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Johannes Angelos: Sein Tagebuch von der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 am Ende des Zeitalters Christi
Johannes Angelos: Sein Tagebuch von der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 am Ende des Zeitalters Christi
Johannes Angelos: Sein Tagebuch von der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 am Ende des Zeitalters Christi
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Johannes Angelos: Sein Tagebuch von der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 am Ende des Zeitalters Christi

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Im Dezember 1452, ein halbes Jahr vor dem Fall Konstantinopels und dem Ende des tausendjährigen Byzantinischen Reiches, kommt ein Fremder nach Konstantinopel, ein "Lateiner", der sich auf Französisch Jean Ange, auf Griechisch Johannes Angelos nennt. Seine Herkunft liegt im Dunkeln; man weiß nur, dass er lange am Hof des Osmanensultans Mehmed geweilt hat. Johannes schließt sich den Verteidigern der Stadt an und wird zum engsten Mitarbeiter des genuesischen Söldnerkommandanten Giovanni Giustiniani, der sich mit seinen Soldaten in den Dienst des byzantinischen Kaisers gestellt hat, denn tagtäglich erwartet man den Angriff des übermächtigen osmanischen Heeres. Johannes verliebt sich in Anna Notaras, die Tochter des Anführers der türkenfreundlichen Partei am byzantinischen Kaiserhof. Ihr enthüllt er schließlich auch das Geheimnis seiner Herkunft …
Der in Tagebuchform verfasste Roman schildert auf packende und eindringliche Weise die letzten Monate des Byzantinischen Reiches und führt die Geschichte des Johannes Peregrinus fort.

Unter dem Titel "Der dunkle Engel" war der Roman auf dem deutschen Buchmarkt bisher nur in einer gekürzten, über mehrere Brückensprachen erfolgten Übertragung erhältlich. Diese Neuübersetzung, die bei Kuebler Verlag erscheint, ist ungekürzt und wurde direkt aus dem finnischen Original ins Deutsche übertragen.
LanguageDeutsch
Release dateAug 31, 2015
ISBN9783863462444
Johannes Angelos: Sein Tagebuch von der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 am Ende des Zeitalters Christi

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    Book preview

    Johannes Angelos - Mika Waltari

    Dezember 1452

    12. Dezember 1452

    Ich sah dich zum ersten Mal und sprach mit dir.

    Es war, als wäre ein Erdbeben über mich hinweggegangen. Alles wankte in mir, die innersten Gruben meines Herzens brachen auf, und ich kannte mich nicht wieder.

    Ich war vierzig Jahre alt und glaubte, nun im Herbst des Lebens zu stehen.

    Ich war viel umhergewandert, hatte viel erlebt und viele Leben durchlebt.

    Gott hatte in mancherlei Gestalt zu mir gesprochen; Engel waren mir erschienen, aber ich hatte ihnen nicht geglaubt.

    Als ich dich sah, glaubte ich, da mir nun ein solches Wunder widerfahren war.

    Ich sah dich vor der Sophienkirche, bei den Bronzetoren. Sie kamen alle aus der Kirche heraus, in der vorgeschriebenen zeremoniellen Ordnung, nachdem Kardinal Isidor auf Lateinisch und Griechisch die Vereinigung der Kirchen verkündet hatte. Da herrschte eisige Stille in der Kirche. Sodann leitete er eine glanzvolle Messe und las dabei auch das Glaubensbekenntnis. Als er zu dem Zusatz »und vom Sohne« gekommen war, schlugen viele die Hände vor das Gesicht, und auf den Emporen hörte man die Frauen bitterlich schluchzen. Ich stand in dem Gedränge im Seitenschiff neben einer grauen Säule. Als ich sie mit meiner Hand berührte, spürte ich, dass sie feucht war, so als hätte selbst die steinerne Säule kalten Schmerzensschweiß ausgeschwitzt.

    So kamen sie alle aus der Kirche heraus, in der seit Jahrhunderten vorgeschriebenen zeremoniellen Reihenfolge, in ihrer Mitte der Basileus, Kaiser Konstantin, ernst und aufrecht, das schon ergraute Haupt unter den goldenen Bügeln seiner Krone. Sie kamen, und der Kleiderstoff jedes Einzelnen von ihnen, samt jeweiliger Farbe und Schmuck, all das war zeremoniell festgelegt, bei den Beamten vom Palast zu Blachernae, den Ministern, Logotheten und Anthypatoi, allen Senatsmitgliedern und den ihnen folgenden Archonten von Konstantinopel, geordnet nach Herkunft und Geschlecht. Keiner hat es gewagt, demonstrativ nicht zu erscheinen. Zur Rechten des Kaisers ging sein Staatssekretär Sphrantzes, der mit seinen kaltblauen Augen das Volk betrachtete. Ihn kannte ich nur allzu gut. Unter den Lateinern erkannte ich auch den Bailo der Venezianer und so manchen anderen wieder.

    Megadux Lukas Notaras, den Großherzog und Befehlshaber der kaiserlichen Flotte, hatte ich bisher noch nicht gesehen. Er war einen Kopf größer als die anderen, ein dunkler und hochmütig auftretender Mann. In seinen Augen blitzte Spott auf, gepaart mit Intelligenz, während sich in seinem Antlitz dieselbe sehnsuchtsvolle Melancholie widerspiegelte, die für die Angehörigen der alten griechischen Geschlechter typisch ist. Als er aus der Kirche trat, machte er einen erhitzten und zornigen Eindruck, so als könnte er die furchtbare Schande nicht ertragen, die seine Kirche und sein Volk nun erleiden mussten.

    Die Farben der Gewänder, das griechische Blau und Weiß, die mit Gold und Perlen besetzten Zeremonialmäntel und die verschiedenfarbigen Edelsteine blendeten das Volk. Die Sonne schien, und auf dem Platz vor der Kirche stand das Volk dicht gedrängt. In der Menge waren bärtige, bald verzweifelt, bald grimmig dreinblickende Mönche in ihren schwarzen Gewändern und ihren hohen schwarzen Kapuzen, fanatisierte Handwerker und Kaufleute, Seeleute vom Hafen und Fischer. Aber die meisten waren Mönche. Jeder Dritte, der mir auf den Straßen entgegenkam, war ein Mönch. Schon Hunderte von Kirchen gehörten zu Klöstern, sodass der vom Papst anerkannte Patriarch, Gregorios Mamas, welchen das Volk nur den falschen Patriarchen nannte, eigentlich nur noch über sieben Kirchen gebot.

    Als die Reitpferde an den Zügeln herangebracht wurden, entstand ein Tumult; aus dem Volk begannen Rufe zu ertönen, darunter auch Flüche über die Lateiner. »Weg mit den unerlaubten Zusätzen! Nieder mit der Papstherrschaft!«, rief man. Ich wollte nicht hinhören. Das alles hatte ich schon bis zum Überdruss in den Tagen meiner Jugend gehört. Aber die Wut und Verzweiflung des Volkes war wie ein Sturmgewitter und ein Erdbeben. Bis die sangesgeschulten Stimmen der Mönche das Volk dazu brachten, wie aus einer Kehle den einen Ruf liturgieartig zu wiederholen: »Nicht vom Sohne, nicht vom Sohne!« Es war der Tag des heiligen Spyridon von Trimythunt.

    Als das Gefolge adeliger Frauen aus der Kirche nach draußen drängte, befand sich ein Teil des kaiserlichen Gefolges bereits mitten unter dem Volk, das, angestachelt vom Takt der Rufe, wogte und gegen das Gefolge andrängte. Nur in unmittelbarer Nähe der heiligen Gestalt des Kaisers war noch freier Raum. Konstantin saß bereits im Sattel, und sein Antlitz war dunkel vor Kummer. Bekleidet war er mit dem goldbestickten Purpurmantel, und an den Füßen trug er die mit dem doppelköpfigen Adler verzierten Purpurstiefel.

    So erlebte ich als Augenzeuge die Verwirklichung eines jahrhundertealten Traums: die Vereinigung der östlichen mit der westlichen Kirche, die Unterwerfung der rechtgläubigen orthodoxen Kirche unter die päpstliche Gewalt und die Aufgabe des ursprünglichen, von Zusätzen freien Glaubensbekenntnisses. Dadurch, dass Kardinal Isidor die Vertragsurkunde in der Sophienkirche öffentlich verlas, hatte diese Union nun nach mehr als einem Dutzend Jahren der Verschleppung und Verzögerungstaktik endlich Gültigkeit erlangt. Im Dom von Florenz war sie vierzehn Jahre zuvor auf Griechisch von Metropolit Bessarion, dem hochgewachsenen und rundköpfigen Gelehrten, verlesen worden. Ihn hatte Papst Eugen IV. zum Kardinal erhoben, genauso wie auch Isidor, zum Lohn für beider Verdienste um das schwierige Versöhnungswerk.

