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Die neue Erde
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Ebook364 pages5 hours

Die neue Erde

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About this ebook

Als am Neujahrsmorgen ein Komet die Erde trifft, verschieben sich die Klimazonen, und fast die gesamte Menschheit stirbt. In Asien kämpfen vier schiffbrüchige Europäer und eine Handvoll Inder gegen die polare Kälte, wogegen in Mitteleuropa tropische Tier- und Pflanzenarten entstehen. Die wenigen übriggebliebenen Menschen müssen sich den neuen Gegebenheiten anpassen.

Nur noch als E-Book erhältlich.
LanguageDeutsch
Release dateSep 16, 2014
ISBN9783780216540
Die neue Erde

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    Die neue Erde - Robert Kraft

    978-3-7802-1654-0-Cover

    DIE NEUE ERDE

    FANTASTISCHER ROMAN

    VON

    ROBERT KRAFT

    Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

    © 1996 Karl-May-Verlag

    ISBN 978-3-7802-1654-0

    EDITION USTAD

    im

    KARL-MAY-VERLAG

    BAMBERG • RADEBEUL

    Der vorliegende Roman spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

    Erster Teil: Claudius der Prophet

    1. Kapitel

    Der deutsche Passagierdampfer ‚Gladiator‘ steuerte in die Straße von Malakka ein. Sein Ziel war Singapur. Eine versengende Glut brütete über der spiegelglatten Wasserfläche, halb verschmachtet lagen oder saßen die Passagiere an Deck unter den Sonnensegeln, und einige von ihnen hatten auch noch in der Nacht dem Silvesterpunsch etwas zu reichlich zugesprochen. Da rächte sich der erste Januar in diesem Klima auf eine furchtbare Weise.

    Unfähig zu lesen, zu sprechen, sich zu bewegen, auch nur zu denken, wurden doch alle von einer gewissen Angst beherrscht. Wohl fächelte ein leiser Wind ihre Wangen, aber das war nur der Widerstand, den sie selbst auf dem schnellen Dampfer der Atmosphäre boten. In Wirklichkeit herrschte vollkommene Windstille, kein Wölkchen trübte den blauen Himmel, dagegen war die Sonne von einem Nebel umflort, wie es bei solch einer Witterung noch niemand beobachtet hatte. Am beunruhigendsten war das Benehmen des Kapitäns und der Steuerleute. Sie waren vollzählig auf der Kommandobrücke versammelt, flüsterten zusammen, der sonst so gelassene Kapitän Becker zeigte offenbare Besorgnis, ging in das Kartenhaus, das auch die notwendigsten nautischen Instrumente barg, rief die Offiziere, schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern.

    „Ich glaube, wir können uns auf einen kleinen Taifun gefasst machen", meinte ein Herr phlegmatisch und bemühte sich dann, das Gähnen zu unterdrücken, welches diese Bewegung der Sprachwerkzeuge nach langer Pause erzeugte.

    Die Worte waren an eine junge Dame gerichtet, die halb liegend auf einem Klappstuhl ruhte und mit matter Hand einem kleinen Mädchen Kühlung zufächelte.

    Eva Becker war die Schwester des Kapitäns und begleitete diesen schon seit mehreren Jahren, fast seitdem sie als achtzehnjähriges Mädchen das Pensionat verlassen hatte, ständig auf seinen Seereisen. Das Schiff war ihr völlig zur Heimat geworden. Solch ein Salondampfer wetteifert ja mit dem komfortabelsten Hotel und dabei wechselt auch noch von Zeit zu Zeit die Aussicht aus dem Fenster. Lief das Schiff eine größere Hafenstadt an, so besuchte sie einmal das Theater, die Oper, das Kunstmuseum, andere ihr noch fremde Sehenswürdigkeiten, orientierte sich über die neuesten Erscheinungen der schönen Literatur, ergänzte ihre eigene Bibliothek, folgte einmal einer Einladung, machte einen Ausflug mit, und dann blieb sie wieder an Bord. Dabei war das junge Mädchen vollkommen frei von Melancholie, Schwärmerei und Emanzipiertheit, dichtete nicht den Mond an, ergriff nicht im Sturm mit starker Hand das Steuerrad, kletterte nicht einmal auf den Rahen herum – aber Geist hatte sie, und dass, wenn dereinst der Rechte kam, sie das Schiff verließe, darüber war sich Eva auch klar. Sie hoffte nur, es würde ein Seemann sein.

