verschwand durch den Fußboden.

    Chris streckte sich. Er spürte, wie die Müdigkeit an ihm nagte. Schnell sah er noch einmal auf die Uhr. Erfreut stellte er fest, dass es erst halb drei war. Dann ließ er sich langsam in seine Kissen fallen und kuschelte sich unter seine Decke. Kurz sah er noch die anderen an, die schon wieder eingeschlafen waren.

    Charlie schnarchte und murmelte etwas von Muffins mit Käse, die er nicht essen wollte. Annabelle konnte Chris nicht sehen, da sie unter ihrer Decke schlief, und Mia lag rechts von ihm. Sie lag auf der Seite, ihm zugewandt. Ihre Arme lagen angewinkelt vor ihr und sie schlief bereits tief und fest. Chris fragte sich unwillkürlich, was sie wohl gerade träumte. Dann schlief auch er ein.

    Früh morgens erwachten die Freunde in ihrem Schulalltagsrhythmus. Aber es waren Sommerferien. Mia lief zum Fenster und ließ die Jalousien herunter. Hinter den Hügeln von Gartenach sah sie gerade die Sonne aufgehen. Über den Hügeln leuchtete der Himmel bereits hell, doch über ihr war er noch tiefblau. Sie konnte dort sogar noch die Sterne sehen. Der Tag war noch jung. Unterhalb des Hügels waren die Häuser noch in Dunst gehüllt.

    Mia kletterte wieder unter ihre Decke und schlief nur noch unruhig.

    Ein paar Stunden später schreckte Chris aus dem Schlaf hoch. Auch er hatte nicht mehr besonders gut geschlafen. Erstaunt bemerkte er, dass Annabelle und Charlie verschwunden waren. Sie mussten bereits frühstücken gegangen sein. Aber Mia war noch da. Und sie schlief noch. Er lächelte.

    Mia musste sich im Schlaf unbewusst an ihn gekuschelt haben. Ihr Kopf lag noch an seiner Schulter und er bemerkte, was für schöne Haare sie hatte. Vorsichtig strich er mit seinen Fingern darüber. Dadurch wurde ein einzelnes Haar so elektrisiert, dass es sich aufrichtete und ihn in der Nase kitzelte. Er musste niesen, woraufhin Mia erschrocken erwachte.

    »Oh Gott!«, sagte sie dann erschrocken. »Warum hast mich denn nicht weggeschoben?«

    »Weil du so süß geschnarcht hast!«, grinste er.

    »Das stimmt doch gar nicht!«, lachte Mia empört, da sie sah, dass er sich nur über sie lustig machte. Spontan packte sie ihr Kissen und begann Chris anzugreifen. Dieser reagierte sofort und schon waren die beiden in eine wilde Kissenschlacht verwickelt. Nach fünf Minuten saßen sie sich atemlos gegenüber, die Kissen schlagbereit in den Händen.

    Jeder wusste genau, dass sein Gegenüber auf einen Angriff wartete, aber keiner griff an. Mia strich sich die Haare aus dem Gesicht.

    »Na los!«, sagte sie angriffslustig. »Greif mich doch an!«

    Chris lächelte.

    »Ladies first«, sagte er und machte eine kleine Verbeugung, behielt sie aber im Blick. In diesem Moment warf jemand Mia von hinten eine Decke über und gab ihr einen kräftigen Stoß, sodass sie mit einem erschreckten hohen Schrei nach vorne fiel und dabei Chris nach hinten warf. In Decken gewickelt und halb unter Kissen vergraben sahen die beiden Charlie und Annabelle, die sich vor Lachen den Bauch hielten.

    »Ihr wart spektakulär!«, sagte Charlie und grinste die beiden frech an.

    Mia befreite sich aus den Decken und spürte, wie sie leicht errötete.

    »Wo wart ihr eigentlich?«, fragte sie ihre zwei Freunde und Annabelle antwortete ihr:

    »Wir haben nach dem Frühstück gesehen...«

    Doch Charlie unterbrach sie:

    »Es gibt ganz leckere Sachen, Spiegelei und Schinken und Tomaten!«

    Er betonte jedes Wort genießerisch und sah so verträumt drein, dass die anderen in schallendes Gelächter ausbrachen.

    »Habt ihr etwa schon gefrühstückt?«

    »Ich wollte auf euch warten.«, meinte Annabelle. Sie grinste Charlie an. »Aber gewisse Personen, ich will hier ja niemanden ansehen...«, wobei sie demonstrativ Charlie ansah, »...konnten sich ja nicht mehr zurückhalten!«

    »Aber es war sehr lecker!«, warf Charlie ein, woraufhin Annabelle erklärte:

    »Er hat natürlich schon angefangen...und dann sah alles so lecker aus, dass ich auch nicht widerstehen konnte.«

    In der Küche saßen Tante Kyra und Adelheid bei einer Tasse Tee und amüsierten sich prächtig, als die vier die Küche betraten.

    »Da sind sie ja!«, sagte Adelheid erfreut. »Ihr habt übrigens den Rekord im Laut-Schreien- und-Lachen gebrochen! Vielleicht kommt ihr ja ins Guinness-Buch der Rekorde!«

    »Du könntest es doch sowieso nicht lesen«, meinte Chris nur verschmitzt und Adelheid stemmte die Hände in die Hüften, aber sie ging nicht darauf ein.

    Den Tag verbrachten die Freunde wie im Taumel. Keiner konnte an etwas anderes denken als an den bevorstehenden Abend. Mia hatte den Tag bei Tante Kyra verbracht, während die anderen nach Hause gegangen waren, und als die Sonne sich langsam dem Horizont näherte, kamen Chris und Charlie atemlos den Hügel zu Tante Kyras Haus hinaufgeradelt. Schon von Weitem hatte Mia sie kommen sehen. Der Stadtteil Moorland, in dem Tante Kyras Turm lag, war unverkennbar.

    Zwischen den Häusern ragten in fast regelmäßigen Abständen Hügel auf, auf denen die schönsten Häuser des Stadtteils lagen. Und da eben der Turm auch auf einem Hügel lag, konnte Mia ihre Freunde die lange

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