    Aber das war nun schon vierzehn Jahre her. Damals, am selben Abend noch, hatte ich meine Bücher und Kleider verkauft, mein Geld unter die Armen verteilt und war aus Florenz geflohen. Fünf Jahre später nahm ich das Kreuz. Während nun das Volk lärmte, erinnerte ich mich an die Bergpfade bei Assisi und das Leichenfeld von Warna.

    Als die Rufe plötzlich verstummten, blickte ich auf und sah, dass der Megadux Lukas Notaras auf eine Erhöhung vor der gelben Säulenkolonnade sprang. Mit ausgestreckten Armen gebot er dem Volk Ruhe, und der beißende Dezemberwind trug mir seinen lauten Ruf ans Ohr: Lieber den türkischen Turban als die päpstliche Mitra!

    Als das Volk und die Mönche diese trotzige Losung hörten, brach alles in frenetische Jubelrufe aus. Das griechische Volk von Konstantinopel schrie und brüllte triumphierend: Lieber den türkischen Turban als die päpstliche Mitra! Auf die gleiche Art hatten einst die Juden gerufen: Nicht diesen, sondern Barabbas!

    Eine ganze Reihe Adeliger und Archonten aus dem Zeremonialgefolge scharte sich demonstrativ um Lukas Notaras und bezeugte damit, dass sie diesen unterstützten und offen dem Kaiser trotzten. Schließlich wich das Volk zurück, und der Kaiser konnte sich mit seinem kleiner gewordenen Gefolge entfernen. Das Gefolge der adeligen Frauen drängte noch immer durch das riesige Bronzetor zur Kirche heraus, löste sich aber sofort auf dem Platz in der lärmenden Volksmenge auf.

    Besonders gespannt war ich darauf, wie das Volk Kardinal Isidor empfangen würde, der ja selbst Grieche war und wegen der Union schon so mancherlei Ungemach auszustehen gehabt hatte, – wohl deshalb kam er gar nicht erst aus der Kirche heraus. Die Kardinalswürde hatte ihn nicht gerade beleibter werden lassen. Er war derselbe kleine Mann mit den pfefferfarbigen Augen und schien magerer als früher, seitdem er sich nach Art der Lateiner den Bart abrasiert hatte. Aus Ferrara und Florenz hatte ich ihn noch mit Bart in Erinnerung. Die Aufgabe eines Vermittlers ist gewiss nicht leicht. Markos Eugenikos hatte ihn verflucht und behauptet, er habe aus Kiew die Pest nach Ferrara eingeschleppt. Jedenfalls waren dort alle seine Diener an der Pest gestorben. Markos Eugenikos betrachtete das als Strafe Gottes für Isidors Verrat.

    Wirr wogten die wütenden Volksmassen auf dem Platz im Schatten der mächtigen Kuppel der Sophienkirche. Im schwarzen Meer der Mönchskapuzen blinkten hier und da die farbigen Seidenmäntel und der Kopfschmuck adeliger Frauen auf, die in dem Gewühl umherirrten. Der Himmel war kalt und von bleicher Bläue, obgleich die Sonne schien.

    »Lieber den türkischen Turban als die päpstliche Mitra!« Aufrichtig, aus der Fülle seines Herzens heraus, hatte Großherzog Notaras dies wohl gerufen, aus Liebe zu seiner Stadt und zu seinem Glauben, aus Hass gegen die Lateiner.

    Aber auch wenn dieses sein Wort noch so ehrlich gemeint war, so entsprang es für mich doch nur kaltblütiger politischer Berechnung. Im Angesicht der aufmüpfigen Massen legte er seine Karten offen auf den Tisch, um von der Mehrheit des Volkes Unterstützung zu erhalten. Im Grunde seines Herzens vermag kein Grieche die Union gutzuheißen, nicht einmal der Kaiser. Ihm bleibt nur nichts anderes übrig, als sich zu unterwerfen und die Union ausrufen zu lassen, damit der sich daraus ergebende Freundschafts- und Beistandspakt in Kraft treten kann. Dieser verpflichtet den Papst, bei drohender Gefahr seine Flotte zum Schutz Konstantinopels zu entsenden.

    Die päpstliche Flotte wird bereits in Venedig ausgerüstet. Kardinal Isidor versichert, sie werde sofort in See stechen und Konstantinopel Rettung bringen, sobald die Nachricht von der Verkündigung der Union bis nach Rom gedrungen sei. Aber seinem Kaiser Konstantin rief das Volk heute ein »Apostata, Apostata!« nach. Das furchtbarste, vernichtendste Wort, das man einem Menschen nachrufen kann. Das ist der Preis, den Konstantin für zehn Kriegsschiffe zu zahlen hat. Sofern sie überhaupt eintreffen.

    Kardinal Isidor brachte bei seiner Ankunft bereits eine Handvoll Bogenschützen mit, die in Kreta und auf den anderen Inseln angeworben wurden. Die Stadttore hat man zugemauert. Die Türken haben die Umgebung verwüstet und den Bosporus abgeriegelt. Als Stützpunkt dient ihnen die Festung, die der Sultan in nur wenigen Monaten während des Sommers an der engsten Stelle der Meerenge hat errichten lassen. Die Festung liegt auf derselben Seite wie Pera, auf der Seite der Christen also. Im Frühjahr stand an jener Stelle noch die Erzengel-Michael-Kirche. Jetzt sind die Marmorsäulen der Kirche in die Befestigungsanlage eingemauert. Sie bilden den Sockel für die Türme der Türken auf den dreißig Fuß dicken Mauern. Die Geschütze des Sultans bewachen den Bosporus.

    An all das musste ich denken, da ich bei den riesigen Bronzetoren der Sophienkirche stand. Dann sah ich sie. Es war ihr gelungen, sich von der Volksmasse loszureißen, und sie lief in die Kirche zurück. Ganz außer Atem war sie, und ihr Schleier war zerrissen. In Konstantinopel pflegen die adeligen Griechinnen ihr Gesicht vor Fremden zu verbergen und in Häusern zu leben, wo Eunuchen über sie wachen. Steigen sie in einen Sattel oder einen Tragstuhl, eilen ihre Diener herbei, um sie mit emporgehobenen Tüchern vor den Blicken Vorübergehender zu schützen. Die Haut dieser Frauen ist von durchsichtig schimmerndem Weiß.

    Sie blickte mich an, und die Zeit stand still; die Sonne unterbrach ihren Lauf um die Erde, die Vergangenheit verschmolz mit der Zukunft, und es gab nichts anderes als den gegenwärtigen Augenblick, den einzigen Augenblick des Lebens, den selbst die habgierige Zeit nicht verschlingen kann.

    Ich hatte in meinem Leben viele Frauen gesehen. Wenn ich geliebt hatte, war ich selbstsüchtig und kalt gewesen. Ich hatte genossen und selbst Genuss bereitet. Aber Liebe, das war für mich nur verachtenswerte Fleischeslust, die, ist sie erst einmal befriedigt, das Gemüt traurig stimmt. Nur aus Mitleid hatte ich Liebe geheuchelt, bis ich nicht mehr länger konnte noch wollte.

    Viele, viele Frauen hatte ich in meinem Leben gesehen, bis ich ihnen entsagte, so wie ich in vielem Anderen Entsagung geübt hatte. Frauen bedeuteten mir nur etwas Körperliches, und ich verabscheute alles, was mich an meinen Leib band.

    Sie war fast von meiner Größe. Ihr Haar schimmerte hell unter der mit reichem Schmuck bestickten Kapuze. Ihr Mantel war blau und mit Silberfäden verziert. Ihre Augen waren braun, ihre Haut wie von Gold und Elfenbein.

    Aber ihre Schönheit beachtete ich nicht. Nein, noch nicht. Der Blick ihrer Augen fesselte mich. Denn ihre Augen waren mir vertraut, als hätte ich sie schon einmal im Traum gesehen. Im nackten Blick ihrer braunen Augen verbrannte alles zu Asche, was gewöhnlich und nichtig war. Sie hatten sich vor Verwunderung geweitet und lächelten mir plötzlich zu. Meine Verzückung war von so glühender Klarheit, dass darin kein Platz war für irdische Begierde. Mir war, als hätte mein Körper auf die gleiche Weise zu leuchten begonnen, wie ich es in meiner Jugend auf dem Berg Athos gesehen hatte, wo heilige Mönche, die dort über steilen Abgründen in ihren Einsiedeleien hausten, in der Dunkelheit der Nacht ein überirdisches Licht ausstrahlten, als wären sie Lampen. Und dieser Vergleich ist keine Heiligenlästerung, denn in jenem Augenblick war das Wunder der Wiederkehr mir heilig.