    Vor einem Jahr war Kapitän Beckers Frau gestorben. Als sich der Vater mit der Schwester über das mutterlose Kind beraten wollte, machte ihm Eva kurzerhand den Vorschlag, die dreijährige Martha doch auch mit aufs Schiff zu nehmen, und Becker war hiermit sofort freudig einverstanden. Es ist überhaupt nichts Seltenes, dass Kapitäne, selbst solche von Segelschiffen, ihre ganze Familie beständig bei sich an Bord haben, sie wirken sich die Erlaubnis aus, ihre Kinder selbst unterrichten zu dürfen, und man kann sich eigentlich gar kein idealeres Familienverhältnis denken, vereint in Sonnenschein, in Sturm, in Not und Tod – von der Bildung, Anregung, Menschenkenntnis usw., die auf solchen Seereisen den zu erziehenden Kindern zuteilwird, vor allen Dingen auch Gesundheit, gar nicht zu sprechen.

    So blieb auch die kleine Martha an Bord des ‚Gladiator‘ und die Tante war ihr eine liebevolle Mutter und Lehrerin.

    „Sie haben sicher noch keinen Taifun durchgemacht, Herr Claudius", entgegnete Eva auf die Bemerkung ihres Nachbars.

    „Woraus schließen Sie das mit Sicherheit?"

    „Sonst würden Sie das nicht so gleichgültig sagen."

    „Nein, ich habe noch keinen erlebt, möchte es aber einmal."

    „Freveln Sie nicht. Der ‚Gladiator‘ geriet in den chinesischen Gewässern nur in den abgeschwächten Ausläufer eines Taifuns – es war schon entsetzlich genug! Und dass ich schon tüchtige Stürme erlebt habe, ohne mir viel daraus zu machen, dürfen Sie mir wohl glauben. Aber nur keinen kreisenden Taifun!"

    „Wenn’s aber käme, dann ließe sich ja das neue Jahr recht hübsch an. Die armen Leutchen! Gestern haben sie den ganzen Tag beraten, wie sie das neue Jahr einweihen wollten – Essen und Trinken spielte natürlich die Hauptrolle im Programm – und heute liegen sie alle wie die Fliegen da. Und nun gar noch Aussicht auf Sturm und Gewitter, Seekrankheit und dergleichen. – He, Georg, komm mal her! Was bringst du da?"

    Ein Schiffsjunge ging vorüber, einen Stoß gummiartiger Platten tragend, und wie er nach den Passagieren blickte, ob man ihn auch bemerke, drückte sein Wesen halb Stolz, halb Angst aus. Dies eben war dem scharfsichtigen Herrn aufgefallen. Ehe aber der Gerufene zu ihm kommen konnte, winkte des Kapitäns Schwester dem Jungen gebieterisch, weiterzugehen. Dann neigte sie sich vor und legte den Finger auf des Herrn Schulter.

    „Es sind Rettungsgürtel aus Gummi, zum Aufblasen, flüsterte sie. „Still, die Passagiere brauchen nicht zu erfahren, dass schon solche Sicherheitsmaßregeln getroffen werden, da bricht leicht eine Panik aus. Wenn ich nur wüsste, was mein Bruder hat, der gebärdet sich ja plötzlich wie ein Wahnsinniger.

    Auf der Kommandobrücke schien Rebellion ausgebrochen zu sein. Noch immer gingen die Offiziere im Kartenhaus ein und aus, jetzt sogar im Sturmschritt, sie nahmen die Sonne auf und berechneten die geografische Lage, einer entriss dem anderen den Sextant, dieser wieder jenem das Logarithmenbuch, der Kapitän fuhr den am Steuerrad stehenden Matrosen grimmig an, man hörte Worte wie „Schlingel und „betrunken, alle Offiziere versammelten sich um den Kompass, plötzlich stürzte der Kapitän darauf zu und rüttelte an der Bussole[1], als wolle er das Kompassgehäuse abreißen, und dann blickten sich wieder alle an.

    Das war kein Benehmen für die Führer eines Passagierdampfers, von Kapitän Becker war man so etwas auch nicht gewohnt, und das hatte Eva zu der Äußerung veranlasst.

    „Es muss doch etwas ganz Ungewöhnliches vorliegen, ich möchte meinen Bruder einmal fragen..."

