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Verschwörung in Wien: Band 90 der Gesammelten Werke
Verschwörung in Wien: Band 90 der Gesammelten Werke
Verschwörung in Wien: Band 90 der Gesammelten Werke
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Verschwörung in Wien: Band 90 der Gesammelten Werke

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Mit diesem Band wird nicht nur die längere Zeit offen gewesene Lücke in der Reihe geschlossen, sondern auch noch einmal eine echte Sensation geboten - in Gestalt des letzten bisher noch gänzlich unveröffentlichten Prosatextes aus Karl Mays Nachlass: "Der verlorene Sohn"! Nicht zu verwechseln mit Mays gleichnamigem späteren Kolportageroman, handelt es sich hierbei um den spannenden Auftakt einer seiner typischen Erzgebirgischen Dorfgeschichten, die leider Fragment blieb.
Zuerst allerdings führt die Titelgeschichte in die österreichische Hauptstadt, wo der aus früheren Bänden bekannte 'Wurzelsepp' wieder einmal auf der Spur krimineller Umtriebe unterwegs ist. Ins manchmal liebenswert heitere, manchmal hinter der Fassade aber auch unheimlich finstere Leben in Dorf und Kleinstadt des sächsischen Erzgebirges geht es in den weiteren Erzählungen: "Aus dem Kelch des Schicksals", "Der Doppelgänger", "Die Laubtaler", "Im Wasserständer" und "Das Dukatennest".
Gewohnt souverän und sachkundig kommentiert Christoph F. Lorenz die Entstehungsumstände und literarischen Hintergründe der Texte.
LanguageDeutsch
Release dateSep 19, 2014
ISBN9783780215901
Verschwörung in Wien: Band 90 der Gesammelten Werke
Author

Karl May

Karl Friedrich May (* 25. Februar 1842 in Ernstthal; † 30. März 1912 in Radebeul; eigentlich Carl Friedrich May)[1] war ein deutscher Schriftsteller. Karl May war einer der produktivsten Autoren von Abenteuerromanen. Er ist einer der meistgelesenen Schriftsteller deutscher Sprache und laut UNESCO einer der am häufigsten übersetzten deutschen Schriftsteller. Die weltweite Auflage seiner Werke wird auf 200 Millionen geschätzt, davon 100 Millionen in Deutschland. (Wikipedia)

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    Book preview

    Verschwörung in Wien - Karl May

    Geleitwort

    „Sieg, großer Sieg – „Hamdulillah – „Howgh, ich habe gesprochen": All das hätte Karl May sagen können bzw. vielleicht seinen Helden in den Mund gelegt, wenn er das Erscheinen von Band 90 seiner Gesammelten Werke erlebt hätte, dem lang erwarteten ‚Lückenschluss‘ zwischen seinen Erzählwerken und den Briefbänden.

    Wir wissen nicht, ob unser großer Autor mit allen Entscheidungen der Herausgeber seiner posthum erschienenen Bücher zufrieden gewesen wäre. Manches ginge ihm sicherlich zu weit, an anderer Stelle wäre er wohl noch viel einschneidender vorgegangen. Glücklich wäre er sicher mit dem Riesenerfolg seiner Werkreihe, die ihn zum meistgelesenen Schriftsteller deutscher Sprache machte.

    Der vorliegende Band enthält naturgemäß nicht die stärksten Texte des ‚Maysters‘, wäre es doch zu seltsam gewesen, so etwas dem May-Publikum so lange vorzuenthalten. Bis ein Neuleser, von denen es zum Glück auch heute noch, allen Unkenrufen zum Trotz, eine nennenswerte Zahl gibt, die hohen Bandnummern erreicht, hat er genügend spannende Karl-May-Geschichten verschlungen und freut sich letztendlich auch über die Ergänzungen, die der Karl-May-Verlag spätestens seit Band 75 regelmäßig veröffentlicht. Immer wieder taucht die Frage auf, ob denn Karl May noch bei uns im Keller sitze und schreibe; doch sind die meisten Texte ja längst zu Mays Lebzeiten anderswo – meist in Zeitschriften – veröffentlicht worden und waren nur eben noch nicht in die Gesammelten Werke aufgenommen. Die Reaktionen auf die neuen Bände sind auch fast durchweg positiv ausgefallen.

    Ein schöner Text ist aber tatsächlich nun völlig neu und schlummerte weit über 100 Jahre im Archiv: das Fragment „Der verlorene Sohn" – zu schade, dass es nicht vollendet wurde, gehört es doch zu den spannungsverheißendsten Textanfängen Mays.

    Die Betreuung und Kommentierung des Bandes liegt wieder in den bewährten Händen meines Mitherausgebers und unseres Freundes Prof. Dr. Christoph F. Lorenz. Und wer glaubt, nun sei mit Mays Werk ein Ende erreicht, irrt sich: Der Band hätte auf weitere mehrere hundert Seiten ausgeweitet werden können. Wie wir dieses angenehme Problem lösen und die noch vorhandenen Texte Karl Mays, meist Aphorismen und Gedichte, in die Reihe aufnehmen, wissen wir heute noch nicht. Lassen Sie sich überraschen!

    Bamberg, im Juni 2014

    Bernhard Schmid

    VORWORT

    1

    Heutzutage ist viel von ‚Patchwork‘ die Rede in einem Zeitalter, da deutsche Begriffe auszusterben drohen. Eigentlich versteht man darunter eine Näharbeit, die aus vielen Flicken ein einheitliches Ganzes schafft. Bekannt sind die ‚Patchwork-Familien‘, wo sich Paare mit Kindern aus verschiedenen früheren Lebenspartnerschaften zu einem (hoffentlich) harmonischen neuen Ganzen zusammenfinden.

    Ein ähnliches ‚Patchwork‘ – man könnte auch sagen: Mosaik – bildet in gewisser Weise der vorliegende Band 90 der Gesammelten Werke.

    Aus frühen Fragmenten und Plänen Karl Mays, begonnenen Dorfgeschichten und vollendeten Humoresken, in denen May noch als literarischer Lehrling erscheint, und einem gewichtigen Gesellenstück, dem Wien-Kapitel aus Der Weg zum Glück, vermehrt durch zwei Franz-Kandolf-Bearbeitungen von Episoden aus dem Verlorenen Sohn, die in Zeitschriften der 1930er-Jahre erstveröffentlicht wurden und hier nach 80 Jahren erstmals in Buchform erscheinen – soll ein möglichst erfreuliches, harmonisches Ganzes entstehen.

    Eröffnet wird der Band allerdings nicht chronologisch mit den frühesten Tastversuchen des literarischen Anfängers, sondern mit der Verschwörung in Wien als bei Weitem umfangreichstem Einzeltext, der auch dem ganzen Buch den Namen gab. Es folgen die beiden Kandolf’schen Bearbeitungen, dann drei Humoresken, die überleiten zu den frühesten Fragmenten May’scher Erzählkunst.

    Ist die Reihenfolge der Geschichten im Buch also sozusagen chronologisch ‚umgedreht‘, soll im Folgenden Mays Werdegang als literarischer Lehrling und Geselle von A bis Z erörtert werden.

    Als Karl May 1892 damit begann, seine Serie der Gesammelten Reiseromane bei Friedrich Ernst Fehsenfeld herauszugeben, mag er wohl nicht daran gedacht haben, wirklich alle seine Schriften in diese Reihe aufzunehmen. Über die umfangreichen, zwischen 1882 und 1887 bei H. G. Münchmeyer in Dresden publizierten Kolportageromane schrieb er zwar am 19. Februar 1906 an Fehsenfeld, „daß sie für meine ‚Gesammelten Werke‘ bestimmt sind", nahm diese Sache aber – abgesehen von der Verwendung einer einzelnen Episode für den Old Surehand – nie in Angriff. Vielmehr hatte er diese Brotarbeiten, eine teilweise endlose Zeilenschinderei, um die kolportagetypischen Längen zu erreichen, zeitweilig verdrängt, bevor Kritiker wie Hermann Cardauns ihm nach 1902 anlässlich der Neuen illustrierten Ausgabe durch den Münchmeyer-Nachfolger Adalbert Fischer mit Blick auf gerade diese Großromane vorwarfen, neben „katholisierenden Reiseerzählungen skrupellos-gewalttätige Hintertreppenromane, ja, „abgrundtief Unsittliches geschrieben zu haben.