    Wie lange, weiß ich nicht. Vielleicht nur jenen Atemzug lang, der im letzten Augenblick die Seele den Leib verlassen lässt. Wir standen nur wenige Schritte voneinander, aber einen Seufzer lang standen wir auf der Schwelle, die das Zeitliche mit dem Ewigen verbindet, gleichsam wie auf der scharfen Schneide eines Schwertes. Dann kehrte ich in die Grenzen des Zeitlichen zurück. Ich musste reden. Ich sagte:

    »Hab keine Angst. Wenn du willst, begleite ich dich sicher zu deines Vaters Haus.« An ihrer Kapuze sah ich, dass sie unverheiratet war. Nicht, dass es mir in jenem Augenblick etwas bedeutet hätte. Ob verheiratet oder nicht, ihre Augen waren mir vertraut.

    Sie tat einen tiefen Atemzug, so als hätte sie lange den Atem angehalten und sagte fragend: »Du bist Lateiner.«

    »Wenn du es sagst«, räumte ich ein.

    Wir sahen einander an, und inmitten der lärmenden Volksmenge gab es immer noch nur uns beide, so als wären wir gerade am Morgen vor Anbeginn der Zeiten im Paradies erwacht. Ihre Wangen brannten scheu, doch senkte sie nicht ihren Blick vor mir. Wir erkannten einander ja an den Augen. Bis Gemütsbewegung sie überwältigte und sie mit zitternder Stimme fragte: »Wer bist du?«

    Aber ihre Frage war gar keine Frage. Mit ihren Worten zeigte sie mir nur, dass sie mich in ihrem Herzen erkannt hatte, so wie auch ich sie. Aber um ihr Zeit zu geben, sich aus ihrer Rührung zu lösen, versetzte ich:

    »Im französischen Avignon bin ich aufgewachsen, bis ich dreizehn Jahre alt war. Danach habe ich mancherlei Lande durchwandert. Ich heiße Jean Ange. Hier Johannes Angelos, wenn du willst.«

    »Angelos«, wiederholte sie. »Engel. Bist du deshalb so blass und ernst? Und bin ich deshalb so erschrocken, als ich dich erblickte?« Sie trat näher und berührten meinen Arm mit ihrer Hand. »Nein, ein Engel bist du nicht«, sagte sie. »Du bist aus Fleisch und Blut. Warum trägst du einen türkischen Säbel?«

    »Ich bin in seinem Gebrauch geübt«, erklärte ich. »Und er besteht aus härterem Stahl als die Säbel und Schwerter, die bei den Christen geschmiedet werden. Im September floh ich aus dem Lager des Sultans, als er nach Abschluss des Baus der Festung am Bosporus nach Adrianopel zurückkehrte. Seit der Krieg ausgebrochen ist, liefert euer Kaiser keine türkischen Sklaven mehr aus, die nach Konstantinopel geflüchtet sind.«

    Sie warf einen Blick auf meine Tracht und stellte fest: »Du bist nicht gerade wie ein Sklave gekleidet.«

    »Nein, ich kleide mich nicht wie ein Sklave«, sagte ich. »Fast sieben Jahre lang gehörte ich zum Gefolge des Sultans. Sultan Murad erhob mich zum Aufseher über seine Hunde und überließ mich dann seinem Sohn. Sultan Mehmed prüfte meinen Verstand und las mit mir griechische und römische Bücher.«

    »Wie bist du in türkische Sklaverei geraten?«, fragte sie.

    »Ich wohnte vier Jahre lang in Florenz«, antwortete ich. »Damals war ich ein reicher Mann, aber der Stoffhandel ward mir zuwider, und ich nahm das Kreuz. In der Schlacht bei Warna geriet ich in türkische Gefangenschaft.«

    Ihr Blick forderte mich zum Weiterreden auf: »Dem Kardinal Julius Cesarini habe ich als Sekretär gedient. Nach der Niederlage geriet sein Pferd in einen Sumpf, und flüchtende Ungarn erdolchten ihn mit ihren Messern. Ihr junger König war ja in derselben Schlacht gefallen. Mein Kardinal hatte ihn dazu überredet, den Eid zu brechen, den er den Türken geleistet hatte. Deshalb vermeinten die Ungarn, er habe einen Fluch über uns gebracht, und Sultan Murad behandelte uns alle als Eidbrüchige. Doch mir tat er nichts zuleide, obwohl er all die Übrigen, die in Gefangenschaft gerieten, hinrichten ließ, sofern sie sich nicht zu seinem Gott und dem Propheten bekennen wollten. Jetzt habe ich wohl schon genug geredet. Verzeih, ich habe lange schweigen müssen.«

    Sie sagte: »Ich höre dir gerne zu und will mehr von dir erfahren. Aber warum fragst du nicht, wer ich bin?«

    »Ich frage nicht«, sagte ich. »Es genügt mir, dass es dich gibt. Das genügt wirklich. Ich habe nicht geglaubt, dass mir solches noch einmal widerfahren würde.«

    Sie fragte nicht, was ich damit meinte. Sie blickte sich um und bemerkte, dass die Menge sich allmählich zu verlaufen begann. »Komm mit«, flüsterte sie, ergriff meine Hand und zog mich hastig zurück in den Schatten der riesigen Bronzetore der Kirche. »Heißt du die Union gut?«

    Ich zuckte mit den Schultern: »Ich bin Lateiner.«

    »Tritt über die Schwelle«, forderte sie mich auf. Wir kamen an eine schattendüstere Stelle in der Vorhalle, wo ein ganzes Jahrtausend lang die eisenbeschlagenen Stiefel der Wachsoldaten eine Delle in den Marmorboden geschlagen hatten. Diejenigen, die aus Furcht vor der Volksmenge in der Kirche geblieben waren, warfen uns verstohlene Blicke zu. Trotzdem schlang sie mir ihre Arme um den Hals und küsste mich.

    »Es ist das Fest des heiligen Spyridon«, sagte sie und bekreuzigte sich nach griechischer Weise. »Nur vom Vater, nicht vom Sohne. Mein christlicher Kuss sei das Siegel unserer Freundschaft, dass wir einander nicht vergessen wollen. Bald werden die Diener meines Vaters kommen, um mich zu suchen.« Ihre Wangen glühten, und ihr Kuss war nicht gerade christlich. Auf ihrer Haut spürte ich Hyazinthenduft. Die schmalen Bögen ihrer hohen Augenbrauen waren dunkelblau gefärbt, und ihren Mund hatte sie sich rot angemalt, so wie es bei den Frauen der Oberschicht Konstantinopels Sitte war.

    »Ich kann nicht einfach so von dir scheiden«, sagte ich. »Selbst wenn du hinter sieben verschlossenen Türen wohntest, ich gebe nicht auf, bis ich dich wiedergefunden habe. Auch wenn Zeit und Ort uns voneinander trennen sollten, werde ich wieder zu dir finden. Das kannst du nicht verhindern.«

    »Weshalb sollte ich dich hindern wollen?«, fragte sie und hob mit bezauberndem Spott die Augenbrauen. »Woher willst du wissen, ob nicht auch ich selbst mit unstillbarer Neugier danach verlange, mehr von dir und deinem merkwürdigen Leben zu erfahren, Herr Angelos?«

    Ihr kokettierendes Lächeln war bezaubernd, und der Ton ihrer Stimme sagte mehr als ihre Worte.

    »Dann sag, wo und wann«, drängte ich.

    Sie hob die Augenbrauen. »Du weißt nicht, wie ungeziemend deine Rede ist. Aber das ist bei den Franken wohl so Sitte.«

    »Wo und wann?«, wiederholte ich und griff sie am Arm.

    »Was wagst du es?« Bleich geworden durch meinen Vorstoß, starrte sie mich an. »Noch kein Mann hat es gewagt, mich anzurühren. Du weißt nicht, wer ich bin!« Aber sie machte nicht den Versuch, sich aus meiner Umklammerung zu befreien. Empfand sie also Genuss, wenn ich sie so berührte?

