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Die Mauern des Schweigens
Die Mauern des Schweigens
Die Mauern des Schweigens
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Die Mauern des Schweigens

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Wir schreiben das Jahr 1993, Friedrich Gontard ist im Ruhestand. Als eine Leiche in einem barocken Kostüm auf dem Heidelberger Philosophenweg gefunden wird, wird der ehemalige Ludwigshafener Kripochef wieder aktiv. Kurz zuvor war bei Gontards Ex-Kollegen Melzer ein anonymer Brief in altertümlichem Deutsch eingegangen. Daraufhin hatte er seinen alten Freund hinzugebeten. Auch Lilli, Gontards Tochter, kann helfen: Sie studiert Geschichte und kann Querverweise zu Liselotte von der Pfalz ziehen, mit deren Leben sie sich beschäftigt.
Zwei weitere »Liselotte«-Briefe gehen ein und im Schwetzinger Schlossgarten ereignet sich ein weiterer Mord. Ist eine Serie denkbar? Fragen nach Täter und Opfer, nach Schuld und Unschuld stellen die Kommissare vor Rätsel.
Gekonnt spielt Lilo Beil in ihrem fünften Gontard-Krimi mit den verschiedenen Zeitebenen vom Barock bis in die Gegenwart - und lässt fromme und weniger fromme Kreise in den Fokus der Ermittlungen rücken.
LanguageDeutsch
PublisherConte Verlag
Release dateMar 2, 2015
ISBN9783956020391
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    Die Mauern des Schweigens - Lilo Beil

    »Ich wäre erstickt, wenn ich dieses nicht gesagt hätte.«

    Liselotte von der Pfalz, an die Kurfürstin Sophie, Versailles, 17. August 1710

    Dorine: »Er gilt als Heiliger in Ihrer Fantasie, doch sein ganzes Tun, glauben Sie mir, ist nichts als Heuchelei.«

    aus Tartuffe von Jean-Baptiste Molière, 1669, Akt I, Szene 1

    1. Kapitel

    Der Philosophenweg

    Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, überquerte sie die Brücke, die vom Karlstor zur Ziegelhäuser Landstraße führte. Das Wasser unter ihr ergoss sich zischend und schäumend über dem Stauwehr. Nach der Brücke bog sie links ab und ging dann kurz vor der Villa mit den bunten Ziegeln die Hirschgasse hoch. Sie hätte auch den Schlangenweg wählen können, aber alles in ihr sträubte sich dagegen. Nein. Nicht den Schlangenweg.

    Sie blickte sich um. Auf der anderen Seite des Flusses thronte das Schloss in seiner morbiden Schönheit inmitten der Wälder, die sich herbstlich zu verfärben begannen. Die Blumen in den Gärten der Villen blühten noch einmal in voller Pracht, als wüssten sie um ihre eigene Vergänglichkeit und den herannahenden Tod der Natur.

    Der Herbst war immer schon meine liebste Jahreszeit, dachte sie. Wie schön wäre es, im Herbst zu sterben.

    Sie kämpfte sich weiter den steilen Weg hoch, vorbei am Hotel zur Hirschgasse. So mühsam hatte sie sich den Aufstieg nicht vorgestellt. Was würde sie dort oben erwarten? Es war verrückt, einem anonymen Brief zu folgen, der in altertümlichem Deutsch verfasst war. Doch die Versicherung am Ende des Briefes, sie würde es nicht bereuen, zu dieser Stelle am Philosophenweg gekommen zu sein, hatte den Ausschlag gegeben.

    Sie würde niemandem erzählen, dass sie einen anonymen Brief ernst genommen hatte. Man würde ihr sowieso nicht glauben, wie man ihr nie geglaubt hatte, die Eltern nicht, nicht ihre Lehrer und nicht ihre Klassenkameraden.

    Träumerin. Du lebst in Wolkenkuckucksheim, so hieß es mehr als einmal, und vielleicht stimmte es auch. Man hatte ihr nicht geglaubt, damals, und sie der Lüge bezichtigt.

    Der Schleier des Vergessens war über die längst vergangenen Dinge gezogen worden, doch der Schleier war nicht dicht genug, um alles für allezeit zu verdecken. Schemenhaft zeigten sich dann und wann Schatten, grotesk verzerrt, dann wieder Dunkelheit. Und es war gut so, sie ließ es geschehen.

    Hinter dem Tor der letzten Villa vorm Wald stand ein schwarzweißer Hund und wedelte mit dem Schwanz. Hunde waren schon immer ihre besten Freunde gewesen, und sie schienen dies instinktiv zu spüren. Sie streckte die Hand durch das verschnörkelte Gitterwerk und streichelte dem Hund das Fell, dann ging sie weiter.