    Umfassten die Reiseromane (später Reiseerzählungen) bei Fehsenfeld bis 1910 33 Bände, so wurde vom Karl-May-Verlag in Radebeul ab 1913 eine komplette Neuausgabe der Werke angestrebt, die auch die Autobiografie Mein Leben und Streben (in den Gesammelten Werken als Band 34, „ICH", zusammen mit anderem [auto]biografischen Material), die Jugenderzählungen für Spemann (Bände 35-41 der GW), die Dessauer-Anekdoten (Band 42), Dorfgeschichten (Bände 43 und 44), den frühen Zeitungsromanen Scepter und Hammer/Die Juweleninsel (Bände 45/46), allerlei Humoresken (Band 47), Reste der Spätwerkerzählungen samt anderem Material (Band 48), das Drama Babel und Bibel sowie die Gedichte Himmelsgedanken (Band 49) beinhaltet.

    Band 50 als Jubiläumsband der Reihe wurde 1922 durch ein eigens von Franz Kandolf geschriebenes Werk, eine Fortsetzung von Band 25 im Stil der ‚realistischen‘ Reiseerzählungen, gefeiert: In Mekka. Von Band 51 an (1924ff.) erschienen dann die Münchmeyer-Romane in teilweise recht starker Überarbeitung durch Dr. Euchar Albrecht Schmid und seine Helfer Franz Kandolf, Otto Eicke u. a.

    Band 65, Der Fremde aus Indien, eine sehr freie Neugestaltung der Haupthandlung des Verlorenen Sohns von 1884ff. konnte 1939 noch kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fertiggestellt werden, nachdem eine erste Bearbeitung bereits 1930/1931 in der Zeitschrift Das Vaterhaus erschienen war. Die Neufassung des Ludwig II.-Romans Der Weg zum Glück war ebenfalls seit 1930/1931 in Planung, erschien aber erst unter der Ägide Roland Schmids in Bamberg (1958/59 die Bände 66 und 67), wobei Verlagslektor und -mitarbeiter Hans Wollschläger den Band 68 aus zwei ursprünglich in den Haupttext des Weg zum Glück eingeflochtenen, aber weitgehend unabhängigen Episoden zusammenfügte (1960). In Band 73, Der Habicht (1967), bearbeitete dann Dr. Rudolf Beissel, einer der alten Mitarbeiter E. A. Schmids und Klara Mays, die Alberg-Episode aus dem Weg zum Glück neu.

    Band 69, Ritter und Rebellen, erhielt 1960 eine von Roland Schmid revidierte und teilweise ‚entflochtene‘ Fassung des frühen Romans Der beiden Quitzows letzte Fahrten. Mit Band 71, Old Firehand, wurden erstmals Reiseerzählungen Mays in ihrer ursprünglichen, noch ungeschliffenen Fassung aus Zeitschriftendrucken der Jahre 1875ff. vorgelegt; Band 72 brachte vor allem Beiträge Karl Mays zu der von ihm redigierten Zeitschrift Schacht und Hütte und bekam auch diesen Titel.

    Nach über 15-jähriger mühevoller Vorarbeit konnten 1985 mit Band 74, Der verlorene Sohn, weitere Teile des Lieferungsromans für Münchmeyer in neuer Überarbeitung vorgelegt werden. Eine – diesmal unbearbeitete – Verlorene Sohn-Episode, Sklaven der Schande, bildete 1993 auch den Inhalt von Band 75. Band 76 präsentierte dann die Eremiten-Geschichte aus dem Verlorenen Sohn und eine zweite, kleinere Erzählung aus diesem Roman in neuem Gewand (1994). Mit Die Kinder des Herzogs wurde 1995 ein in den Bänden 51-55 ausgelassener Teil von Waldröschen wieder aufgelegt (Band 77). Band 78, Das Rätsel von Miramare, griff 1996 dann noch einmal eine Episode aus dem Weg zum Glück in überarbeiteter Version auf sowie den ursprünglichen Schlussteil des Romans Deutsche Herzen, deutsche Helden, der in den Radebeuler Bänden 61-63 nicht berücksichtigt worden war. Mit den GW-Bänden 79-89 ergänzten frühe Fassungen bzw. Manuskripte Mays zusammen mit Autobiographica, Briefen der May-Leser (Band 86), dem Sammelwerk Buch der Liebe (Band 87) und Vorfassungen spannender Reise- und Abenteuerromane (Bände 88 und 89) die Reihe.

    Der vorliegende Band 90, Produkt vieler Überlegungen und Vorarbeiten, schließt nun die einige Jahre bestehende Lücke zu den Briefbänden, die der viel zu früh verstorbene Dr. Dieter Sudhoff und Hans-Dieter Steinmetz 2007 mit dem Briefwechsel zwischen May und seinem Verleger F. E. Fehsenfeld (Bände 91 und 92) eröffneten; inzwischen folgten bereits 93 (Korrespondenz mit dem Maler Sascha Schneider) und 94 (2013), der Briefe von und an May aus dem Umfeld der Verleger und Herausgeber Joseph Kürschner und Wilhelm Spemann dokumentiert.

    Wenn also die Gesammelten Werke ab Nummer 91 sich naturgemäß mehr den späten Jahren Mays widmen, aus denen die meisten erhalten gebliebenen Briefe datieren, so finden die Leser in Verschwörung in Wien Fragmente, Entwürfe, aber auch komplette Texte aus der ‚Jugend‘ Karl Mays, bis etwa 1879. Eröffnet wird der Band wie schon gesagt mit dem Wien-Teil aus dem Kolportageroman Der Weg zum Glück. May war damals mit 45 Jahren kein junger Mann mehr, beendete aber mit dem Roman über den unglücklichen König Ludwig II. von Bayern und dessen fiktiven „Wurzelsepp"-Freund sein Lieferungsroman-Schaffen, das ihm später noch bittere Auseinandersetzungen bringen sollte.

    Zeigt sich May hier als ‚Lehrling und Geselle‘ (mit Plänen und Humoresken) sowie auf dem Weg zur gestalterischen Reife, so stellen die beiden Erzählungen aus den Zeitschriften Das Vaterhaus bzw. Illustrierte Roman-Woche von 1934 ein interessantes Dokument aus 100 Jahren Verlagsgeschichte dar. Franz Kandolf hatte sich hier an zwei Episoden aus dem dritten Münchmeyer-Roman versucht, die nicht in den Bänden 64 und 65 berücksichtigt wurden: Aus dem Kelch des Schicksals und Der Doppelgänger, beides Titel von Kandolf. Diese Textfassungen sind gesuchte Einzelstücke auf dem antiquarischen Buchmarkt und dürften in der vorgelegten Form nur wenigen Kennern geläufig sein.

    2

    Selbst manchem erfahrenen May-Leser werden die vier Fragmente aus des Schriftstellers frühester Schaffenszeit weitestgehend unbekannt sein. Drei davon wurden zwar schon in den Bänden II bis IV der Karl-May-Welten vorgestellt, aber nicht jeder Leser der Gesammelten Werke kennt und liest schließlich auch alle Nebenreihen, sodass hier bestimmt für viele noch eine Neuentdeckung zu machen ist.