    »Du bist du«, sagte ich. »Das genügt mir.«

    »Vielleicht lasse ich dir eine Nachricht zukommen«, versprach sie. »Was bedeutet Schicklichkeit noch in dieser Zeit der Umwälzungen? Du bist Franke, nicht Grieche. Aber mich zu treffen, kann gefährlich für dich sein.«

    »Einst nahm ich das Kreuz, weil mir der Glaube fehlte«, sagte ich. »Alles andere habe ich erreicht, aber zum Glauben habe ich nicht gefunden. Deshalb will ich wenigstens Gott zu Ehren sterben. Ich bin aus dem Lager der Türken geflohen, um auf den Mauern Konstantinopels zu fallen, um Christi willen. Du kannst mein Leben nicht in mehr Gefahr bringen, als es schon immer gefährdet war und ist.«

    »Schweig«, sagte sie. »Versprich wenigstens, mir nicht zu folgen. Wir haben schon genug Aufmerksamkeit auf uns gezogen.« Sie verhüllte sich das Gesicht mit dem zerrissenen Schleier, wandte sich von mir ab und trat einen Schritt beiseite.

    Blau-weiß gekleidete Diener kamen, nach ihr zu suchen. Sie ging mit ihnen fort, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen, und ich folgte ihr nicht. Aber als sie sich entfernte, fühlte ich Kraftlosigkeit in mir aufsteigen, so als strömte mir alles Blut aus einer offenen Wunde.

    14. Dezember 1452

    Unter Vorsitz von Kaiser Konstantin beschlossen die Vertreter der verschiedenen Nationen in der St.-Marien-Kirche am Hafen mit einundzwanzig Stimmen gegen das Votum der Venezianer, die im Hafen liegenden venezianischen Schiffe zu Verteidigungszwecken zu beschlagnahmen. Trevisano legte im Namen der Schiffseigner Protest ein. Die Schiffe dürfen ihre Ladung behalten, nachdem die Kapitäne mit einem Kuss auf das Kreuz geschworen hatten, dass sie nicht versuchen würden, mit ihren Schiffen zu fliehen. Als Mietpreis für die Schiffe wurden vierhundert Byzanten je Monat festgesetzt. Das ist ein Wucherpreis, aber Venedig weiß die Gelegenheit zu nutzen, und ein Ertrinkender sollte mit dem Gold nicht knauserig sein.

    Der Kaiser beriet sich mit dem falschen Patriarchen, den Bischöfen und Äbten darüber, wie man die Kirchenschätze einschmelzen und zu Geld machen könnte. Dass die Kirchen und Klöster ihrer goldenen und silbernen Geräte beraubt werden sollen, deuten die Mönche als erstes untrügliches Zeichen dafür, dass es mit der Vereinigung der Kirchen, der Union, nun tatsächlich Ernst wird.

    Die Immobilienpreise sind völlig zusammengebrochen. Selbst die kurzfristigen Kreditzinsen sind in nur wenigen Tagen auf vierzig Prozent geklettert. Langfristige Kredite bekommt man überhaupt nicht mehr. Edelsteine erzielen Spitzenpreise. Für einen kleinen Dia­manten bekam ich Teppiche und Möbel im Wert von sechzig Dukaten. Das Haus, in das ich mich eingemietet habe, konnte ich damit einrichten und verschwenderisch ausstatten. Der Hausbesitzer würde es auch billig verkaufen, aber warum sollte ich auf sein Angebot eingehen? Die Zukunft der Stadt lässt sich ja nur noch in Monaten messen.

    Seit zwei Nächten habe ich kaum ein Auge zugetan. Meine alte Schlaflosigkeit ist wieder da. Die Unruhe sollte mich eigentlich auf die Straße treiben, aber ich bleibe drinnen, für den Fall, dass jemand nach mir sucht. Zu lesen vermag ich nicht. Ich habe schon mehr Bücher als genug gelesen, um die Nutzlosigkeit jeglichen Wissens einzusehen. Mein griechischer Diener wacht über jeden meiner Schritte, aber das ist nur natürlich, und bisher hat es mich nicht gestört. Wie könnten sie auch einem Mann völlig vertrauen, der einst in türkischen Diensten stand? Mein Diener ist ein alter Mann von mitleiderregender Armut. Sein Zubrot gönne ich ihm gerne.

    15. Dezember 1452

    Nur ein gefaltetes Stück Papier. Gebracht wurde es heute Morgen von einem umherziehenden Gemüsehändler.

    »In der Apostelkirche, am Nachmittag«. Sonst stand nichts auf dem Zettel. Gegen Mittag sagte ich meinem Diener, ich ginge in den Hafen und hieß ihn den Keller aufräumen. Als ich ging, schloss ich die Kellertür ab. Heute konnte ich keinen brauchen, der hinter mir herspioniert.

    Die Apostelkirche liegt auf dem höchsten Hügel mitten in der Stadt. Als geheimer Treffpunkt war sie gut gewählt, denn nur einige schwarzgekleidete Frauen beteten dort vor den heiligen Ikonen der Altarwand. Auch erregte meine Tracht kein Aufsehen, denn den ganzen Tag lang kommen Seeleute von den Schiffen der Lateiner, um sich die Kaisergräber und die Reliquien anzusehen. Gleich rechts bei der Tür steht, von einer einfachen hölzernen Schranke umgeben, ein Stück jener Steinsäule, an die unser Heiland gefesselt war, als die römischen Soldaten ihn geißelten.

    Ein junger venezianischer Schiffsarzt, der eine Gruppe von Seeleuten umherführte, versicherte, mit eigenen Augen ein Stück von derselben Säule in Rom gesehen zu haben. »Es ist der gleiche Stein«, sagte er, »und ein drittes Säulenstück befindet sich nach wie vor in Jerusalem.« Er sah neugierig zu mir herüber und hätte sich wohl gerne in ein Gespräch mit mir eingelassen. Aber um ihn loszuwerden, riet ich der Gruppe, die Kirche des Pantokrator-Klosters zu besuchen. Dort bewahrt man eine bunte Steinplatte auf, die Nikodemus für seine Grabstätte anfertigen ließ und auf der man den Leichnam unseres Heilandes niederlegte, nachdem man ihn vom Kreuz abgenommen hatte. Auf dem Stein sind immer noch die glasklaren, hart gewordenen Tränen zu sehen, welche von der allerheiligsten Jungfrau Maria am Leichnam ihres Sohnes vergossen worden waren. Sie waren wirklich zu Stein geworden, obgleich ich sie, da ich sie zum ersten Male sah, für Wachs hielt, das von den Kerzen der Mönche hinabgetropft war, weshalb ich auch mit meinem Messer an einem der Tropfen gekratzt hatte. In Konstantinopel sind die Mönche bei Weitem nicht so abergläubisch und kleinlich wie die Mönche im Westen, was ihre Reliquien betrifft. Der lebendige Christus und eine leidenschaftliche Frömmigkeit bedeuten ihnen mehr als selbst das allerheiligste tote Gestein.

    »Verkauft mir Euer Messer!«, suchte mich der Arzt zu überreden, nachdem ich ihm davon erzählt hatte. Er schien zu glauben, etwas von der Heiligkeit der Reliquie müsse in mein Messer übergegangen sein.

    »Macht doch dasselbe wie ich«, versetzte ich lächelnd. Doch er schlug furchtsam ein Kreuzzeichen, schien dann aber an dem Vorschlag Gefallen zu finden. So wurde ich ihn los. Sein Name war Nicolo Barbaro. Er lud mich noch ein, ihn auf seinem Schiff zu besuchen und auch ein vorurteilsfreies griechisches Mädchen mitzubringen.

    Zwei Stunden lang musste ich in der Kirche warten, und die Zeit wurde mir lang. Aber niemand beachtete mich, solange ich mich in der Kirche aufhielt. In Konstantinopel hat die Zeit ihre Bedeutung bereits verloren. Die vor den Ikonen betenden Frauen hatten sich dieser Welt entzogen und waren wie in Trance. Kehrten sie daraus zurück, blickten sie um sich, als wären sie aus einem Traum hochgeschreckt. Die unsagbare Melancholie der sterbenden Stadt kehrte in ihre Augen zurück. Sie verschleierten wieder ihr Gesicht und verließen die Kirche mit zu Boden geneigtem Blick.