    „Bitte bemühen Sie sich nicht, fiel ihr Claudius ins Wort und stand auf. „Sie leiden unter der Hitze, ich dagegen bin hartgesotten, wie Sie immer sagen. Gleich werde ich Ihnen Nachricht bringen. Nach dem, was ich vernommen, hat in der Silvesternacht einer zu viel des Guten getan – entweder der Matrose am Steuer oder die Kompassnadel.

    Langsam schlenderte er der Kommandobrücke zu und stieg die Treppe hinauf; jeder andere Passagier bewunderte diesen Gang als eine Heldenleistung und fühlte die Strapaze mit.

    Sinnend blickte Eva der schlanken, eleganten Gestalt im weißen Tropenanzug nach. Seltsam, so wie dieser Mann hatte sie noch kein anderer gefesselt, und gerade dieser verdiente ihre Sympathie – nein, ihre Achtung am allerwenigsten, und – von Äußerlichkeiten ließ sie sich nicht mehr bestechen; auf dem schwankenden Schiff kommt stets eine Gelegenheit, um die wahre Natur eines jeden Menschen kennenzulernen. Ein interessanter Charakter war er allerdings.

    In Gibraltar war es gewesen, wo man Kohlen eingenommen und auch Briefe und Zeitungen erhalten hatte. Ein schreckliches Schiffsunglück wurde gemeldet, wobei die Besatzung in empörendster Weise vorgegangen war – ein Kampf um die Rettungsboote, Revolverschüsse, Messerstiche, abgehackte Hände, die sich ans Boot hatten klammern wollen. Als man bei Tisch diese furchtbaren Rohheiten mit Abscheu besprach, nahm plötzlich eine Stimme energisch Partei für die Unholde, wollte sie verteidigen! Erst eine stille Pause, weil man glaubte, nicht recht gehört zu haben, dann von allen Seiten ein Schnellfeuer der Entrüstung. Als der Betreffende gar nicht mehr zu Worte kam, zuckte er die Achseln und vertiefte sich kaltblütig in seinen Teller.

    Das war Heermann Claudius gewesen, wie er sich in das Kajütenbuch eingetragen, Heermann mit zwei ‚e‘. Bisher hatte ihm Eva keine Beachtung geschenkt. Wohl war ihr der junge Mann mit den interessanten Zügen, der mit niemand verkehrte, schon aufgefallen, aber einen Grund, sich ihm zu nähern, fand sie nicht. – Was, dieser stille, bescheidene Mann war ein Fürsprecher der brutalen Gewalt? Jetzt musste sie ihn kennenlernen, solche Studien liebte sie.

    „Es war wohl nicht Ihr Ernst, dass Sie vorhin so sprachen."

    „Ja und nein. Man schnitt mir ja gleich das Wort ab, das ist für solche Geister, die sich einen Trinkspruch erst im Konzept ausarbeiten, das Allerbequemste. Ich ärgere mich, überhaupt davon angefangen zu haben, bei denen ist doch jede Silbe verloren. Darf ich zu Ihnen mehr davon sprechen? Sehen Sie dort den dicken Holländer, der sich am meisten gegen die Brutalität der Matrosen ereiferte, der mich am meisten verdammte. – Der, versichere ich Ihnen, ist schon im Stande, sein ganzes malaiisches Küchenpersonal zu massakrieren, wenn ihm das Essen einmal angebrannt vorgesetzt wird. Wenn er’s nur dürfte! Das merke ich ihm bei Tisch an, wie er mit der Zunge schnalzt. Alles Lug und Trug, diese Gefühlsduselei – und dennoch ist die Empörung dieser Leute wahr und edel. Das klingt paradox, nicht wahr, gnädiges Fräulein? Man muss unterscheiden, was wir nach unserer Vernunft und vor allen Dingen nach Erkenntnis unseres eigenen Ichs tun wollen, und was wir im Augenblick des Handelns tun werden. Wohin ich auch in der Natur schaue, überall werde ich belehrt, dass das Stärkere siegt und das Schwächere zu Grunde geht, das will die Natur durchaus, denn sie strebt immer vorwärts und will die Art erhalten. Dabei sollen wir die Natur auch unterstützen; arbeiten wir entgegen, dann rächt sie sich; fangen wir alle Vögel weg, so schickt sie uns Fliegen auf den Hals. – Wenn ich in einem Boot bin, nur noch ein einziger Mann dazu, und das Boot muss sinken, sodass alle untergehen – dann ist es meiner Anschauung nach sogar meine Pflicht, jenen Mann abzuwehren, und müsste ich ihn dabei töten. – Die Natur hat uns den Selbsterhaltungstrieb gegeben. Der ist vorhanden, darüber lässt sich wohl nicht streiten. Wer aber nun in diesem Trieb nicht nur die Furcht vor dem Tode erkennt, sondern ein energisches Bestreben der Natur, unserer gütigen Mutter, die Art zu erhalten, der ist noch zu etwas ganz anderem berechtigt. Gesetzt den Fall, ich bin nur noch mit einem zweiten Menschen in einem Boot, wir haben noch hundert Meilen zu segeln, ehe wir das Land erreichen und gerettet sind, ich weiß das genau, auf einen glücklichen Zufall dürfen wir nicht rechnen, der Proviant aber langt für uns beide nur noch für fünfzig Meilen, so müsste ich als der Stärkere meinen Begleiter schon töten, während wir beide vorläufig noch genug Nahrung haben. Denn beide lebendig erreichen wir das Ufer nicht. Wenn ich dies erkannt habe, jener nicht, so bin ich unbedingt der Stärkere, mag der andere auch gegen mich ein Riese an Kraft und Geist sein, ich verstehe den Willen der Natur besser als er, deshalb habe ich das Recht, ihn sogar meuchlings zu töten. – Aber bitte, Fräulein, denken Sie nicht gar zu schlecht von mir, ich bin gar kein solcher Wüterich; wenn es darauf ankäme, würde ich meiner ganzen Philosophie doch inkonsequent. Im Übrigen soll man von so etwas gar nicht sprechen, und wenn man dazu gezwungen wird, so soll man den Hut abnehmen und einfach sagen: Herr, führe uns nicht in Versuchung!"