    Endlich war sie oben angekommen. An der Hölderlinanlage, die kurz nach der Abzweigung kam, setzte sie sich ein wenig auf die Bank, eine willkommene Verschnaufpause nach dem steilen Aufstieg.

    Friedrich Hölderlin, 1770-1843, stand auf dem Stein.

    Sie las laut die Anfangsverse eines der schönsten Gedichte zum Preise Heidelbergs:

    Lange lieb ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust,

    Mutter nennen und dir schenken ein kunstlos Lied,

    Du, der Vaterlandsstädte Ländlichschönste, so viel ich sah.

    Sie erhob sich zögerlich, setzte ihren Weg fort. Nach wenigen Metern blieb sie stehen, gebannt von dem Panorama, das sich ihr bot.

    Unter ihr lag das breite Band des Neckar ausgebreitet, unterbrochen durch den Schwung der Alten Brücke mit seinem weißen Tor und den beiden Rundtürmen, dahinter die Altstadt mit der Heiliggeistkirche, die Alte und die Neue Universität und die Türme der Jesuitenkirche, darüber das Renaissanceschloss aus rotem Stein. Doch sie war keine Touristin heute, es drängte sie weiter zum Ziel, vorbei an Esskastanienbäumen, deren kugelige Früchte bald zu Boden fallen und aufplatzen würden.

    Ein Schild zeigte den Abstieg vom Schlangenweg zur Alten Brücke. Hier wäre sie hochgekommen, doch nein. Sie schauderte.

    Nach einer zweiten Pause mit Ausblick auf Neckarstaden, Marstall und die Stadthalle überlegte sie sich, ob sie nicht lieber umkehren sollte. Ein letzter Blick auf die Silhouette der Stadt unter ihr, die sie so liebte und manchmal hasste. Und mit fast mechanisch anmutenden Schritten ging sie weiter, dem Ungewissen entgegen.

    2. Kapitel

    Alte Freunde

    Alfred Melzer staunte nicht schlecht, als es an der Tür zum Polizeikommissariat klopfte und sein alter Freund Friedrich Gontard eintrat. Mit weit ausgestreckten Armen ging er auf den Besucher zu.

    »Friedrich, welch freudige Überraschung! Was treibt dich hierher? Du hast doch am Ende keine Entzugserscheinungen als Pensionär? Dir fehlen in deiner dörflichen Zurückgezogenheit die Verbrecher, die bösen Jungs und Mädchen, der Nervenkitzel? Da müsste ich dich enttäuschen, hier im Kommissariat herrscht momentan die absolute Flaute. Tote Hose, wie die jungen Leute sagen. Nur Diebstähle, Raufereien, kleinere Delikte. Nichts Sensationelles.«

    »Grüß dich, Alfred. Nein, ich langweile mich nicht in meinem Odenwalddorf, und nach Mord und Totschlag sehne ich mich wirklich nicht zurück. Im Gegenteil. Der Pensionär Gontard schläft ruhiger als damals der Chef der Ludwigshafener Kripo. Aber ich war gerade hier, um nach meiner Tochter Lilli zu schauen. Wir haben uns im Café Schafheutle getroffen. Und da kam mir ganz spontan die Idee, meinem alten Freund eine Stippvisite abzustatten.«

    »Lilli studiert noch hier? Kein Auslandssemester? Das machen die jungen Leute doch alle heutzutage. Meine Sibylle ist gerade für ein Jahr in San Francisco.«

    »Na ja, Lilli möchte irgendwann auch ein Studienjahr in Frankreich einlegen, aber sie ist ja erst im dritten Semester mit Geschichte und Romanistik und will erst einmal die Zwischenprüfungen ablegen. Ach ja, die Kinder. Wie sie flügge werden.«

    »Und Anna?«

    »Ist gerade auf Klassenfahrt in England für zehn Tage. Sie hat ja mit ihren zweiundfünfzig Jahren noch ein bisschen Arbeit bis zur Pensionierung. Aber bei dir tickt die Uhr nun auch. Hast du schon für die Zeit bis zur Pensionierung ein Metermaß aus Plastik, an dem du jeden Tag einen Zentimeter abschneiden kannst?«

    »Nein, aber das ist eine gute Idee. Noch ein Vierteljahr. Und darauf freue ich mich bei dieser Routine, dieser Langeweile momentan. Ich muss das ganz leise sagen«, flüsterte er mit einem Blick in Richtung Nebenzimmer. »Liz soll das nicht hören.«