    Nach der nasskalten Luft draußen war es in der Kirche warm. Nach altrömischer Art lagen unter dem Fußboden Heißluftkanäle. Auch aus meinem Innern wich die Kälte. Die Anspannung des Wartens ließ mich nach langer Zeit wieder beten. Vor der Altarwand kniete ich nieder und betete in meinem Herzen:

    »Heiliger, allmächtiger Gott, der Du in Deinem Sohne auf uns unbegreifliche Weise im Fleische auf die Welt gekommen bist, um uns von unseren Sünden reinzuwaschen, erbarme Dich meiner! Hab Erbarmen mit mir in meinem Zweifeln und meinem Unglauben, von dem mich weder Dein Wort, noch die Schriften der Kirchenväter noch irgendwelche weltliche Philosophie haben heilen können. Nach Deinem Willen hast Du mich auf Wanderschaft geschickt und mich von allen Deinen Gaben kosten lassen: von Weisheit und Dummheit, Armut und Reichtum, Herrschaft und Sklaverei, Leidenschaft und Sanftmut, Begierde und Mäßigung, Schreibfeder und Schwert; aber nichts, nichts hat mir Heilung gebracht. Von Verzweiflung zu Verzweiflung triebst Du mich in meiner Schuld, gleichwie ein erbarmungsloser Jäger das erschöpfte Tier, bis ich mir keinen anderen Rat wusste, als mein Leben für Dich zu wagen. Doch selbst dieses Opfer wolltest Du nicht von mir annehmen. Was also willst Du von mir, heiliger, unbegreiflicher Gott?«

    Aber da ich so betete, fühlte ich, dass der ungebrochene Stolz meiner Seele meine Gedanken überwältigt hatte, und ich schämte mich und betete von Neuem in meinem Herzen mit diesen Worten:

    »Du der Du bist, erbarme Dich meiner! Vergib mir meine Sünden, nicht meiner Verdienste wegen, sondern aus Gnade, und erlöse mich von meiner furchtbaren Schuld, bevor ich ganz zermalmt werde.«

    Doch nachdem ich so gebetet hatte, war ich wieder kalt – kalt und glühend wie ein Klumpen Eis. Ich fühlte Kraft in meinen Gliedern, mein Nacken war unbeugsam, und das erste Mal seit Jahren genoss ich meiner und meines Daseins. Ich liebte, und ich harrte ihrer; alles Vergangene zerfiel hinter mir zu Asche, so als hätte ich vorher nie geliebt und geharrt. Nur als bleicher Schatten stand in meiner Erinnerung noch das Mädchen aus Ferrara, das Perlen im Haar trug und das im Garten der Philosophie mit einem aus Goldstäben geflochtenen Vogelkäfig einherwandelte und dabei ihren weißen Arm hob, als trüge es eine Leuchte vor sich her, um damit den Weg zu erhellen.

    Dann später. Ich hatte den Leichnam eines Unbekannten begraben, dem die Füchse im Wald das Gesicht weggefressen hatten. Er war bei mir erschienen, um sich seine Gürtelschnalle wiederzuholen. In einem verteerten Schuppen hatte ich Pestkranke gepflegt, weil die endlosen Disputationen und Streitereien um die Buchstaben des Glaubens mich zur Verzweiflung getrieben hatten. Auch sie war verzweifelt, jenes schöne, unerreichbar scheinende Mädchen. Ich hatte ihr die pestverseuchten Kleider ausgezogen und sie im Ofen in der Stube des Salzhändlers verbrannt. Danach hatten wir beieinandergelegen und uns gegenseitig gewärmt, obwohl ich geglaubt hatte, dass solches mir nicht widerfahren könnte. Sie war die Tochter eines Herzogs, ich nur ein Übersetzer in Papst Eugens Kanzlei. Das war bald fünfzehn Jahre her. Und nichts rührte sich mehr in mir, wenn ich an sie dachte. Ich musste in meinem Gedächtnis suchen, um mich wenigstens ihres Namens erinnern zu können. Beatrice. Ihr Vater bewunderte Dante und las französische Ritterromane. Er hatte nicht nur seinen Sohn, sondern auch seine Gemahlin wegen Ehebruchs hinrichten lassen, schlief aber heimlich mit seiner Tochter. Einst in Ferrara. Deshalb war ich dem Mädchen aus dem Garten dann im Schuppen bei den Pestkranken wiederbegegnet.

    Eine Frau, die ihr Gesicht unter einem perlenverzierten Schleier bedeckt hielt, trat in der Kirche neben mich. Sie war fast von meiner Größe. Wegen der Kälte war sie in einen Pelzumhang gehüllt. Ich spürte Hyazinthenduft. Sie war gekommen, meine Liebe.

    »Dein Gesicht«, bat ich. »Zeig mir dein Gesicht, damit ich glauben kann, dass du wahrhaftig vor mir stehst.«

    »Ich handle unrecht«, sagte sie. Sie war ganz bleich, und ihre braunen Augen hatten Angst vor mir.

    »Was ist unrecht, was ist recht?«, fragte ich. »Wir leben am Ende der Zeiten. Was hat es noch für eine Bedeutung, was wir tun?«

    »Du bist Lateiner«, sagte sie anklagend. »Einer, der ungesäuertes Brot isst. Nur ein Lateiner kann so sprechen. Was recht und was unrecht ist, spürt man in seinem Herzen. Das wusste schon Sokrates. Du aber treibst Spott wie Pilatus, als er die Frage stellte, was Wahrheit sei.«

    »Bei Christi Wunden«, schwor ich. »Willst du mich Philosophie lehren, Weib? Wahrlich, wüsste ich es nicht schon, ich würde sagen: Du bist eine Griechin!«

    Sie schluchzte auf vor Furcht und Erregung.

    Ich ließ sie weinen, damit sie sich beruhige, denn sie fürchtete sich so sehr, dass sie die ganze Zeit zitterte, obwohl es in der Kirche warm war und sie einen wertvollen Pelzumhang trug. Sie war gekommen; sie weinte meinetwegen und ihrer selbst wegen. Brauchte ich ein besseres Zeichen dafür, dass ich ihr Gemüt erschüttert hatte, so wie auch sie gleich einem Erdbeben alle Gräber meines Herzens aufgewühlt hatte?

    Schließlich legte ich ihr die Hand auf die Schulter und sprach: »Alles ist bedeutungslos geworden: Leben, Wissen, Philosophie, auch Religion. Alles gerät in Brand, brennt eine Weile lichterloh und erlischt dann. Seien wir beide erwachsene Menschen, die einander durch ein Wunder an ihren Augen erkennen und unverblümt miteinander reden können. Ich bin nicht gekommen, um mit dir einen Streit anzufangen.«

    »Weshalb bist du dann gekommen?«, fragte sie.

    »Ich liebe dich«, sagte ich.

    »Obwohl du nicht weißt, wer ich bin, obwohl du mich nur ein einziges Mal gesehen hast?« warf sie ein. Ich breitete die Arme aus. Was hätte ich auch darauf sagen sollen? Sie senkte den Blick zu Boden, begann wieder zu zittern und sagte dann: »Ich war mir gar nicht sicher, ob du kommen würdest.«

    »Oh du, meine Liebe«, sagte ich, denn eine schönere Liebeserklärung hatte ich aus dem Munde einer Frau noch nie vernommen. Und wieder begriff ich, wie unsagbar wenig man mit Worten erklären kann. Dennoch glauben die Menschen, kluge und auch gelehrte Menschen, sie könnten sogar das Wesen Gottes in Worte fassen.

    Ich streckte beide Hände nach ihr aus. Ohne Zögern ließ sie es geschehen, dass ich ihre kalten Hände in die meinen nahm. Ihre Finger waren schmal und kräftig, aber es war mit diesen Händen nie gearbeitet worden. Wir standen lange so da, Hand in Hand, und blickten uns an. Worte hatten wir nicht nötig. Ihre traurigen braunen Augen gingen hin und her, während sie auf mein Haar, meine Stirn, die Wangen, Kinn und Hals blickten, so als wollte sie, von unstillbarer Neugier getrieben, sich jeden meiner Züge genau ins Gedächtnis einprägen. Mein Antlitz war windgegerbt, vieles Fasten hatte mir die Wangen ausgezehrt, in meine Mundwinkel hatten sich tiefe Furchen der Enttäuschung eingegraben, und in meine Stirn hatten die Gedanken Falten eingeprägt. Doch schämte ich mich meines Antlitzes nicht. Es war wie eine Wachstafel, die das Leben selbst mit kraftvoll geführtem Griffel vollgeschrieben hatte. Gern ließ ich sie die Schrift in meinem Gesicht lesen.