    Zu den rätselhaftesten Zeugnissen aus Mays früher Autorenzeit gehört der kleine Text Zerrissen, auf einem beidseitig beschriebenen Blatt befindlich, das noch weitere May-Entwürfe enthält und möglicherweise noch vor 1864 entstand. Später wurde es – wahrscheinlich nur zufällig – in das Konvolut der Skizzen zur Posse Die Pantoffelmühle einsortiert. Der Hauptteil der dort enthaltenen erzählerischen, lyrischen und musikalischen Versuche wurde bereits 1999 von mir transkribiert und in den gemeinsam mit Hartmut Kühne verfassten Sammelband Karl May und die Musik aufgenommen. Bei dem musikalischen Entwurf auf der Rückseite des Blattes handelt es sich um jene Fassung von Aennchens Lied (Hast du gesehn auf grüner Au), die in Karl May und die Musik auf S. 239 unter b) aufgeführt ist: in G-Dur, allerdings über die Skizze nicht hinausgehend. May hat sich wohl später endgültig dafür entschieden, das Lied einen Ton tiefer, in F-Dur, zu belassen. Was die weiteren Inhalte der Doppelseite angeht, so sind sie erstmals von Wilhelm Vinzenz und Jürgen Wehnert beschrieben worden.¹ Für das spätere Schaffen Mays interessant, aber letztlich kaum auswertbar, ist das ebenfalls auf dem Bogen befindliche Erzählfragment Zerrissen, unter dessen Überschrift das Blatt auch insgesamt angesprochen wird. Hier handelt es sich noch nicht einmal um eine „Exposition"², sondern höchstens um den Beginn einer solchen ohne großen Erkenntniswert. Das kleine Gedicht Über die Liebe wurde 1999 nicht in Karl May und die Musik gebracht, da kein Zusammenhang mit der Pantoffelmühle zu erkennen war. Übrigens ist das beidseitig beschriebene Blatt von unbekannter Hand beschnitten worden, sodass Textverluste nicht auszuschließen sind. Aber sicherlich freuen sich viele Leser dennoch über diesen kleinen Einblick in Mays frühe Werkstatt.

    Eine weitere Rarität aus Mays Werkstatt stellt der Anfang einer Dorfgeschichte mit dem Titel Der verlorene Sohn dar, die hier ihre allererste Veröffentlichung überhaupt erfährt. Es handelt sich um eine Variation über das May’sche Lieblingsthema in Anlehung an das Gleichnis aus dem Lukas-Evangelium und ist, wie Walther Ilmer, der das Manuskript seinerzeit in Bamberg einsehen konnte, 1995 feststellte, „nach unserem Erkenntnisstand Karl Mays allererster Versuch, das Thema in einer ihm gemäßen Form zu behandeln".³

    Ilmer hat in seinem damaligen Vortrag die Charakteristika des Textes so treffend auf den Punkt gebracht, dass wir hier noch einige Sätze daraus zitieren wollen:

    „Anlage und Tenor, Schauplatz und Personal gleichen völlig denen in Karl Mays Erzgebirgischen Dorfgeschichten, die von Verbrechen, Schuld und Sühne handeln […] Die Unterschiede z. B. zu Wanda oder auch zur kurzen Dorfgeschichte Der Samiel, die 1878 einmal veröffentlicht wurde, springen ebenso ins Auge wie die Ähnlichkeiten mit den erzählerischen Qualitäten in z. B. Der Herrgottsengel, Der Teufelsbauer, Der Waldkönig. Als Indiz für eine Niederschrift in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre bietet sich vor allem der auffallende Umstand an, dass der – im Fragment leider namenlos bleibende – Titelheld […] gleich beim ersten Anblick der ausdrücklich als Schönheit bezeichneten weiblichen Hauptgestalt dieser verfallen ist – und dass dies schöne Mädchen Emma heißt. […] Hier war ein Könner am Werk. Der Text bricht […] mitten im Satz ab – gerade als der Bösewicht einen Hund auf den Helden hetzt –, und es wird für immer rätselhaft bleiben, welche Ereignisse dem Leser im weiteren Fortgang der Erzählung begegnen sollten und warum und wann Karl May den Faden abriss."

    Der genaue Beginn von Mays schriftstellerischer Tätigkeit ist schwer festzustellen. Gedanken und Pläne sind bereits im Repertorium C. May zu finden, das möglicherweise um 1868 im Arbeitshaus Schloss Osterstein bei Zwickau entstanden war.Freilich handelt es sich hier nur um Titelideen, kaum ausgearbeitete Literaturvorschläge, abgesehen von dem etwas ausführlicheren Plan eines Romans „Mensch und Teufel. Dieter Sudhoff verweist in anderem Zusammenhang auf den Titel „Im alten Neste. Aus dem Leben kleiner Städte; ob der 25- bis 26-jährige May mit dem Romantitel Alte Nester des großen und beliebten Romanciers Wilhelm Raabe vertraut war, bleibe dahingestellt. Jedenfalls hat May die Ausführung einer der Humoresken, die ihm unter der Gesamtüberschrift „Im alten Neste" vorschwebten, zumindest begonnen. Das 2006 in Band II der Karl-May-Welten erstmals veröffentlichte Textfragment In den Eiern (ein beidseitig beschriebenes Manuskriptblatt) erhält nunmehr auch seinen Platz in den Gesammelten Werken, auch wenn es vielleicht auf den ersten Blick nicht sonderlich ergiebig erscheinen mag.

    Die Erzählsituation, die die Geschichte offenbar rahmen soll, war May sicher von früh an vertraut: Wirtshaus- und Stammtischrunden, auch Gespräche unter guten Freunden, waren in Ernstthal wie überall in Dörfern und kleinen Städten an der Tagesordnung, und May hat diesen Rahmen auch sonst schon im Frühwerk ausgiebig verwendet, etwa in Ausgeräuchert oder der Humoreske Im Wollteufel. Die Runde bei Mutter Thick im ursprünglichen Old Surehand II dagegen dürfte doch stärker durch Wilhelm Hauffs Wirtshaus im Spessart inspiriert gewesen sein: Erzählketten, eingebettet in einen mehr oder weniger mit den Einzelgeschichten verknüpften Rahmen. Beim Surehand-Band von 1895 wurde Not zur Tugend, weil der Erzähler Karl May jetzt einen ganzen Fehsenfeld-Band mit altem Material aus seiner Schublade füllen konnte, ohne allzu sehr an der Fortsetzung der festgefahrenen Surehand-Grundhandlung arbeiten zu müssen.

    Zu schade, dass In den Eiern so plötzlich abbricht, sodass der Leser niemals erfährt, wie Karoline, die Frau des Erzählers August, von ihrem „Katzenfieber" geheilt wurde und welche Rolle die ominösen Eier und der nur einmal erwähnte Tierarzt Goldschmidt dabei spielten. Immerhin hat May später in seinem Zeitschriftenroman Scepter und Hammer ein Paar Karl Goldschmidt (Schriftsteller und Revolutionär zugleich) und Emma Vollmer (flatterhaft und ungetreu, aber schön anzusehen) genannt. Damals gab es aber die Emma May geb. Pollmer schon in seinem Leben; bei der Heirat am 17. August 1880 in Ernstthal war der betreffende Band des Romanerstdrucks in All-Deutschland bereits fast abgeschlossen.