    Dieses letzte Wort, feierlich gesprochen, hatte für Eva alles, alles wiedergutgemacht. Seitdem verkehrte sie mit ihm, und er hätte auch keine andere Gesellschaft an Bord gefunden, die ihn verstand. Eva verstand ihn. Das Gespräch wurde täglich fortgesetzt, es war immer dasselbe Thema, er betete den Willen der Natur an, es schien gar kein Ende nehmen zu wollen, vom Hundertsten kam man ins Tausendste, ohne dass Eva vorläufig mehr von ihm wusste, als dass er Heermann Claudius hieß. Immer mehr fühlte sie sich zu ihm hingezogen, solch einen Gesellschafter, der über die tiefsten Mysterien der Natur so geistreich, lustig und sogar witzig plaudern konnte, und dabei dennoch dieser Natur immer göttliche Verehrung zollend, hatte sie noch nicht kennengelernt. Seine allumfassende Bildung und Belesenheit war erstaunlich, aber, das merkte sie bald, in keinem Fach war er gründlich und er sagte es ihr selbst. Seine Offenheit war überhaupt grenzenlos; Lüge, Eitelkeit, hohle Phrasenmacherei, alles war ihm ganz fremd, ja es kam ihr sogar vor, als bestände seine einzige Schwäche eben darin, mit seiner Unkenntnis in gewissen Sachen zu prahlen – und leider manchmal auch mit seiner gesellschaftlichen Verkommenheit.

    Einst kam Eva auf das Seltenwerden und gänzliche Aussterben gewisser Tiere und Völkerrassen zu sprechen, das war etwas auf des Naturanbeters Mühle. Er stellte aber auch gleich so kühne Behauptungen auf, dass Eva nur immer den Kopf schüttelte und sogar lachen musste. Er behauptete nämlich, die Menschen könnten überhaupt nichts von der Erde vertilgen, seien dazu gar nicht im Stande, und wenn etwas ausgerottet würde, so sei dies der beabsichtigte Wille der Natur gewesen.

    „Aber erlauben Sie, Herr Claudius! Die Lerchen werden immer seltener, und nicht lange mehr, so wird der letzte Elefant geschossen sein, unsere Nachkommen werden Lerchen und Elefanten nur ausgestopft kennen, schließlich ihre einstige Gestalt nur noch aus Knochen und erdichteten Bildern ersehen. Die Natur hat diese Tiere doch sicher nicht aussterben lassen wollen..."

    „Woher wissen Sie das mit Sicherheit?"