    »Wer ist Liz?«

    »Liz Schröder. Meine neue Sekretärin. Für sie würde es sich lohnen, noch ein bisschen zu arbeiten. Sie ist wunderschön. Das sage ich eher väterlich, sie könnte ja meine Tochter sein.«

    Wie auf Knopfdruck öffnete sich die Tür, und Liz trat in Alfred Melzers Büro ein. Er hatte nicht übertrieben. Liz machte ihrem Namen alle Ehre, denn sie glich Liz, nämlich Liz Taylor, auf geradezu verblüffende Weise. Das schwarze gewellte Haar, dazu die graublauen Augen mit den geschwungenen Augenbrauen, die hübsche Stupsnase und der volle, dunkelrot geschminkte Mund, der blasse Teint, all dies erinnerte an die junge Liz Taylor, wie man sie aus den Filmen der Fünfziger- oder Sechzigerjahre kannte: Die Katze auf dem heißen Blechdach oder Die tätowierte Rose.

    Sekretärin Liz mochte Anfang bis Mitte dreißig sein, sie war nicht sehr groß und trug hochhackige Schuhe zum eleganten lapislazuliblauen Kostüm, dessen modische überbreite Schulterpolsterung Gontard etwas zum Schmunzeln brachte. Sein Nachbar Ottfried Müller fiel ihm ein, der Annas neues Jackett erst vor kurzem mit den unverblümten Worten kommentiert hatte: »Oh, ein neues Outfit, Frau Gontard? Mit diesen Schulterpolstern sieht die schönste Frau aus wie ein Hasenkasten.«

    Anna hatte über Ottfried Müllers Direktheit gelacht, denn erstens war der Nachbar ein Odenwälder Original, und zweitens war das Ganze im Grunde ein wenn auch gewöhnungsbedürftiges Kompliment für sie gewesen.

    Alfred Melzer stellte ihn seiner Sekretärin vor, dann fragte er: »Der Zettel da, was ist damit?«

    Liz Schröder lachte etwas verlegen, was zu ihrem selbstbewussten Auftreten nicht so recht passen wollte. Sie war eine Frau, die sich ihrer Wirkung auf Männer durchaus bewusst war und ohne Affektiertheit zu ihrer erotischen Ausstrahlung stand.

    »Ein anonymer Brief ist eben mit der Post gekommen. Ein komischer, altmodischer Brief. Und …«

    Sie unterbrach den Satz, und betreten fuhr sie fort: »… ich glaube, das ist eine perverse Person, die das geschrieben hat.«

    Sie überreichte Alfred Melzer den Brief und verschwand wortlos im Nebenraum, als sei es ihr peinlich, beim Vorlesen des Briefs anwesend zu sein.

    Alfred Melzer begann laut zu lesen:

    »Versailles, den 3. Dezember 1705.

    Herzliebe Amelise, vergangenen Samstag habe ich Euer Schreiben vom 19. November empfangen, aber wie Ihr wohl wißt, so kann ich unmöglich gleich Sonntags drauf antworten. Ich bin Euch sehr verobligiert, für meine Gesundheit zu sorgen. Ich bin, Gottlob, gar nicht kränklich und glaube, daß ich meine Gesundheit erhalte, weil ich nicht aus Vorsicht zur Ader lasse noch purgiere, wie andere tun …

    Wo seid Ihr und Luise denn gestocken, daß Ihr die Welt so wenig kennt? Mich deucht, man darf eben nicht lang am Hof sein, ohne sie bald zu kennen; aber wer alle die hassen wollt, so die jungen Kerls lieben, würde hier keine sechs Menschen lieben können oder aufs wenigste nicht hassen. Es seind deren allerhand Gattungen: es seind, die die Weiber wie den Tod hassen und nichts als Mannsleute lieben können; andere lieben Männer und Weiber; andere lieben nur Kinder von zehn, elf Jahren, andere junge Kerls von siebzehn bis fünfundzwanzig Jahren und deren seind am meisten; andere Wüstlinge seind, so weder Männer noch Weiber lieben und sich allein divertieren, deren ist die Menge nicht so groß als der andern. Es seind auch, so mit allerhand Wollust treiben: Vieh und Menschen, was ihnen vorkommt. Ich kenne einen Menschen hier, so sich gerühmt hat, mit allen zu tun gehabt zu haben, bis auf Kröten … Da seht Ihr, liebe Amelise, daß die Welt noch schlimmer ist als Ihr nie gemeint habt. Adieu. Ich behalte Euch allezeit von Herzen lieb.