    Die erzgebirgische Dorfgeschichte Der Herrgottsengel erschien 1878 in der Dresdener Zeitschrift Deutsche Boten unter dem Pseudonym Emma Pollmer, eine Hommage Karl Mays an seine damalige Verlobte. Die Handlung ist geprägt von einer Kriminalgeschichte, die nicht nur Jürgen Wehnert recht unmotiviert erscheinen musste⁷, denn das Verbrechen spielt sich in einem dunklen Zechenhaus ab. Trotzdem kann der wahre Verbrecher erkannt und erpresst werden! Das Motiv der Unschuld, die sich selbst versehentlich für schuldig hält, wie auch die Doppelrolle des „Klapperbein – einerseits Trauernder am Grab der ermordeten Geliebten, andererseits übermächtiger, geradezu gottgleicher „Herrgottsengel, der „für Recht und Ordnung"eintritt und dies gelegentlich mit einem Jagdhieb, über den sich Dr. Sternau und Old Shatterhand gefreut hätten – deuten auf eher tiefenpsychologische Hintergründe hin: die Auseinandersetzung Mays mit seiner kriminellen Vergangenheit, wobei er sich im tiefsten Inneren für unschuldig hielt, sowie sein kindlicher (aber ebenso tief empfundener) Glaube an höhere Mächte und an gütige, in das menschliche Leben eingreifende Schutzengel – diese Motive finden sich bis zum Old Surehand III reichlich in seinen Texten.

    Das Nebeneinander von realistischer Dorfgeschichte und religiöser, fast märchenhafter Thematik mag ein Manko des Herrgottsengel-Textes darstellen. May hat in späteren Dorfgeschichten eine Überfrachtung mit übersinnlich-fantastischer Motivik vermieden. Interessant ist freilich ein längerer Entwurf auf zwei eng beschriebenen Quartblättern, der – auf Grund von Hinweisen von Dr. Wilhelm Vinzenz – 2009 erstmals publiziert, von Wilhelm Vinzenz und Roderich Haug sorgsam rekonstruiert und von Dr. Jürgen Wehnert erläutert wurde.In diesem Manuskript sind große Teile vom 1. Kapitel des 1878 veröffentlichten Herrgottsengel bereits vorformuliert. May hat in der späteren Zeitschriftenfassung allerdings nicht nur einige Hauptfiguren umbenannt, sondern vor allem den Erzählfluss verbreitert und zahlreiche Details hinzugefügt. Der Entwurf ist schwer zu datieren; es lässt sich aber vermuten, dass er erst nach 1874 entstand, also nicht schon in Osterstein. Die Wandlung Mays vom suchenden Anfänger zum stilsicheren ‚Lehrling‘ lässt sich an den Unterschieden zwischen Entwurfsfassung und dem 1. Kapitel des Zeitschriftentextes ablesen. Dabei hat er nicht nur Dialoge eingebaut und den Erzählfluss dadurch länger und ausführlicher gemacht, sondern deskriptive Passagen und kurze Zwischensätze zeugen auch von einem gesteigerten und gestärkten erzählerischen Bewusstsein.

    Während die sechs Erzählungen dieses Bandes der heute gültigen Rechtschreibung angepasst wurden (ansonsten aber inhaltlich und stilistisch unbearbeitet blieben), werden die vier Fragmente in Orthografie und Interpunktion zeichengetreu so wiedergegeben, wie May sie geschrieben hat, inklusive aller Fehler und Seltsamkeiten. Streichungen in den Handschriften sind kenntlich gemacht, Wort- oder Zeichenergänzungen der Herausgeber an Stellen, wo der Autor offensichtlich etwas vergaß oder wo durch Beschädigungen am Papier Textverluste entstanden, stehen in eckigen Klammern.

    3

    Zu den Produktionen, die man Karl Mays ‚Gesellenzeit‘ zurechnen würde, gehören Veröffentlichungen in Zeitungen wie Feierstunden am häuslichen Heerde oder Deutsches Familienblatt, die May selbst für Münchmeyer redigierte, Arbeiten wie der Roman Auf der See gefangen für die Frohen Stunden des Dresdner Verlags Bruno Radelli, daneben Dorfgeschichten aus der erzgebirgischen Heimat und erste ‚exotische‘ Gehversuche wie Old Firehand oder Leilet, zeitgeschichtliche Anekdoten um die historische Figur Leopold I. von Anhalt-Dessau („Alter Dessauer" genannt) und Humoresken, teils mit historischem Personal (wie Die Kriegskasse oder Husarenstreiche), teils schwankhaft, mitunter auch dialektal geprägt (Ausgeräuchert, Im Wasserständer, Im Seegerkasten), teils beherrscht von einer Situationskomik, die man aus Lustspielen, Schwänken und dem ‚Vaudeville‘ kennt, mit wiedererkennbaren Typen – der hagere Alte, die dicke ‚Mamsell‘, die jungen Liebenden.

    Immer wieder variiert May in solch frühen humoristischen Gehversuchen der ‚Gesellenzeit‘ die Ausgangssituation des Paars, das (vorerst) nicht zusammenkommt, weil er arm und nicht sesshaft ist, sie hingegen eine präsumtive reiche Erbin oder das Mündel eines hochangesehenen Honoratioren oder zumindest bei einem solchen in Dienst. Gern hat er sich als Motiv auch des ‚geplatzten Stelldicheins‘ bedient, so etwa in der Dialekt-Humoreske Ausgeräuchert und ihrer späteren Variante Die Laubthaler. Hier spielt jeweils auch das Thema des reichen Geldfunds (Taler aus der Franzosenzeit) eine Rolle. Schätze und Schatzgräber sind ein ‚running gag‘ im May’schen Werk geworden, oft mit ernsten Untertönen. Je älter May wurde, umso deutlicher distanzierte er sich von der Jagd nach Materiellem, dem „Deadly dust", wie das in einer frühen Winnetou-Geschichte heißt.

    Im Frühwerk sind diese Schätze, nach denen meist schon lang und vergeblich gefahndet worden war, noch harmloser Natur; die Auffindung des pekuniären Schatzes führt zum Gewinn des geliebten weiblichen Schatzes, mit oder ohne Komplikationen.

    May selbst wird sich der Harmlosigkeit dieser Plots bewusst gewesen sein, so suchte er nach Kombinationen; Variationen und Erweiterungen seiner simplen Grundmotive; ein schönes Beispiel dafür ist die kleine Novelle vom Ducatennest, wo das Talerversteck in der Großvateruhr (bekannt auch aus dem Seegerkasten¹⁰) kombiniert wird mit der Situationskomik des heimkehrenden Ratsherrn, der dummerweise in den Wasserständer gerät, den die jungen Leute statt des bequemen Stuhls aufgestellt hatten, bevor ihr Stelldichein durch das verfrühte Eintreffen des Epperlein gestört wurde. Mechanische Komik, repetierter Humor und ein (echter) Sinn für komische Situationen und deren erzählerische Aufbereitung zeigen im Ducatennest, dass May viel gelernt hatte als Erzähler, auch wenn die frühen, simplen Fassungen seiner komischen Geschichten manchmal überzeugender wirken eben durch den Verzicht auf Kombinationen und erzählerische Raffinesse.

    4

    Nicht immer gehen die Einschätzungen der Karl-MayForscher über den Wert gewisser Werke des ‚Maysters‘ d’accord. Im Reprint Unter den Werbern von 1986 hatte ich die gleichnamige Dessauer-Geschichte als Talentprobe eines noch unerfahrenen Fabulierers bezeichnet und handwerkliche Mängel festgestellt.¹¹ Der akribische, aber nicht unumstrittene May-Exeget Klaus Eggers meinte, meine Kritik würde den May’schen Intentionen nicht gerecht¹², weil er in Mays Frühwerken eine Vorwegnahme späterer Motive und Themen des Oeuvres erblicken wollte. Tatsächlich sind beide Standpunkte durchaus miteinander vereinbar. Wenn man erkennt, dass May in seinen frühen Zeitschriftenveröffentlichungen logische und sprachliche Fehler unterliefen oder manche Figuren und Handlungsverläufe arg unglaubwürdig wirken, so kann man trotzdem Motive, Figuren und Techniken erkennen, die auf Späteres – und handwerklich Besseres – vorausweisen.