    „Nun, Sie Wortwäger, die Bedingungen zu ihrer Existenz sind doch da, sind noch dieselben. Nein, weil die gebratenen Lerchen so gut schmecken, weil das Elfenbein kostbar ist, deshalb verschwinden diese Spezies von der Erde, der Eigennutz des Menschen ist daran schuld. Ich begreife wirklich nicht, Herr Claudius, wie Sie dagegen noch streiten können."

    „Und ich bleibe bei meiner Ansicht, dass der Mensch keine Art vernichten kann, wenn es die Natur nicht will. Die allweise Natur besäße doch so viele Kniffe und Listen, einige Repräsentanten der Schöpfung, an der sie Hunderttausende von Jahren gearbeitet hat, vor dem Menschen zu schützen, und werden Tiere gänzlich von der Erde vertilgt, wie etwa in neuerer Zeit die Elche, so geschieht dies eben mit dem Einverständnis der Natur, oder vielmehr, weil die Natur gewisse Tiere nicht mehr zur Erhaltung ihrer anderen Schöpfung braucht, veranlasst sie erst den Menschen, diese Tiere auszurotten. Wir sind überhaupt nur Werkzeuge in der Hand der Natur; was wir tun, wird uns von der Natur erst suggeriert."

    „Oh, das wäre aber traurig! Sie glauben doch nicht etwa an ein Kismet?"

    „Doch, an ein Kismet der Natur, das sind eben die Naturkräfte. Sie können ganz beruhigt sein. An ein individuelles Kismet, also an das, was man gewöhnlich Verhängnis nennt, glaube ich nicht. Das wäre allerdings sehr traurig, wenn’s das gäbe. – Ich möchte Sie um eine Ansicht bitten, Fräulein Becker. Die Annahme, von der ich ausgehe, steht freilich in Widerspruch mit meinen früheren Behauptungen, aber ich will sie einmal voraussetzen: Alle Menschen auf der Erde werden innerhalb einer kurzen Frist von einer Seuche hinweggerafft – oder, noch besser – alle Menschen auf der Erde verabreden sich, in ein und demselben Augenblick Selbstmord zu begehen. Die Rasiermesser werden verteilt – ein jeder hat das seine in der Hand, der Greis wie das Kindlein in der Wiege, der Hottentotte wie der Eskimo – das Zeichen wird gegeben – ein allgemeiner Kehlschnitt – schrumm – auf der ganzen Erde existiert kein einziger Mensch mehr. Was würde wohl die um ihr wertvollstes Produkt betrogene Schöpfung tun?"

    „Neue Menschen schaffen."

    „Ja, das ist leicht gesagt, aber wie, wie! Ich verlange ja nicht von Ihnen, dass Sie mir das Experiment vormachen sollen, ich bitte nur um etwas nähere Erklärung. Wie stellen Sie sich die Sache vor?"

    „Dann bekenne ich mich einfach als Anhänger der Darwinschen Theorie über die Entwicklung der Arten", lächelte Eva, noch an den allgemeinen Kehlschnitt denkend. Dieser Mann hatte manchmal sonderbare Einfälle.

    „Sie meinen also, die Wiederentwicklung ginge stufenweise vor sich?"

    „Wie könnte es anders sein?"

    „Periode nach Periode, vom Affen an, mit Zwischenpausen von Tausenden von Jahren, genau so, wie es einst gewesen ist?"

    „Ganz genau so, wie sich der Mensch schon einmal entwickelt hat."

