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Vorhang auf: Gerd E. Schäfer
Vorhang auf: Gerd E. Schäfer
Vorhang auf: Gerd E. Schäfer
Ebook231 pages3 hours

Vorhang auf: Gerd E. Schäfer

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About this ebook

Er war ein vielseitiger Schauspieler, stand in Kabarett und Theater auf der Bühne, drehte Filme. Doch eine Rolle überstrahlte alles und brachte ihm unglaubliche Popularität: Gerd E. Schäfer war "Maxe Baumann", der komische Held aus der Fernsehlustspiel-Reihe. Sohn Alexander hat sich auf die biogra fische Spur des Vaters begeben und erzählt Familien- und Schauspielergeschichten. Und weil der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, ist ein heiteres Erinnerungsbuch entstanden, in dem nicht nur Vater Schäfer, sondern auch Kollegen wie Günter Pfitzmann, Rolf Herricht, Helga Hahnemann oder Wolfgang Gruner ihren Auftritt haben.

"Dass 'Maxe Baumann' im Osten immer noch ganz oben auf der Wunschliste steht, ist hauptsächlich Gerd. E. Schäfer zuzuschreiben."
SUPERillu
LanguageDeutsch
Release dateJun 15, 2012
ISBN9783359500001
Vorhang auf: Gerd E. Schäfer

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    Book preview

    Vorhang auf - Alexander G. Schäfer

    Entree

    Pro

    Sommer 1977, ein halbes Jahr nach der Ausstrahlung des ersten Max-Baumann-Schwanks Ferien ohne Ende. Mein Vater, durch die Titelrolle in aller Munde, war mit seinem Soloprogramm Schäferstündchen an der Ostseeküste unterwegs. Ich durfte, es waren Ferien, diesmal mitfahren.

    Da Hotelzimmer, vor allem an der Ostsee, zu DDR-Zeiten rar waren, die Veranstalter überhaupt nur ein bescheidenes Kontingent an Quartieren für ihre Künstler zur Verfügung hatten, bekamen wir eine Ferienwohnung bei Greifswald zugewiesen. Wohnung ist zu viel gesagt, es war eine Schlafkammer mit Waschgelegenheit, Kochplatte, aber ohne Kochgeschirr, Gläser, Teller … Das Wort »Mangelwirtschaft« bekam hier eine völlig neue Bedeutung.

    Nachdem wir uns häuslich eingerichtet hatten, machten wir uns auf die Suche nach einem Glas- und Porzellangeschäft, um wenigstens das Notwendigste zu ergattern.

    Wir fanden auch ziemlich schnell eines und traten ein. Die Verkäuferin würdigte uns keines Blickes, ließ uns gleich das Motto des Ladens spüren: »Der Verkäufer ist König und nur im aller-, aller-, allerdringendsten Notfall anzusprechen!« Trotz übersichtlichen Sortiments fanden wir nicht das Gewünschte. Der Notfall schien gekommen, und mein Vater fragte todesmutig nach.

    Die Verkäuferin, gestört im Einräumen nichtvorhandener Ware, drehte sich in Zeitlupe um, machte eine Miene wie »Wat, wer bist du denn?!«, pfefferte uns ein »Nicht da!« entgegen und wollte sich gerade wieder ihrer Tätigkeit zuwenden, als sie stutzte, sich erneut umdrehte und meinen Vater entgeistert anguckte, nein anstarrte. Man konnte sehen, wie es in ihrem Köpfchen arbeitete.

    Mein Vater hakte nochmals nach.

    Aber sie schien schon »vom Wahnsinn umjubelt«, denn plötzlich begannen ihre Lippen zu zittern, und ihr Gesicht färbte sich dunkelrot. Mein Vater dachte, sie habe etwas Falsches verstanden, wiederholte seine Frage freundlich zum dritten Mal.

    Jetzt gab es für die Frau kein Halten mehr. Die Dämme brachen, der Vulkan spuckte Lava. Sie fing an zu lachen. Erst leise, dann immer lauter werdend.

    Wir guckten uns irritiert an und lachten gequält mit. Mittlerweile lachte sie so laut, dass man vermuten konnte, die nichtvorhandenen Gläser zerbrächen gleich (ähnlich wie bei Oskar Matzerath in Grass’ Blechtrommel). Sie wurde immer schriller, je mehr mein Vater – er wollte sie ja beruhigen – auf sie einredete. Es war unheimlich, fast wie in einem »Exorzisten«-Film.

    Nur waren wir weder Exorzisten, noch war das hier ein Film.