    Eine Weile wurde unter den May-Kennern gern darüber debattiert, welche Teile etwa in den MünchmeyerRomanen vielleicht gar nicht von Karl May stammen. Auf seltsame Inkongruenzen in der Handlung der MünchmeyerErstausgabe vom Waldröschen wies schon Edmund-Kara Jendrewski hin; ob ein ganzes Kapitel im Erstdruck von 1882ff. fortgefallen sein könnte, darüber lässt sich nur spekulieren.¹³ Zweifel äußerte auch Walther Ilmer an der Authentizität des letzten Kapitels von Deutsche Herzen, deutsche Helden, das die Handlung leider keineswegs zu einem guten (oder wenigstens befriedigenden) Schluss bringt und das Hauptgeheimnis im Dunkeln lässt. Diskutiert wurde schließlich die Triest-Episode aus Der Weg zum Glück mit der Mädchenhändlergeschichte (heute in leicht ‚begradigter‘ Neufassung in GW Band 78, Das Rätsel von Miramare). Andererseits scheint hier jemand deutlich zeitgenössische Quellen, Reiseführer und ähnliches zu Miramare benutzt, gesichtet und ausgewertet zu haben – wäre das jemand anderem bei Münchmeyer zuzutrauen, wenn nicht Karl May selbst?

    Für alle diese Überlegungen und Hypothesen gibt es Indizien, aber keine Beweise. Es mag auch sein, dass das Schreiben solcher Riesenromane den Autor May dermaßen überforderte (zumal er auch anderes parallel schrieb), dass seltsame Schlusskapitel oder Prä-Schlussepisoden ein Zeichen der Erschöpfung des Autors waren und kein Indiz für Einschübe von fremder Hand.

    Das 10. Kapitel des Romans Der Weg zum Glück spielt in Wien, in einer ganz anderen Atmosphäre als die dörflichen Episoden um den Kerybauern oder den weiblichen Samiel (= die Kronenbäuerin Martha). Ein Grundthema, das den Roman durchzieht, ist die Frage nach der ‚wahren‘ Kunst. Viele Künstler stellt das Buch vor: die wahnsinnige (oder hellsichtige) Dichterin Franza von Stauffen, den genialen Geiger Fex (alias Curty von Gulijan), den Dichter und Lehrer Max Walther, den begabten Zeichner und Maler Johannes Weise. Besonders aber sind es zwei Gestalten, die den Leser fesseln: die Sennerin Murenleni und ihr Freund, der Krikelanton, Gamsjäger und Wilderer. Hier hat May eine Liebesgeschichte entworfen, die einmal nicht zu einem Happy End führt. Zwar beherrschen beide, Leni und Anton, in besonderer Weise die Kunst, mit ihren geschulten Stimmen zu begeistern, ja die Welt zu erobern. Während Leni (alias Ubertinka) sich aber der „Reinheit" ihrer Kunst verschrieben hat und auch in ihrer persönlichen Lebensführung moralischen Grundsätzen streng verpflichtet bleibt, verfällt Anton (alias Tenor Criquolini) den Verführungen einer ausschweifenden Lebensweise (Wein, Weib und Gesang sozusagen) und den Einflüsterungen der üppigen Kokotte Valeska, die ihrerseits die Geliebte des Einbrechers Salek ist (was Anton natürlich nicht weiß).

    Karl May hat ausführlich und einigermaßen detailverliebt das Leben Antons und seiner Ausschweifungen beschrieben; dabei gerät auch immer wieder Wiener Lokalkolorit ins Visier, trotz mancher kolportagetypischer Zeilenschinderei. Während der moralische Verfall Antons einerseits dazu führt, dass sich Leni von ihm abwendet und ihre Zuneigung einem moralisch höherstehenden Aristokraten, dem Grafen von Senftenberg schenkt, wird „Criquolini" am Ende recht drastisch vorgeführt, wie tief er gesunken ist und dass er bloß das dumme Opfer eines dreisten Gaunerpärchens war. Mit dieser Hauptmotivik ist in der Wien-Episode eine zweite verbunden: Ein Verwandter Curty von Gulijans (des ehemaligen Fex) lässt Salek die Papiere Curtys stehlen, um ihn um seine Familienbesitztümer zu bringen. Auch diese Intrige wird von der Polizei unter tätiger Mithilfe des alten Wurzelsepps aufgedeckt und verhindert.

    Wenn wir erstmals im Rahmen der Gesammelten Werke das Wien-Kapitel aus dem Weg zum Glück wieder im ursprünglichen Text vorlegen, so geschieht das in vollem Bewusstsein der kolportage- und genretypischen Schwächen und Fehler des Münchmeyer-Textes. Gleichzeitig wirft diese Episode auch ein bezeichnendes Licht auf die von Mays Zeitgenossen, etwa Hermann Cardauns, behauptete „abgrundtiefe Unsittlichkeit" der May’schen Kolportage. Ja, May verlegte Teile seiner Handlung in den Bereich des sittlich Anstößigen, wobei außer den drastischen Beschreibungen des Rauschs, den sich Anton und sein (falscher) Freund Baron Stubbenau antrinken, kaum etwas wirklich die Gefühle der Leser peinlich berührt haben dürfte. Die Reize Valeskas werden z. B. für Münchmeyers ‚Wogende-BusenStil‘ geradezu dezent angedeutet. Alle diese ‚pikanten‘ Momente dienen aber bei May einer höheren Moral: Dekadenz ist Zeichen moralischer Schwäche, wahre Kunst aber untadelig. So ist das scheinbar Anstößige als Hilfsmittel im Dienst einer (allerdings auch ein wenig kitschigen) Kunstmoral zu verstehen.

    Band 90 wird abgerundet durch zwei Bearbeitungen aus der Feder Franz Kandolfs, die seit den 1930er-Jahren nicht wieder neu aufgelegt wurden und daher gerade für diejenigen, welche an Editions- und Verlagsgeschichte interessiert sind, von besonderem Reiz sein mögen. Die damals in der Zeitschrift Das Vaterhaus erschienene Fassung der dem Verlorenen Sohn entstammenden Buchbinder-HeilmannGeschichte mit dem Titel Aus dem Kelch des Schicksals diente 1985 als Vorlage für einen Teil von Band 74. Dabei wurden allerdings die religiösen Anspielungen und einige typische Merkmale von Kandolfs Stil getilgt. Vom seinerzeit in der weniger bekannten Zeitschrift Illustrierte Roman-Woche abgedruckten Der Doppelgänger war den Bearbeitern von Band 74 nur der Titel bekannt, und dass es sich um eine ‚entflochtene‘ Episode aus dem Verlorenen Sohn um die beiden Köhlersleute und ihren Verwandten aus Amerika handelt, dessen Rolle zeitweilig von einem betrügerischen Verbrecher auf der Flucht übernommen wird.

    Die Version in Band 74 unterscheidet sich deutlich von der hier abgedruckten Kandolf-Fassung des Jahres 1934, sodass der neue Band 90 auch hiermit den Kennern und Liebhabern der May’schen Werke Neues und Abwechslungsreiches bringt.

    Christoph F. Lorenz

    VERSCHWÖRUNG IN WIEN

    Die in Wien so wohlbekannte Equipage des Grafen Senftenberg rollte, von zwei prachtvollen Goldfüchsen gezogen, über den Kolowrat-Ring am Stadtpark vorüber, durch den Stubenring über die Aspernbrücke, bog dann links in die untere Donaustraße und lenkte rechts in die große Mohrengasse ein, wo sie vor einem sehr ansehnlichen Haus hielt, dem anzusehen war, dass es nur von feinen, wohlsituierten Leuten bewohnt wurde.