    „Falsch, grundfalsch!, rief Claudius mit einer Überzeugung, als habe er sich das ganze Schauspiel schon einmal angesehen. „Die so hintergangene Schöpfung wird jetzt anderes vernachlässigen und ihre ganze Kraft darauf konzentrieren, wieder ebensolche Menschen zu schaffen, mit denselben körperlichen und geistigen Anlagen wie zur Zeit der Vernichtung; sie wird schieben und drängen und nicht eher ruhen, als bis der Schaden wiedergutgemacht ist. Unter denselben Bedingungen dieselben Verhältnisse! Der Geist des Menschen ist unsterblich, wenn er auch – nach meiner Ansicht – nach dem Tode nicht individuell, oder aber, wenn dies der Fall wäre, nicht bei individuellem Bewusstsein ist. Was in Jahrtausenden errungen worden ist, geht nicht mit einem Mal zu Grunde; der Geist ist noch da, er wird Mittel und Wege finden, sich wieder zu inkarnieren. Jede Geburt ist Zeuge von solcher Inkarnation eines Geistes, der einen Bildungsgang von Millionen von Jahren durchlaufen hat; und wozu der Mensch, um zu seiner jetzigen Kultur zu kommen, eine ungeheuer lange Zeit gebraucht hat, das vollendet er jetzt in einem Moment. Das heißt, ich spreche von einem Moment, um den Gegensatz auszudrücken. Dass ein Affe nun nicht gleich einen Professor mit Glatze und Brille zur Welt bringt, ist selbstverständlich. Aber einzelne Individuen werden erzeugt, in denen sich alle Charaktere und Geisteskräfte der früheren Generationen zusammen konzentrieren – Übermenschen, lautet jetzt der terminus technicus. Sie beschränken sich auf eine geringe Anzahl, pflanzen sich fort, halten zusammen – für diesen Instinkt sorgt schon die Natur –, sie stehen so hoch über den anderen Menschen wie wir über den niedrigsten Tieren. Durch diese Kaste der Genies wird die Kultur im Vergleich zu früher mit fabelhafter Schnelligkeit fortschreiten. Was einst in tausend Jahren entdeckt und geschaffen wurde, ersteht jetzt in einem Jahr, und in dem Augenblick, da die alte Kulturstufe wieder erreicht worden ist – da ist’s auch wieder aus. Von da an geht es wieder im alten Bummelschritt und die potenzierten Kräfte der Übermenschen verteilen sich nach und nach auf die anderen. Nur ab und zu, wenn der Natur der Bummelschritt gar zu langsam wird, schickt sie noch einen, um der Menschenentwicklung wieder mal einen Schub zu geben. – Fräulein Becker, na was gilt die Wette, dass es so ist?

    Mit solch einem Scherz schloss er gewöhnlich.

    Dasselbe Thema führte sie von selbst auf die Erblichkeit der Geistes- und Charakteranlagen, und um Beweise für einige seiner wieder sehr kühnen Behauptungen zu bringen, erzählte Claudius mit gewöhnlicher Offenheit von seiner Familie, schließlich auch von sich selbst.

    Er stammte aus einer echt deutschen Familie, und zwar aus einem Geschlecht, von dem er beweisen konnte, dass jedes Mitglied, ob Mann oder Weib, in irgendeiner Richtung ein Genie gewesen oder noch war, wobei man freilich nicht gleich auf einen bedeutenden Menschen zu schließen braucht. Es gibt zum Beispiel auch sogenannte Sumpfgenies. Wer im Geschlechte Claudius’ nicht den Gipfel der Menschheit erklommen, der hatte in der Gosse geendet oder im Wahnsinn oder durch Selbstmord oder im Duell oder durch einen anderen Unglücksfall, der aber stets sensationell sein musste. In der Familie Claudius hatte es einen Minister gegeben und einen berühmten Tierbändiger, einen Großindustriellen und einen Affentheaterdirektor, einer war General gewesen, ein anderer war noch jetzt rechter Flügeladjutant bei Booth in der Heilsarmee; in New York ein Senator, in den Felsengebirgen eine Art von weißem Häuptling, im Varieté ein Komiker, ein gesuchter Tiefseetaucher, ein Maler, ein Bänkelsänger – alles bunt durcheinander, in Ehren gestorben, unter Salut begraben, erschossen, verkommen, verdorben...

    Heermanns Vater, als Kind schon aufgegeben und im Korrektionshaus erzogen, hatte es durch Redlichkeit, Sparsamkeit und eisernen Fleiß zum reichen Mann gebracht. Er war an zwei Pfund Spickaal und einhundertdreiundachtzig Austern gestorben. Als Gattin hatte er sich die koketteste Balleteuse ausgesucht, die sich dann als eine tugendsame Hausfrau und gute Mutter erwies. Von den vier Töchtern nahm die eine in Zürich einen Lehrstuhl der medizinischen Fakultät ein, war aber morphiumsüchtig. Die zweite, die schüchterne, stille Helene, die sich immer so nach dem Kloster gesehnt hatte, war eine gewaltige sozialdemokratische Volksrednerin geworden. Die dritte machte gegenwärtig jeden Abend in einem Petersburger Zirkus den dreifachen Todessprung und schrieb nebenbei vielgelesene Erbauungsbücher. Die vierte, welche noch die Schule besuchte, ein pianistisches Wunderkind, schon zur Kammervirtuosin ernannt, war vor Kurzem mit einem Obertertianer durchgegangen.

