Lösungsorientierte Beratung
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Book preview
Lösungsorientierte Beratung - Heike Berkling
Vorwort
Meine anfängliche Begegnung mit dem lösungsorientierten Beratungsansatz war keine Liebe auf den ersten Blick.
Ich saß hinter einer Einwegscheibe und hörte mir skeptisch etwas von Wundern und Skalen an. Ehrlich gesagt, empfand ich das Vorgehen des Beraters als sehr sonderbar und war mir ganz sicher, dass auch die verzweifelte, aber sehr rational wirkende Mutter, die damals Rat wegen ihres auffälligen Jungen suchte, meine Ansicht teilen würde.
Doch dem war nicht so. In einer Nachbefragung zu dem Gespräch gab sie Gedanken an, die mich aufhorchen ließen: Sie sei auf dem Nachhauseweg im Auto stark ins Grübeln gekommen und habe erkannt, dass sie Fehler begangen habe und sich ihrem Sohn gegenüber im Bezug auf seine „Null-Bock-Haltung" ändern müsse.
Genau über diesen Aspekt hatte der Berater aber gar kein Wort verloren!
Das Beratungsmodell begann, mein Interesse zu wecken. Ich sah mir weitere Gespräche an, las mich in die Theorie ein und erhielt hilfreiche und nützliche Einblicke für einen respektvollen beraterischen Umgang mit Schülern, Eltern und Kollegen.
Aus diesem Grund entschloss ich mich, dieses Wissen an Lehrer, Eltern, Schulpsychologen, Schulleiter, Studierende, Lehrer im Vorbereitungsdienst und alle anderen, die einfach neugierig auf die Anwendung des lösungsorientierten Ansatzes im schulischen Kontext sind, weiter zu geben.
Anfängern und Betroffenen im Beratungsbereich soll dieses Buch zur Anwendung in der Praxis mit Bezug zu den theoretischen Grundlagen dienen. Es enthält anwendbare Tipps und Anregungen zur konkreten Umsetzung.
Gerade für den schulischen Kontext bietet der Ansatz der lösungsorientierten Beratung erhebliche Vorteile: Ratsuchende werden ernst genommen und respektvoll behandelt, im Vordergrund stehen nicht die persönlichen Defizite (wie so oft noch in der Schule), sondern jede Person wird in ihrer einzigartigen Individualität gewürdigt. Das tut allen gut: Schülern, Eltern und auch Lehrern, die sich beraten lassen.
Die Geschichte der Schülerin Mila wird den Leser durch das Buch begleiten; sie dient der Anschaulichkeit des praxisbezogenen Vorgehens.
Das Buch ist in 6 Kapitel untergliedert. Am Anfang (Kapitel 1.1) erfolgt ein kurzer historischer Abriss über die Entwicklungsgeschichte der lösungsorientierten Beratung. Hier werden die therapeutischen Ursprünge dargelegt und aufgezeigt, welche Personen und Strömungen auf die Entwicklung Einfluss genommen haben.
Eine besonders für (angehende) Lehrkräfte relevante Frage wird in Kapitel 1.2 beantwortet: die nach dem Expertentum lösungsorientierter Beratung. Welche Voraussetzungen, Kenntnisse und Qualifikationen müssen Lehrer mitbringen, um selber professionell lösungsorientiert beraten zu können? Lehrkräfte, deren Rollenverständnis im Schulalltag davon geprägt ist, stets die Position wissender Experten einnehmen zu müssen, werden an dieser Stelle erfahren, dass im lösungsorientierten Vorgehen dieser Part im Hinblick auf die Probleme bereits an die Ratsuchenden „vergeben" ist.
Des Weiteren werden in diesem ersten Kapitel die dem Ansatz zu Grunde liegenden Phänomene der Lösungs- und Ressourcenorientierung erläutert. Basierend auf der Annahme, dass kein Ansatz für alle Menschen passt, wird dabei besonders der Aspekt der Individualität hervorgehoben und nachvollzogen, wie die Blickrichtung von der Ursachensuche auf die Lösungsfindung gelenkt werden kann.
Im zweiten Kapitel wird der Beratungsansatz anhand konkreter Beispiele auf den schulischen Kontext projiziert. Auf mögliche Einwände, ob der Ansatz auch für den Einsatz an Ihrer Schule mit dem schwierigen Schüler- und Elternklientel möglich ist, werden Sie dort Antworten finden.
In Kapitel 3 werden die Techniken und Methoden lösungsorientierter Beratung dargelegt. Diese werden anhand von Beispielen aus der Schule veranschaulicht, Umsetzungsmöglichkeiten für dieses Feld aufgezeigt und Fragen wie die folgenden beantwortet:
Kann das allgemeine Modell der Lösungsorientierung für alle im schulischen Rahmen anfallenden Probleme gleichermaßen eingesetzt werden?
In der Schule finden Beratungsgespräche oft mit Personen statt, die nicht freiwillig in die Beratung kommen (z.B. in die Schule bestellte Eltern). Können diese trotzdem lösungsorientiert beraten werden?
Ist lösungsorientierte Beratung auch mit Kindern möglich?
Wie gehe ich als lösungsorientiert ausgerichteter Berater mit Fachfragen um?
In Kapitel 4 wird ein komplettes Beratungsgespräch aufgezeigt, um dem Leser die praktische Anwendung der Methoden zu veranschaulichen.
Ferner werden wissenschaftliche Evaluationsergebnisse offeriert, aber auch kritische Aspekte des Ansatzes dargelegt (Kapitel 5 und 6).