    In dem Wagen saßen drei junge Herren, die sich während der Fahrt in einer mehr als lebhaften Unterhaltung befunden hatten. Obgleich es noch nicht die Zeit des Diners war, schienen sie sich doch bereits in eine sehr animierte Stimmung getrunken zu haben. Sie lachten überlaut und machten sich ganz und gar nichts aus dem Lächeln, mit welchem die Passanten ihnen nachblickten.

    Nur einer von ihnen, der Graf selbst, verriet die glückliche Gabe, trotz des kleinen Rausches, den er besaß, die Würde seines Standes leidlich zu bewahren. Die beiden anderen aber waren so ausgelassen, dass er sie öfters durch ein wohlgemeintes „Na, na, pst, pst" in engere Schranken verweisen musste.

    Sie kamen aus einem jener Frühstückslokale, in denen die gutsituierte Jugend ihre Guldennoten anlegt, um dafür im Alter ein mehr oder weniger ausgiebiges Podagra einzuheimsen. Dort hatten sie einige Dutzend Austern verzehrt, mehrere Flaschen Sekt dazu ausgestochen, dann ein kleines Spielchen gemacht, zu welchem natürlich nur ein schwerer aber ‚süffiger‘ Burgunder getrunken werden konnte, und dann hatte es sich herausgestellt, dass Champagner und Burgunder eigentlich nicht gut harmonieren. Die beiden so verschiedenen Gaben des Bacchus waren in den Köpfen der Zecher miteinander in Konflikt geraten, und darüber war den Letzteren der sowohl jungen als auch alten Leuten so wohlanstehende Ernst verloren gegangen.

    Jetzt hielt die Equipage vor einem Haus in der Mohrengasse. Der Diener sprang vom hinteren Tritt herab und öffnete den Wagenschlag. Er ließ dabei jenes ergeben-pfiffige Gesicht sehen, welches vertraute Domestiken zu zeigen pflegen, wenn sie die Ehre haben, Zeugen einer kleinen, liebenswürdigen Schwachheit ihrer Herren zu sein.

    „Hier scheiden wir also, meine Herren, sagte der Graf. „Steigen Sie mit aus, Baron, oder fahre ich Sie auch nach Ihrer Wohnung?

    Derjenige der beiden anderen, an welchen die Frage gerichtet war, trug einen sehr eleganten, ja ‚feschen‘ Wiener Anzug nach dem allerneuesten Schnitt und Muster. Die Linke war behandschuht, die Rechte nicht. An den Fingern dieser Letzteren glänzten mehrere Ringe, deren Steine nur ein ganz besonderer Kenner für wertlose Nachbildungen hätte erklären können. Er war, das sah man auf den ersten Blick, ein ausgesprochener Dandy und hatte die nachlässige, gelangweilte Haltung jener Flaneure, welche sich in ihren müßigen Stunden – und jede Stunde ist bei ihnen müßig – auf den eleganteren Straßen herumtreiben und dem Leben keinen besonderen Reiz mehr abgewinnen können, weil sie die liebenswürdigen Seiten desselben bereits im Übermaß kennengelernt und genossen haben.

    Sein Gesicht war glattrasiert und stark gepudert, vielleicht um gewisse Spuren, welche eine ausverkaufte Jugend zurückzulassen pflegt, weniger bemerkbar zu machen. Seine Brauen und Wimpern waren schwarz gefärbt, um dem Blick des matten Auges mehr Intensität zu erteilen. Die perlenweißen Zähne waren viel zu schön, als dass man sie für echt hätte halten können, und der Mund schien durch Anwendung einer Lippenpomade künstlich aufgefrischt worden zu sein. Dies alles gab dem Gesicht etwas Unechtes, Wachsfigurenähnliches und verdeckte trotzdem nicht den Ausdruck scheuer Unsicherheit, welcher darüber ausgebreitet lag und sich in dem ganzen Wesen und Gebaren des jungen Mannes aussprach. Wenn man überhaupt die Erlaubnis hat, einen Menschen mit irgendeinem Tier zu vergleichen, so glich der Baron einer schön gezeichneten und wohlgenährten Katze, welche jeden Augenblick bereit ist, irgendeinem ihr feindseligen Wesen zu entwischen.

    „Danke, Graf, antwortete er. „Ich werde mir die Ehre geben, unseren Künstler zunächst in sein Heim zu geleiten, denn…

    Ein bezeichnender Blick sagte das, was auszusprechen er unterlassen hatte. Der dritte der jungen Herren, von kräftiger Gestalt, dessen kühn geschnittenes Gesicht etwas verlebt aussah, hatte sich jedenfalls den bedeutendsten Rausch angetrunken. Seine Lider waren müd auf die Augen gesenkt, dennoch bemerkte er den Blick des Barons und sagte lachend:

    „Lieber Freund, denke nicht, dass du das nötig hast. Ich erreiche meine Bude auch ohne fremde Hilfe."

    „Darüber gibt es ja gar keinen Zweifel, mein Bester. Du wohnst ja im Parterre, aber ohne ein kleines Straucheln wird es nicht abgehen. Darum ist es besser, ich begleite dich. Komm!"

    Der Künstler stieg mit Hilfe des Dieners aus dem Wagen. Seine Bewegungen waren schwer und unsicher. Der Baron nickte dem Diener vertraulich zu, ergriff den Künstler beim Arm und wendete sich zum Grafen:

    „Sehen wir uns heut Abend wieder?"

    „Schwerlich. Ich bin engagiert."

    „Ah! In interessanter Weise?"

    „Nicht so, wie Sie denken, mein lieber Baron. Ich bin zum Kommerzienrat Hamberger geladen."

    „Puh! Und da gehen Sie?"

    „Warum nicht?"

    „Zu einem Juden und Parvenü!"

    „Pah! Man sieht dort feine Leute; ihretwegen gehe ich hin, nicht seinetwegen."

    „Dann viel Vergnügen! Und morgen natürlich wieder zum Frühstück?"

    „Werde eintreffen! Vorwärts, Jean!"

    Der Diener war wieder hinten aufgestiegen und die Equipage rollte auf dem hartgefrorenen Boden weiter.

    Der Baron geleitete den Künstler die Stufen zum Parterre empor. Ein Livréediener, der beide hatte kommen sehen, öffnete eine Tür, an welcher schwarz auf weißem Porzellan zu lesen war: „Guiseppe Criquolini". Die beiden traten ein und begaben sich durch das Vorzimmer nach einem kleinen, sehr hübsch ausgestatteten Herrensalon.

    Dort fiel der Besitzer des Logis auf die Ottomane, streckte sich lang auf dieselbe aus, die Stiefel ungeniert auf das seidene Sofakissen legend, und sagte:

    „Habe doch des Guten zu viel getan! Der Burgunder war vom Teufel gekeltert."

    „Und der Sekt vom Erzengel Michael. Darum wirbelt einem nun Höllisches und Himmlisches im Kopf herum und es ist kein Wunder, wenn der schwache Mensch in diesem Kampf unterliegen muss. Auch mir geht es so ziemlich wie dir. Soll ich vielleicht nach einem Selters klingeln?"

    „Tu es! Aber ich mag jetzt vom Wasser nichts wissen. Ersäufe dich also allein darin. Ich werde, wenn du fort bist, ein Schläfchen machen."

    „Vielleicht tu ich das zu Hause auch."

    Er drückte an der silbernen Glocke, welche auf dem Tisch stand. Der Livréediener erschien und erhielt den Befehl, eine Flasche Selters zu bringen. Er trat, die Tür gleich offen lassend, ins Vorzimmer zurück und brachte das Verlangte herein. Dabei lächelte er auf eine Weise, als ob er sagen wollte: „Habe sie bereitgehalten, denn ich ahnte, was den Herren dienlich sein werde."

    Als er hinaus war, lachte der Baron:

    „Hast einen vortrefflichen dienstbaren Geist. Er scheint ein guter Gedankenleser zu sein."