    Elisabeth Charlotte.«

    Bei jedem Satz klang Melzers Stimme ungläubiger, und als er fertig gelesen hatte, sah er seinen Freund fragend an: »Was macht man damit? Kannst du dir einen Reim darauf machen? Irgendwie kommt mir ja der Schreibstil bekannt vor, dann natürlich Versailles und Elisabeth Charlotte.«

    »Also Alfred, da muss man kein Geschichtsprofessor sein, um das zu wissen. Dies hier scheint mir einer der berühmten Briefe der Liselotte von der Pfalz zu sein. Sie hat etwa sechzigtausend geschrieben in ihrem Leben, und sechstausend sind überliefert, glaube ich. Komisch, ich habe mich gerade mit Lilli im Café Schafheutle über die Liselotte von der Pfalz unterhalten.«

    »Wieso das nun?«

    »Sie macht gerade ein Geschichtsseminar über die berühmte Herzogin von Orléans, über ›Madame‹, wie Liselotte nach ihrer Heirat in Frankreich genannt wurde. Lilli schreibt gerade eine Seminararbeit über Madame und hat mir vorgeschwärmt von dieser tollen, aber verkannten Frau, die ihrer Zeit voraus war und die nun allmählich von den Historikern rehabilitiert wird. Lilli ist ein bisschen auf dem feministischen Trip. Ganz normal, finde ich.«

    »Du hast Recht, Liselotte von der Pfalz, die als derb und deftig und hässlich gilt.«

    »Eben nicht. Lilli hat mich eben belehrt. Madame war nicht nur humorvoll, ehrlich, tolerant, hochgebildet, sondern auch keineswegs hässlich. Obwohl sie selbst immer behauptet hat, sie habe ein Bärenkatzenaffengesicht. Es gibt unzählige Gemälde, die belegen, dass Madame recht hübsch war.«

    »Hier spricht der Kunstkenner Friedrich Gontard, stimmt’s? Apropos, Friedrich, weißt du, weshalb ich mich noch auf mein Rentnerdasein freue?«

    »Ich bin gespannt.«

    »Ich freue mich auf unsere gemeinsame Antiquitätensuche.«

    »Da ist auch momentan viel zu sehen und zu kaufen. Nach der Wende sind die interessantesten Objekte aus der früheren DDR auf den Markt gekommen. Und dies auf legale Weise, nicht mehr hintenrum wie vor 1989.«

    »Vielversprechend. Aber zurück zu unserem verrückten Brief. Ein bisschen muss ich noch arbeiten. Was meinst du, ist der Wisch hier ernst zu nehmen? Wir bekommen ja dauernd Briefe von Verrückten, aber so was wie dies hier ist mir noch nicht untergekommen.«

    Er fügte hinzu: »Am liebsten würde ich ihn zerreißen, aber man weiß ja nie …«

    Er überreichte Gontard den Brief.

    Dieser sah sich alles lange an, dann sagte er mit einem Stirnrunzeln: »Ist dir aufgefallen, wie vergilbt das Schreiben ist und dass es aus einem alten Buch herausgerissen ist? Und dann dieser verschnörkelte Anfangsbuchstabe. Das H von Herzliebe Amelise. In den Papierkorb? Auf keinen Fall. Heb das Ding gut auf, vielleicht …«

    »Vielleicht hat der Brief am Ende doch eine Bedeutung? Du hast Recht.«

    Alfred Melzer legte den Brief in eine Mappe und sagte dann: »Aber nun was anderes, Friedrich: Fühlt sich Lilli in der Villa wohl?«

    »Pudelwohl. Es war ja auch ihr ausdrücklicher Wunsch, einmal das Turmzimmer mit den gelben Zickzackziegeln, wie sie als Kind gesagt hat, zu beziehen, ihre Studentenbude darin einzurichten. Lilli hat Großtante Klara noch gekannt, und auch dieses Faible für Liselotte von der Pfalz hat mit Großtante Klara zu tun, mit ihren abenteuerlichen Erzählungen von den Streichen der wilden Prinzessin, die im Schloss gegenüber der Villa ihre Kindheit verbracht hat. Da war vieles gemogelt und wenig geschichtstreu, aber die Großtante war bis ins hohe Alter geistig rege und ein Original erster Güte.«

    »Weißt du, Friedrich, was ich nie verstanden habe?«

    »Ich kann mir schon denken, was du sagen willst. Nicht nur du, auch andere Bekannte haben nie verstanden, dass Anna und ich nach Klaras Tod nicht in die

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