    Zum Glück standen wir schon in der Nähe des Ausganges und konnten flüchten. Aber das Lachen hörten wir noch draußen.

    Contra

    Meine Mutter, mein Bruder und ich waren bei der Premiere von Hut ab, wenn du küsst, einer Adaption von Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung. Neben Angelika Waller und Alexander Lang spielte mein Vater den Wäschevertreter Blütenrein. Was er als Wäschevertreter zu der Zähmung beigetragen hat, weiß ich nicht mehr, ich war zu dem Zeitpunkt erst sechs Jahre alt. Nur so viel weiß ich, es war wohl nicht gerade ein Oscarverdächtiges Werk. Aber mein Vater hatte eine witzige Rolle.

    Das Kino war voll. Wir saßen mittendrin. Der Film fing an, und die Handlung nahm ihren Lauf. Ich begann unruhig zu werden, ein Zeichen dafür, dass ich mich langweilte, da erschien mein Vater auf der Leinwand im weißen Rewatex-Wäschemannkittel. Wir drei waren sehr erfreut ihn zu sehen, aber was sagte ein hinter uns sitzender Mann: »Da ist ja der Doofe schon wieder!«

    Pro und contra, das war typisch für das Künstlerleben meines Vaters. Er hat immer polarisiert. Entweder man freute sich, oder man ärgerte sich über ihn. Dazwischen gab es wenig Spielraum. Aber registriert wurde er immer. Das mag an seinem markanten Spiel gelegen haben, an seinem Gestus, an seiner Stimme. Zum Glück liebte, schätzte, verehrte ihn die Mehrheit des Publikums (natürlich nicht alle so euphorisch wie die Verkäuferin aus Greifswald).

    Für sie, die Mehrheit, habe ich diese Biografie geschrieben. Für die anderen natürlich auch, aber die werden sie ja eh nicht lesen.

    Um es vorweg zu sagen: Alles natürlich aus meiner Sicht, also total subjektiv.

    Politisch-geschichtliche Hintergründe – immerhin hat er in zwei Diktaturen und eineinhalb Demokratien gelebt – geraten nur ins Blickfeld, sofern sie für sein Leben wichtig waren. Ich bin schließlich kein Historiker, sondern nur ein liebender Sohn, der stolz auf seinen Vater ist.

    Ich will zeigen, wie sein Leben war, will von seinen Auftritten in Theater, Film und Fernsehen erzählen, von seinen Begegnungen mit berühmten Weggefährten und von seinem Glück, vielfach am richtigen Ort zur richtigen Zeit gewesen zu sein, will berichten, wie er das geworden ist, was er war, und wie ich ihn in Erinnerung habe: voller Eigenarten, meistens voller Witz und Charme.

    Denn gelacht hat er viel, viel über sich selbst. Noch mehr über andere. Trotzdem war er ein ernsthafter Mensch. Vor allem, wenn es seinen Beruf betraf. Da verstand er keinen Spaß. Gute Künstler waren für ihn heilig, schlechte Künstler fanden keine Gnade.

    Aber nun genug gequasselt, wie mein Vater sagen würde …

    »Vorhang auf, Film ab, Mikrofon an …«

    Kindheit und Jugend

    Dit wird nüscht! Den könn’se varjessen!

    Mein Vater wurde an einem Sonntag geboren. Dass er somit zu einem sprichwörtlichen Sonntagskind wurde, kann man, zumindest für den Anfang, nicht behaupten, denn er war ein Frühchen (kein Früchtchen, obwohl es einige Kollegen nach wie vor behaupten) und kam zwei Monate früher als errechnet zur Welt.

    Er muss in einem jämmerlichen Zustand gewesen sein. Die Hebamme – das Kind wurde zu Hause geboren – meinte in feinstem Salon-Berlinisch: »Dit wird nüscht! Den könn’se varjessen!«

    Aber seine Mutter, meine Oma, ließ sich davon nicht abschrecken, fand ihn einfach nur »goldig«, und das nicht nur, weil er in den sogenannten Goldenen Zwanzigern geboren wurde. Die waren bekanntlich, außer für die Kunst und Kultur, alles andere als golden. Schon gar nicht 1923, dem Geburtsjahr meines Vaters. Zwar gab es nur Milliardäre, es war Inflation, aber da 1 Kilo Brot rund 233 Milliarden Reichsmark kostete, musste man schon Multi-, Multi-, Multimilliardär sein, um sich ein einigermaßen anständiges Leben leisten zu können. So einer muss ein gewisser Wilhelm Kollhoff gewesen sein, denn der meldete am 31. Oktober als erster Rundfunkteilnehmer Deutschlands sein Radio an und zahlte dafür immerhin schlappe 350 Milliarden Reichsmark. Was beweist, es gibt immer wieder Menschen, die für Kunst und Kultur ein paar Milliarden übrig haben.