Im Interesse der Lesbarkeit wird in diesem Buch durchgehend die maskuline Form für alle Personen gewählt, es sei denn, dass das Genus ausdrücklich als weiblich spezifiziert ist (hier meine ich z.B. Frau T, die ja weiblich ist). Die ausschließliche Verwendung männlicher Pronomina soll dabei einfach eine flüssigere Lesbarkeit ermöglichen.
Der Föderalismus im Schulsystem hat unterschiedliche Namen für bestimmte Schulformen und Berufsbezeichnungen hervorgebracht. Der Leser ist hier aufgefordert, den für sein Bundesland gültigen in Gedanken zu verwenden. Es wird davon ausgegangen, dass die hier gebrauchten Bezeichnungen so eindeutig sind, dass dieser Transfer gelingen dürfte.
Mein ganz besonderer Dank gilt Prof. Stephan Ellinger, der mich zum Verfassen dieses Buches angeregt hat, Prof. Walter Spiess, der mich für die lösungsorientierten Ideen begeistert hat, Dr. Julia Bischoff für die vielen äußerst konstruktiven Gespräche und Anregungen sowie Karen Janssen für die Hilfe bei der graphischen Ausgestaltung. Dr. Dagmar Berkling danke ich zudem für die Korrektur des Manuskripts.
1
Haltungen und Grundannahmen lösungsorientierten Handelns
Frau T., Lehrerin an einer Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen, erhält zum Schuljahreswechsel eine neue Klasse der Stufe 7.
Gleich von Beginn an bereitet ihr die 14-jährige Mila größte Schwierigkeiten.
In Arbeitsphasen ändert diese ihr Verhalten in kurzen Zeitabständen. Zeitweilig konzentriert sie sich auf die Aufgaben, dann bricht sie Arbeitsprozesse aber wieder ab und läuft hektisch und ziellos durch den Klassenraum, um zu machen, was ihr gerade in den Sinn kommt (Computer anschalten, Dinge in den Müll werfen, essen, trinken etc.), dies, ohne sich an die Klassenregeln zu halten oder Reglementierungen zu akzeptieren.
Am schlimmsten jedoch empfindet Frau T. die provokante und oft bis ins Persönliche hineingehende und damit verletzende Art des Mädchens, die vor allem Frau S., die fast immer mit im Klassenzimmer anwesende Referendarin, aber auch die Mitschüler zu spüren bekommen. Vor allem kleine Missgeschicke oder Verfehlungen werden von Mila umgehend bemerkt und in bloßstellender Weise kommentiert. So schreit sie lauthals durch die Klasse, dass eine Mitschülerin, die aus einem ärmlichen Elternhaus mit noch 10 Geschwistern stammt, in dem Hygieneartikel wie Monats-Binden nicht zur Verfügung stehen, nach „Regel" stinke und lacht sich dann kaputt.
Mila hält sich darüber hinaus weder in der Klasse noch in den Pausen an Schulordnung oder Klassenregeln. So verlässt sie das Schulgelände während der Pausen oft heimlich, um rauchen zu können. Frau T. hat schon des Öfteren den Rektor um Unterstützung gebeten, doch keine bisher eingeleitete Straf- oder Ordnungsmaßnahme griff bei Mila, geschweige denn führte sie zu einer Besserung oder Reduktion des grenzüberschreitenden Verhaltens.
Frau T. hält Mila darüber hinaus aber für ein fröhliches, hübsches Mädchen, das sehr hilfsbereit ist und schwächere Schüler stets in Schutz nimmt. Seismographisch nimmt sie Stimmungen auf und hat sogar die fehlende Harmonie zwischen Frau T. und ihrer Referendarin bemerkt, die bisher noch nicht einmal den Kollegen oder der Schulleitung aufgefallen war. Auch ist Mila ein Mädchen mit einer eigentlich guten Auffassungsgabe und vielen Interessen.
Trotz alledem ist Frau T., die das Mädchen wirklich gerne mag, der Ansicht, dass Mila kaum beschulbar und auch wirklich nur schwer sechs Stunden täglich auszuhalten sei, zumal sie auch noch 14 andere Schüler in der Klasse zu betreuen hat. Sie möchte sich nun gerne wegen Mila an den Schulpsychologen oder den Beratungslehrer wenden. Wen von beiden sie aufsuchen wird, weiß sie noch nicht. Bevor sie jedoch mit einem von ihnen Kontakt aufnimmt, möchte sie sich auf den Termin vorbereiten und wissen, was eigentlich mit dem Mädchen los ist; schließlich hat sie von der Regelschule, die Mila vorher besuchte, die Mitteilung erhalten, dassdiese schon Schlimmes durchgemacht hat. Um nähere Hintergründe zu erfahren, holt sie sich aus dem Sekretariat die Schülerakte.
Vermutlich würden die meisten von uns auf diese Weise verfahren. Dieses Vorgehen ist üblich, logisch und hat sich im Schulalltag bewährt. Schülerakten werden schließlich nicht zum Selbstzweck angelegt, sondern um gelesen zu werden und neue Lehrer über die sozialen und schulischen Hintergründe des Schülers zu informieren.
Vielleicht erfahren wir auf diese Weise, welche schlimmen Erlebnisse Mila bisher widerfahren sind und können dann nachvollziehen, warum sie sich in der Schule so aufführt.
Die Rektorin der Regelschule, die Mila vorher besucht hatte, erwähnte u.a. eine Scheidung der Eltern, Alkoholsucht des Vaters und familiäre Gewalt. Das