    „Ist kein Wunder! Die drei Wochen, seit denen er bei mir ist, bin ich täglich frühstücken gegangen und ebenso täglich so heiter nach Hause gekommen. Da hat er gelernt, das Selters- oder Sodawasser bereitzuhalten. Ich muss offen gestehen, dass man hier in Wien zu leben versteht."

    „Besonders wenn man sich an Kavaliere, wie Graf Senftenberg einer ist, anschließen darf."

    „Ja. Ein vortrefflicher Kerl! Nicht?"

    „Ausgezeichnet! Ich kenne keinen Zweiten."

    „Er muss ungeheuer reich sein!"

    „Das hört man allgemein. Er soll bedeutende Besitzungen in Ungarn und Siebenbürgen haben und außerdem auch noch in Preußen und Bayern begütert sein. Er fährt mit den besten Pferden, führt ein brillantes Haus, obgleich er unverheiratet ist, hat die besten Weine und verzieht keine Miene, wenn er einen Tausendguldenschein im Spiel verliert."

    „Wie heut wieder! Mensch, du bist ein Glückskind! Gestern gewonnen, heute gewonnen, alle Tage gewonnen! Du hast mir seit einer Woche sicher dreitausend Gulden abgenommen."

    „Das Spiel ist wetterwendisch. Du wirst wohl bald Revanche nehmen."

    „Pah! Ich gehe nicht darauf aus. Ich will mich amüsieren. Wird dieser Wunsch mir erfüllt, so zähle ich den Mammon nicht."

    „Hast’s auch nicht nötig. Deine Kehle bringt dir genug ein. Heutzutage fragt ein Sänger deiner Distinktion nicht nach einer Handvoll Goldstücken."

    „Ja, die Zeiten haben sich geändert. Während Mozart für seine ganze Don Juan-Oper lumpige dreißig Dukaten bekam, verlange ich, um in dieser Oper einmal aufzutreten, das Dreifache. Meine Reise durch die Vereinigten Staaten hat mir ein schönes Sümmchen eingebracht."

    „Das glaube ich! Wenn du so fortfährst, wirst du bald Millionen zählen."

    „So schnell geht das freilich nicht. Mit unserem Grafen Senftenberg werde ich mich in dieser Beziehung niemals messen können. Übrigens, unter uns gesagt, gibt es bei all seiner Liebenswürdigkeit doch einiges, was mir nicht an ihm gefällt."

    „Ist er dir unsympathisch?"

    „Das nicht, o nein. Aber er ist und bleibt doch stets Aristokrat."

    „Ja, er ist Vollblut!"

    „Ich hätte gar nichts dagegen, wenn er das besser zu maskieren verstünde."

    „Ich habe noch nicht die Erfahrung gemacht, dass er es uns merken lässt. Oder du vielleicht?"

    „Hm. Er ist freundlich, zuvorkommend und liebenswürdig, wie man es gar nicht besser verlangen kann; aber doch gibt es zuweilen ein Wort, eine Bewegung, kurz, ein undefinierbares Etwas, durch welches er absichtlich oder unabsichtlich auf die Schranke deutet, über welche wir nicht zu ihm kommen können."

    „Wir?"

    Der Baron betonte dieses Wort in eigenartiger Weise und warf dabei dem Sänger einen schnellen, lauernden Blick zu.

    „Pardon!, antwortete dieser. „Du bist Baron, also auch vom Adel, also mag das dir nicht so gelten wie mir. Aber hast du denn noch nicht bemerkt, dass er trotzdem gegen dich zurückhaltender ist als gegen mich?

    „Nein, niemals."

    „So sei einmal aufmerksamer! Es gibt Momente, in denen er dich, ohne dass du es siehst, scharf betrachtet. Erst vorhin, als fünfhundert Gulden auf einer einzigen Karte standen, sah er dir so scharf auf die Finger, als ob er den kolossalen Gedanken hegte, dass du ein Falschspieler seist."

    „Donnerwetter!, brauste der Baron auf. „Das will ich mir verbitten!

    „Ich nehme an, dass du mir diese freundschaftliche Bemerkung nicht übel nimmst. Oder doch?"

    „Nein, obgleich ich sie auch verstehen würde, wenn es dir beliebte, sie in weniger beleidigende Ausdrücke zu kleiden."

    „Unsinn! Ich bin aufrichtig und nenne das Ding beim richtigen Namen. Gestern Abend kam im Casino die Rede auf dich. Du warst nicht da. Dein Name Stubbenau sollte, nach der Meinung einiger Herren, nicht im Adelskalender zu finden sein…"

    „O bitte!, fiel der Baron eifrig ein. „Die Herren von der Stubbenau bilden ein sehr altes Geschlecht. Unsere Ahnen stammen aus Livland. Später gingen sie nach Russland, und zwar bereits vor Peter dem Großen. Darum wird unser Name nicht im Gothaer Adelskalender zu finden sein, wohl aber in den Kavalierregistern Russlands. In diese mögen die Herren blicken, welche es wagen, an der Echtheit meines Adelsbriefes zu zweifeln. Übrigens bin ich in jedem Augenblick bereit, ihnen meinen Stammbaum mit dem Degen ins Gesicht zu zeichnen. Wer waren denn die Betreffenden?

    Der Sänger hatte die Auslassung des Barons ruhig angehört, indem er dabei mechanisch einen seiner Ringe am Finger auf und ab drehte. Er antwortete gleichmütig:

    „Das habe ich mir freilich nicht gemerkt. Weißt du, das Gespräch war ein sehr lebhaftes. Da kann man nicht im Gedächtnis behalten, wer der Autor gewisser, bestimmter Worte ist."

    „Aber du sprachst ja vom Grafen!"

    „Den habe ich nicht gemeint."

    „Er verhielt sich still?"

    „Ja. Nur als die Rede auf deine Güter kam, da machte er eine kleine Bemerkung."

    „Welche?"

    „Kann mich auch nicht genau besinnen."

    „Das tut mir leid. Es wäre mir wirklich sehr lieb, wenn du dich genau erinnern könntest."

    „So! Hm! Wie war es doch nur? Ich glaube, dass er meinte, dass – ah, mein Ring!"

    Der Ring, mit welchem er gespielt hatte, war seiner Hand entfallen und herunter auf den Boden gerollt. Der Baron stand dienstfertig von seinem Stuhl auf. Er sah den Ring liegen, tat aber so, als ob er ihn vergeblich suche.

    Der Sänger blieb ruhig auf der Ottomane liegen. Der Wein hatte ihn schwerfällig gemacht.

    „Lass ihn!, sagte er. „Er muss sich ja finden.

    „Ist er kostbar?"

    „Ja. Ein Diamant von fünfzehn Karat."

    „So darf man nicht so sorglos sein."

    „Pah! Er liegt in meiner Stube. Er kann also nicht verschwinden."

    „Dennoch wollen wir nachsehen, ob er vielleicht unter den Diwan gerollt ist."

    Er bückte sich, um unter das erwähnte Möbel zu blicken, und legte dabei seine Hand genau auf die Stelle, an welcher der Ring lag. Er ergriff ihn, ohne dass der Sänger es bemerkte, hielt ihn zwischen den Fingern fest, erhob sich nach kurzer Zeit wieder und sagte:

    „Ich sehe ihn wirklich nicht."

    „So lass doch nur! Mein Diener muss ihn ja finden. Du bist doch nicht etwa da, um ihm Handlangerdienste zu leisten."

    Der Baron begab sich auf seinen Stuhl zurück und ließ dann gelegentlich den Ring heimlich in seiner Tasche verschwinden.

    „Nun also, besinnst du dich?", fragte er, das unterbrochene Gespräch wieder aufnehmend.

    „Will sehen. Wenn ich es mir recht überlege, so war die Rede davon, dass du behauptet hast, bedeutende Güter in der Ukraine zu besitzen."