    International war es unter anderem ein Jahr des Leders. Der spätere Modezar Gucci gründete in Italien sein Imperium mit einer Pferdesattlerei, in Ägypten wurde den Forschern die Lederhaut Tutanchamuns zum ersten Mal offenbart, die Kultstätte des runden Leders, das Wembley-Stadion, wurde in London eröffnet, und der äußerst zähe Walt Disney gründete in Amerika seine Disneystudios. Ob das nun der Grund dafür war, dass Martin Gebhardt den ersten Flickflack turnte, ist leider nicht mehr herauszubekommen. Auch nicht, ob die Eröffnung des ersten Tapetenmuseums in Deutschland etwas mit dem ständigen Tapetenwechsel in der Politik zu tun hatte. Denn nicht nur der Finanzkurs war hier aus den Fugen, sondern das gesamte Land. Deutschland hatte sich fünf Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Monarchie immer noch nicht erholt. Linke und Rechte probten erfolglose Aufstände. Dabei taten sich ein gewisser Adolf Hitler und Hermann Göring besonders hervor. Wegen ausbleibender Reparationszahlungen besetzten die Franzosen das Ruhrgebiet. Auch den jungen Freistaat Flaschenhals, ein zwischen Koblenz und Mainz liegender schmaler Landstreifen und 1919 durch einen Vermessungsfehler der Alliierten entstanden, erwischte es dabei, und er verschwand von der Landkarte. Leider gab es zu der Zeit noch kein ausgebautes Informationsnetz, kein Internet, geschweige denn Facebook oder Twitter, so dass es kaum bemerkt wurde und der dramatische Hilferuf »Flaschenhälse aller Länder vereinigt euch« unter den einheimischen Flaschenhälsen verhallte. Nun weiß man nicht, ob meine Oma vielleicht einen Schreck über das plötzliche Flaschenhals-Ende bekommen hatte oder den Franzosen zeigen wollte, dass die Deutschen so einfach nicht unterzukriegen sind. Jedenfalls am Nationalfeiertag der Franzosen, am 14 Juli, kam mein Vater Gerhard Kurt Egilhard Schäfer zur Welt.

    Das »E«

    Um ein Geheimnis vorweg zu lüften: »Egilhard« steckt hinter dem »E« im Namen meines Vaters. Also nicht Erich oder Egon, wie einige Genossen des Politbüros fälschlicherweise verbreitet haben. Eigentlich sollte er Eginhard heißen. Aber vielleicht war der Beamte schwerhörig oder Legastheniker oder beides. Jedenfalls wurde mein Vater so zu einem scharfen Schwert. So die wörtliche Übersetzung des Namens. Immerhin, eine scharfe Zunge hatte er dann später – auf der Bühne und auch privat.

    Diese unfreiwillige Namensänderung scheint erblich zu sein. Ähnliches widerfuhr meinem Sohn Maximilian, der mit drittem Vornamen Tristan heißen sollte, nach meiner Lieblingsoper Tristan und Isolde. Da die Standesbeamtin, wie ich aus sicherer Quelle weiß, weder schwerhörig noch Legasthenikerin war, sondern wohl eher Opern- beziehungsweise liebesunkundig oder einfach nur eine fleißige Kirchgängerin, machte sie aus Tristan Christian. Da kann ich nur froh sein, dass meine Lieblingsoper nicht Fidelio ist, dann wäre wahrscheinlich ein Fidel aus ihm geworden.

    Komplizierte Familienverhältnisse

    Seine Mutter Erna Schäfer, 1902 in Berlin geboren, war gelernte Sekretärin und Stenotypistin und hatte sich zur Bürovorsteherin in einem Anwaltsbüro in Neukölln hochgearbeitet.

    Sein Vater … den gab es nicht. Das heißt, natürlich gab es ihn, aber der war verheiratet. Dummerweise nicht mit meiner Oma. Schuli Löwenthal, Jahrgang 1881, war ein jüdischer Ingenieur aus Bessarabien, den es 1922 beruflich nach Berlin verschlagen hatte.

    Bessarabien, ein Gebiet nahe des Kaspischen Meeres und durch viele Hände gegangen – vor allem osmanische, russische, rumänische und deutsche –, gehört heute zu Moldawien. So hatte mein Vater also, was sein Blut betraf, den reinsten Gemischtwarenladen in sich. Ein klarer Fall für Sarrazin.