    »Ich will alles über dich wissen«, sagte sie und drückte meine knochigen Finger. »Du scherst dir das Kinn. Das lässt dich fremdartig und furchterregend aussehen wie einen lateinischen Priester. Bist du ein Gelehrter? Oder vielleicht Soldat?«

    »Ich bin von Land zu Land gewandert, und aus dem einen Stand verschlug es mich in einen anderen, gleich einem Funken im Winde«, sagte ich. »Auch in meinem Herzen bin ich gewandert, hoch und nieder. Die Philosophie habe ich erforscht, den Nominalismus und Realismus, auch die Schriften der Alten. Der Worte überdrüssig geworden, habe ich die Begriffe in Buchstaben und Zahlen gefasst wie Raymundus. Aber zur Klarheit bin ich nicht gelangt. Deshalb wählte ich Schwert und Kreuz.«

    Nach einer Weile sprach ich weiter: »Eine Zeit lang war ich sogar Kaufmann. Ich erlernte die doppelte Buchführung, die auch den Reichtum nur als Trugbild entlarvt. In unserer Zeit ist Reichtum zu einer Schrift auf dem Papier geworden, genauso wie die Philosophie und die heiligen Mysterien.«

    Ich zögerte und sagte dann mit leiserer Stimme: »Mein Vater war Grieche, aber aufgewachsen bin ich im Avignon der Päpste.«

    Sie zuckte zusammen und ließ meine Hände los, als wäre sie vor etwas erschrocken. »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte sie. »Würdest du dir einen Bart wachsen lassen, dann sähe dein Gesicht griechisch aus. Ob du mir wohl nur deshalb vom ersten Augenblick an so vertraut vorgekommen bist, als hätte ich dich schon früher gekannt und als suchte ich unter dem jetzigen dein früheres Antlitz?«

    »Nein«, sagte ich, »nicht deshalb.«

    Sie schaute sich vorsichtig um und zog sich den Schleier über Kinn und Mund. »Erzähl mir alles über dich«, bat sie. »Aber lass uns dabei umhergehen und so tun, als sähen wir uns die Kirche an, damit wir keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Es könnte mich jemand erkennen.«

    Vertraulich legte sie mir die Hand auf den Arm, und wir machten uns auf einen Rundgang durch die Kirche, wobei wir die Kaisergräber, Ikonen und silbernen Reliquienschreine betrachteten. Unsere Schritte glichen einander an. Mir war, als hätte eine feurige Feder meinen Leib gestreift, als sie mit der Hand meinen Arm berührte. Aber mein Schmerz war süß. Flüsternd fast begann ich zu erzählen:

    »Die Kindheit ist meinem Gedächtnis entschwunden. Sie gleicht einem Traum, und ich weiß nicht mehr sicher, was daran Einbildung ist und was Wirklichkeit. Aber wenn ich vor den Mauern Avignons und am Flussufer mit den anderen Knaben spielte, hielt ich ihnen lange Predigten auf Griechisch und Latein. Ich habe wohl viel auswendig gelernt, was ich selbst noch nicht verstand, weil ich meinem Vater oft tagelang aus seinen Büchern vorlesen musste, nachdem er erblindet war.«

    »Erblindet?«, fragte sie.

    »Er machte eine weite Reise, als ich acht oder neun Jahre alt war«, sagte ich, in meiner Erinnerung forschend. »Ich hatte all dies aus meinem Gedächtnis verbannt, so als hätte ich es gar nicht erlebt, aber nun kehren die Schrecken meiner Kindheit mir ins Gedächtnis zurück wie ein böser Traum. Ein Jahr lang war er fort. Bei der Heimkehr geriet er Räubern in die Hände. Sie blendeten ihn, damit er sie nicht wiedererkennen und kein Zeugnis gegen sie ablegen könnte.«

    »Sie blendeten ihn?«, fragte sie, und ihre Stimme zeigte Befremden. »In Konstantinopel werden nur gestürzte Kaiser geblendet oder Söhne, die einen Aufstand gegen ihren Vater angezettelt haben. Diese Sitte haben auch die türkischen Herrscher von uns übernommen.«

    »Mein Vater war Grieche«, sagte ich noch einmal. »In Avignon kannte man ihn als Andronikos den Griechen und in den letzten Jahren nur als den Blinden Griechen.«

    »Was hat deinen Vater ins Land der Franken verschlagen?«, fragte sie verwundert.

    »Das weiß ich nicht«, sagte ich, obwohl ich es wusste. Aber das war mein Geheimnis. »Er verbrachte sein ganzes Leben in Avignon. Ich war dreizehn, als er, der Blinde, an einem Abhang hinter dem päpstlichen Palast ausrutschte und sich das Genick brach. Du fragtest nach meiner Kindheit. Als Kind hatte ich oft Engelsvisionen, die ich für die Wirklichkeit hielt. Auch heiße ich ja Johannes Angelos. Ich selbst erinnere mich kaum daran, aber all das wurde mir vor Gericht als Schuld angerechnet.«

    »Vor Gericht?« Sie runzelte die Stirn.

    »Sie verurteilten mich, den dreizehnjährigen Knaben, wegen Mordes an meinem Vater«, sagte ich steif. »Man bewies zwingend, dass ich meinen blinden Vater an den Abhang geführt und ihn dann hinabgestoßen hätte, um an sein Vermögen zu kommen. Augenzeugen gab es nicht. Deshalb geißelte man mich, um mir ein Geständnis zu entlocken. Das Urteil lautete schließlich auf Räderung, Vierteilung und Verbrennung. Dreizehn Jahre alt war ich damals. So sah meine Kindheit aus.«

    Rasch griff sie nach meiner Hand, blickte mir in die Augen und sagte: »Deine Augen sind keine Mörderaugen. Erzähl mir alles. Das erleichtert.«

    »Ich habe seit Jahren nicht mehr an all das gedacht«, sagte ich. »Ich habe kein Bedürfnis verspürt, irgendjemandem etwas davon zu erzählen. Ich hatte alles aus meiner Erinnerung verbannt. Dir aber davon zu erzählen, fällt mir leicht. Es ist lange her … Jetzt bin ich vierzig. Viele Leben habe ich seither gelebt. Aber meinen Vater habe ich nicht getötet. Vielleicht war er streng und reizbar und schlug mich auch, aber in seinen besten Stunden war er gut zu mir. Ich liebte ihn; er war ja mein Vater. Von meiner Mutter weiß ich nichts. Sie starb bei meiner Geburt, und dabei umklammerte ihre Hand vergeblich einen Wunderstein, der ihr Genesung bringen sollte.«

    »Nach seiner Erblindung war mein Vater des Lebens überdrüssig geworden«, fuhr ich fort. »Zu diesem Schluss kam ich als Erwachsener. An jenem Abend sagte er mir, ich solle mir keine Sorgen machen, was auch immer geschähe. Er besitze viel Geld, nicht weniger als dreitausend Goldstücke, und sie seien bei Gerolamo, dem Goldschmied, in Verwahrung. Er habe sein Testament gemacht, zu meinen Gunsten, und Gerolamo als meinen Vormund eingesetzt, bis ich sechzehn Jahre alt würde. Es war im Frühjahr. Dann bat er mich, ihn an den Abhang hinter der Burg zu führen. Er wolle dem Rauschen des Windes und dem Flügelschlag der aus dem Süden zurückkehrenden Vogelschwärme lauschen. Und er sagte, er wolle dort Engel treffen. Deshalb hieß er mich, ihn an dem Abhang alleinzulassen und erst später rechtzeitig vor der Abendmesse wiederzukommen.«

    »Dein Vater war vom griechischen Glauben abgefallen?«, warf sie sogleich schroff ein. Sie war eben eine Tochter Konstantinopels.