    „Hat man etwa daran gezweifelt?"

    „Hm! Man schien allerdings Zweifel zu hegen."

    „Donnerwetter! Man mag das mich ja nicht etwa hören lassen!"

    Er tat sehr zornig, doch hätte der Sänger, wenn er aufmerksamer gewesen wäre, bemerken müssen, dass dieser Zorn mit einem guten Teil von Verlegenheit gemischt war.

    „Nun, mir ist es ja ganz gleich, wo deine Güter liegen. Aber Graf Senftenberg bemerkte, dass in der Ukraine der Name Stubbenau vollständig unbekannt sei."

    „Wie kann er das wissen?"

    „Weil er auch dort ebenso wie in der Krim begütert ist."

    „Davon weiß ich nichts."

    „Aber ich weiß es genau."

    „Kann er nicht ebenso gut flunkern, wie ich geflunkert haben soll?"

    „O nein. Ich war bei ihm, als er eben mit einem der dortigen Inspektoren verhandelte, und habe alles mit angehört. Er muss wirklich steinreich sein."

    „So mag er sich um seine Liegenschaften bekümmern, aber ja nicht um die meinigen!"

    „Wenn seine Bemerkung dich beleidigt, so will ich ihm sagen, dass du wünschst, er solle sie zurücknehmen."

    „Wie meinst du das?"

    „Nun, du hast ja vorhin von deinem Degen gesprochen, wenn ich mich recht erinnere."

    „Du sprichst, wie es scheint, von einem Duell?"

    „Natürlich!"

    „Fällt mir nicht ein!"

    „So! Dann hast du kälteres Blut als ich. Wenn ich gesagt hätte, dass ich Besitzungen in der Ukraine hätte, und irgendeiner behauptete, dass mein Name dort nicht bekannt sei, den wollte ich koramieren¹⁴!"

    „Ich bin ein Edelmann, aber kein Raufbold. Übrigens bin ich kein Anhänger der Lehre von der absoluten Notwendigkeit des Zweikampfs. Ich kann beleidigt worden sein und dann sogar auch noch im Duell den Kürzeren ziehen. Ich bin also doppelt bestraft, muss mich auch noch zu längerer Festungshaft verurteilen lassen und – was habe ich davon?"

    „Du denkst sehr praktisch!"

    „Ja. Übrigens will ich annehmen, dass der Graf seine Worte nicht so scharf gemeint hat, wie es den Anschein hat haben können. Er ist ein famoser Gesellschafter und ich will mich nicht mit ihm verfeinden."

    Dass er sich nicht mit ihm verfeinden wollte, zwecks der Gelegenheit, ihm im Spiel auch fernerhin durch falsche Karten das Geld abzunehmen, das verschwieg er natürlich.

    „Ganz wie du willst", nickte der Sänger.

    „Übrigens habe ich auch auf dich Rücksicht zu nehmen, lieber Criquolini!"

    „Auf mich? Nicht dass ich wüsste."

    „Ist es dir so gleichgültig, ob der Graf es erfährt oder nicht, dass du mir seine Äußerung mitgeteilt hast?"

    „Das ist mir wirklich sehr egal."

    „So liegt dir an seiner Freundschaft nichts?"

    „O doch! Aber ich denke, dass er vertreten soll, was er sagt; darum halte ich es keineswegs für eine Indiskretion, dass ich dir gesagt habe, was er geäußert hat. Übrigens ist er wohl nicht der Mann, welcher aus Feigheit einem Duell aus dem Weg gehen würde."

    „Lassen wir das! Ich weiß nun, woran ich bin, und im Übrigen ist mir die ganze Geschichte lächerlich! Wie weit bist du mit deiner Tänzerin?"

    „Mit Valeska?"

    „Ja. Oder interessierst du dich für mehrere Tänzerinnen? Es wäre dir zuzutrauen."

    „Da irrst du. Ich kenne nur diese eine."

    „Allerdings auch die interessanteste!"

    „Das ist sie. Sie ist ein Engel."

    „Das sagt ein jeder von seiner Angebeteten."

    „Sapperment! Bist du anderer Meinung?"

    Der Sänger setzte sich aufrecht. Er hatte seine Frage in einem beinahe drohenden Ton ausgesprochen und blickte dem andern herausfordernd entgegen.

    „Bring mich nicht gleich um!, lachte dieser. „Ich glaube, du könntest für dieses Mädchen irgendeine große Dummheit begehen!

    „Welche meinst du?"

    „Dich mit mir verfeinden."

    „Das könnte ich allerdings. Ich könnte mich ihretwegen sogar sofort mit aller Welt verfeinden. Ich liebe sie! Hörst du es, ich liebe sie!"

    Der Baron ließ ein kurzes Lachen hören und antwortete, leicht mit dem Kopf nickend:

    „Gut! Ich glaube es dir! Man liebt. Das heißt, man liebt die Eine, nachdem man die Vorige geliebt hat, und wird, wenn man ihrer überdrüssig ist, die Nächste lieben."

    „Da täuschst du dich in mir. Ich liebe sie wirklich. Ich werde sie heiraten!"

    „Criquolini!"

    „Was? Hast du etwas dagegen?"

    „Mensch, blitze mich nicht mit solchen Augen an! Ich habe es ja gar nicht bös gemeint. Ich bin aber nur der Überzeugung, dass man recht herzhaft lieben kann, ohne grad an das Heiraten zu denken. Es ist nicht notwendig, dass aus jedem Liebhaber schleunigst ein Ehemann und Familienvater wird."

    „Das habe ich auch gar nicht behaupten wollen. Auch ich habe das Leben genossen und wohl manche kennengelernt, welche mir gefiel. Wenn aber dann die richtige Liebe eintritt, dann, dann – nun dann heiratet man eben."

    „Eine Tänzerin?"

    „Warum nicht? Ist eine Tänzerin ein verächtliches Geschöpf? Muss sie etwa weniger wert sein als jede andere?"

    „Das behaupte ich nicht. Aber sie gehört einem Stand, sagen wir, einem Handwerk an, dessen Genossen nicht in dem frömmsten Ruf stehen."

    „Das mag sein. Aber es gibt Ausnahmen und meine Valeska ist eine solche!"

    „Ich wünsche, dass du dich nicht irrst."

    „Ich weiß es gewiss und bin bereit, eine jede Wette mit einzugehen."

    „Nun, bei mir findest du keine Gelegenheit, diese Wette anzubringen. Ich will es dir gern gönnen, wenn du glücklich mit ihr wirst."

    „Das hoffe ich. Übrigens gehöre ich nicht zu den Dummköpfen, welche sich in ein hübsches Gesicht vergaffen und sich dann mit aller Gewalt ins Elend stürzen. Ich prüfe."

    „Und sie hat die Prüfung bestanden?"

    „Bisher, ja!"

    „Aber weiter?"

    „Die Hauptprüfung soll noch erfolgen."

    Da legte der Baron die Beine bequem übereinander, nahm jene Haltung an, in welcher man eine interessante Mitteilung gern entgegenzunehmen pflegt, und sagte:

    „Da bin ich doch begierig, zu erfahren, worin diese Hauptprüfung bestehen soll."

    „Dir gegenüber brauche ich wohl kein Geheimnis daraus zu machen."

    „Gewiss nicht. Meiner Diskretion kannst du auf alle Fälle versichert sein."

    „Das setz ich voraus. Du kennst zwar meine Angebetete nicht, aber…"

    Der Baron machte bei diesen Worten des Sängers ein Gesicht, welches dem Letzteren so auffiel, dass er, sich unterbrechend, fragte:

    „Oder solltest du sie doch kennen?"

    „Natürlich!", antwortete der Gefragte, sein Gesicht schnell in bessere Beherrschung nehmend.

    „Genau?"

    „Ich habe sie im Theater tanzen

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