    Meine Oma muss schon immer einen Hang zu älteren Migranten gehabt haben, denn kurzzeitig war sie, knapp sechzehnjährig, mit dem Litauer Leo Jogiches (Jahrgang 1867) zusammen. Die Bebel-festen Sozialdemokraten werden darin den Freund von Rosa Luxemburg und Mitbegründer der KPD wiedererkennen. Dass Leo meine Oma politisch formen wollte, halte ich für unwahrscheinlich. Eher interessierten ihn wohl ihre körperlichen Formen. Und sie hatte einiges zu bieten. Sie war nicht unbedingt als hübsch zu bezeichnen, aber sie war, wie man so sagt, »propper« und hatte Witz und Esprit, wie meine Mutter sich erinnert: »Wenn Erna da war, war es immer lustig!« Das muss auch den Bessarabier Schuli angezogen und auf meine Oma eine ausziehende Wirkung gehabt haben. Er gab aber auch alles, um diese Wirkung zu erzielen, wie mein Vater später erfuhr. Er spielte das volle Programm ab: dass er zwar verheiratet sei und zwei Kinder habe, aber sehr unglücklich und schrecklich einsam, sie natürlich seine große Liebe sei, er sich aber aus religiösen Gründen nicht scheiden lassen dürfe … Meine Oma, jung und naiv, glaubte ihm … bis er weg war. Und nun saß sie da, nein, nun lag sie da und gebar in der Wohnung ihrer Mutter Ida Schäfer in der Prinz-Handjery-Straße (heute Briesestraße) in Berlin-Neukölln gegen 14 Uhr ihren Prinzen.

    Berlin-Neukölln war nicht gerade die erste Adresse von Berlin, aber auch nicht die elfte. Es gab einen großen Arbeiteranteil, einigen Mittelstand und auch die Wiegen einiger bekannter Künstlerkollegen standen hier: Helga Piur (Schauspielerin, Zahn um Zahn), Frank Zander (Sänger, Hier kommt Kurt), Achim Strietzel (Kabarettist und Mitbegründer der Stachelschweine), John Stave (Autor, Stube und Küche) und Günter Pfitzmann. Aber dazu später mehr.

    Nun war meine Oma also allein. Alleinstehend mit Kind. Nicht ganz, denn sie wohnte mit ihrer gebrechlichen Mutter, einer Soldatenwitwe, und ihrer unter Epilepsie leidenden und dadurch arbeitsunfähigen Schwester Lotte zusammen. Gott sei Dank entpuppte sich Gerdi, wie er liebevoll genannt wurde, der Prophezeiung der einfühlsamen Hebamme zum Trotz als sehr widerstandsfähig und wurde schnell ein richtiger Wonneproppen. Kein Wunder, allein unter Frauen war er natürlich der Hahn im Körbchen.

    Aber nun musste der Haushalt neu organisiert werden. Als Erstes zog man in eine größere Wohnung. Meine Oma, die einzige Verdienerin, übernahm neben ihrer bisherigen Tätigkeit als Bürovorsteherin auch noch die Organisation der Kanzleiaußenstelle in Aussig (heute Ústí nad Labem). Das hatte zur Folge, dass sie kaum zu Hause war und ihre Mutter, Oma Ida, Mutterstelle übernehmen musste. Was für sie nicht einfach war. Sie war zwar erst Anfang Fünfzig, da fangen heutzutage vielfach Frauen überhaupt erst an, über Familienplanung nachzudenken, aber gesundheitlich war sie nicht die Stärkste.

    Auch hatte sie sich noch um ihre kranke Tochter Lotte zu kümmern, deren Anfälle sich häuften. Bahnte sich so ein Epilepsie-Anfall an, schrie Oma: »Lotte hat wieder einen Anfall!« »Und schon schmissen wir uns alle, damit sie sich nicht selbst verletzte, auf Lotte, wie die Clowns im Zirkus, und ich oben drauf, bis sie sich entkrampfte«, berichtete mein Vater. Später, als es schlimmer wurde, kam sie ins Heim, wo sie auch, kaum dreißig Jahre alt, starb.

    Aber das größte Problem bei der Erziehung ihres Enkels war für Oma Ida: Sie war, wie alle Omas, viel zu milde und ließ ihm (fast) alles durchgehen. Das nutzte Gerdi, je älter er wurde, schamlos aus. Vorausgesetzt, er war da. Denn ab dem dritten Lebensjahr wurde sein Hauptaufenthaltsort, wie für fast alle Kinder dieser Zeit, die Straße.