    »Er pflegte zur Messe zu gehen, beichtete, empfing das Abendmahl nach lateinischer Weise und kaufte Ablässe, um dem Fegefeuer zu entgehen«, sagte ich. »Es kam mir nie in den Sinn, dass er etwas anderes hätte glauben können als die anderen. Er gehe, um Engel zu treffen, sagte er, und dann fand ich ihn leblos unten am Abhang. Er war des Lebens müde geworden, ein blinder und unglücklicher Mann.«

    »Aber wie kam man dazu, dich zu beschuldigen?«

    »Alles wurde mir als Schuld angelastet«, sagte ich, »alles und jedes. Ich sei angeblich geldgierig. Als ich berichtete, mein Vater sei losgegangen, um Engel zu treffen, glaubten sie, ich hätte mir Lügen über Fremde ausgedacht, mit denen sich mein Vater angeblich an dem Abhang getroffen habe. Doch am fraglichen Tage war in der Stadt niemand von auswärts gesehen worden. Und der Goldschmied Gerolamo sagte am eifrigsten gegen mich aus. Er habe mit eigenen Augen gesehen, wie mein Vater mich züchtigte und ich meinem Vater in die Hand gebissen habe. Und Geld habe er auch keines mehr in Verwahrung, das seien nur übertriebene Hirngespinste des Blinden gewesen. Eine geringe Summe sei zwar bei ihm deponiert gewesen, als mein Vater erblindete, aber die sei schon vor Zeiten zu seinem Unterhalt aufgebraucht worden. Nur aus Mitleid mit dem Blinden habe er, der Goldschmied Gerolamo, nachdem das Geld verbraucht war, unserem Haus von seinem Landgut allerlei Nötiges zukommen lassen. Der blinde Grieche habe sich ja mit wenigem begnügt und häufig gefastet. Diese Unterstützung sei aber keinesfalls als Zinszahlung für die von dem Blinden phantasierten Geldsummen aufzufassen, sondern sie sei aus purer Barmherzigkeit erfolgt. Außerdem wäre ja die Hinterlegung von Geld gegen Zinsen für beide Beteiligten eine schwere Sünde gewesen. Um aber seinen guten Willen zu demonstrieren, versprach Gerolamo, zum Gedächtnis an meinen Vater der Kirche silberne Kerzenständer zu schenken, obgleich seine Rechnungsbücher klar erwiesen, dass mein Vater sich bei ihm im Lauf der Jahre hoch verschuldet habe. Zur Abzahlung dieser Schuld erklärte sich der gute Mann bereit, meines Vaters Bücher an sich zu nehmen, auch wenn die sowieso niemand lesen könne … Ich langweile dich wohl?«

    »Du langweilst mich nicht«, sagte sie. »Aber erzähl doch, wie du gerettet wurdest und mit dem Leben davonkamst.«

    »Ich war der Sohn des blinden Griechen, ein Fremdling«, sagte ich. »Deshalb trat niemand zu meiner Verteidigung auf. Als aber der Bischof von den dreitausend Goldstücken erfuhr, forderte er, ich müsse vor ein kirchliches Gericht gestellt werden. Als Vorwand dienten die Visionen, die ich hatte, als man mich geißelte. Denn ich wurde vor Schmerzen wahnsinnig und fabelte wieder etwas von den Engeln, so wie schon früher als Kind. In dem weltlichen Gerichtsprozess war dieser theologische Aspekt kaum berührt worden; man trug mich in den Akten nur als geistesgestört ein. Dadurch, dass man mich mit Fesseln an die Turmwand ankettete und mich jeden Tag geißelte, meinten die weltlichen Richter durchaus in der Lage zu sein, mir mit eigenen Kräften den Dämon auszutreiben, bevor ich aufs Rad geflochten werden sollte. Aber wegen des Geldes komplizierte und verzögerte sich alles, und der Prozess, der der gegen mich wegen Vatermordes eröffnet wurde, entwickelte sich zu einer Streitsache zwischen der weltlichen und der kirchlichen Gerichtsbarkeit. Es ging um die Gerichtsgewalt, also darum, welche von beiden Instanzen das Recht hätte, mich zu verurteilen und die Hinterlassenschaft meines Vaters zu beschlagnahmen.«

    »Aber wie wurdest du gerettet?«

    »Ich weiß es nicht«, musste ich zugeben, denn so war es. »Ich will nicht behaupten, Engel hätten mich gerettet, aber eines Tages zerschlug man meine Ketten, ohne mir einen Grund dafür anzugeben, und früh am nächsten Morgen bemerkte ich, dass die Tür des Turmes nicht verschlossen war. Ich ging hinaus. Als ich aus dem Dunkel trat, war ich lange Zeit ganz geblendet. Am westlichen Stadttor begegnete ich einem umherziehenden Krämer, der mich fragte, ob ich ihm folgen wolle. Es war, als hätte er mich schon erwartet, denn er schien mich zu kennen und fragte mich mit unverhohlener Neugier nach meinen Visionen aus. Im Walde holte er aus einem Sack, den er unter seinem Kram hervorzog, ein Buch. Es enthielt die vier Evangelien in französischer Übersetzung. Auf diese Weise kam ich zu den Brüdern des freien Geistes. Vielleicht hatten gerade sie mich befreit, denn ihnen gehören auch solche an, von denen man es nicht ahnen würde.«

    »Die Brüder des freien Geistes?«, fragte sie verwundert. »Was sind das für Leute?«

    »Ich will dich nicht langweilen«, sagte ich ausweichend. »Ich erzähle es dir ein anderes Mal.«

    »Woher willst du wissen, dass wir uns noch einmal treffen?«, fragte sie. »Es ist sehr schwer für mich, ein Treffen mit dir zustande zu bringen, schwieriger, als du vielleicht denkst, als Lateiner, der die freizügigen Sitten des Westens kennt. Selbst eine Türkin kann man leichter treffen als eine Griechin, jedenfalls, wenn man den türkischen Märchen glauben darf.«

    »In ihren Geschichten siegt ja weibliche List stets über die Klugheit ihrer Bewacher«, sagte ich. »Lies nur fleißig solche Geschichten. Vielleicht kannst du daraus etwas lernen.«

    »Du«, sagte sie, »du! Du bist natürlich höchst gelehrt und erfahren …«

    »Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein«, sagte ich. »Ich habe mich im Serail des Sultans noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt.«

    »Wenn du meinst, ich sei eifersüchtig, dann hältst du allzu große Stücke auf dich«, herrschte sie mich mit zornrotem Gesicht an. »Und außerdem: Kann ich wissen, ob du nicht, wie die anderen Franken auch, den Frauen nachstellst? Vielleicht bist du wie sie nur darauf aus, die Bekanntschaft einer allzu neugierigen Frau zu machen, um dich dann später auf den Schiffen und in den Hafenschenken mit deiner vornehmen Eroberung zu brüsten.«

    »Aha, so ist das also!«, sagte ich und drückte ihr heftig das Handgelenk. »Solche Bekanntschaften hast du also mit den Franken geschlossen! Dass du so eine bist … Doch sei unbesorgt: Ich kann schweigen. Ich habe mich nur in dir geirrt. Deshalb wird es wohl das Beste sein, wenn wir uns nicht wiedersehen. Sicher findest du unter den Lateinern bald einen Kapitän oder Offizier, der dir statt meiner Gesellschaft leistet.«

    Da riss sie ihre Hand los von mir und rieb sich das Handgelenk. »Ja«, sprach sie, »es ist wirklich das Beste, wenn wir uns nicht mehr sehen.« Sie atmete schwer und sah mich mit wütenden Augen an, den Kopf stolz hochgereckt. »Kehr nur in den Hafen zurück«, stichelte sie. »Dort gibt es leichtere Frauen für dich in Hülle und Fülle. Lass dich volllaufen mit Wein, such Streit und randaliere nach Frankenart. Du wirst sofort eine finden, die dich tröstet. Und nun geh mit Gott!«

    »Auch du geh mit Gott«, sagte ich, genauso maßlos wütend.

    Erregt schritt sie über den Marmorfußboden, der glatt wie Glas war. Ihr Gang war schön. Ich schluckte und spürte den Geschmack von Blut in meinem Mund. So heftig biss ich mir auf die Lippen, um sie nicht zurückzurufen. Dann verlangsamten sich ihre Schritte. Als sie bis zur Tür gekommen war, konnte sie es nicht unterlassen, sich umzublicken. Als sie sah, dass ich regungslos dastand und nicht die Absicht hatte, ihr hinterherzulaufen, erzürnte sie dies so sehr, dass sie auf der Stelle kehrtmachte, im Laufschritt zurückkam und vor mir stehen blieb, um mir einen Backenstreich zu geben. Das klang mir in den Ohren, und die Wange wurde mir heiß, aber mein Herz jubelte. Sie hatte mich nämlich nicht ohne Überlegung geschlagen, sondern sich vorher verstohlen umgeblickt, damit es niemand sähe.

    Ich wies sie nicht ab und sagte kein Wort. Sie wartete eine Weile, drehte sich wieder um und entfernte sich. Ich stand regungslos da und sah ihr nach. Noch während sie ging, begann sie an meinem Willen zu zweifeln, verlangsamte ihre Schritte, blieb stehen. Dann drehte sie sich um und kam zu mir zurück. Sie lächelte schon. Ihre braunen Augen strahlten vor Heiterkeit.