    Nun Heermann selbst, der einzige männliche Spross dieser Linie. Er hatte Offizier werden wollen, verließ die Kadettenschule jedoch wieder, besuchte das Gymnasium, um aus Neigung später Theologie zu studieren, trat aber, nachdem er das Maturitätsexamen bestanden, lieber in des Vaters Geschäft ein, trat wieder aus, besuchte philosophische Vorlesungen, verdammte in einem Pamphlet das Duell und hatte gleich darauf selbst einen Zweikampf. An der weißgetünchten Wand der Festungszelle entdeckte er sein malerisches Talent und ging zur Kunstakademie, aber anstatt zu malen, trieb er Musik, bildete sich nebenbei zum Schauspieler aus. Als dem idealen Hamletdarsteller ein glänzendes Engagement angeboten wurde, zog er es vor, eine Expedition nach Madagaskar auszurüsten. In Madagaskar beschloss er, seine prächtige Stimme auszubilden, und als er in die Öffentlichkeit treten sollte, Ehre und Reichtum ihm winkten, vergrub er sich in die Einsamkeit, trieb asketische Übungen und studierte die alten Mystiker. Bei Agrippa von Nettesheim angelangt, fiel ihm ein untrügliches System ein, wie man die Bank von Monte Carlo sprengen konnte. Er reiste sofort hin, verspielte an einem Tag sein ganzes väterliches Erbteil, schrieb hierauf eine von zwei Regierungen preisgekrönte Abhandlung, wie ein Staat am schnellsten seine Schulden decken kann – und nun bezahlte die Mutter noch einmal seine Schulden. Nun aber fort mit ihm, jetzt wurde der unverbesserliche Taugenichts nach China geschickt, wo ein Claudius Teeplantagen besaß; dort sollte er entweder für ein geordnetes Leben gewonnen werden oder für immer verschwinden.

    Wie er dies alles mit schlichter Offenheit und mit seinem trockenen Humor erzählte – Eva wäre vor Lachen bald mit dem Stuhl umgefallen und dabei hatte sie doch Tränen der Wehmut im Auge.

    Armer, unglücklicher Mensch! Eine Güte der Vorsehung nur, dass sie dem jetzt dreißigjährigen Mann trotz all seines Scharfsinns noch immer die fröhliche Naivität eines Kindes gelassen hatte.

    Den Schlüssel zu seinem rätselhaften Charakter hatte er ihr ja selbst gegeben, und er hatte Recht. Heermann war der geistige Erbe einer ganzen Generation von hochbegabten Menschen mit den verschiedensten Charakteranlagen. Es war gewissermaßen alles in ihm aufgespeichert, was jene getan, gedacht, gefühlt und gewollt hatten. Er befand sich in einem steten Schwanken, wurde hierhin und dorthin gezogen, und er allein konnte nicht die in ihm wirkenden zügellosen, gegeneinander kämpfenden Kräfte für seinen Willen bändigen. Noch stand er nicht am Scheideweg und dann kam es nicht darauf an, welche Richtung er selbst wählte, sondern auf welchen Weg er von einer anderen Hand geleitet würde. Und wollte ihn diese auf den besseren zwingen, der nach oben führt, so musste es eine sehr raue Hand oder aber eine sehr liebevolle sein. Das wusste Heermann selbst, er sprach sich darüber ebenso rücksichtslos aus.

    „Wissen Sie, Fräulein Becker, was mir fehlt, um aus mir einen vernünftigen und nützlichen Menschen zu machen? Zweierlei könnte es sein: entweder ein allgemeiner Völkerkrieg, an dem ich wie am Schachbrett die Rolle eines internationalen Schlachtenlenkers spiele – oder eine Frau, die mich jeden Tag dreimal durchprügelt. Ja, lachen Sie nur!"

    Jetzt also blickte Eva dem nach der Kommandobrücke Gehenden sinnend nach.

    Bald kam Heermann zurück. Man hatte ihn auf der Brücke gar nicht beachtet, die Offiziere waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, sie gebärdeten sich noch immer, als lägen sie miteinander in Streit.

    „Die Naturelemente haben den ersten Januar ebenfalls als Feiertag angesetzt. Die Kompassnadel will nicht mehr nach Norden zeigen, sie dreht die Spitze zur Abwechslung einmal nach Westen, und das Barometer amüsiert sich unausgesetzt mit zollhohen Sprüngen."

    „Was, und da können Sie auch noch scherzen?", rief Eva erbleichend.