    Das Leben ist Kampf

    »Guck dir die Bilder von Zille an oder lies Alex Weddings Ede und Unku, dann weißt du, wie es in den zwanziger Jahren bei uns auf der Straße zuging«, sagte mein Vater, wenn wir über seine Kindheit sprachen. Dort und auf den Höfen spielte sich das eigentliche Leben ab. Hier herrschte das Gesetz der Stärke. Es gab Kämpfe, richtige Schlachten um die Vorherrschaft in der Straße, in der Region. Die waren manchmal nicht weniger brutal als die Schlägereien von Kommunisten und Nazis, die in dieser Zeit an der Tagesordnung waren. »Man zog mit Knüppeln und Latten, in die extra Nägel reingeschlagen wurden, durch die Straßen und prügelte sich, bis die Gegner blutig und hinkend zurückwichen.« Es hatte etwas von West Side Story, und noch mehr von der heute üblichen Politkultur. Denn ständig wechselten die Verbündeten. Heute war man mit der einen »Straßen-Partei« zusammen, morgen mit der anderen. Und keiner verlor darüber ein Wort. Im Gegenteil, man tat so, als wäre es nie anders gewesen. Mein Vater: »Trotz der Verbissenheit, die wir Kinder an den Tag legten, rannte man, wenn man Hunger bekam, schnell schon mal mitten im Kampf nach Hause, rief nach oben: ›Oma, schmeiß mal ne Stulle runter!‹ Und nachdem diese dann angesegelt kam, rannte man zurück zum Kriegsschauplatz. Dabei musste man aufpassen, dass man nicht in die Hände der Feinde geriet. Wurde man erwischt, konnte es passieren, dass man zur Strafe Pferdeäpfel essen musste.« Genug davon lagen auf der Straße, da zu der Zeit auf ein Auto mindestens hundert Pferdefuhrwerke kamen. Glücklicherweise wurde er nie erwischt. Behauptete er zumindest.

    »Es war wohl die Schule meines Lebens! Nicht aufzugeben, mit Niederlagen und Ungerechtigkeiten klarzukommen und immer wieder aufzustehen, das lernte ich hier ziemlich schnell. Charaktereigenschaften, die ich später vielfach im Beruf benötigte. Trotz allem, es war eine schöne Zeit.« Die nahm jäh ein Ende.

    Herr Schäfer gibt uns die Ehre

    Mein Vater wurde im April 1929, mit knapp fünfeinhalb, eingeschult. Und das Grauen begann. Nicht, dass er nicht gern lernte. Er konnte schon im Alter von vier Jahren lesen, und wissbegierig war er auch, aber mit den Lehrern, den Obrigkeiten, kam er nicht zurecht. War er es doch auch von Hause her nicht gewohnt. Seine Oma Ida und seine Mutter konnte Gerdi mit seinem charmanten Lächeln und seinem Lockenköpfchen um den Finger wickeln. Aber seine Lehrer? Höchstens um den Rohrstock. Damals gab es noch die Prügelstrafe. Und nach eigener Aussage wurde er öfter dazu eingeladen. »Entweder musste man die Hände ausgestreckt nach vorn halten, damit der Lehrer mit dem Lineal auf die Finger schlagen konnte, oder man legte sich über die Schulbank, der Hosenbund wurde straffgezogen, damit er eng anlag, und dann ging es los. Da halfen auch nicht die schmerzlindernden Tricks, wie Hände eincremen oder Heftdeckel in die Hose stecken. Wenn das bemerkt wurde, gab es gleich mehr.«

    Kein Wunder also, dass er mit immer weniger Lust die Bildungsanstalt besuchte. Und so ging er ab dem dritten Schuljahr nur noch jeden zweiten, manchmal nur jeden dritten Tag zur Schule. Lieber verbrachte er seine Zeit im nahegelegenen Schwimmbad Hasenheide. Dort saß er oft stundenlang, beobachtete die Badenden und las Abenteuergeschichten über Lederstrumpf oder John Kling. Natürlich wusste seine Oma davon nichts. Aus heutiger Sicht ein klarer Fall für die Nanny. Wenn er nach solchen Auszeiten wieder mal die Schule besuchte, wurde er von den Lehrern meistens ironisch mit den Worten »Ah, der Herr Schäfer gibt uns die Ehre« begrüßt, bevor es wieder Prügel setzte. Trotz der Gastaufenthalte in der Grundschule schaffte er es 1933 auf das Walther-Rathenau-Gymnasium.

    Neue Schule, neues Glück

    Hier gab es nun ganz andere Lehrer, Studienräte und Professoren, die einen weniger mit Schlägen, dafür mehr

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