    »Ich bitte um Verzeihung, lieber Herr«, sagte sie. »Sicher habe ich eine schlechte Erziehung genossen, aber jetzt bin ich schon ganz beschämt. Ich habe leider kein türkisches Märchenbuch. Vielleicht könntest du mir eines leihen, damit ich lerne, wie weibliche List die männliche Klugheit besiegt.« Sie ergriff meine Hand, küsste sie und legte sie sich auf die Wange. »Spürst du, wie heiß meine Wangen sind?«

    »Komm mir nicht so«, warnte ich. »Außerdem ist meine Wange heißer. List und Tücke brauchst du auch nicht zu lernen. Die Türken werden dir nichts mehr beibringen können.«

    »Wie konntest du es zulassen, dass ich ging, ohne dass du mir hinterherliefst?«, fragte sie.« Du hast mich als Frau tief gekränkt.«

    »Noch ist alles nur Spiel«, sagte ich, und mir ward heiß vor Augen. »Noch hast du die Möglichkeit, dich zurückzuziehen. Ich bedränge dich nicht. Ich folge deiner Spur nicht. Du kannst selbst wählen.«

    »Ich habe ja gar keine Wahl mehr«, widersprach sie. »Die hatte ich vielleicht noch, als ich dir die paar Worte schrieb. Ich habe wohl schon die Wahl getroffen, als ich dich am Tor der Sophienkirche nicht abwies. Als du mir in die Augen schautest. Ich kann nun wohl nicht mehr zurück, selbst wenn ich es wollte. Aber mach es mir nicht zu schwer.«

    Als wir zusammen die Kirche verließen, gingen wir Hand in Hand. Sie erschrak, als sie sah, dass es bereits dämmerte. »Wir müssen voneinander scheiden«, sagte sie. »Sofort.«

    »Darf ich dich nicht noch ein Stück begleiten?«, fragte ich. Ich konnte nicht anders.

    Und sie konnte es mir nicht versagen, so gefährlich es auch war. Während die Dämmerung sich über die grünen Kuppeln der Kirchen legte und die Lichter vor den Häusern der Hauptstraße angezündet wurden, gingen wir nebeneinander her, und mir hinterher schlich ein magerer gelber Hund, der mir aus irgendeinem Grunde zugelaufen war. Er hatte mich von meinem Haus bis zur Apostelkirche begleitet und mich frierend zurückerwartet, als ich aus der Kirche kam.

    Sie bog nicht nach Blachernae ab, wie ich instinktiv erwartet hatte, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Ich zeigte ihr den Hund und sagte zum Spaß: »Wenn ich will, kann ich dir den Hund da nachschicken. Sobald er zurückkommt, zeigt er mir, wo du wohnst. Ich war nicht umsonst Sultan Murads Hundewart.«

    »Erzähl mir davon«, bat sie.

    »Als ich zwanzig Jahre alt geworden, zog Homer mich in seinen Bann«, sagte ich. »Ich verdingte mich als Matrose auf einem genuesischen Schiff, um die uralten Ruinen von Troja zu sehen. Mein ganzes Leben, solange ich mich erinnern kann, habe ich mich von Westen nach dem Osten gesehnt. Mein Blut, meine Herkunft, alles in mir zieht mich hierher. Auf dem Schiff transportierte man Hunde, die der Herzog von Mailand dem Sultan Murad zum Geschenk machen wollte. Als Herrscher von Genua war er auch Herr über Pera und somit abhängig von guten Beziehungen zum Sultan. Der größte der Hunde, eine richtige graue Bestie, gewann mich lieb und begann mir zu gehorchen, sodass man ihn nicht mehr im Käfig zu halten brauchte. Als wir das Griechische Meer durchsegelt hatten und uns der Küste näherten, wiesen mir die Seeleute auf die Ruinen von Troja, die Alexander der Große wieder hat aufrichten lassen. In der Nacht, bevor wir Tenedos passiert hatten, sprang ich vom Schiff ins Meer, um ans Ufer zu schwimmen. So innig war mein Verlangen, auf demselben Boden zu wandeln wie die Helden Homers, wie Achill und Odysseus. Der Hund sprang ebenfalls ins Meer und schwamm mir nach, obgleich ich es verhindern wollte. Es war Sommer, und das Wasser war warm. Ach, wenn ich an jenen ersten Morgen zurückdenke und die Finger der Morgendämmerung über den blauen Hügeln, als meine Füße das asiatische Ufer betraten! Aber der Hund rettete mich. Sonst hätten die Türken mich wohl gefangen genommen und versklavt, da sie sofort begriffen, dass ich von einem Schiff entflohen war.«

    »Du hast viele Abenteuer erlebt«, warf sie ungläubig ein.

    »Für mich waren es keine Abenteuer, als ich sie erlebte«, entgegnete ich. »Sie waren eben mein Leben. Wissensdurst hat mich getrieben, nicht Abenteuerlust. Aber ich hatte Glück, das gebe ich zu. Die Vorsehung hat mich so oft beschützt, dass ich mich allmählich zu fragen beginne: warum eigentlich? Was für einen geheimnisvollen Grund hat es, dass ich immer überlebte, während die anderen um mich herum starben? Pest und Krieg habe ich überstanden, obwohl ich fest entschlossen war, ihnen mein Leben zu opfern.«

    »Erzähl noch von dem Hund«, bat sie neugierig.

    »Ich durchstreifte also die Ruinen von Alexanders Troja, und der große graue Hund blieb mir dabei treu auf den Fersen«, berichtete ich. »Ich sah die zerborstenen Säulen und die Lorbeerbüsche und die von wildem Wein umrankten Mauern. Ich sah halb in die Erde versunkene Statuen. Die türkischen Hirten hatten ihnen ihres Glaubens wegen die Gesichter zerschlagen. Der Islam duldet keine Bilder. Aber das war noch nicht das richtige Troja. Ohne Hunger oder Erschöpfung zu verspüren, wanderte ich an den Ufern entlang, bis ich den Fluss Skamandros fand. Dort, bedeckt von den staubigen Hügeln der Ebene, lag Troja. Dort traf ich auch auf türkische Hirten. Sie lebten auf den Rücken ihrer Pferde und wohnten in Zelten, und ihre Frauen bedeckten das Gesicht nicht. Aber sie fürchteten sich vor meinem Hund und hätten ihn mit ihren Pfeilen getötet, hätte ich ihnen nicht zu verstehen gegeben, dass es sich um den Hund ihres Emirs handelte. Da verbeugten sie sich vor dem Tier bis zur Erde und berührten sich dabei an Stirn und Brust. Wegen des Hundes gaben sie mir auch zu essen und behandelten mich gut.«

    »Meine Wanderung dauerte nicht lange«, fuhr ich fort, »und Konstantinopel bekam ich damals auch noch nicht zu sehen, obwohl ich es gehofft hatte. Es herrschte Frieden im Lande, und Sultan Murad hielt sich damals gerade in Magnesia auf, um den Bau seines Palastes und seiner Lusthäuser zu überwachen. Später ließ er sich dort auch nieder, nachdem er zweimal versucht hatte, der Macht zu entsagen und seinem Sohn Mehmed die Regierung zu übertragen. Aber der war damals noch zu jung, um die Herrschaft in seinen Händen halten zu können. Ich wurde wohlbehalten nach Magnesia gebracht, und Sultan Murad empfing mich, hörte sich meine Geschichte an und ließ mir als Geschenk einen Beutel Silber-Asper anweisen. Ich log natürlich und sagte, der Hund sei ins Meer gesprungen, und ich sei ihm nachgeschwommen, um dem Sultan dieses wertvolle Geschenk zu sichern. Der Hund aber wollte nicht von mir lassen. Er wurde furchtbar wild, als ich versuchte, mich zu entfernen, und man musste ihn wieder in einen Käfig sperren.«

    »Du spinnst mir hier doch wohl kein Seemannsgarn?«, fragte sie ungläubig. »Wie bist du dann in die Länder der Lateiner zurückgekehrt?«

    Ihr Misstrauen verdross mich. »Wir sprachen von Hunden«, sagte ich. »Nur um von dem Hund zu erzählen, habe ich damit angefangen. Du hast mich selbst darum gebeten. Aber vielleicht hatte ich auch anderes in Asien zu tun, als die Ruinen von Troja aufzusuchen. Ich ging zu den Torlak-Derwischen, und sie brachten mich zu einer venezianischen Factoria. Dort gab es Schiffe, und meine Überfahrt nach Venedig habe ich selbst bezahlt.«

    Als ich merkte, dass sie nicht verstand, was

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