    „Ja, geehrtes Fräulein, ich kann wahrhaftig nichts dafür. Bitte, verschonen Sie mich mit Vorwürfen."

    „Um Gotteswillen, wenn der Kompass nicht funktioniert – hier in der engen Inselstraße – ich weiß, was das zu bedeuten hat."

    „Er wird schon wieder zur Vernunft kommen."

    „So etwas ist noch gar nicht dagewesen!"

    „Der erste Tag dieses Jahres beweist, dass alles geschehen kann, was bisher noch nicht geschehen ist."

    „Herr Claudius, Sie scherzen! Die Kompassnadel zeigt wahrhaftig nach Westen?"

    „Ich hörte es wenigstens. Die Offiziere können sich überhaupt nur noch aus dem Stand der Sonne orientieren, wo links und wo rechts ist. Zuerst wollten sie dem Mann am Ruder das Ablenken der Nadel in die Schuhe schieben, als ob der arme Kerl ein Magnetblock wäre. Seine rote Nase passte freilich dazu."

    „Wie können Sie sich das erklären?"

    „So intim bin ich noch nicht mit den Naturgeistern, dass sie mich zum Vertrauten ihrer Streiche machen. – Jedenfalls atmosphärische Einflüsse. Die Sonne scheint heute auch einmal streiken zu wollen."

    Es bereitete sich etwas in der Atmosphäre vor, was alle mit einer undefinierbaren Angst erfüllte. Auch der Schlaffste wurde aus seiner Apathie gerissen, sie standen auf, drängten sich zusammen, flüsterten, blickten nach dem Kapitän und nach dem Horizont, wo es dunkelviolett aufstieg. Darüber lagerte ein schwefelgelber Streifen. Obgleich der Himmel noch hellblau war, zog es sich doch wie ein schwarzer Schleier über die Sonne. Es wurde dunkler. In der Luft herrschte eine Spannung, die einem kaum noch das Atmen erlaubte. Man vermeinte, glühendes Blei einzusaugen, die Lunge schmerzte, der Herzschlag stockte, schon kamen verschiedene Ohnmachten vor, bei vielen stellte sich plötzlich heftiges Nasenbluten ein.

    Matrosen rannten über Deck, in wasserdichtes Ölzeug gehüllt, den Südwester auf dem Kopf, sie zurrten alles bewegliche Gut fest und zogen die Brassen an. Auch die Offiziere erschienen auf der Brücke im langen Ölrock, der Kapitän das Sprachrohr in der Hand. Der Signalapparat klingelte, die Schraube stoppte, bald lag der Riesendampfer regungslos auf der völlig glatten Wasserfläche.

    Noch kein Lufthauch machte sich bemerkbar, die Wolkenwand stieg auch nicht höher, aber sie erglühte abwechselnd in den verschiedensten Tinten, ein Schauspiel, das je gesehen zu haben kein Seemann sich erinnerte.

    Und immer finsterer wurde es. Die Sonne schien zu verschwinden, aber nicht hinter einer Wolke, das war keine Wolke, eher ein dunkler Flor. In diesem wurde die Sonne immer kleiner, als trete sie zurück, als wolle sie verlöschen.

    Plötzlich stand eine schwarze Gestalt an Deck, ein Buch in der Hand. Man kannte den Schwarzrock. Es war ein englischer Missionar, der unter die Heiden geschickt wurde und dessen mangelhaftes Deutsch man schon mehrmals in einer Predigt zu hören bekommen hatte.

    „Die Jungste Gericht!, begann er mit gedämpfter, unheimlicher Stimme. „Wuas sein die Jungste Gericht? Wuehe, wuehe, dreimal wuehe! Das will sein die Jungste Gericht. That is right enough. Hörst du sie wuimmern in die feurige Pfuhl, meine Bruder? Hast du schon gedenkt an Dschesus Chreist, meine geliebigte Schwuester. Wuenn es gehen wuird – pffffftt – rrrrrrr bum bum...

    Ein von Matrosen über Deck gezogenes Tau erfasste den Schwarzrock und schleifte ihn nach einer anderen Stelle, wo er seine Predigt fortsetzte.

    „Wahrhaftig, er hat Recht, da kann man an ein Kommen des Jüngsten Gerichts denken", flüsterte Eva, das wimmernde Kind an sich drückend.

    Die Spannung in der Atmosphäre nahm zu, es war bald Nacht – am Mittag bei klarem Himmel.

    Der Kapitän ging

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